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Selbstgesteuertes Lernen als ambivalentes Konzept der Erwachsenenbildung

Eine kritische Betrachtung aus gouvernementalitätstheoretischer Perspektive

©2008 Diplomarbeit 127 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Der dynamische und äußerst vielschichtige Wandel gesellschaftlicher Verhältnisse, abzulesen beispielsweise an der Flexibilisierung von Arbeits- und Organisationsstrukturen, der Globalisierung der Märkte, der fortschreitenden Entwicklung und Implementierung neuer Technologien sowie der Pluralisierung und Ausdifferenzierung individueller Lebensläufe und Erwerbs- bzw. Bildungsbiographien, erfordert von Individuen eine kontinuierliche aktive Auseinandersetzung mit den sich ständig wandelnden komplexen Anforderungen an die individuelle Lebens- und Arbeitsgestaltung. Um angemessen auf diese Veränderungsprozesse reagieren zu können und damit Wettbewerbsfähigkeit und gesellschaftliche Teilhabe zu gewährleisten, sind die Individuen aufgefordert, ihre persönlichen Fähigkeiten und Kenntnisse eigenverantwortlich und kontinuierlich zu aktualisieren und zu erweitern. ‘Wer dem Wandel, der immer auch Flexibilisierung und Schnelligkeit impliziert, nicht gewachsen ist, der – so scheint uns die Umgebung zu suggerieren – bleibt auf der Strecke’. Durch die Auflösung berufstypischer Aufgabenprofile und sozialer Beziehungsstrukturen wird der flexible und eigenverantwortliche Umgang mit dem persönlichen Kompetenzprofil zunehmend bedeutsamer und Lebenslanges Selbstgesteuertes Lernen - darin sind sich Politik, Bildung und Wirtschaft einig – etabliert sich zur gesellschaftlichen und individuellen Notwendigkeit. Vor diesem Hintergrund erscheint das Konzept Selbstgesteuerten Lernens seit den 1990er Jahren in neuer Brisanz und Dringlichkeit, obwohl die Betonung des ‚Selbst‘ und die damit einhergehende Fokussierung auf das Lernsubjekt in der Erwachsenenbildung nichts grundlegend Neues ist. Vielmehr ist die Förderung der selbsttätigen Aneignungsleistung der Lernenden in Bildungsprozessen eine im erwachsenenpädagogischen Denken tief verwurzelte Idee. Mit der Ausdehnung des Lernbegriffs in den außerinstitutionellen Bereich und die private Verantwortung des Individuums, markiert Selbstgesteuertes Lernen jedoch eine bildungspolitische Programmatik, die zu tiefgreifenden Veränderungen in der Erwachsenenbildung führt, da sie eine erweiterte Lernkultur individualisierten Lernens erfordert und die den Lernenden zum eigenverantwortlichen Selbstunternehmer in den Mittelpunkt lebenslanger Bildungsprozesse rückt.
Die erwachsenenpädagogische Fundierung des Konzepts ist vor allem auf den systemisch-konstruktivistischen Paradigmenwechsel zurückzuführen, mit dem die […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Selbstgesteuertes Lernen als erwachsenenpädagogisches Paradigma
2.1 Lebenslanges Selbstgesteuertes Lernen
2.2 Zur Problematik der begrifflichen Bestimmung
2.3 Aktueller Diskussions- und Forschungsstand
2.3.1 Systemisch-konstruktivistische Grundlagen
2.3.2 Bedingungen Selbstgesteuerten Lernens
2.3.3 Selbststeuerung als didaktische Dimension
2.3.4 Selbststeuerung als gesellschaftspolitische Dimension
2.4 Definitorische Eingrenzung
2.5 Zusammenfassung

3 Selbstgesteuertes Lernen im fachwissenschaftlichen Diskurs
3.1 Wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung
3.2 ‚Bildung‘ als Orientierungskategorie didaktischen Handelns
3.3 Grenzen konstruktivistischen Erklärungspotentials
3.4 Zusammenfassung

4 Selbstgesteuertes Lernen aus gouvernementalitätstheoretischer Perspektive
4.1 Zum Begriff der Gouvernementalität
4.2 Genealogischer Zugang und gouvernementalitäts- theoretische Perspektive
4.2.1 Das begriffliche Analyseinstrumentarium Foucaults
4.2.2 Die Geschichte der Gouvernementalität.
4.3 Weiterbildung und Selbstgesteuertes Lernen im Kontext der Gouvernementalität
4.4 Pädagogik und Macht
4.5 Kritische Betrachtung des erwachsenenpädagogischen Diskurses um Selbstgesteuertes Lernen
4.6 Zusammenfassung

5 Konsequenzen für das erwachsenenpädagogische Professionalitätsverständnis
5.1 Bildungstheoretische Reflexion im Anschluss an Foucault
5.2 Selbstsorge als berufsethischer Anspruch
5.3 Didaktische Konsequenzen am Beispiel Selbstsorgenden Lernens
5.3.1 Veränderte didaktische Steuerungslogik
5.3.2 Aufbau der Selbstlernarchitekturen
5.4 Zusammenfassung

6 Fazit

7 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Der dynamische und äußerst vielschichtige Wandel gesellschaftlicher Verhältnisse, abzulesen beispielsweise an der Flexibilisierung von Arbeits- und Organisationsstrukturen, der Globalisierung der Märkte, der fortschreitenden Entwicklung und Implementierung neuer Technologien sowie der Pluralisierung und Ausdifferenzierung individueller Lebensläufe und Erwerbs- bzw. Bildungsbiographien, erfordert von Individuen eine kontinuierliche aktive Auseinandersetzung mit den sich ständig wandelnden komplexen Anforderungen an die individuelle Lebens- und Arbeitsgestaltung (vgl. dazu z.B. Delors 1997). Um angemessen auf diese Veränderungsprozesse reagieren zu können und damit Wettbewerbsfähigkeit und gesellschaftliche Teilhabe zu gewährleisten, sind die Individuen aufgefordert, ihre persönlichen Fähigkeiten und Kenntnisse eigenverantwortlich und kontinuierlich zu aktualisieren und zu erweitern. „Wer dem Wandel, der immer auch Flexibilisierung und Schnelligkeit impliziert, nicht gewachsen ist, der – so scheint uns die Umgebung zu suggerieren – bleibt auf der Strecke“ (Arnold/Gómez Tutor 2007, S. 13). Durch die Auflösung berufstypischer Aufgabenprofile und sozialer Beziehungsstrukturen wird der flexible und eigenverantwortliche Umgang mit dem persönlichen Kompetenzprofil zunehmend bedeutsamer und Lebenslanges Selbstgesteuertes Lernen - darin sind sich Politik, Bildung und Wirtschaft einig – etabliert sich zur gesellschaftlichen und individuellen Notwendigkeit (vgl. Wiesner/Wolter 2005; Dohmen 1996). Vor diesem Hintergrund erscheint das Konzept Selbstgesteuerten Lernens seit den 1990er Jahren in neuer Brisanz und Dringlichkeit, obwohl die Betonung des ‚Selbst‘ und die damit einhergehende Fokussierung auf das Lernsubjekt in der Erwachsenenbildung nichts grundlegend Neues ist. Vielmehr ist die Förderung der selbsttätigen Aneignungsleistung der Lernenden in Bildungsprozessen eine im erwachsenenpädagogischen Denken tief verwurzelte Idee (vgl. dazu z.B. Reischmann 2002, S. 118; Siebert 2006, S. 9ff.). Mit der Ausdehnung des Lernbegriffs in den außerinstitutionellen Bereich und die private Verantwortung des Individuums, markiert Selbstgesteuertes Lernen jedoch eine bildungspolitische Programmatik, die zu tiefgreifenden Veränderungen in der Erwachsenenbildung führt, da sie eine erweiterte Lernkultur individualisierten Lernens erfordert und die den Lernenden zum eigenverantwortlichen Selbstunternehmer in den Mittelpunkt lebenslanger Bildungsprozesse rückt.

Die erwachsenenpädagogische Fundierung des Konzepts ist vor allem auf den systemisch-konstruktivistischen Paradigmenwechsel zurückzuführen (vgl. Siebert 2003d, S.11ff.), mit dem die Aneignung gegenüber den Kategorien des Lehrens oder Vermittelns in der didaktischen Theorieentwicklung an Bedeutung gewonnen hat (vgl. Arnold/Schüßler 2003). Problematisch erscheint allerdings, dass mit dem systemisch-konstruktivistisch begründeten Konzept Selbstgesteuerten Lernens ein grundlegender Legitimationsverlust didaktischen Handelns sowie des Selbst- und Aufgabenverständnisses der Lehrenden einhergeht, da dieser Ansatz pädagogische Interventionen prinzipiell infrage stellt. Das „Verhältnis von Lehren und Lernen erweist sich bei einer genaueren Betrachtung als unhintergehbar und unauflösbar paradox“ (Arnold 2004, S. 238), so dass didaktisches Handeln als zentraler Aspekt erwachsenenpädagogischer Professionalität in einem unauflösbaren Handlungswiderspruch mündet. Gleichwohl belegen Ergebnisse empirischer Weiterbildungsforschung die Notwendigkeit professioneller Unterstützung selbstgesteuerter Lernprozesse, da diese ein hohes Maß an bereits vorhandener Selbstlernkompetenz des Individuums erfordern, die in der Bevölkerung nicht gleichermaßen vorausgesetzt werden kann (vgl. Schiersmann 2006; Simons 1992).

Vor diesem Hintergrund zeichnet sich, bei schwindender disziplinärer Stabilität, ein wachsender Problemdruck für die Wissenschaftsdisziplin der Erwachsenenbildung ab. Die aufgespannte Problematik wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit aus der poststrukturalistisch geprägten Theorieperspektive der Gouvernementalität im Anschluss an Michel Foucault reflektiert. Foucault untersucht produktive Machtwirkungen, indem er ihre diskursiven Äußerungsmodalitäten untersucht. Diesem Ansatz nach ist Erwachsenenbildung als ein in staatliche Steuerungsimperative eingebundenes Handlungsfeld zu verstehen, das eigene spezifische Regierungsrationalität sowie eigene Diskurse und Praktiken hervorbringt. Das Konzept der Gouvernementalität rückt nicht nur die mit dem pädagogischen Selbstverständnis ‚scheinbar‘ unvereinbare Gegensätzlichkeit von Selbstbestimmung und Fremdsteuerung in ein anderes Licht, es eröffnet zudem eine differenzierte Theorieperspektive, die eine kritische Auseinandersetzung mit verschiedenen Begründungslogiken Selbstgesteuerten Lernens und der damit verbundenen spezifischen gesellschaftlichen Funktion der Erwachsenenbildung ermöglicht.

Ziel der Arbeit ist aufzuzeigen, dass die theoretischen Zugänge des Konstruktivismus und des Poststrukturalismus zwar inhaltlich unvereinbar sind, sie dennoch beide ihre Berechtigung in der wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzung der Erwachsenenbildung haben. Siestellen zwei unterschiedliche Theorieperspektiven dar, die jeweils einen eigenen Beitrag zur ‚realistischen‘ Betrachtung der aktuellen erwachsenenpädagogischen Situation im Kontext Selbstgesteuerten Lernens leisten. Die vorliegende Arbeit unternimmt daher den Versuch, die unterschiedlichen theoretischen Zugänge ergänzend in die wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung um Selbstgesteuertes Lernen einzuordnen und zu begründen, warum eine mehrperspektivische wissenschaftstheoretische Betrachtung insbesondere in Bezug auf das vielschichtige Konzept Selbstgesteuerten Lernens unabdingbar ist. Mit dem Konzept des Selbstsorgenden Lernens wird ein erwachsenenpädagogischer Ansatz zum Selbstgesteuerten Lernen vorgestellt, der beide Perspektiven in die didaktische Konkretisierung einbezieht.

Dazu ist es zunächst notwendig, die äußerst heterogene erwachsenenpädagogische Diskussion um Selbstgesteuertes Lernens zu systematisieren, um die komplexen Zusammenhänge, die mit der Programmatik Selbstgesteuerten Lernens verbunden sind, angemessen erfassen zu können. Kapitel 2 skizziert unterschiedliche Zugänge zum theoretischen Konstrukt der Selbststeuerung, welche gleichsam den aktuellen Diskussions- und Forschungsstand darstellen. Darauf aufbauend wird in Kapitel 3 anhand des bildungstheoretisch fundierten erwachsenenpädagogischen Professionalitätsverständnisses dargelegt, weshalb mit dem Paradigma Selbstgesteuerten Lernens, neben den weitreichenden Veränderungen im Weiterbildungssystem auf institutioneller und methodisch-didaktischer Ebene, eine grundsätzliche Herausforderung an die Erwachsenenbildung als wissenschaftliche Disziplin verbunden ist. Da sich der Erklärungswert des Konstruktivismus hinsichtlich des bildungstheoretisch begründeten Professionalitätsverständnisses als begrenzt erweist, wird in Kapitel 4 ein weiterer theoretischer Ansatz vorgestellt, der sich der bislang aufgespannten Problematik aus der Denktradition des französischen Poststrukturalismus nähert. Indem Selbstgesteuertes Lernen aus gouvernementalitätstheoretischer Perspektive im Anschluss an Michel Foucault analysiert wird, kann gezeigt werden, dass dieser Ansatz eine geeignete Ergänzung zur hauptsächlich systemisch-konstruktivistisch gefärbten Diskussionskultur darstellt. Kapitel 5 verdeutlicht dann die Konsequenzen, die sich aus der gouvernementalitätstheoretischen Betrachtung Selbstgesteuerten Lernens hinsichtlich des erwachsenenpädagogischen Professionalitätsverständnisses ergeben. Dabei wird gezeigt, dass die Gouvernementalitätstheorie Ansatzpunkte zur bildungstheoretisch begründeten didaktischen Gestaltung Selbstgesteuerten Lernens bietet, die abschließend am Beispiel der Didaktik „Selbstsorgenden Lernens“ (Forneck 2005a) konkretisiert werden.

2 Selbstgesteuertes Lernen als erwachsenenpädagogisches Paradigma

Die analytische Betrachtung des fachwissenschaftlichen Diskurses und Forschungsstandes zum Selbstgesteuerten Lernen verdeutlicht, dass Selbststeuerung kein einheitliches theoretisches Konstrukt darstellt, da sie auf höchst unterschiedliche Aspekte eines Lern- bzw. Lehrprozesses bezogen wird und das Konzept daher keiner einheitlichen Definition unterliegt (vgl. Kraft 1999, S. 835). Wissenschaftler und Praktiker beschäftigen sich in höchst unterschiedlichen Herangehensweisen und vielfältigen Ausprägungen mit selbstgesteuerten Lernprozessen, was unter anderem an der Vielfalt synonym verwendeter Begriffe ablesbar ist. Außerdem lassen sich hinter der Forderung nach Selbstgesteuertem Lernen unterschiedliche Begründungslogiken identifizieren, denn neben „den allgemeinen anthropologischen, pädagogischen und demokratiepolitischen Argumenten sind es vor allem auch die pragmatischen Vorteile der besseren Flexibilität, Praxisnähe, Effizienz, Kosten-Nutzenrelation und persönlichen Motivation, Befriedigung und biographischen Fundierung, die […] für eine stärkere Beachtung und Förderung des selbstgesteuerten Lernens sprechen“ (Dohmen 1996, S. 52). Obwohl das Konzept in der fachwissenschaftlichen Diskussion aufgrund lerntheoretischer und empirischer Weiterbildungsforschung mittlerweile differenziert und eher ambivalent betrachtet wird, da sich der Konsens abzeichnet, dass Selbstgesteuertes Lernen einer aufwendigen erwachsenenpädagogischen Unterstützung bedarf, scheinen bildungspolitische Motive zur Förderung Selbstgesteuerten Lernens vor allem durch die dem Konzept implizite finanzielle Eigenverantwortung der Individuen begründet zu sein. Diese werden jedoch erst auf der Basis einer differenzierten Betrachtung des Diskurses um Lebenslanges Selbstgesteuertes Lernen und dessen programmatischer Bedeutungsverschiebung erkennbar, da die äußerst positiv konnotierten, in der Tradition klassischer Bildungsideale stehenden Begriffe wie Mündigkeit und Autonomie, welche der Programmatik ihr Gesicht verleihen, offensichtlich eine ausreichend legitimierende Wirkung besitzen, um den zunehmenden Rückzug staatlicher Weiterbildungsverantwortung zu verschleiern.

Um diese komplexe Problematik Selbstgesteuerten Lernens systematisch darstellen zu können, wird im Folgenden zunächst die erwachsenenpädagogische Thematisierung Selbstgesteuerten Lernens und dessen zunehmender bildungspolitischer Stellenwert in einem knappen historischen Abriss skizziert. Anschließend wird die Definitionsproblematik aufgegriffen und in ihren Konsequenzen für die Wissenschaftsdisziplin der Erwachsenenbildung verdeutlicht. Vor diesem Hintergrund wird dann der Versuch unternommen, die heterogene fachwissenschaftliche Diskussion um Selbstgesteuertes Lernen zu systematisieren, um den gegenwärtigen Diskussionsstand differenziert darstellen zu können. Abschließend wird das dieser Arbeit zugrunde liegende Begriffsverständnis Selbstgesteuerten Lernens vorgestellt und in den Gesamtkontext der erwachsenenpädagogischen Diskussion eingeordnet.

2.1 Lebenslanges Selbstgesteuertes Lernen

Gesellschaftliche Modernisierungsprozesse, wie z.B. der Wandel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft, stellen alle ihre Mitglieder ständig vor neue komplexe Herausforderungen. Veränderungen in der Wirtschaft, auf dem Arbeitsmarkt und der Beschäftigungsstruktur lassen sich in den sozialen (Beziehungs-)Strukturen, Erwerbsbiographien und alltagspraktischen Bezügen von Individuen ablesen. Um angemessen auf den gesellschaftlichen Strukturwandel reagieren zu können, so der Konsens aus der Diskussion um das Lebenslange Lernen, müssen Individuen Fähigkeiten erwerben, die sie in die Lage versetzen, sich fortwährend neuen Herausforderungen und veränderten Bedingungen zu stellen. Der produktive und selbstverantwortliche Umgang mit Kompetenzen, verstanden als Fähigkeit „Wissen zu erzeugen und lösungsorientiert anzuwenden“ (Willke 1998, S. 263), wird zur notwendigen Voraussetzung individueller Teilhabe an gesellschaftlicher Veränderung und zugleich zu einer bedeutsamen bildungspolitischen Forderung.

Dass sich die - durch amerikanische Konzepte zum self-directed learning stark beeinflusste - Thematisierung des Selbstgesteuerten Lernens auch in Deutschland zu einem Leitprinzip der postmodernen Erwachsenenbildung[1] entwickelte, verweist auf die Verbindungslinie zur Diskussion um Lebenslanges Lernen seit Ende der 1960er Jahre (vgl. Olbrich 2001, S. 389; Schiersmann 2006, S. 15), die aus „der wachsenden Informationsflut, dem schnellen Veralten des Wissens und dem ständigen Wandel der Anforderungen an menschliches Verstehen und Problemlösen die Konsequenz [gezogen hat; Anm. A.S.], dass alle Menschen ständig lernen und weiterlernen müssen, um sich in der modernen Welt als selbstständige Personen und verständige Mitbürger behaupten zu können“ (Dohmen 2001, S. 187). Das Begriffsensemble ‚Lebenslanges Selbstgesteuertes Lernen‘ verknüpft die beiden wesentlichen diskursiven Aspekte Lebenslaufperspektive und Eigenverantwortung, deren gesellschaftspolitische Thematisierung im Folgenden nachgezeichnet wird.

Die Verrechtlichungs- und Institutionalisierungsprozesse der Erwachsenenbildung gegen Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre verdeutlichen den gesellschaftlichen Bedarf sowie das staatliche Interesse an Weiterbildung:

„Weiterbildung sollte in umfassender Weise einen Beitrag zum sozialen Wandel und damit zum gesellschaftlichen Fortschritt leisten. So hat sich in den 60er Jahren endgültig die Auffassung im öffentlichen Bewusstsein verankert, dass auch das Wirtschaftswachstum vom Bildungsstand der Erwerbstätigen und der Bereitschaft zum ständigen Weiterlernen abhänge“ (Olbrich 2001, S. 365).

Die Idee des Lebenslangen Lernens bezieht sich dabei nicht ausschließlich auf Individuen, sondern gilt für die gesellschaftliche Gesamtheit, so dass sich in den darauffolgenden Jahren die Diskussion über den Zusammenhang des Prinzips des Lebenslangen Lernens und der Entwicklung einer sogenannten lernenden Gesellschaft sowie dementsprechende gesellschaftliche, bildungspolitische und praktische Fragen zu einer international bedeutsamen Thematik etablierten (vgl. Wiesner/Wolter 2005, S. 9ff.; Dohmen 1996, S. 61ff.). Zahlreiche Dokumente, beispielsweise der Gesamtplan der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung, der UNESCO-Report „Learning to be. The world of education today and tomorrow“ (1972) sowie der OECD-Bericht „Recurrent Education“ (1973), greifen dieses Thema auf und verdeutlichen den hohen Stellenwert, der dem Konzept international beigemessen wird (vgl. Olbrich 2001, S. 366f.). Laut Josef Olbrich erreicht der Diskurs Mitte der 1990er Jahre mit dem sogenannten Delors-Bericht der UNESCO von 1996 „Learning: The Treasure within“ (1996) seinen Höhepunkt. Dieser Bericht markiert eine neue bildungspolitische Perspektive: „Die Erwachsenenbildung wird zum Bindeglied in der Gesamtbildungsbiographie des Einzelnen: Reformen von Weiterbildung und Schule werden jetzt aus der Perspektive lebenslangen Lernens definiert“ (ebd., S. 367). Zum Ende der 1990er Jahre wurde eine regelrechte „globale Weiterbildungskampagne inszeniert“ (Siebert 2006, S. 17), deren Ausmaß im Rahmen dieser Arbeit lediglich angedeutet werden kann. Unter dem Motto „Lifelong Learning for All“ vereinbarten 25 OECD-Länder 1996 den Aktionsplan „From education to learning“. 1997 wurde im Rahmen der fünften UNESCO-Weltkonferenz zur Erwachsenenbildung in Hamburg die „Agenda für die Zukunft des Lernens im Erwachsenenalter“ und die „Deklaration CONFITEA V“ verabschiedet. Im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung verfasste Günther Dohmen 1996 ein Gutachten zum Lebenslangen Lernen und im darauffolgenden Jahr einen Bericht über Selbstgesteuertes Lernen. Besondere Beachtung fand die Thematik in Veranstaltungen und Projekten von Verbänden und Organisationen der Erwachsenenbildung, wie dem Deutschen Institut für Erwachsenenbildung oder der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (Vgl. ebd.). Im Verlauf der Diskussion zeichnet sich eindeutig ein zentraler Grundsatz ab: Um das bildungspolitische Ziel einer lernenden Gesellschaft im Sinne einer „Kultur des lebensbegleitenden Lernens“ (Gnahs/Seidel 1999, S. 72) verwirklichen zu können, sind individuell anzueignende Fähigkeiten, wie die „aktive Aneignung von Wissen, Reflexion von Erfahrungen und verantwortliches Handeln unerlässlich, Fähigkeiten also, die in selbstgesteuerten Lernprozessen gefördert werden“ (ebd.). Zunehmend wird der Bedarf einer Lerngesellschaft nach Förderung vielfältiger Formen Selbstgesteuerten Lernens offensichtlich und „bemerkenswert schnell hat das Konzept des selbstgesteuerten Lernens Eingang in die bildungspolitische Diskussion gefunden“ (Siebert 2006, S. 19).

Analytisch betrachtet, ergeben sich zwei wesentliche Akzente, die den erwachsenenpädagogischen und weiterbildungspolitischen Diskurs kennzeichnen: Stand in den 1970er und 1980er Jahren das lernende Subjekt mit seinen biographischen Bezügen, Neigungen und Erfahrungen im Zentrum der Aufmerksamkeit, richtete sich der Blick im Laufe der 1990er Jahre vor allem auf das eigenverantwortlich handelnde Lernsubjekt (vgl. Witthaus/Wittwer 2003, S. 7). Die Erweiterung des Lernbegriffs, die in der Forderung nach einer Lernkultur Lebenslangen Selbstgesteuerten Lernens zum Ausdruck kommt, lässt sich als Verschiebung der Verantwortlichkeit für die Realisierung sowie das Gelingen von Lernprozessen aus dem Bereich öffentlicher, institutionell organisierter Weiterbildung auf die Eigenverantwortung des lernenden Individuums interpretieren. Horst Siebert beschreibt diese Dynamik als Relativierung des Bildungssystems: Formalisiertes Lernen markiert nicht mehr den „Königsweg“ (Siebert 2006, S. 19), sondern wird lediglich als „ein Baustein in einem komplexen lebensweltlichen ‚curriculum vitae‘ ‚positioniert‘“ (ebd.). „Das lernende Individuum rückt in das Zentrum der Betrachtung: Es ist lernfähig, mündig, aber auch verantwortlich für seine Lernerfolge und Lernverweigerungen“ (ebd.). Innerhalb des Diskurses um Lebenslanges Lernen lässt sich also eine Verschiebung der Begründungslogik erkennen, welche auf die Verbindung von bildungspolitischen mit wirtschaftspolitischen Zielen zurückgeführt wird (vgl. Pongratz 2007). Ludwig Pongratz zeichnet im Rahmen seiner diskursanalytischen Betrachtung den Gestaltwandel Lebenslangen Selbstgesteuerten Lernens von einer emanzipatorischen Idee zu einem gesellschaftlichen Anpassungszwang nach, indem er die Bedeutungsverschiebungen innerhalb des Diskurses skizziert. Diese lassen sich in der Faustformel pointieren: „Lebenslang lernen dürfen, können, sollen, müssen, wollen“ (ebd., S. 7). Begriffe wie ‚Selbstgesteuertes Lernen‘ oder ‚Aneignungsorientierung‘ markieren einen dieser bedeutsamen Umbrüche und beginnen „auf der Bühne des lebenslangen Lernens ihre eigene Rolle zu spielen“ (ebd. S. 10). Betonte die Diskussion um Lebenslanges Lernen in ihrer Entstehungszeit und besonders im programmatischen Umfeld des Deutschen Bildungsrates die gesellschaftliche Bedeutung institutionalisierter Weiterbildung (vgl. Brödel 1998, S. 21f.), zeichnet sich im Zuge der Ausdifferenzierungen des Selbstgesteuerten Lernens mittlerweile eine ganz andere Tendenz ab: Mit zunehmender Fokussierung des Aneignungsaspektes anstelle der Vermittlungs- bzw. Instruktionsperspektive kommt ein lerntheoretischer Paradigmenwechsel innerhalb des erwachsenenpädagogischen Diskurses zum Ausdruck, der sich „als Akzentverschiebung hinsichtlich der professionellen Strukturierung von Lern- und Bildungsarbeit charakterisieren [lässt]“ (ebd., S. 23). Wurde während der 1970er Jahre, insbesondere im Kontext der Eingliederung der Weiterbildung zum quartären Sektor in das Bildungssystems der Bundesrepublik Deutschland, gerade die Institutionalisierung von Weiterbildung als Möglichkeit gesehen, die emanzipatorische Idee von Mündigkeit über ein flächendeckendes Bildungsangebot als Voraussetzung zum Lebenslangen Lernen einzulösen, wird im Gegensatz dazu in der aktuellen Diskussion um Selbstgesteuertes Lernen auf individuelle Lernkompetenzen und die Eigeninitiative des Lernenden gesetzt. Der selbstgesteuert Lernende zeichnet sich idealtypisch durch Organisationsfähigkeit aus, um über seinen gesamten Lebenslauf hinweg, eigeninitiativ Lernprozesse zu realisieren, diese flexibel in Berufs- und Privatleben zu integrieren sowie situationsgerecht durch institutionell organisierte Bildungsangebote zu ergänzen. Dabei trägt der Lernende die Verantwortung für den Erfolg seiner Bildungsbemühungen selbst (vgl. Dohmen 1996, S. 90f.; Pongratz 2007, S. 10ff.). So lässt sich das Selbstgesteuerte Lernen als „qualitative Seite des Programms des Lebenslangen Lernens“ betrachten (Forneck 2005a, S. 7), die aus bildungspolitischer Sicht eine Entlastung des Bildungssystems versprach und gleichzeitig eine Möglichkeit darstellte, an der Perspektive des Lebenslangen Lernens festzuhalten (vgl. Siebert 2003a, S. 106).

Die Ausdehnung des Lernbegriffs in den außerinstitutionellen Bereich privater Verantwortung markiert eine bildungspolitische Programmatik, die zu tiefgreifenden Veränderungen in der Erwachsenenbildung führt und eine erweiterte Lernkultur individualisierten Lernens erfordert. „Das »lebenslange Lernen für alle« ist nicht ein Leben lang in institutionalisierten Formen realisierbar. Eine lebensbegleitende pädagogische Führung und Betreuung für alle in schulartigen Kursen und Lehrgängen ist weder realisierbar/finanzierbar noch wäre sie wünschenswert“ (Dohmen 1996, S. 6). Zur Implementierung einer Lernkultur, die individualisiertes Lernen fördert, werden entsprechend veränderte Organisationsformen von Weiterbildungsinstitutionen, neue didaktisch-methodisch arrangierte Lernformen, ein neues Selbst- und Professionalitätsverständnis der in der Erwachsenenbildung Tätigen sowie neue Finanzierungsmöglichkeiten notwendig (vgl. dazu Dietrich 2001b). Institutionalisierte Weiterbildung wird damit zwar nicht generell abgewertet - auch wenn im Zuge der Diskussion um Selbstgesteuertes Lernen der Eindruck entstehen könnte, institutionelle Weiterbildung werde zunehmend als ‚längst überholt‘, traditionell und fremdbestimmend stigmatisiert (vgl. Meisel 2002, S. 128). Festzustellen ist, dass der zunehmende gesellschaftliche Stellenwert selbstgesteuerten und eigenverantwortlichen Lernens tiefgreifende Veränderungen im Weiterbildungssystem erfordert, wenn Weiterbildungsinstitutionen über ihre Bildungsarbeit, diesem immer deutlicher werdenden Bedarf individualisierter Lernformen gerecht werden wollen. Als problematisch erweist sich jedoch, dass weder innerhalb der Erwachsenenbildung noch über die disziplinären Grenzen hinaus eine einheitliche Klärung dessen, was unter Selbstgesteuertem Lernen konkret zu verstehen ist, wie es sich begründet und zu welchem Ziel es eingesetzt werden soll, existiert.

2.2 Zur Problematik der begrifflichen Bestimmung

Wie bereits angedeutet, liegt bis heute weder im alltäglichen Sprachgebrauch erwachsenenpädagogischer Praxis noch innerhalb der wissenschaftlichen Diskussion eine einheitliche Begriffsbestimmung Selbstgesteuerten Lernens vor (vgl. Weinert 1982, S. 99). Zudem finden sich eine Vielzahl synonym verwendeter Begriffe, wie beispielsweise selbstorganisiertes Lernen (vgl. z.B. Schäffter 2003), selbstbestimmtes Lernen (vgl. z.B. Faulstich 2003a), selbstreguliertes Lernen (vgl. z.B. Leutner/Leopold 2003) oder self-directed learning (vgl. z.B. Reischmann 1999), die ebenso wenig einheitlich definiert werden und deren jeweilige theoretischen Konzepte in der Regel unverbunden nebeneinanderstehen, ohne konkrete Bezüge zueinander herzustellen. Des Weiteren lässt sich feststellen, dass das Konzept und die Idee Selbstgesteuerten Lernens oftmals unkritisch idealisiert werden, was im Wesentlichen auf zwei Ursachen zurückzuführen ist: Einerseits scheinen Konzept und Idee besonders positiv konnotiert zu sein, da Selbstgesteuertes Lernen nicht nur in bildungsphilosophischer Tradition emanzipatorischer Ideale von Autonomie und Mündigkeit steht, sondern darüber hinaus innovative Lernformen verspricht und sich aufgrund seiner Popularität besonders gut vermarkten lässt. Andererseits trägt der weitgefasste Begriff dazu bei, dass sich Varianten des Konzeptes aus verschiedenen Bereichen und mit unterschiedlichen Begründungslogiken integrieren lassen.

„Selbstgesteuertes Lernen fokussiert in allen Bildungsbereichen Hoffnungen und Erwartungen, wirksam zur Lösung von Motivations- und Lerntransferproblemen beizutragen. Weil es besonders gut zur Idee der Selbstverantwortung paßt, wird es auch von jenen aufgenommen, die das Bildungswesen finanzieren. Attraktiv erscheint das Konzept selbstgesteuertes Lernen nicht zuletzt deswegen, weil es unscharf gefasst ist. Es kann je nach Situation und Interessenlage definiert und konkretisiert werden“ (Weber 1996, S. 178).

Provokativ formuliert, lässt sich Selbstgesteuertes Lernen in eine Reihe jener Begriffe einordnen, die Karlheinz Geißler und Frank Michael Orthey als „begriffliche Stopfgans“ (2002, S. 60) bezeichnen. Was die Autoren in Bezug auf den Begriff der Schlüsselqualifikation diagnostizieren und Reinhold Weiß (1999) im Anschluss daran auf den Kompetenzbegriff überträgt, könnte diese Reihe fortsetzend auch für das Selbstgesteuerte Lernen gelten. „Sein propagandistisches Geheimnis besteht gerade darin, konkreten Programmfestlegungen auszuweichen und breite, nicht faßbare Positionen zu markieren, die unterschiedliche reale Interessen in diese benannte Leere aufnehmen bzw. in ihr untergehen lassen“ (Weiß 1999, S. 436).

Dieser unkritische Umgang schlägt sich Susanne Kraft zufolge in einer „ausufernden, vielfach unstrukturierten Diskussion“ (Kraft 1999, S. 834) nieder:

„Die Theorien zum Selbstgesteuerten Lernen sind uneinheitlich, es mangelt an klaren und präzisen theoretischen Begriffsbestimmungen und Abgrenzungen, die Begründungen für diese Form des Lernens sind von unterschiedlicher Qualität und Plausibilität, die empirischen Befunde sind vielfältig und die Datenlage ist diffus bis unüberschaubar“ (ebd.).

Die vielfältigen Auffassungen und Konzeptionen, die unter den Begriff des Selbstgesteuerten Lernens gefasst werden, verdeutlichen, dass Selbstgesteuertes Lernen Gegenstand verschiedener Theorietraditionen ist, der aus unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichen Akzentuierungen seiner Teilaspekte erforscht wird. So bezeichnen Helmut Felix Friedrich und Heinz Mandl den Untersuchungsgegenstand Selbstgesteuertes Lernen als regelrechten „Tummelplatz von Theorien unterschiedlicher Provenienz und Begrifflichkeit“ (Friedrich/Mandl 1997, S. 240), die sich allein im Rahmen allgemeinpsychologischer Theorien über „Handlungstheorien, Motivationstheorien, Emotionstheorien, Informationsverarbeitungstheorien, Selbstkonzepttheorien sowie differentialpsychologische Theorien [erstrecken, um] sowohl einzelne Komponenten des selbstgesteuerten Lernens als auch das Wechselspiel dieser Komponenten angemessen beschreiben und erklären zu können“ (ebd.). Die theoretische Heterogenität spiegelt sich auch in empirischen Studien wider:

„Es werden lerntheoretische Grundannahmen gemacht, unterschiedliche Perspektiven (psychologische, pädagogische) verfolgt oder lediglich einzelne Aspekte selbstgesteuerten Lernens (z.B. kognitive, motivationale, emotionale Bedingungen und Voraussetzungen), bzw. Fragen der Förderung selbstgesteuerten Lernens, dies in verschiedenen Bereichen (Schule, Hochschule, Betrieb), untersucht“ (Kraft 1999, S. 840).

Kraft vermutet in der Vielschichtigkeit der Untersuchungsansätze eine Ursache für die Schwierigkeit, Ergebnisse zu systematisieren und Konsequenzen hinsichtlich des weiteren Forschungsbedarfes sowie für die pädagogische Praxis ableiten zu können. So lässt sich abschließend festhalten, dass aufgrund „der unterschiedlichen theoretischen Konzeptionen und Modelle sowie der Bearbeitung lediglich von Teilaspekten“ (ebd.), die Untersuchungsergebnisse „unterschiedlich aussagekräftig und zudem wenig vergleichbar“ sind (ebd.). Die vorangegangene kritische Betrachtung verdeutlicht die Notwendigkeit einer konkretisierenden, systematischen Darstellung des aktuellen wissenschaftlichen Diskussionsstandes zum Selbstgesteuerten Lernen. Erst darauf aufbauend kann eine definitorische Eingrenzung dessen, was im Rahmen dieser Arbeit unter Selbstgesteuertem Lernen betrachtet wird, unternommen werden.

2.3 Aktueller Diskussions- und Forschungsstand

Die Diskussion um Selbstgesteuertes Lernen ist durch unterschiedliche Zugänge zum theoretischen Konstrukt der Selbststeuerung gekennzeichnet, wobei die wohl bedeutsamste Differenzierung darin liegt, ob Selbststeuerung lerntheoretisch als Voraussetzung von Lernprozessen betrachtet wird oder die pädagogische Förderung eigenständigen, selbstverantworteten Lernens fokussiert wird. Letztere Perspektive betrachtet Selbststeuerung hinsichtlich des didaktischen Verhältnisses zwischen Selbstlernprozess und personaler sowie materieller Lernumgebung. In einem Überblicksartikel über die amerikanischen Wurzeln Selbstgesteuerten Lernens systematisiert Jost Reischmann (1999) unterschiedliche Auslegungen und verdeutlicht, dass im Konzept Selbstgesteuerten Lernens genau genommen mehrere unterschiedliche Konzepte enthalten sind (vgl. dazu auch Schiersmann 2006; Friedrich/Mandl 1997). In Reischmanns Darstellung zeigt sich zudem, dass die internationale Diskussion den Begriff von Beginn an in unterschiedlichen Bedeutungen verwendete. Je nach Blickwinkel wird Selbststeuerung „einerseits als Ziel der Erwachsenenbildung, andererseits als Voraussetzung, als alltägliches Geschehen oder didaktisch arrangierter Weg [beschrieben]“ (Reischmann 1999, S.47; vgl. dazu auch Weinert 1982, S. 99ff.). Um der Unübersichtlichkeit der heterogenen Betrachtung entgegenzuwirken, erscheint es sinnvoll, drei grundlegende Perspektiven bzw. Varianten des Konzepts Selbstgesteuerten Lernens voneinander abgrenzen: (1) Konzepte, die Selbststeuerung als lerntheoretische Voraussetzung des Aneignungsprozesses annehmen, (2) solche, die Selbststeuerung als pädagogisch-didaktische Dimension konzipieren und (3) Konzepte, die Selbststeuerung im Sinne eines eigenverantworteten Selbstmanagements als gesellschaftspolitische Dimension betrachten (vgl. Schiersmann 2006, S. 15ff.). Da gegenwärtige Lernkonzeptionen auf der Annahme basieren, dass Lernen einem individuellen Konstruktionsprozess des Subjektes entspricht, ist es zunächst einmal notwendig, die systemtheoretisch-konstruktivistischen Grundlagen dieser Auffassung zu fokussieren. Im Anschluss daran wird Selbstgesteuertes Lernen, dieser Systematisierung folgend, mehrperspektivisch beleuchtet.

2.3.1 Systemisch-konstruktivistische Grundlagen

Das Konzept Selbstgesteuerten Lernens entspricht systemisch-konstruktivistischen Annahmen, die Lernprozesse nicht mehr behavioristisch als Folge eines äußeren Stimulus interpretieren, sondern die konstruktive, mentale Eigenaktivität des Lernenden herausstellen (vgl. Friedrich/Mandl 1997, S. 237). Im Wesentlichen gehen diese Erkenntnisse auf die Systemtheorie Humberto R. Maturanas und Francisco Varelas (1987) zurück. Diese erkannten in Abweichung der neurobiologischen Tradition die zirkuläre Organisation lebender Systeme, welche sich nicht durch ihre Beziehung zur Umwelt, sondern allein aus ihrer autopoietischen und selbstreferentiellen Struktur heraus erklären lässt (vgl. Kösel 1995, S. 39). Der Kerngedanke des systemischen Ansatzes nach Maturana und Varela ist, dass menschliches Erkennen und Wahrnehmen über eine „Verkettung von Handlung und Erfahrung“ erfolgt (Maturana/Varela, 1987, S. 28) im Sinne der „Untrennbarkeit einer bestimmten Art, zu sein, von der Art, wie die Welt uns erscheint“ (ebd.). Da Realität als individuelle Konstruktion des erkennenden und denkende Subjekts betrachtet wird, stellt der konstruktivistische Ansatz das kognitivistische Repräsentationsmodell radikal infrage, da dieses aus konstruktivistischer Sicht der erkenntnistheoretischen Prämisse unterliegt, der Mensch könne die Welt wirklichkeitsgetreu abbilden und verinnerlichen. Der Begriff der Autopoiese, den Maturana und Varela Anfang der 1970er Jahre als grundlegendes Merkmal lebender Systeme einführen, etabliert sich später zu einem bedeutsamen Teilaspekt konstruktivistischer Erkenntnistheorie (vgl. Kriz 1998, S. 37). Der Konstruktivismus stellt eine übergeordnete Erkenntnistheorie dar, die systemtheoretische, neuere kognitionspsychologische und neurophysiologische sowie wissenssoziologische Ansätze umfasst (vgl. Arnold 2001, S. 176f.). Die Argumentationslogik der Systemtheorie beabsichtigt, die systemischen Zusammenhänge von psychologischen, sozialen und biologischen Phänomenen wie beispielsweise dem menschlichen Lernen, Kommunizieren und Verhalten zu erklären, während der Konstruktivismus primär die Beobachtungsabhängigkeit menschlicher Erkenntnis fokussiert und diese als individuelle Konstruktion expliziert. Da jedoch beide Theorien erhebliche Schnittmengen aufweisen und gemeinsame Begriffe hervorbringen, erscheint es besonders in Bezug auf den Untersuchungsgegenstand erwachsenengerechter Lehr-Lernarrangements gerechtfertigt, von einem einheitlichen systemisch-konstruktivistischen Paradigma zu sprechen (vgl. Siebert 2003d, S. 12ff.). Derartige gemeinsame Schlüsselbegriffe und Prinzipien, wie etwa Autopoiese, Selbststeuerung, Strukturdeterminiertheit, Kontextabhängigkeit, Selbstreferentialität und Strukturelle Koppelung, sollen im Folgenden grob skizziert und anhand aktueller neurowissenschaftlicher Erkenntnisse im Hinblick auf ihren Erklärungsgehalt für Lernprozesse präzisiert werden.

Als autopoietisches System stellt das menschliche Gehirn ein dynamisches, operational geschlossenes Netzwerk interagierender Neuronen dar. „Die Plastizität des Gehirns wird begrenzt durch Strukturen, die der Mensch gattungsgeschichtlich und im Laufe seiner Lernbiografie entwickelt hat. Wahrnehmungen, Denken, Fühlen, Lernen erfolgen also ‚ strukturdeterminiert ‘, d.h., neue Inhalte können nur im Rahmen dieser Strukturen verarbeitet werden“ (Siebert 2004, S. 20; H.i.O.). Die Funktionsweise autopoietischer Systeme erfolgt dementsprechend selbstorganisiert und selbstbezüglich, so dass Wahrnehmungen, Bedeutungskonstellationen und Emotionen sehr eigensinnige, individuell hervorgebrachte Konstrukte darstellen, die zwar nicht gänzlich unabhängig von der Systemumwelt sind, jedoch nicht durch diese, sondern durch die eigenen Strukturen determiniert werden. Aufgrund dieser Selbststeuerung des Zentralen Nervensystems, die durch Strukturdeterminiertheit und operationale Geschlossenheit gekennzeichnet ist, interagiert das Gehirn zum großen Teil mit sich selbst. Auch in Bildungsveranstaltungen ist Lernen „größtenteils ein ‚emergenter‘ Prozess, ein ‚innerer Monolog‘“ (Siebert 2004, S. 20).

Die Gehirnaktivität steht über lose strukturelle Kopplungen mit der Systemumwelt im Austausch und wird von dieser nicht bestimmt, sondern lediglich irritiert, denn welche äußeren Einflüsse schließlich ins Bewusstsein vordringen, unterliegt letztendlich ausschließlich der systemeigenen Struktur. Autopoietische Systeme kennzeichnet, dass sie sich unabhängig von der Systemumwelt immer wieder aus sich selbst heraus neu hervorbringen und durch das Prinzip der Selbstorganisation ihre eigene Gestalt erhalten. „Struktur- und Zustandsveränderungen werden im Wesentlichen nicht von den Ereignissen und Merkmalen der Umwelt bestimmt, sondern von der Organisation der Systeme“ (Kösel 1995, S. 45).

Die Dynamik dieser Selbstorganisation erfolgt also selbstreferentiell, d.h. im Rückbezug auf bereits vorhandene Strukturen: „Der Grundgedanke besteht […] darin, dass kognitive Fähigkeiten untrennbar mit einer Lebensgeschichte verflochten sind, wie ein Weg, der als solcher nicht existiert, sondern durch den Prozess des Gehens erst entsteht“ (Varela 1990, S. 110). Die selbstgesteuerte, strukturdeterminierte Funktionsweise des Gehirns sorgt dafür, dass kognitive und emotionale Bedeutungskonstellationen nach dem Prinzip der Viabilität und Lebensdienlichkeit aufgebaut sind, d.h. sie sind anschlussfähig, scheinen funktional zu sein oder haben sich bereits bewährt, erfolgreiches Handeln zu ermöglichen (vgl. Siebert 2003b, S. 14). Die vielfältigen Sinneseindrücke, die ein Mensch aufnimmt, werden zunächst unbewusst selektiert und gefiltert. In spezifischen Erkennungsprozessen durch Bedeutungszuschreibungen, Generalisierungen und Abstrahierung wird das Wahrgenommene gewissermaßen zu Komplexität reduzierenden Mustern weiterverarbeitet, die unsere individuellen Erfahrungen, Empfindungen, Überzeugungen oder auch Werte erzeugen (vgl. dazu ausführlich Roth 2001). Dem stringenten Prinzip von Viabilität und Zirkularität folgend, entsteht ein subjektiv geprägtes Netz von aufeinander aufbauenden, sich gegenseitig beeinflussenden, aber auch von außen irritierbaren Wissens- und Bedeutungsstrukturen:

„Unser Gehirn sieht das, was es sieht, was es sehen will und kann; es hört das, was es hört, und nicht das, was der Dozent sagt; es verarbeitet das, was von der kognitiven Struktur verarbeitet werden kann; es registriert, was kognitiv anschlussfähig und emotional verträglich ist. Gelernt wird nicht das, was gelehrt wird, sondern das, was viabel erscheint. Was bedeutungsvoll ist entscheidet jeder für sich. So gesehen ist Lernen ein höchst eigenwilliger, individueller Prozess, und zugleich erfolgt Lernen in sozialen Kontexten“ (Siebert 2003b, S. 15).

Lernhandlungen setzten daher eine subjektiv begründete Sinnhaftigkeit, eine Bedeutung oder ein individuelles Interesse voraus. „Nachhaltig ist Lernen – damit bestätigen Erkenntnisse aus der Erziehungswissenschaft diejenigen der Neurobiologie, wenn es interessengeleitet ist, emotional und sozial stimmig, an Erfahrungen anschließt und an bestehenden Wissens- und Kompetenzbestände angedockt werden kann“ (Nuissl von Rein 2002, S. 10).

Die neurowissenschaftliche Forschung weist darauf hin, dass beispielsweise unsere Augen nicht einfach rezeptiv Eindrücke wahrnehmen, sondern aktiv nach interessanten Reizen ‚suchen‘, welche über die gehirneigene Aktivität modifiziert werden und erst dann ins Bewusstsein eintreten. Dies beschreibt ein selektives, autopoietisches Verfahren, indem Assoziationsareale aktiviert und miteinander verknüpft werden (vgl. Siebert 2003b, S. 14f.). Für Lernprozesse bedeutsam ist daran vor allem, dass die Eindrücke, welche auf diese Weise ‚erzeugt‘ werden, bereits durch unbewusste Selektions-, Assoziations- und Einordnungsprozesse subjektiv eingefärbt sind und ein großer Anteil des Lernprozesses bzw. der dem Lernen vorgeschalteten Prozesse unbewusst und implizit erfolgt. „Das menschliche Gehirn verfügt offenbar über einen ‚Relevanzdetektor‘ und einen ‚Neuigkeitsdetektor‘. Informationen, die als bedeutungslos und bekannt erscheinen, werden zum ‚Rauschen‘. Da diese Relevanz- und Neuigkeitsdetektoren biographie- und erfahrungsabhängig sind, nehmen verschiedene Personen in Bildungsveranstaltungen sehr Unterschiedliches wahr“ (Siebert 2004, S. 21). Da der Neokortex mit dem limbischen System verbunden ist, stellt Lernen eine ebenso kognitive wie auch emotionale Tätigkeit dar: „Vernunft und Verstand sind eingebettet in die affektive und emotionale Natur des Menschen“ (Roth 2001, S. 451). Lernprozesse sind demzufolge auch durch emotionale Erfahrungswerte beschränkt. Negative und traumatisierende Erlebnisse, selbst wenn sie biographisch lange zurückliegen, können eine blockierende Wirkung auf Lernprozesse haben. Von einem systemtheoretisch-konstruktivistischen Standpunkt aus stellt Lernen „eine selbstgesteuerte, konstruktive, biographisch geprägte, überlebensdienliche, kognitive und emotionale Tätigkeit dar“ (Siebert 2003b, S. 13).

Siebert bezeichnet Beobachtung als kognitionstheoretischen Schlüsselbegriff des systemisch-konstruktivistischen Paradigmas (vgl. ebd., S. 18). Zu beobachten meint, genau genommen, zu unterscheiden. Um der Komplexität des prinzipiell Beobachtbaren entgegenzuwirken, kategorisiert das Gehirn die Wirklichkeit anhand von Leitdifferenzen. „Diese Leitdifferenzen sind Ausdruck unseres Wertesystems und unserer Identität; sie sind erkenntnis-, aber auch handlungsleitend. Für Verständigungsgemeinschaften ist eine gewisse Übereinstimmung der Leitdifferenzen unerlässlich – ansonsten sind Missverständnisse die Regel“ (ebd., S. 19). Leitdifferenzen sind eingebettet in den subjektiven Bedeutungshorizont, durch frühere Erfahrungen und Erkenntnisse geprägt, erschienen zu einem früheren Zeitpunkt als viabel und sinnvoll und wurden daher als bedeutungsvoll abgespeichert. Solche gewohnten Leitdifferenzen können sich in neuen Situationen oder veränderten Kontexten jedoch als unangemessen und dysfunktional erweisen. Auf diese Weise entstehende Diskrepanzen lassen sich über „reflexive Lernprozesse, [d.h. über] selbstkritische Beobachtung der eigenen selektiven Wahrnehmung“, überwinden (ebd.). Diese Selbstbeobachtungen verweisen auf den lerntheoretisch zentralen Begriff der Metakognition. Metakognition bezeichnet die bewusste Reflexion der eigenen Wahrnehmung, des Verlaufs kognitiver Prozesse sowie relevanter mitlaufender Emotionen. „Wir können uns unserer Differenzen und Unterscheidungen, unserer Viabilitätskriterien und – begrenzt – auch unserer »blinden Flecke« vergewissern“ (Siebert 2003a, S. 23). Da Lernen erfahrungsorientiert und rekursiv ist, Erfahrungen und Wissensbestände jedoch relativ zeit- und kontextabhängig, besteht die Notwendigkeit, sich des eigenen Lernprozesses sowie der Vergänglichkeit gewohnter Lebens –bzw. Lernerfahrungen, Deutungsmuster und Wissensbestände klar zu werden. „Metakognitionen sind zentraler Bestandteil des selbstgesteuerten Lernens – ansonsten bleibt dieses Lernen selbstreferenziell in der eigenen begrenzten Erfahrungswelt verhaftet“ (vgl. Siebert 2003b, S. 19). Hiermit wird ein wesentlicher Aspekt Selbstgesteuerten Lernens angesprochen. Zum erfolgreichen Lernen bedarf es genügend Irritationen von außen, etwas Neuem oder Fremdem, damit die Viabilität festgefügter Wirklichkeitskonstruktionen neu hinterfragt wird. „»Bewegung« kommt in das festgefügte Geflecht unserer Wirklichkeitskonstrukte vor allem durch »Perturbationen«, d.h. durch wahrgenommene Störungen unseres Person-Umwelt-Verhältnisses“ (Siebert 2003a, S. 23).

Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass ein systemisch-konstruktivistischer Zugang zum Theoriekonstrukt der Selbststeuerung – und neurowissenschaftliche sowie neuere kognitionswissenschaftliche Forschungsergebnisse stützen diese Auffassung – Lernprozesse jeglicher Lernart als innerpsychische und kognitive Selbststeuerungsprozesse identifiziert. Die konstruktivistische Perspektive betrachtet, im Gegensatz zu klassischen Lerntheorien, Lernprozesse vom Subjektstandpunkt aus; sie nimmt gewissermaßen die Innenperspektive des lernenden Subjekts ein und erklärt die systemischen Begründungszusammenhänge der Eigenlogik menschlicher Denkprozesse als von der Systemumwelt (relativ) unabhängige Dynamik. Durch Rezeption systemtheoretischer und konstruktivistischer Theorien in der Erwachsenenpädagogik wurden illusionäre Vereinfachungen des Lehr-/Lerngeschehens aufgedeckt und verdeutlicht, dass Lernen nicht linear durch Lehrtätigkeit gesteuert werden kann (vgl. Arnold/Schüßler 2003, S. 1). Eine solche Betrachtungsweise des Lernens erfordert didaktische Konsequenzen, ein verändertes Rollen- und Aufgabenverständnis von Lehrenden sowie evaluierende Forschungsarbeit, die didaktische Arrangements, geeignete Lerngelegenheiten, Moderation von Lernprozessen und Lernberatung dahingehen überprüft, ob sie erfolgreiches Selbstgesteuertes Lernen effektiv anregen und fördern. Der systemisch-konstruktivistische Theorieansatz unterstreicht die Bedeutung der Eigendynamik des Lernens und eines entsprechenden didaktisch zugestandenen Freiraums, damit diese Eigendynamik individuell entfaltet werden kann, um dem Lernenden einen effektiven metakognitiven Umgang mit dem eigenen Lernen zu ermöglichen (vgl. dazu z.B. Arnold/Gómez Tutor 2007).

2.3.2 Bedingungen Selbstgesteuerten Lernens

Vor dem Hintergrund dieses systemisch-konstruktivistischen Lernverständnisses, welches Lernprozesse generell als selbstorganisierte Aneignungsprozesse identifiziert, überzeugt der Anspruch, aktive selbstgesteuerte Lernprozesse zu fördern in besonderem Maße. Zur Klärung der Frage, wie sich die kognitive Aktivität und der mentale Eigensinn beim Wissenserwerb didaktisch fördern lässt, sind darüber hinaus lerntheoretische Erkenntnisse bedeutsam, die belegen, welche Faktoren und Bedingungen die Erfolgswahrscheinlichkeit selbstgesteuerter Lernprozesse beeinflussen. Denn eine aktive kognitive Eigenleistung korreliert beispielsweise nicht unbedingt mit der Wahl eines konkreten Lernkontextes oder einer Lernform, sondern hängt letztlich von individuellen und situativen Faktoren ab, die sich lediglich über das Arrangement von Lernumgebung und Lernsituation begünstigen lassen. „So wenig man garantieren kann, daß bestimmte Merkmale von Lernumgebungen selbstgesteuertes Lernen aktivieren, so wenig kann man ausschließen, daß selbstgesteuertes Lernen in Lernumgebungen stattfindet, die nicht eigens für diesen Zweck entworfen wurden“ (Friedrich/Mandl 1997, S. 261). Das heißt, Lernprozesse können einerseits im Rahmen fremdstrukturierter kursorischer Lernkontexte, wie beispielsweise einer Vorlesung, durchaus angeregt werden, da Wissen - trotz von außen beobachtbarer passiver Teilnahme - konstruktiv mit bestehenden kognitiven Strukturen und Bedeutungskonstellationen verknüpft und für neue komplexe Problemsituationen bereit gestellt wird. Andererseits muss mit informellen Lernprozessen und Abwesenheit professioneller Steuerungsmaßnahmen nicht notwendigerweise eine bewusste Selbststeuerung des Lernprozesses einhergehen, aus der ein nachhaltig effektiver Lernerfolg resultiert. Um der Zufälligkeit des Lernerfolges didaktisch entgegen zu wirken, sind also konkretisierende empirische Untersuchungsergebnisse hinsichtlich der Voraussetzungen bzw. Bedingungen für gelingende Selbstlernprozesse heranzuziehen.

Als signifikante Einflussfaktoren auf den Erfolg Selbstgesteuerten Lernens, gemessen an inhaltlichen Lernresultaten (Wissenszugewinn) sowie zunehmender Selbstlernfähigkeit, sind einerseits personenbezogene (kognitive und motivationale) und andererseits situative Komponenten zu nennen (vgl. Friedrich/Mandl 1997, S. 241ff.). Selbstgesteuertes Lernen, verstanden als intentionaler Aneignungsprozess, erfordert in hohem Maße eine metakognitive Eigenleistung des Lernenden, die durch ein komplexes Zusammenspiel von motivational-emotionalen Faktoren bedingt ist. Als lernerseitige Komponenten fassen Helmut F. Friedrich und Heinz Mandl folgende Aspekte zusammen: Lernmotivation im Sinne des Bedürfnisses nach Kompetenz- und Autonomieerleben, volitionale Strategien, Selbstwirksamkeitsüberzeugungen, Verfügung über inhaltliches Vorwissen, Lern- und Problemlösestrategien sowie metakognitive Strategien (vgl. ebd.).

„Die enge Verbindung emotional-motivationaler und kognitiver Komponenten ergibt sich […] daraus, daß Lernen sich nicht in der kühl-rationalen Ver- und Bearbeitung von Lernstoff erschöpft, sondern auch ichnahe, für das Selbstbild zentrale Gedanken und Emotionen einschließt […]. Beim Lernen erwirbt man nicht nur Wissen über einen Lerngegenstand, sondern immer auch Wissen über die eigene Person, über eigene Stärken (Können, Ausdauer, Zielstrebigkeit usw.) und Schwächen (Verständnisprobleme, Unaufmerksamkeit, Desinteresse, usw.), das kritisch für das Selbstkonzept werden kann“ (ebd., S. 241f.).

Selbstgesteuertes Lernen ist als explizit metakognitiv gesteuerter Prozess zu verstehen, in dem die didaktische Organisations- und Strukturierungsleistung vom Lernenden selbst übernommen werden soll (vgl. Kaiser 2003, S. 13ff.), wobei sich die erforderliche Eigenleistung auf unterschiedliche Aspekte des Lernprozesses bezieht: Lernzielbestimmung und Inhaltsauswahl, Lernkoordination, Lernorganisation, Lern(erfolgs)kontrolle sowie die Reflexion der Lernsituation (vgl. Kraft 2002, S. 26ff.). Die Bewältigung dieser, mit dem Selbstgesteuerten Lernen verbundenen, Anforderungen stellt einen hohen Anspruch an den Lernenden dar und setzt eine bereits vorhandene Selbstlernkompetenz im Sinne des komplexen Zusammenspiels von persönlichen Fähigkeiten, Eigenschaften und Einstellungen voraus, welche sich letztlich als signifikante Variable für den Erfolg von Selbstlernprozessen belegen lässt. Da jedoch nicht davon ausgegangen werden kann, dass Erwachsene per se über die notwendigen Selbstlernfähigkeiten verfügen, wird der Bedarf an professioneller Unterstützung offensichtlich (vgl. Simons 1992). Diese schützt vor Überforderung und damit einhergehenden negativen Lernresultaten, was sich deutlich anhand empirischer Untersuchungen der situativen Bedingungen von selbstgesteuerten Lernprozessen erkennen lässt. Diese zeigen, dass sich - in Abhängigkeit der jeweiligen Lernform - Lerninhalte, soziale und situative Support-Systeme sowie die konkrete Verwendungssituation als begünstigende Einflussfaktoren von Lernsituationen und -umgebung herausstellen und eine anregende, unterstützende und fördernde Wirkung für selbstgesteuerte Lernprozesse aufweisen (Friedrich/Mandl 1997, S. 253ff.). Auch Ergebnisse empirischer Weiterbildungsforschung weisen daraufhin, dass organisiertes Lernen den Erwerb notwendiger Techniken und Strategien metakognitiver Selbstlernkompetenz begünstigt und das Ausmaß bereits vorhandener Selbstlernfähigkeiten Erwachsener proportional zum Bildungsniveau steigt (vgl. Kaiser 2003, S. 220ff.)[2]. Es lässt sich also festhalten, dass auch im Kontext Selbstgesteuerten Lernens erwachsenenpädagogisch-professionelles Handeln von großer Bedeutung ist, um sicherzustellen, dass die Lernprozesse Erwachsener - gesamtgesellschaftlich betrachtet – qualitativ nicht hinter traditionelle kursorische Lernformen zurückfallen.

2.3.3 Selbststeuerung als didaktische Dimension

Neben der dargelegten lerntheoretisch orientierten Perspektive macht die pädagogisch-didaktische Gestaltung von Lernarrangements, die Lernen als kognitive und innerpsychische Aneignungsleistung anregen, unterstützen und fördern, die zweite bedeutsame wissenschaftliche Untersuchungsrichtung aus. Diese Perspektive entspricht einem Begriffsverständnis Selbstgesteuerten Lernens, wie es in den USA in den 1970er und 1980er Jahren maßgeblich durch Malcolm Knowles (1975) geprägt wurde (vgl. Reischmann 1999, S. 44). „Bei diesem zweiten Begriffsverständnis werden innerhalb von fremdorganisierten Lehrveranstaltungen dem Lerner vom Veranstalter Selbststeuerungsmöglichkeiten angeboten: Lehren wird verbessert durch die Hereinnahme von Phasen selbstgesteuerten Lernens“ (ebd.). Eine auch im deutschsprachigen Raum als klassisch geltende Definition Selbstgesteuerten Lernens stammt von Knowles und lautet:

„In its broadest meaning, `self-directed learning´ describes a process in which individuals take the initiative, with or without the help of others, in diagnosing their learning needs, formulating learning goals, identifying human or material resources for learning, choosing or implementing appropriate learning strategies, and evaluating learning outcomes” (Knowles 1975, S. 18).

Dieser Definition folgend, bestehen wesentliche Merkmale Selbstgesteuerten Lernens darin, dass (1) der Eigeninitiative des Lernenden eine hohe Bedeutung zugeschrieben wird, und (2) der Lernende seinen Lernprozess über verschiedene Ansatzpunkte wie Lernziel und -inhalt, Methoden und Lernstrategien, zeitliche und materielle Ressourcen oder personale Unterstützung (mehr oder weniger) selbst bestimmt und kontrolliert. Selbstgesteuertes Lernen baut auf bereits vorhandenen Lernstrategien auf und verläuft bewusst und reflexiv, so dass die Aspekte der klassischen Lehrtätigkeit schrittweise in die Verantwortung des Lernenden übergehen können. „Im Rahmen einer methodisch-didaktischen Konzipierung von Selbststeuerung steht die Intention im Mittelpunkt, Lernsituationen […] so auszugestalten, dass sie ein möglichst hohes Maß an Eigenaktivität der Lernenden ermöglichen“ (Schiersmann 2006, S. 17).

Dieses Verständnis Selbstgesteuerten Lernens erfordert ein neues Selbstverständnis der Lehrtätigkeit sowie ein entsprechend verändertes Lernarrangement, welches im Sinne einer verbesserten Teilnehmerorientierung flexible Phasen Selbstgesteuerten Lernens in die didaktische Gestaltung einfließen lässt. Ein didaktisches Arrangement also, das eigensinniges konstruktives Lernen innerhalb fremdorganisierter Bildungsangebote zulässt bzw. fördert. Die Entwicklung neuer Lernkulturen Selbstgesteuerten Lernens steht in engem Zusammenhang mit der reflexiven Wende der Erwachsenenbildung, die in den 1980er Jahren den Blick verstärkt für subjektive Lern- und Aneignungsprozesse der Teilnehmenden sensibilisiert hat. Auf der Grundlage neuerer lerntheoretischer Erkenntnisse wurde die Notwendigkeit offensichtlich, dass sich die pädagogische Disziplin von der Vorstellung eines monokausalen Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Lehren und Lernen verabschieden und dem Lernenden eine konstruktive Rolle in Bildungsprozessen zugesprochen werden müsse (vgl. Friedrich/Mandl 1997, S. 258ff.). Seit den 1990er Jahren zeichnet sich in der erwachsenenpädagogischen Diskussion ein systemisch-konstruktivistischer Paradigmenwechsel ab, mit dem die Selbststeuerung zu einer neuen Orientierungskategorie firmiert (vgl. z.B. Siebert 2003c). Diese markieren die Wende von der traditionellen Vermittlungs- oder Belehrungsdidaktik zu einer Ermöglichungsdidaktik als grundlegend veränderten konzeptionellen Rahmen von Bildungsarbeit (vgl. Arnold/Schüßler 2003). Die Ermöglichungsdidaktik fixiert Leitlinien, die eine systemisch-konstruktivistische Didaktik ausmachen“ (Arnold/Gómez Tutor 2007, S. 9), wobei das didaktische Geschehen von der Logik der Aneignung her – also aus der Innenperspektive des Lernsubjektes heraus - konzipiert wird.

„In diesem Argumentationszusammenhang wird davon ausgegangen, dass die Lernergebnisse besser sind,

- wenn die Lernprozesse aus der eigenen Initiative der Lernenden resultieren,
- wenn sie an die spezifischen Bedeutungskontexte der Teilnehmenden anknüpfen,
- wenn die Lernenden im Mittelpunkt des Lerngeschehens verortet werden,
- wenn sie ihre Vorstellungen und Lernbedürfnisse in den Lernprozess einbringen dürfen
- wenn sie bei der Ausgestaltung der Inhalte beteiligt sind und diese selbstständig bearbei- ten können“ (Schiersmann 2006, S. 17).

Gegenwärtige Konzepte zur Förderung Selbstgesteuerten Lernens, die auf einer solchen kognitivistisch-konstruktivistischen Auffassung des Lernens basieren, kombinieren direkte mit indirekten Fördermaßnahmen. Die didaktische Gestaltung bezieht sich dabei in erster Linie auf das Arrangement von (Selbst-)Lernumgebungen, welche selbstgesteuerte Lernprozesse begünstigen und Elemente direkten Lernstrategietrainings einschließen.

„Während direkte Förderansätze versuchen, die Lernenden zu verändern, wird bei indirekten Förderansätzen die Lernumgebung so gestaltet, daß sie den Lernenden Freiheitsgrade bezüglich der Selbststeuerung einräumen bzw. von den Lernenden Selbststeuerung fordern. Unter Lernumgebung wird hier das Arrangement der äußeren Lernbedingungen (Personen und Institutionen, Geräte und Objekte, Symbole und Medien, Informationsmittel und Werkzeuge) und Instruktionsmaßnahmen (Lernaufgaben, Sequenz der Lernschritte, Methoden u.a.) verstanden, die Lernen ermöglichen und erleichtern sollen“ (Friedrich/Mandl 1997, S. 258).

Lernarrangements lassen sich - je nachdem auf welche Aspekte sich die Selbststeuerung bezieht - qualitativ voneinander abgrenzen: „So ist es ein durchaus qualitativer Unterschied, ob ein Lernender lediglich die Methoden oder die Zeit seines Lernens selbst steuern, regulieren, festlegen kann oder ob er auch an der Auswahl der Lerninhalte und der Festlegung der Lernziele beteiligt ist“ (Kraft 2002, S. 27; vgl. dazu auch Heid 1991, S. 267ff.).

Da der Begriff des Selbst auf Autonomieentwicklung in Lernprozessen hindeutet, handelt es sich folglich um einen klassischen pädagogischen Zugang, der sich in bildungsphilosophischer Tradition am Ziel der Förderung der Mündigkeit des Menschen orientiert (vgl. Dohmen 1998, S. 65). Der Begriff des Selbst scheint ausschließlich positiv konnotiert zu sein, was zum einen den teilweise unkritischen Umgang mit dem Konzept Selbstgesteuerten Lernens erklärt und zum anderen die Ursache für die scheinbar naheliegende oppositionale Betrachtungsweise von Selbst- und Fremdsteuerung sein könnte, die bedingt, dass didaktische Steuerung komplementär als fremdbestimmend und entmündigend wahrgenommen wird (vgl. dazu z.B. Reischmann 1999, S. 44). Dabei wird allerdings selten berücksichtigt, dass etwas selbst zu tun nur dann Autonomieentwicklung bewirkt, wenn Lernprozesse erfolgreich verlaufen, sprich eine Lernproblematik befriedigend überwunden werden kann. Gelingt dies nicht, können wiederholte Misserfolge hingegen zu negativen Lernresultaten, Demotivation und Überforderung führen. In Anbetracht dessen wird die Notwendigkeit professioneller Unterstützung im Sinne vorstrukturierter Lernarrangements deutlich, welche eine kontinuierliche Sicherung des Lernerfolges gewährleisten. Denn die Ermöglichung von Autonomieerleben und Selbstwirksamkeitsüberzeugung fördert die intrinsisch motivierte Bereitschaft zur strukturtiefen Auseinandersetzung und Lernaktivität und retardiert zugleich den Abbruch von Lernhandlungen (vgl. Deci/Ryan 1993, S. 229f.). Der Abgrenzungsversuch, Selbstgesteuertes Lernen als Gegenstück zum fremdgesteuerten Lernen zu definieren, erweist sich daher als eine problematische, die Komplexität des Sachverhaltes reduzierende, semantische Engführung und kann laut disziplinärer Diskussion mittlerweile als überholt bezeichnet werden[3].

„Allen neueren Lernkonzeptionen liegt ja die Auffassung zugrunde, daß Lernen ein Konstruktionsprozess des Subjektes ist. Deshalb ist ein Lernen ohne Beteiligung des Selbst nicht denkbar. Lernen findet aber auch immer in einem sozialen/kulturellen Umfeld statt, benötigt für die Konstruktion Informationen von außen und unterliegt damit Fremdeinwirkung“ (Prenzel 1993, S. 240).

Selbst- und Fremdsteuerung schließen sich also nicht aus, sondern sind prinzipiell in jedem Lernprozess mehr oder weniger vorhanden. Daher erscheint es sinnvoll, verschiedene Lernformen als Kontinuum unterschiedlicher Grade von Selbst- oder Fremdsteuerung anzusehen. So illustriert das Kontinuum-Modell Philip C. Candys (1991) die fließenden Übergange von Selbst- und Fremdsteuerung in Lernprozessen und verdeutlicht, dass „jedes Lernen einen Rest an Fremd- bzw. Selbststeuerung, sowie einen Rest an Strukturierung, Anleitung, Kontrolle von außen beinhaltet“ (Kraft 2002, S. 25f.). Auch wenn Selbststeuerung in kognitivistisch-konstruktivistisch konzeptionierten Lernumgebungen ein hoher Stellenwert zukommt, da den Lernenden eine aktive und konstruktive Rolle beim Wissenserwerb zugeschrieben wird, bedeutet das nicht, dass „möglichst viele Entscheidungen (Ob? Was? Wann? Wie? Woraufhin?) den Lernenden überlassen bleiben“ (Friedrich/Mandl 1997, S. 259). In welchen Aspekten des Lernprozesses es sinnvoll ist, dass Lernende eigene Entscheidungen treffen, wie beispielsweise über die Abfolge von Lernschritten, die Auswahl und Verknüpfung unterschiedlicher thematischer Einheiten, etc., hängt vom jeweiligen Lernziel, Lerninhalt und dem Lernenden bereits zur Verfügung stehenden Bewältigungsstrategien ab[4]. Während ein hochstrukturiertes Instruktionsdesign, insbesondere bei Lernenden mit schwacher Selbstlernkompetenz, eher die Aneignung festgelegter Wissens- und Bedeutungsinhalte ermöglicht, da durch vorstrukturierte und begrenzende Lernpfade anspruchsvolle kognitive Prozesse und Selbstregulationsvorgänge ausgelöst und Überforderung verhindert werden können, erweisen sich zur Förderung kognitiver Flexibilität oder Kreativität eher schwachstrukturierte Instruktionsdesigns als geeignet, die einen hohen Anteil an Entscheidungsfreiheit aufweisen. Die didaktische Konkretisierung fällt also bezüglich des Strukturierungsgrades je nach Zielgruppe und Ziel des Bildungsangebotes höchst unterschiedlich aus. Zur professionellen Leistung gehört daher vor allem genau „zu prüfen, in welchen spezifischen Kontexten welche Varianten des Ermöglichens sich als passend bzw. realisierbar herausstellen“ (Arnold/Schüßler 2003, S. 10f.). Ob das Angebot eines die Selbststeuerung begünstigenden Lernarrangements genutzt wird und effektives Selbstgesteuertes Lernen auslöst, hängt letztendlich „hochgradig vom Wollen und Können der Lernenden, und deren jeweiliger Situationswahrnehmung ab“ (Friedrich/Mandl 1997, S. 261). „Dies bedeutet aber nicht, daß ein Instruktionsdesign überflüssig ist. Es bedeutet nur, daß es derzeit keine Gestaltungsprinzipien gibt, die selbstgesteuertes Lernen garantieren“ (ebd.).

Darüber hinaus wird deutlich, dass Selbstgesteuertes Lernen nicht den einen Königsweg offenbart, sondern sich lernökonomisch nur dann als effektiv und sinnvoll erweist, wenn Selbststeuerung u.a. ein Ziel der Bildungsarbeit darstellt (vgl. Dietrich 2001, S. 23ff.). Peter Faulstich verweist in diesem Zusammenhang auf die Multidimensionalität von Lernformen und die Vielzahl an Kombinationsmöglichkeiten: „So ist am Arbeitsplatz z.B. intentionales, integriertes, fremdbestimmtes, wissenschaftsbezogenes Lernen möglich, im Unterricht kann inzidentes, erfahrungsbezogenes, selbstbestimmtes Lernen stattfinden. Institutionell eingebundenes Lernen ist keineswegs immer fremdbestimmt, Lernen im sozialen Kontext nicht per se offen“ (Faulstich 1999, S. 32). Die Kombinationsmöglichkeit, vorausgesetzt der Lernende trifft die Entscheidung darüber selbst oder hat zumindest eine Mitbestimmungsmöglichkeit, deutet auf gewisse Freiheitsgrade innerhalb differenzierter Entscheidungsebenen hin. In einer schematischen Darstellung differenzieren Dieter Gnahs et al. (1998) verschiedene Dimensionen von Lernarrangements, die sich jeweils auf einem Kontinuum zwischen autodidaktischem und fremdgesteuertem Lernen befinden und sich als differenzierte Entscheidungsebenen interpretieren lassen (vgl. Konzertierte Aktion Weiterbildung 1998, S. 28ff.). Eine Person kann sich demnach selbstbestimmt dazu entschließen, eine Fremdsprache zu lernen, sich aber gleichzeitig für ein curricular vorbereitetes Lernprogramm entscheiden. In diesem Zusammenhang bezieht sich die Entscheidungsfreiheit bzw. die Selbstorganisation u.a. auf die Auswahl geeigneter Bildungsangebote, unterschiedlicher Lernformen und deren individueller Kombination mit informellen Lerngelegenheiten. Wie sinnvoll die spezifischen Kombinationen verschiedener Lernarten im Einzelfall sind, hängt von individuellen und inhaltlichen Faktoren ab und ist daher personen- und situationsspezifisch im Rahmen einer professionellen Lernberatung zu entscheiden (vgl. dazu z.B. Häßner/Knoll 2005).

So unterschiedlich die Schwerpunkte in der fachwissenschaftlichen Diskussion um Selbstgesteuertes Lernen auch ausfallen, setzt sich zunehmend eine Betrachtungsweise durch, die mit den Worten Reischmanns „eine differenzierte Behandlung sowohl bei der theoretischen Argumentation als auch bei der praktischen Umsetzung ermöglicht und das Konzept ‚selbstgesteuertes Lernen‘ aus dem ‚ganz-oder-gar-nicht-Bekenntnisrahmen‘ herausgeführt“ hat (Reischmann 2002, S. 119). Trotz der Heterogenität der erwachsenenpädagogischen Diskussion, in der Viele über dasselbe sprechen und doch in der Regel sehr unterschiedliche Akzente setzen, kristallisieren sich gemeinsame Positionen heraus. Zunächst ist festzuhalten, dass die Idee und Umsetzung Selbstgesteuerten Lernens in der Erwachsenenbildung unbestritten in einer längeren Tradition steht und dementsprechend nichts grundlegend Neues ist (vgl. dazu u.a. Brödel 1998, S. 22; Faulstich 1999, S. 24ff.; Reischmann 2002, S. 118; Siebert 2006, S. 9ff.). So lassen sich eine ganze Reihe an Vorläufern identifizieren, die in ihrem Kern auf die Idee des Selbstgesteuerten Lernens und der darin enthaltenen Vorstellung einer aktiven Selbstbildung mündiger und demokratiefähiger Menschen verweisen (vgl. Reischmann 2002, S. 118). Diese Vorläufer Selbstgesteuerten Lernens zeichnen gewissermaßen in groben Zügen die ideengeschichtliche Entwicklung der Erwachsenenbildung nach und reichen „von der Begründung, dass jeder selbst lesen können soll, über die Aufklärungsformel, jeder solle sich seines eigenen Verstandes bedienen, über Lesegesellschaften, Arbeiterbildungsvereine, Arbeitsgemeinschaften, ‚offenes Lernen‘, Fernstudium oder Selbstlernzentren bis zu Projektunterricht, Didaktik und Methodik der Reformpädagogik, Helfer- und Tutorensystemen, Gruppenarbeit und kritisch-konstruktiver Didaktik“ (ebd.). Die offensichtliche Neigung der Erwachsenenbildung, die ‚Wende‘ zum Selbstgesteuerten Lernen zu proklamieren, ist daher laut Klaus Meisel differenziert zu betrachten. Die unkritische Idealisierung des Prinzips der Selbststeuerung sei Ausdruck einer polarisierend geführten Diskussion, welche die geschichtlichen Bezüge des Selbstgesteuerten Lernens in der Erwachsenenbildung ausblende und ihren grundlegenden erziehungswissenschaftlichen Hintergrund verkenne (vgl. Meisel 2001, S. 7).

Auf der Grundlage bisheriger Forschungen gilt als konsentiert, dass Selbstgesteuertes Lernen der professionellen Unterstützung und Förderung bedarf, um die Effektivität des Lernens sicherzustellen. Denn nur unter der Voraussetzung bereits vorhandener Selbstlernkompetenz lässt sich individualisiertes und eigenverantwortliches Lernen als effiziente Lernform belegen (vgl. z.B. Kraft 1999, S. 842; Kaiser 2003, S. 13ff.; Meisel 2002, S. 134ff.; Reischmann 2002, S. 119). Um der Komplexität bei der Bestimmung der zum Selbstgesteuerten Lernen notwendigen lernerseitigen Voraussetzungen entgegenzuwirken, wird dazu tendiert, ein Idealbild des selbstgesteuert Lernenden zu konstruieren. Derartige Entwürfe verdeutlichen den hohen Anspruch an den Lernenden aufgrund der erforderlichen Kompetenzen bezüglich Reflexion, Planung, Gestaltung und Durchführung:

„Der autonom/selbstständig Lernende zeichnet sich v.a. dadurch aus, dass er `aktiv´ ist, bezogen auf verschiedene Aspekte des Lernens: Er ergreift die Initiative, um Lernbedürfnisse/-defizite zu bewältigen, setzt sich Lernziele und macht Pläne, um diese zu erreichen, greift situativ auf unterschiedliche Formen der Unterstützung/Lehre zurück, wählt geeignete Hilfsmittel beim Lernen, verfolgt und überprüft den Lernprozess, verfügt über realistische Einschätzungen der eigenen Unzulänglichkeiten und Grenzen und über ein positives Selbstbild, das auf vergangenen Erfahrungen beruht, und kennt seine Stärken, Fähigkeiten und Motivationslagen“ (Kraft 2002a, S. 36).

Allerdings bestehe dabei auch die Gefahr, die Diskrepanz zwischen ideeller Konzeption zur theoretischen Klärung und der erwachsenenpädagogisch-empirischen Realität zu übersehen, so dass die Erwachsenenbildung manchmal den Fehler begehe, „vom idealen Lerner und idealen Situationen […] zu phantasieren“ (Reischmann/Dieckhoff 1996, S. 174). Diese unkritische Haltung wird von einigen Autoren auf die systemisch-konstruktivistische Erkenntnis der relativen Unabhängigkeit von Lehren und Lernen zurückgeführt, die eine bildungstheoretische Perspektive eröffnet, in der die Verantwortung für das Gelingen von Bildungsprozessen ausschließlich beim Individuum liegt (vgl. z.B. von Felden 2004, S. 7). Die damit einhergehende Infragestellung der Lehrtätigkeit, verbunden mit den hohen individuellen Anforderungen Selbstgesteuerten Lernens, birgt die Gefahr sozial exklusiver Konzeptionen. Denn die Tatsache, dass die Erfolgswahrscheinlichkeit dieser Lernform ohne ausreichend vorhandene Selbstlernkompetenz des Individuums tendenziell gering ausfällt, macht gerade für bildungsfernere Bevölkerungsgruppen eine professionelle Unterstützung dringend notwendig. Andernfalls besteht die Gefahr, dass die bildungspolitische Programmatik auf dem Rücken Bildungsbenachteiligter ausgetragen wird (vgl. z.B. Reischmann 2002, S. 121; Kraft 1999, S. 842f.; Forneck u.a. 2005, S. 10).

„Wenn eine veränderte, selbstreflexive Lernkultur sich gesellschaftlich etablieren soll, dann benötigen wir dringend eine Didaktik ‚selbstgesteuerter‘ Lernprozesse, die die alternative Strukturierung solcher Prozesse orientieren kann. (…) Andernfalls bleibt die Entwicklung einerseits auf ein Klientel beschränkt, das die zur Durchsetzung politischer Interessen bzw. Ziele notwendigen Lernprozesse immer schon selbst organisieren kann“ (Forneck 2006b, S. 8).

Um die Programmatik Selbstgesteuerten Lernens sozial gerecht und erfolgversprechend gesellschaftlich zu etablieren, bedarf es einer angemessenen erwachsenenpädagogischen Unterstützung und dementsprechenden Professionalisierung des Personals Jost Reischmann folgend, der die aktuelle Situation in der Erwachsenenbildung als Phase der Projektorientierung im Sinne gezielter theorieorientierter Praxisgestaltung charakterisiert, befindet sich die Erwachsenenpädagogik auf einem guten Weg, das Konzept Selbstgesteuerten Lernens institutionell zu verwirklichen und anstelle eines oberflächlichen Bekenntnisprinzips ein fundiertes didaktisches Arbeitsprinzip zu entwickeln (vgl. Reischmann 2002, S. 116ff.).

2.3.4 Selbststeuerung als gesellschaftspolitische Dimension

Rainer Brödel wies bereits Ende der 1990er Jahre darauf hin, dass die ursprünglich emanzipatorische Idee, die mit Lebenslangem Lernen verbunden war, sich im Laufe der der Jahre „für Erwachsene teilweise in einen Leistungsanspruch verkehrt [hat], weiter lernen zu müssen, wollen sie nicht ins soziale und kulturelle Abseits geraten“ (Brödel 1998, S. 2). Angesichts struktureller gesellschaftlicher und vor allem beruflicher Veränderungen wird Selbstgesteuertes Lernen zur gesellschaftlichen Notwendigkeit erklärt. Individuen benötigen in zunehmendem Maße Selbstlernkompetenzen, die sie zum eigenverantwortlichen Umgang mit lebensbegleitenden (Weiter-)Bildungsprozessen befähigen und sie in die Lage versetzen, Veränderungen individuell und flexibel zu bewältigen und auf die Unsicherheiten, die mit dem ansteigenden Risiko neoliberaler gesellschaftlicher Verhältnisse verbunden sind, zu reagieren (vgl. dazu auch Dohmen 1996, S. 3f.). Stephan Dietrich charakterisiert Selbstgesteuertes Lernen als Ausleseprinzip der Wissensgesellschaft, was gleichbedeutend damit ist, dass es zur notwendigen Voraussetzung der individuellen Teilhabe aller Bevölkerungsgruppen an Gesellschaft wird. „Es geht nicht darum, Autonomie und Mündigkeit oder Selbstbestimmung als übergeordnete pädagogische Ziele verbindlich zu akzeptieren oder dies nicht zu tun. Selbstgesteuertes Lernen stellt vielmehr eine elementare gesellschaftliche Anforderung an die Individuen und Gruppen dar“ (Dietrich 1999, S.17). Die Bildungspolitik betont die Notwendigkeit der individuellen Entwicklung entsprechender Problemlösungskompetenzen. Dies sind vor allem:

- „Die Analyse-, Interpretations- und Integrationsfähigkeit für eine konzentrierte Informations- und Erfahrungsverarbeitung,
- Die Offenheit, Kreativität und Flexibilität für das Entwickeln situationsangemessener persönlicher Verstehenskriterien, Vorstellungszusammenhänge und Verhaltensdispositionen,
- Die selbstständig-konstruktive Organisations- und Umsetzungsfähigkeit für Innovationen,
- Die soziale Kommunikations- und demokratische Kooperationskompetenz für die aktive gemeinsame Gestaltung einer friedlichen humanen Zukunft“ (Dohmen 1996, S.3f.).

Heide von Felden charakterisiert das bildungspolitische Programm zur Förderung von allgemeinen Lernkompetenzen und zur Stärkung Selbstgesteuerten Lernens durch zwei wesentliche Merkmale: Zum einen zeichne sich eine Hinwendung zur größeren Eigenverantwortung der Individuen ab, zum anderen sei die politische Diskussion von einem Optimismus geprägt, mit Hilfe zunehmender Lernkompetenzen gesellschaftliche Probleme lösen zu können. Selbstgesteuertes Lernen werde dabei teilweise lerntheoretisch begründet, ebenso werde partiell aus einer gesellschaftlichen Notwendigkeit heraus argumentiert, in der ohne stärkere Eigeninitiative und Selbstständigkeit die Individuen den Lernanforderungen nicht mehr gewachsen seien (vgl. von Felden 2004, S. 3ff.). Auffällig ist, dass scheinbar völlig außer Frage steht, ob die Menschen diesen enorm hohen Anforderungen überhaupt gewachsen sind. Stattdessen wird Selbstgesteuertes Lernen weitestgehend als natürliches Lernen vorausgesetzt (vgl. Dohmen 1996, S. 9). Es drängt sich die Frage auf, weshalb das Konzept über den fachwissenschaftlichen Diskurs hinaus eine so bemerkenswerte positive Zustimmung erfährt, obwohl es bisher nur in Ansätzen empirische Belege für den Erfolg Selbstgesteuerten Lernens gibt. Für von Felden überlagern sich diese beiden gesellschaftlichen Prozesse nicht zufällig: „Da die Ausdehnung des Lernens über die gesamte Lebenszeit und in den Bereich ‚natürlichen Lernens‘ institutionell nicht realisierbar und finanzierbar ist, könnte man aber auf die Idee kommen, dass das selbstgesteuerte Lernen einen passenden Ansatzpunkt bietet, um die Verantwortung für den Weiterbildungsprozess allein den Individuen aufzuerlegen“ (von Felden 2004, S. 7). „Die Qualifizierungsoffensive verbindet so auf zynische Weise Möglichkeit und Zwang: Sie verkoppelt das Versprechen ‚positiver‘ Chancenverwirklichung mit der Sanktionsandrohung ‚negativer‘ Lebens-, Sozial- und Berufsverfehlung“ (Pongratz 2007, S. 10).

[...]


[1] Die Begriffe Erwachsenenbildung und Erwachsenenpädagogik werden in dieser Arbeit als Wissenschaftsbezeichnungen synonym verwendet. Dies entspricht dem allgemeinen Vorgehen in der Literatur (vgl. Friedenthal-Haase 2001, S. 95).

[2] Darüber hinaus finden sich detaillierte empirische Ergebnisse aus der Weiterbildungsforschung in Bezug auf das Teilnahmeverhalten, Lernbereitschaft und Weiterbildungserfahrungen im Kontext Selbstgesteuerten Lernens bei Christiane Schiersmann (2006).

[3] Allerdings bleibt die fachwissenschaftliche Diskussion bei einem Verständnis, welches Selbst- und Fremdsteuerung als äußeres Verhältnis beschreibt. Im Verlauf der vorliegenden Arbeit wird im Anschluss an das genealogische Analyseverfahren Foucaults eine Theorieperspektive demonstriert, in der Selbst- und Fremdsteuerung als ineinander verschränkte - gewissermaßen gleichzeitige – Phänomene eines didaktischen Verhältnisses zu verstehen sind.

[4] Untersuchungen belegen ebenso den positiven Lerneffekt von Selbstwirksamkeitsüberzeugungen und Autonomieerleben (vgl. z.B. Deci/Ryan 1993; Prenzel 1993), wie die begünstigende Wirkung gewisser Einschränkungen und Begrenzungen von Freiheitsgraden (vgl. Kulik/Kulik 1989).

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2008
ISBN (eBook)
9783842800281
DOI
10.3239/9783842800281
Dateigröße
1009 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Münster – 6, Erziehungswissenschaft und Sozialwissenschaften, Erwachsenenbildung und außerschulische Jugendbildung
Erscheinungsdatum
2010 (August)
Note
1,0
Schlagworte
selbstgesteuertes lernen foucault gouvernementalität didaktik erwachsenenbildung
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Titel: Selbstgesteuertes Lernen als ambivalentes Konzept der Erwachsenenbildung
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