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Kulturelle Identität in der Pflege

Fallverstehen und Regelwissen als Grundlage kultursensibler Kompetenz am Beispiel familiärer Strukturen von türkischen Migranten aus den ländlichen Gebieten Anatoliens (1. Generation)

©2005 Diplomarbeit 132 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Zusammenfassung:
Die zunehmende Pflegebedürftigkeit älterer türkischer Migranten und Migrantinnen rückt zusehends in den Fokus professioneller Pflege. Bislang ist nur wenig Wissen über das laikale Fürsorgesystem dieser Klientel für die pflegerische Praxis aufbereitet worden. Dieses Regelwissen kann als zusätzlicher Orientierungsrahmen für die Planung professioneller kulturkongruenter Pflege dienen. Verbunden mit der Festlegung von Regelwissen über ein Kollektiv (und dessen Kultur) ist allerdings die Gefahr einer pauschalisierenden Betrachtung des Individuums.
Daher favorisiert diese Arbeit eine phänomenologisch-hermeneutische Interpretation des Kulturbegriffs. Dieses Kulturverständnis geht mit der Forderung nach einer ausreichenden Entfaltung und Vertiefung sozialer Kompetenzen einher. Eine Stereotypisierung des türkischen Migranten kann somit begrenzt werden.
Vor dem Hintergrund dieses theoretischen Rahmens werden die familiären Strukturen türkischer Migranten und Migrantinnen beleuchtet. Aus diesen Erkenntnissen wird für die Pflege, insbesondere durch eine historisch-hermeneutische Vorgehensweise, ´spezialisiertes Regelwissen´ abgeleitet, welches vor dem Hintergrund gut ausgebildeter kultureller Teilkompetenzen (hermeneutisches Fallverständnis) zum ´Verstehen´ der Lebenswelt des einzelnen türkischen Migranten beitragen kann.
Letztendlich lassen sich aus dem gewonnenen ´spezialisierten Regelwissen´ für die professionelle Pflege Verhaltensweisen ableiten, die einer kulturkongruenten Pflege förderlich sind.
Speziell wird in der Arbeit die pflegedidaktische Relevanz einer Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff, einer Vertiefung sozialer Kompetenzen hin zu kulturellen Teilkompetenzen sowie die Beschäftigung mit den familiären Strukturen türkischer Migranten aus den ländlichen Gebieten Anatoliens (1. Generation) thematisiert.
Abschließend werden die behandelten Inhalte in einer fiktiven Unterrichtseinheit für die pflegerische Ausbildung praktisch umgesetzt.

Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis:
INHALTSVERZEICHNIS1
1.EINLEITUNG7
1.1Zur allgemeinen Relevanz pflegerischer Auseinandersetzung mit türkischen Migranten8
1.2Problem und Fragestellung11
1.3Struktur und Aufbau der Arbeit12
2.KULTUR UND KULTURELLE IDENTITÄT14
2.1Zum Begriff der Kultur15
2.1.1Die normative Dimension des Kulturbegriffs16
2.1.2Die totalitätsorientierte Dimension des Kulturbegriffs21
2.1.3Die differenzierungstheoretische Dimension des […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

1 EINLEITUNG
1.1 Zur allgemeinen Relevanz pflegerischer Auseinandersetzung mit türkischen Migranten
1.2 Problem und Fragestellung
1.3 Struktur und Aufbau der Arbeit

2 KULTUR UND KULTURELLE IDENTITÄT
2.1 Zum Begriff der Kultur
2.1.1 Die normative Dimension des Kulturbegriffs
2.1.2 Die totalitätsorientierte Dimension des Kulturbegriffs
2.1.3 Die differenzierungstheoretische Dimension des Kulturbegriffs
2.1.4 Die bedeutungs- und wissensorientierte Dimension des Kulturbegriffs
2.1.5 Diskussion
2.2 Kulturelle Identität aus pflegerischer Perspektive
2.3 Zusammenfassung

3 KULTURELLE KOMPETENZ IN DER PFLEGE
3.1 Begriffsbestimmung
3.2 Zur Problematik der Präzisierung des Konstruktes ´(Inter)kulturelle Kompetenz´ - Regelwissen versus Fallverstehen?
3.3 Komponenten (trans)kultureller Kompetenz
3.3.1 Selbstreflexivität und Ambiguitätstoleranz
3.3.2 Empathie und Fremdverstehen
3.3.3 Hintergrundwissen
3.4 Zusammenfassung

4 ZUM AUFBAU FAMILIÄRER STRUKTUREN ALS BESTANDTEIL DES LAIKALEN FÜRSORGESYSTEMS VON MIGRANTEN AUS DEN LÄNDLICHEN GEBIETEN ANATOLIENS (1.GENERATION)
4.1 Zu den Strukturen des Familiensystems
4.1.1 Überblick übe die Basiskomponenten des familiären Systems
4.1.2 Die Familienmodelle von ČIDĞEM KAĞITÇIBAŞI
4.1.3 Das Modell der ´emotional interdependence family structure´
4.1.4 Diskussion
4.2 Zum Rollenmuster des Mannes
4.3 Zum Rollenmuster der Frau
4.4 Zur Bedeutung der Begriffe Ehre und Scham bei traditionell orientierten türkischen Migranten
4.4.1 Definition des Ehrbegriffs im Kontext der traditionellen türkischen Kultur
4.4.2 Zum weiblichen Ehrbegriff
4.4.3 Zum männlichen Ehrbegriff
4.5 Konsequenzen für eine kulturkongruente Pflege türkischer Migranten sowie für die Ausbildung von Pflegenden
4.5.1 Zum leitenden pflegedidaktischen Blickwinkel
4.5.2 Der historisch-hermeneutische Zugang als Basiskompetenz für die kultur- kongruente Pflege
4.5.3 Zur Anwendung spezialisierten Regelwissens im Kontext kulturkongruenter Pflege
4.6 Zusammenfassung

5 KONSTRUKTION VON LERNSITUATIONEN ZUR KULTUR- KONGRUENTEN PFLEGE
5.1 Die pflegedidaktische Heuristik nach INGRID DARMANN
5.1.1 ´Wissenschaftsbasierte Erklärung und instrumentelle Lösung pflegerischer und gesundheitsbezogener Problemlagen – technisches Erkenntnisinteresse – (1. Zieldimension)
5.1.2 ´Interpretation von, Verständigung über und Urteilsbildung in Situationen der pflegerischen und gesundheitlichen Versorgung´ - praktisches Erkenntnis- interesse – (2. Zieldimension)
5.1.3 Kritische Reflexion der paradoxen und restriktiven gesellschaftlichen Strukturen der Pflege – emanzipatorisches Erkenntnisinteresse – (3. Zieldimension)
5.2 Unterrichtsplanung zur kulturkongruenten Pflege
5.2.1 Zur Positionierung der Zieldimensionen
5.2.2 Inhaltliche Gestaltung des Unterrichts
5.3 Tabellarische Unterrichtsplanung
5.3.1 Einführung in die Thematik ´kulturkongruente Pflege´
5.3.2 Was ist Kultur?
5.3.3 Was ist Fremdheit? Was ist Vertrautheit?
5.3.4 Erarbeitung des konzeptuellen Hintergrundwissens
5.3.5 Exemplarische Erarbeitung von spezialisiertem Regelwissen über das laikale Fürsorgesystem türkischer Migranten
5.3.6 Arbeitsmaterialien für den Unterricht
Fallbeispiel 1
Fallbeispiel 2
Quiz zur kulturkongruenten Pflege
Fallbeispiel 3
5.2.7 Zusammenfassung

6 ZUSAMMENFASSUNG UND FAZIT

LITERATURVERZEICHNIS

1 EINLEITUNG

Vor dem Hintergrund der zunehmenden Pflegebedürftigkeit älterer türkischer Mitbürger befasst sich die vorliegende Literaturarbeit mit dem laikalen Fürsorgesystem türkischer Migranten[1] aus den ländlichen Gebieten Anatoliens (1.Generation). Die Bedeutung des laikalen Fürsorgesystems wurde im pflegerischen Kontext erstmals von der amerikanischen Pflegewissenschaftlerin MADLEINE M. LEINIGER hervorgehoben (DRERUP 1998). Sie bezeichnete dieses System der Laienpflege als generisches oder informelles Pflegesystem. Dieses Pflegesystem wird durch den lebensweltlichen Kontext des Betroffenen konturiert. Einen ähnlichen Gedanken formuliert die deutsche Pflegewissenschaftlerin ANDREA ZIELKE-NADKARNI mit ihrem Konstrukt der ´laikalen Pflege´.

„´Laikale Pflege´ oder ´Laienpflege´ wird definiert als eine Form der Versorgung Kranker, die ohne eine einschlägige Ausbildung von Personen innerhalb ihrer Familie, ihrer Nachbarschaft, ihres Freundes- bzw. Bekanntenkreises ausgeübt wird und auf Überzeugungen und Erfahrungen basiert, die ein subjektives Verständnis von Gesundheit/Krankheit beinhalten. Laienpflege wird aufgrund einer persönlichen Beziehung zwischen dem Pflegebedürftigen und der pflegenden Person ausgeübt und beinhaltet grundsätzlich die potenzielle Bereitschaft zur Gegenseitigkeit.“ (ZIELKE-NADKARNI 2003, S. 40)

Der in diesem Buch verwendete Begriff des ´laikalen Fürsorgesystem´ umfasst nun alle Komponenten, die aus dem lebensweltlichen Kontext des Klienten stammen und sich auf die existenzielle Sicherung des Betroffenen auswirken. Das professionelle Pflegesystem grenzt sich in der Form ab, als dass diese Form der Pflege von ´Außen´ an den Patienten herangetragen wird und durch einen kognitiv erlernten professionellen Wissensbestand charakterisiert wird. Grundlegende, hier stark verkürzt dargestellte, Elemente des laikalen Fürsorgesystems sind:

- Familiensystem (privates soziales Netzwerk)
- Wertesystem (Religionssystem)
- Gesundheits-/Krankheitsverständnis (auch Pflegeverständnis)

Diese drei Komponenten stehen untereinander in Verbindung und beeinflussen sich gegenseitig. Eine differenzierte Betrachtung aller Komponenten und Unterkomponenten des laikalen Fürsorgesystems ist aufgrund des begrenzten Rahmens dieser Literaturarbeit nicht möglich. Es kann daher nur ein Teilaspekt des laikalen Fürsorgesystems in angemessener Weise differenziert betrachtet werden. Da die Familie den Kern der türkischen Gesellschaft präsentiert (SPOHN 2002) werden ausschließlich die familiären Strukturen türkischer Migranten, als ein Fragment des laikalen Fürsorgesystems, hervorgehoben.

Der Verweis `1. Generation´ im Titel macht deutlich, dass speziell die Kohorte der in den 1960er und 1970er Jahren angeworbenen Gastarbeiter fokussiert wird, da diese mittlerweile zusehends von Pflegebedürftigkeit betroffen sind.

Als leitender Titel des Fachbuches wurde das Konstrukt `Kulturelle Identität´ gewählt, da dieser Begriff nicht die Herstellung von Gruppenidentität, sondern die individuelle Identitätsbildung unter Rückgriff auf kollektive Erfahrungen und kulturelle Ressourcen in den Mittelpunkt stellt (AUERNHEIMER 1995). Der Gefahr der Stereotypisierung türkischer Migranten wird somit bereits im Titel implizit entgegengetreten.

Ferner wird der Erfordernis entsprochen auf die umfangreiche pflegedidaktische Relevanz der Thematik zu verweisen. Diese wird in den jeweiligen Kapiteln für die entsprechenden Inhalte explizit herausgearbeitet.

Die grundsätzliche Notwendigkeit auf einer pflegewissenschaftlichen Ebene die Folgen des Phänomens der Migration türkischer Arbeitnehmer in den Wirtschaftswunderjahren der BRD zu thematisieren wurde inzwischen von der professionalisierten Pflege erkannt[2]. Im Folgenden wird anhand einer knappen Darstellung der historischen Entwicklung der Migration und der Lebenssituation türkischer Migranten die Relevanz dieser Auseinandersetzung nochmals veranschaulicht.

1.1 Zur allgemeinen Relevanz pflegerischer Auseinandersetzung mit türkischen Migranten

Ältere männliche Migranten aus Anatolien sind in der Regel in den 1960er und 1970er Jahren im Rahmen der gezielten Anwerbung von Gastarbeitern in die Bundesrepublik Deutschland gekommen (BREMER 2000). Durch den in den 1950er Jahren massiv einsetzenden Wirtschaftsaufschwung wurden in der BRD dringend zusätzliche Arbeitskräfte benötigt. Die Rezession von 1966/67, die Ölkrise im Jahre 1973 und die damit verbundene steigende Arbeitslosigkeit führten schließlich 1973 zum Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte. Die von der Politik erhoffte, aber auch von den türkischen Gastarbeitern angestrebte Remigration war nur partiell erfolgreich. Vielmehr kam es im Rahmen des Familiennachzugs zu einem stetigen Anwachsen der ausländischen und besonders der türkischen Bevölkerung. Es fand somit ein Wandel vom Gastarbeiter zum Einwanderer statt. So kamen beispielsweise im Jahr 1992 noch 32% aller Einwanderer aus der Türkei, davon überwiegend aus Anatolien. Der Anteil der Türken an der ausländischen Bevölkerung wuchs seit 1960 von 0,4% bis 2003 auf 25,6% (ZENTRUM FÜR TÜRKEISTUDIEN 2005).

Von den mittlerweile in Deutschland lebenden 6,72 Millionen Ausländern (Stichtag 31.12.2004) sind 1,76 Millionen türkischer Herkunft (STATISTISCHES BUNDESAMT DEUTSCHLAND 2005) (siehe Abb. 1). 1,15 Millionen türkische Migranten sind im Ausland, vorzugsweise in ihrem Heimatland geboren. Hiervon stammt der überwiegende Teil aus Anatolien. Obwohl die Anzahl türkischer Migranten im Verhältnis zur deutschen Bevölkerung statistisch gesehen mit rund 2% gering erscheint (siehe Abb. 2), muss berücksichtigt werden, dass insbesondere in urbanen Zentren, wie z.B. in den westlichen Innenbereichen Berlins, die türkische Bevölkerung einen insgesamt recht hohen Anteil an der Bevölkerung aufweist (MONITORING SOZIALE STADTENTWICKLUNG 2004) (siehe Abb. 3). Die türkischen Migranten aus der Zeit der Gastarbeitermigration sind in der Regel bereits im Rentenalter und müssen sich zunehmend auch mit der eigenen Pflegebedürftigkeit auseinandersetzen. Anfang 2003 haben ca. 180.000 der in Deutschland lebenden Türken das sechzigste Lebensjahr überschritten. In den nächsten zwanzig Jahren werden ca. weitere 360.000 türkische Migranten dieses Alter erreichen.

Abbildung 1

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Lebenssituation der Migranten der 1. Generation ist in der Regel durch eine Kumulation von Benachteiligungen geprägt (HOLZ U.A 1994). So müssen die ökonomische Situation, die Wohnsituation und die gesundheitliche Situation im Vergleich zur deutschen Bevölkerung als grundlegend schlechter beurteilt werden. Gesundheitliche Beeinträchtigungen und psychosoziale Probleme treten insbesondere bei älteren Migranten frühzeitig und gehäuft auf. Hier fielen bereits Ende der 1980er Jahre speziell arbeitsbedingte gesundheitliche Verschleißerscheinungen, relativ hohe Anteile von Frühinvalidität und altersbedingt verstärkt auftretende chronische Erkrankungen auf.

Für die professionelle Pflege bedeutet dies, dass sie sich in Zukunft noch stärker als bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf die Pflege türkischer Migranten einstellen muss. Es ist nicht nur in Ballungsgebieten, wie z.B. in Friedrichshain-Kreuzberg in Berlin, unabdingbar sich mit der speziellen Situation des türkischen Migranten auseinanderzusetzen. Insbesondere in Regionen, in denen die türkische Bevölkerung weniger präsent ist, und daher von weniger stabilen privaten sozialen Netzwerken ausgegangen werden muss, ist eine Auseinandersetzung mit der speziellen Situation türkischer Migranten notwendig, um den Prinzipien einer professionellen klientenorientierten Pflege gerecht zu werden.

1.2 Problem- und Fragestellung

Die weit verbreitete Annahme, dass türkische Familien auf das Problem der Pflegebedürftigkeit autark reagieren können hat sich nachweislich als illusionär erwiesen (SCHILDER 1998). Die familiären Netzwerke erweisen sich nicht zuletzt aufgrund der zunehmenden ´Verwestlichung´ der nachfolgenden Generationen als zunehmend insuffizient. Türkische Migranten greifen somit immer stärker auch auf das professionelle Pflegesystem zurück. Der kulturellen Identität dieser Bevölkerungsgruppe hat die Pflege vor dem Hintergrund ihres Leitparadigmas der Patienten- und Lebensweltorientierung Rechnung zu tragen.

Innerhalb der pflegerischen Profession wird bereits seit einigen Jahren diskutiert, mit welchen Konzepten den pflegerischen Bedürfnislagen von Migranten begegnet werden kann. So finden sich in den 1990er Jahren in den pflegepraktischen aber auch in pflegewissenschaftlichen Zeitschriften vermehrt Artikel, die sich mit dem Phänomen der Pflege von Patienten aus anderen Kulturen beschäftigen. Zunehmend finden sich auch umfangreichere Veröffentlichungen, wie beispielsweise Lehrbücher, Ratgeber und pflegewissenschaftliche Studien zur kulturellen Pflege[3]. Die professionelle Pflege, die sich an individuellen und lebensweltlichen Aspekten pflegebedürftiger Personen orientiert, wird sich zunehmend bewusst, dass auch die kulturelle Dimension in die Pflege miteinbezogen werden muss. Konnte anfangs tendenziell noch ein pauschalisierender, kollektivistischer Umgang mit der kulturellen Dimension von Migranten, der massiv durch eine ethnozentrische Perspektive geprägt war, beobachtet werden[4], so wird zusehends ein individualisierter, subjektivierter Zugang zum Klienten, unter Einbezug seiner kulturellen Identität, gesucht[5]. Diese zunehmende Individualisierung der kulturellen Dimension hatte allerdings zur Folge, dass diese sich langsam aufzulösen begann und zusehends ihr Profil verlor. Zu wenig wurde berücksichtigt, dass die kulturelle Dimension unweigerlich mit kollektivistischen Erfahrungen zusammenhängt. Eine leitende Fragestellung dieser Literaturarbeit ist es daher, ob es nicht sinnvoll erscheint, spezialisiertes kulturelles Regelwissen, als Ausdruck der kulturellen Dimension und Ursprung der kulturellen Identität, mit dem hermeneutisch geprägten Fallverstehen, welches die Subjektivität des Individuums betont, zu verbinden. Der Autor ist überzeugt, dass spezialisiertes Regelwissen vor der Matrix ausgebildeter hermeneutischer Kompetenzen den verstehenden Zugang zum Patienten wesentlich unterstützen kann. Des Weiteren soll aufgezeigt werden, wie das durch eine historisch-hermeneutische Vorgehensweise ermittelte spezialisierte Regelwissen über die familiären Strukturen einen verstehenden Zugang zu den türkischen Migranten fördern kann.

1.3 Struktur und Aufbau des Buches

Der Kulturbegriff bildet ein wesentliches theoretisches Element auf dem kulturkongruentes pflegerisches Handeln aufbaut. In Kapitel 2 wird daher der Begriff der Kultur differenziert betrachtet und das Verständnis eines für die Pflege sinnvollen Kulturbegriffs dargelegt, der sich nicht in Stereotypisierungen erschöpft. Ferner wird das Konstrukt der ´Kulturellen Identität´ behandelt und der Zusammenhang von Kultur und Persönlichkeit aufgezeigt. Auf der Grundlage des identifizierten sinnvollen Kulturbegriffs wird in Kapitel 3 der Begriff der kulturellen Kompetenz beleuchtet. Neben der Darstellung grundlegender Kompetenzen wird speziell auf die Verknüpfung von Regelwissen und Fallverstehen eingegangen. Kapitel 4 als eigentlicher Hauptteil dieses Fachbuches beschäftigt sich mit dem Aufbau familiärer Strukturen türkischer Migranten. Über eine historisch-hermeneutische Vorgehensweise wird ein verstehender Zugang zum familiären System und zu der geschlechtspezifischen Rollenverteilung türkischer Migranten hergestellt. Hieraus werden Konsequenzen in Form spezialisierten Regelwissens abgeleitet. Ferner wird in diesem Kapitel eingehend die pflegedidaktische Relevanz der Thematik aufgezeigt. Dieses wird in Kapitel 5 vertieft, indem anhand einer pflegedidaktischen Heuristik exemplarisch die Bildungsgehalte der hier behandelten Thematik aufgezeigt werden. Im Anschluss werden die in diesem Buch behandelten Inhalte in einem praktischen Unterrichtsbeispiel zur Vermittlung kulturkongruenter Pflege umgesetzt.

Zur besseren Lesbarkeit wird bei der Bezeichnung von Personen ausschließlich die männliche Form gewählt. Die weibliche Form ist hier selbstverständlich mit eingeschlossen.

2 KULTUR UND KULTURELLE IDENTITÄT

In der Einleitung wurde bereits explizit darauf hingewiesen, dass es nicht im Fokus dieses Fachbuches liegt latent zu einer weiteren Stereotypisierung der türkischen Kultur in Deutschland beizutragen. Es ist daher erforderlich sich vor der vertiefenden Auseinandersetzung mit den Begriffen Kultur, Identität und kulturelle Identität kurz mit dem Gebrauch von Stereotypen und deren Folgen zu beschäftigen.

Unter einem Stereotyp versteht man verhältnismäßig beständige, auf wenige Eigenschaften reduzierte und determinierte Vorstellungsbilder über Personen, Gruppen, Bedingungen oder Sachen (GOTTSCHALCH 1984). Der Begriff der Stereotypisierung hängt eng mit dem Begriff Vorurteil zusammen. Unter ´sozialen Vorurteilen` erfasst man diejenigen Urteile über Kategorien von Personen, die mit keiner systematischen Methode überprüft worden sind (KÖNIG 1958). Vorurteile stellen eine der bedeutsamsten Orientierungshilfen innerhalb sozialer Gemeinschaften dar. Insbesondere kommen sie im Umgang mit wenig bekannten Personen zum Einsatz, die dann vorläufig kategorisiert und somit eingeschätzt werden können. Vorurteile charakterisieren also das Verhältnis der Eigengruppe zur Fremdgruppe (in-groups versus out-groups). Des Weiteren stellen Vorurteile eine typische Ausdrucksform des Ethnozentrismus[6] der eigenen Kultur dar. Der Inhalt der stereotypen Vorurteile ist überwiegend wertend-moralisch. Durch den Einsatz dieser stereotypen Vorurteile kommt es zu einer Stigmatisierung in der Regel von Minoritäten der Gesellschaft. Unter dem Begriff der Stigmatisierung[7] wird eine Zuschreibung negativer Eigenschaften verstanden, die bei den Betroffenen, hier den türkischen Migranten, zu einer Diskriminierung führt (Stigmatisierung aus WIKIPEDIA, der freien Enzyklopädie). Vielfach werden fremd erscheinende Eigenschaften, also bestimmte Auffälligkeitsmerkmale, eher negativ als positiv gedeutet. Die psychologischen Mechanismen, die zu dieser Abwertung von fremden Verhalten, Riten, etc. führen, können im Rahmen dieser Literaturarbeit nicht differenzierter betrachtet werden[8]. Es sei lediglich darauf verwiesen, dass die globale Neigung von Menschen zu Vorurteilen und Stereotypisierungen nicht unterschätzt werden sollte und dass dieses Verhalten nicht aus Charakterdeformationen zu erklären ist (GOTTSCHALCH 1984).

Vor dem Hintergrund des Bewusstseins über die Verkettung von Stereotypen, Vorurteilen und Stigmata ist im Folgenden eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff notwendig, um vorhandene Inhalte der Wortbedeutung auf ihren stereotypen und stigmatisierenden Charakter zu überprüfen.

2.1 Zum Begriff der Kultur

In der Historie des Wortes Kultur hat es immer wieder den Versuch gegeben die invariante Bedeutung des Begriffs Kultur zu definieren (BRUNKHORST 1984). Im Laufe der Geschichte entstanden, zerfielen und bestehen bis heute unterschiedlichste Deutungen des Kulturbegriffs. Dies ist vor dem Hintergrund der eigenen kulturellen Bezogenheit des Kulturbegriffs (DORNHEIM 1997) nicht verwunderlich. Dieses kulturabhängige Verständnis des Wortgebrauches spiegelt sich unter anderem darin wieder, dass der Kulturbegriff durch unterschiedliche wissenschaftstheoretische und philosophische Perspektiven geprägt worden ist. Aufgrund dieses Faktums muss konstatiert werden, dass eine Definition des Begriffs Kultur immer nur aus einer bestimmten Denkrichtung erfolgen kann. Eine generelle Begriffsbestimmung für den Kulturbegriff vorzunehmen kommt sprichwörtlich einer Quadratur des Kreises gleich. Eine Definition ist trotz dieses Dilemmas für das weitere Verständnis dieses Buches unerlässlich. Um ein Verständnis für den Kulturbegriff zu erlangen ist es obligatorisch eine Vorstellung über die groben Denkrichtungen und die wissenschaftstheoretische Einordnung von Kultur zu gewinnen. Es werden daher im Folgenden die einzelnen Verständnisstränge des Kulturbegriffs unter Rückgriff auf die Typologisierung von RECKWITZ (2000) systematisch vor- und gegenübergestellt. Es können hier vier Dimensionen dessen, was Kultur bedeuten kann, unterschieden werden: der normative, der totalitätsorientierte, der differenzierungstheoretische sowie der bedeutungs- und wissensorientierte Kulturbegriff. Auch innerhalb der einzelnen Dimensionen konkurriert eine Vielzahl von unterschiedlichen Deutungen von Kultur. Die weiteste Bedeutung dessen, was mit der Formel Kultur in allen vier Dimensionen gemeint ist, kann mit ´Welt des Menschen´ wiedergegeben werden (ORTH 2000).

Aus der Vorstellung und Diskussion der einzelnen Deutungen von Kultur wird in diesem Abschnitt ein Kulturbegriff synthetisiert, der dem paradigmatischen humanistischen Anspruch dieses Werkes gerecht wird.

2.1.1 Die normative Dimension des Kulturbegriffs

„Denn eine Kultur ist keine Vegetation, die als einfache Tatsache gegeben ist. Sie ist gleichwohl etwas normatives Umgebendes für die Individuen, die einen Teil ihrer ausmachen und sich den in anderen Kulturen lebenden Individuen gegenüberstellen.“ (BUENO 2002, S.80)

Der Kern des normativen Kulturbegriffs ist durch die Bewertung der menschlichen Lebensweise geprägt (RECKWITZ 2000). Kultur stellt aus dieser Perspektive nicht etwas Wertfreies, etwas Beschreibbares dar, sondern vielmehr einen Zustand oder eine Lebensweise, welche anzustreben ist. Somit ist dem Kulturbegriff ein normativer Charakter implizit. Der normative Kulturbegriff kann in seiner Semantik und Konnotation durch die Etymologie bis an die antiken Wurzeln des Substantivs `cultura` (ebd.) und des Verbs ´colere´ (HUBER 1969) zurückverfolgt werden. Kultur bedeutet erst einmal Agrikultur (Landbau), bearbeitete im Unterschied zur unbearbeiteten Natur (BRUNKHORST 1984, DUDEN 2001). Der Begriff ´cultus´ stellt bereits eine sakrale Spezifizierung des einfachen Ackerbaus zum religiösen Kult und somit einen ersten Hinweis zur inneren Nuancierung des Begriffs in eine ´höhere´ und ´niedere´ Kultur dar. Im Laufe der Zeit wurde der Kulturbegriff, anschaulich bei Cicero, in entscheidender Weise auf den Menschen übertragen: „´Cultura animi` bezeichnet die Pflege und `Kultivierung´ des menschlichen Geistes.“ (RECKWITZ 2000, S. 66). An dieser Stelle wird eine erste normative Ausrichtung des Kulturbegriffs fühlbar. Der Begriff der Kultur wird zunächst über die Abgrenzung zum Begriff der Natur entscheidend definiert. Natur ist in diesem Verständnis die Gesamtheit des materiell Vorgefundenen, während die Kultur begrifflich das durch Menschenhand Geschaffene umfasst (HANSEN 2000). Es wird also zwischen Erscheinungen unterschieden, die sich auch ohne die Gegenwart der Menschheit auf der Erde finden würden und denen, die erst auf der Grundlage menschlichen Handelns entstehen. Diese Phänomene, ob nun materieller oder geistiger Qualität, sind auf die Existenz des Menschen angewiesen. DORNHEIM (2001) sieht in den Begriffen Kultur und Natur Antonyme[9], die sich somit über ihre adversative Bedeutung definieren. Der moderne Gegensatz von Natur und Kultur geht auf die cartesianische Betrachtungsweise zurück, wonach die Kultur als „…das aktive, zivilisierte, vernunftgesteuerte, männliche Prinzip…“ (ebd., S. 31) und Natur als „…das passive, dem Sinnlichen verhaftete, weibliche Prinzip….“ (ebd., S. 31) gedeutet werden. Dieser geschlechtsspezifisch kodierte Gegensatz kann heute aus feministischer Perspektive keine Plausibilität mehr beanspruchen (DORNHEIM 1997). Nach RECKWITZ (2000) stellt die Natur ohnehin keinen eigentlichen Gegenbegriff der Kultur dar[10] und ist somit auch nicht zur Definition des Kulturbegriffs geeignet. Erst mit der Einführung des Zivilisationsbegriffs durch den Königsberger Philosophen IMMANUEL KANT wird dem Kulturbegriff ein Antonym geschaffen. Diese Gegenüberstellung von Kultur und Zivilisation ist insbesondere in den deutschen Wissenschaften ausgebildet (ZWILGMEYER 1956). Die Differenzierung ist bei KANT durch eine universalistisch-aufklärerische Konzeption von Moral und Vernunft begründet (BRUNKHORST 1984). Dieses verleiht dem normativen Kulturbegriff seine deutlich kritischen Aspekte (RECKWITZ 2000).

„Wir sind zivilisiert bis zum Überlästigen, zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber, uns für schon moralisiert zu halten, daran fehlt noch sehr viel. Denn die Idee der Moralität gehört noch zur Kultur; der Gebrauch dieser Idee aber, welcher nur auf das Sittenähnliche in der Ehrliebe und der äußeren Anständigkeit hinausläuft, macht bloß die Zivilisierung aus.“ (KANT 1784, zit. nach RECKWITZ 2000, S. 68f.)

Das Vorhandensein von Zivilisation setzt für KANT nicht zwangsläufig die Existenz von Kultur voraus. Nach dem Verständnis KANTS ist zunächst die Moral eine der Wesensmerkmale von Kultur. KANT bindet die Sittlichkeit an den Kulturbegriff. Kultur spiegelt sich nicht wieder in der bloßen Zivilisiertheit der Gesellschaft. Der Kulturbegriff nimmt für KANT eine Transmitter-Funktion zwischen der Natur des Menschen und seiner Moralität ein. Unter Rückgriff auf DESCARTES kann von einer Auseinandersetzung zwischen dem geistig-moralischen und dem sinnlich-triebhaften Ich als Sinnbild des KANT´schen Kultur-Zivilisations-Dualismus ausgegangen werden. Als Ziel wird eine ´Disziplinierung der Triebe´ (HANSEN 2000) angestrebt. Abschließend muss an diesem Punkte konstatiert werden, dass KANT durch die untrennbare Verknüpfung des Kulturbegriffs mit der Moral eine Art moralische Normativität des Kulturbegriffs begründet und mit Hilfe dieser einen Bewertungsmaßstab generiert, mit dem sich Kritik an der Zivilisation üben lässt.

Neben dieser Variante von IMMANUEL KANT existieren noch weitere Varianten eines normativen Kulturverständnisses welche die Begriffe Kultur und Zivilisation gegenüberstellen und auf dem KANT´schen Kultur-Zivilisations-Dualismus gründen. HUBER (1969) verbindet den Begriff der Kultur eng mit einer Form ´innerer Religiosität´, die es dem Menschen ermöglicht, seine seelischen Möglichkeiten zu verwirklichen. Er beschreibt Kultur als

inneres, geistiges, seelisches Leben und Erleben, sie ist das Reich der geistigen Freiheit, der geistigen und moralischen Selbstbesinnung und Selbstbestimmung, d.h. als ein Leben im Geiste zu verstehen, wobei der Geist als ein normatives Prinzip und Bewußtsein aufzufassen ist, als ein geistiges Normbewußtsein; und dieses geistige Normbewußtsein oder menschliches Gewissen ist, den drei wesentlich seelischen Funktionen des Wollens, Denkens und Empfindens entsprechend, ein dreifaches: es ist das geistige Normbewußtsein des Guten, Wahren, und Schönen, mit andern Worten: es ist das ethische, logische und ästhetische Gewissen.“ (ebd., S. 8)

Die Nähe zum durch die Moral geprägten Kulturverständnis KANTS ist offensichtlich. HUBER (1969) leitet aus den kognitiven Fähigkeiten des Willens, des Verstandes und des Gefühls drei wesentliche Merkmale von Kultur ab: Die Moral, die Vernunft und das ´Schöne´. Zusammen bilden diese drei Eigenschaften das geistige Normbewusstsein, das Gewissen des Menschen. Zivilisation ist nach HUBER (1969) die genaue Antithese zur Kultur. Beschreibt er Kultur im weitesten Sinne als Reich des geistigen Wohlergehens, so ist Zivilisation auf die allgemeine materielle Wohlfahrt „in biologischer, politischer, sozialer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht…“ (ebd. , S. 8) bezogen. Unter Zivilisation erfasst er somit die ´profanen´ Produkte des `Nützlichen`.

„… ihre Aufgabe [die der Zivilisation, der Verf.] ist die größtmögliche Befriedigung der materiellen Bedürfnisse; ihr Wirkungsbereich ist die breite Öffentlichkeit, die sichtbare körperliche Außen- oder Erscheinungswelt, und ihre „Grundlagen“ und Grundtriebfedern sind der der menschliche Wille, Verstand und Egoismus! – Und diese drei Grundtriebfedern aller Zivilisationen sind mit dem ethischen, logischen und ästhetischen Gewissen genauso „wesensverwandt“, bekannt oder befreundet wie die Zivilisationen mit der Kultur!“ (ebd., S.8)

Der Begriff des Egoismus wird als charakterisierender Kern des Zivilisationsbegriffs herausgestellt und stellt gleichzeitig das bestimmende Unterscheidungskriterium zum `menschlichen Gewissen` des Kulturbegriffs dar. Nur über die Kultur kann das Individuum zu seinem wahren Ich finden, sie repräsentiert das Reich der `metaphysischen Freiheit` wohingegen Zivilisation das Reich der ´empirischen Notwendigkeit´, somit Unfreiheit, repräsentiert. KLEIN (2000) zielt mit seinen Äußerungen in eine ähnliche Richtung und sieht die Zivilisation als Ansammlung instrumentalisierter Erkenntnisse in den Gebieten Ökonomie und Technik. Kultur als Gegenbegriff umfasst indessen „die Ideale des Glaubens und der Wissenschaft, des Ästhetischen, des Spielerischen und Kommunikativen als Selbstzweck verkörpert.“ (KLEIN 2000, S. 197). Kultur steht hier also für das Erhabene, das Immaterielle, die Produkte des Geistes, etwas durchaus Elitäres; Zivilisation symbolisiert hingegen das Gehaltlose, das Triviale und das Materielle (DORNHEIM 1997, BAUSINGER 1980). An diesem Punkte kann zu einer weiteren Nuancierung des Dualismus Kultur – Zivilisation übergeleitet werden, die bereits bei HUBER (1969) fühlbar durchscheint und die insbesondere in Deutschland bis heute gepflegt wird (BUENO 2002). In dieser Auslegung ersetzt der Begriff Kultur die Termini Erziehung und Bildung. In Anlehnung an den Bildungs- und Erziehungsbegriff war mit Kultur die Hochkultur, insbesondere die Hervorhebung des Ästhetischen gemeint (UZAREWICZ 1998). Innerhalb der Gesellschaft ist die Hochkultur auf die Abgrenzung nach unten und gegen so genannte Subkulturen, welche eher mit dem Begriff der Zivilisation umschrieben werden (KÖNIG 1958), gerichtet. Nach außen begründet sie eine Abgrenzung zu anderen Nationalkulturen.

Die dargestellten Gegensätze von Kultur und Zivilisation gehören nach BAUSINGER (1980) zur „deutschen Tradition der Innerlichkeit“ (S. 57). Das deutsche Verständnis von Kultur entstammt gewissen sozialen und politischen Voraussetzungen. So hat sich in der

„verspäteten Nation kein positives Verhältnis zur Öffentlichkeit und zur Gesellschaft herausgebildet, und Kultur wurde zum Ausdruck der inneren Werte, die man durch den äußeren, technischen Fortschritt gefährdet sah, [Kultur wurde] zum ´schlechten Gewissen von Zivilisation´.“ (PLESSNER 1959, zit. nach BAUSINGER 1980, S. 57-58, Einfügungen durch den Verf.)

Es wird deutlich, dass der Begriff Kultur im Gegensatz zum Begriff der Zivilisation grundsätzlich positiv konnotiert ist. Offensichtlich wird dies nochmals bei BAUSINGER (1980) der die grundlegenden Gegensätze von Kultur und Zivilisation folgendermaßen zusammenfasst:

„Zivilisation als das Nützliche, Kultur als das Schöne; Zivilisation als verwaschene Allgemeinheit, Kultur als nationale Prägung, Zivilisation als materiell, Kultur als immateriell; Zivilisation als quasi physische Erscheinung, Kultur als Produkt des Geistes; Zivilisation als das Niedrige, Kultur als das Hohe.“ (ebd., S. 58)

Diese Dualismen von Kultur und Zivilisation, die häufig zur Beschreibung des Kulturbegriffs herangezogen werden sind außerhalb des deutschen Sprachraumes kaum existent und international nur schwer vermittelbar (BRUNKHORST 1984). Beispielhaft sind im Englischen Kultur und Zivilisation ohnehin synonym, welches im Folgenden exemplarisch an dem Kulturverständnis des englischen Ethnologen EDWARD B. TYLOR erläutert wird. Von TYLOR (1873) stammt die klassische Standarddefinition der angelsächsischen Kulturanthropologie:

„Cultur oder Civilisation … ist jener Inbegriff von Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Sitte und allen übrigen Fähigkeiten und Gewohnheiten, welche der Mensch als Glied der Gesellschaft sich angeeignet hat.“ (ebd., S. 1)

Indem TYLOR die Begriffe Kultur und Zivilisation als Synonyme betrachtet leitet er über zu einem totalitätsorientiertem Verständnis von Kultur[11] (RECKWITZ 2000). Sein holistisches Kulturverständnis, welches für die angloamerikanische Kulturanthropologie bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts prägend bleibt, ist durch folgende Elemente gekennzeichnet:

- die alltägliche und beobachtbare Lebensweise („Gewohnheiten“, „Fähigkeiten“),
- die ideellen und maßgebenden Vorbedingungen von Handlungen des alltäglichen Lebens („Wissen“, „Glauben“, „Moral“),
- die künstlichen Erzeugnisse und Werke, die innerhalb dieses Gefüges produziert werden (ebd.)

TYLOR bezieht sein Verständnis von Kultur demzufolge auf die gesamte menschliche Lebensweise. RECKWITZ (2000) ordnet aufgrund dieser holistischen Perspektive TYLORS Kulturbegriff der totalitätsorientierten Dimension von Kultur zu. Allerdings übersieht RECKWITZ (2000), dass neben dieser totalitätsorientierten Größe die normative Dimension ein weitaus prägender Aspekt dieses Kulturverständnisses ist[12].

In der Fortführung der definitorischen Ausführungen TYLORS zum Begriff der Kultur kommt der normative Charakter dieses Kulturverständnisses immer stärker zum Ausdruck. So spricht TYLOR (1873) beispielhaft von „Naturvölkern“ (S.1), die ihr Entwicklungspotential noch nicht ausgeschöpft haben, so genannten „höheren Nationen“ (S.1) und „Stufen der Civilisation“ (S.6), die es zu erreichen gilt. Ferner führt er aus:

„Die gebildete Welt Europas und Amerikas stellt praktisch einen Maßstab auf, wenn sie die Nationen an das eine Ende der socialen Reihe und die wilden Stämme an das andere Ende derselben stellt, während die übrige Menschheit innerhalb dieser Grenzen vertheilt wird, je nachdem sie mehr dem wilden oder mehr dem civilisierten Leben entspricht.“ (ebd., S. 26)

Diese Differenzierung macht die Schwerpunktsetzung auf den evolutionistischen-normativen Charakter dieser Auslegung des Kulturbegriffs deutlich. TYLOR bemüht sich somit um den Vergleich von Kulturen hinsichtlich ihres Entwicklungsstatus (DORNHEIM 1997). Diese Auffassung TYLORS, dass sich eine Kultur immer von etwas Primitiven zu etwas Höherem entwickelt, korreliert mit der üblichen und häufig anzutreffenden Alltagstheorie, dass „´unsere´ Kultur die höchstmögliche Entwicklungsstufe erreicht habe und dass ´die anderen erst einmal so weit kommen müssen´ (DORNHEIM 1997, S.18). Der Kulturbegriff stellt für TYLOR (1873) in weitestem Sinne eine Reflektionsfolie dar, auf deren Grundlage die Entwicklung der Gesellschaft von der `Barbarei zur Zivilisation´ abgebildet wird. Je höher der Grad der Zivilisation umso höher ist auch der Grad der Kultur. Vor diesem Hintergrund und der in diesem Kapitel erläuterten Dualismen von Kultur und Zivilisation wird an folgender Aussage deutlich, dass die Begriffe Kultur und Zivilisation bei TYLOR (1873) ineinander aufgehen und synonym gebraucht werden:

„Von einem idealen Gesichtspunkt betrachtet, erscheint die Civilisation als eine allgemeine Veredlung der Menschheit durch höhere Organisation des Individuums oder der Gesellschaft, …“ (ebd., S. 27)

Die von TYLOR angesprochene ´Veredelung´ des Menschen durch die Zivilisation steht in einem krassen Widerspruch zu dem Zivilisationsverständnis welches insbesondere in Deutschland erdacht wurde. Während der deutsche Kulturbegriff eher durch eine Abgrenzung zum Zivilisationsbegriff geprägt wird und geistige und materielle Entwicklung strikt unterschieden werden, gewinnt TYLOR den normativen Charakter seines Kulturbegriffs über die Beurteilung des geistigen und technischen Entwicklungsstandes der Zivilisation.

Nach RECKWITZ (2000) bestehen bezüglich der dargestellten Variationen des normativen Kulturbegriffes Probleme in dessen Anwendung. Die normativen Kulturtheorien sind trotz ihres kollektivbezogenen Ansatzes[13] nicht geeignet dem Kulturbegriff „… eine Bedeutung für sozial- und kulturwissenschaftliche Analysen zu verleihen;“ (ebd., S. 71), da die Sozialtheorie nicht an der Klärung normativer Fragen interessiert ist; Vielmehr werden heuristische Bezugsrahmen zum Verständnis menschlichen Verhaltens und der gesellschaftlichen Strukturen gesucht. Der normative Kulturbegriff ist daher mittlerweile zu großen Teilen entwertet worden und wird in den Geisteswissenschaften als obsolet betrachtet[14].

2.1.2 Die totalitätsorientierte Dimension des Kulturbegriffs

Der totalitätsorientierte Kulturbegriff geht auf den deutschen Philosophen und Theologen JOHANN GOTTFRIED HERDER, einen Schüler KANTS, zurück (RECKWITZ 2000). HERDER nahm eine Umdeutung des maßgeblich durch KANT geprägten normativ-universalistischen zu einem holistischen Kulturbegriff vor. Durch HERDER verliert der Kulturbegriff seine normative Orientierung und wird historisiert.

Kultur ist keine ausgezeichnete Lebensform mehr, sondern die spezifische Lebensform

eines Kollektivs in einer historischen Epoche. (ebd., S.72)

Nach dem Verständnis HERDERS existieren somit keine globalen Normen mehr, an denen einzelne Gesellschaften in ihrem ´Wert´ eingeschätzt werden können. Vielmehr charakterisiert der Kulturbegriff nun wertneutral die gesamte spezifische Lebensart von sozialen Gemeinschaften im Gegensatz zu anderen sozialen Gemeinschaften. Dadurch wird der Kulturbegriff zu einem holistischen Konzept. HERDER hebt den einzigartigen Charakter von Völkern, insbesondere unter Berücksichtigung des historischen Kontextes, hervor und diskreditiert somit das normative Kulturverständnis. Die Konsolidierung dieses holistischen Konzeptes von Kultur gelang, wie sich aus den Ausführungen über den normativen Kulturbegriff (2.1.1) erschließen lässt, erst sehr spät.

Die Umsetzung eines totalitätsorientierten Kulturbegriffs gelang erst in der angloamerikanischen Ethnologie. Zwar kann TYLOR, wie bereits in 2.1.1 behandelt, durchaus eine Schlüsselfunktion bei der Umdeutung des Kulturbegriffs hin zu einem totalitätsorientierten Verständnis zugestanden werden; Indes kann in keinem Fall von einem wertneutralen Verständnis von Kultur bei TYLOR gesprochen werden. TYLORS Verdienste für das holistische Konzept von Kultur liegen vielmehr darin, die technologischen und ökonomischen Kapitalien, die einer Gesellschaft zugrunde liegen bzw. von ihr produziert werden, in den Kulturbegriff mit einzubeziehen. Kultur und Zivilisation werden somit eins. Als unbestrittener Vertreter eines holistischen und wertneutralen Verständnisses von Kultur kann der Begründer des Kulturrelativismus FRANZ BOAS identifiziert werden. BOAS gelang es im Rahmen seiner Forschungen, das durch TYLOR geprägte evolutionistische Schema der Kulturentwicklung zu entkräften[15] (KUMMER 1994). BOAS kulturrelativistischer Standpunkt akzentuiert die Verschiedenartigkeit, aber Gleichwertigkeit von Kulturen (DORNHEIM 2001). Vehement kritisiert er die Tendenz des normativen Kulturbegriffs zum Eurozentrismus, welches das rassistische Überlegenheitsdenken der Europäer nach sich zieht (KUMMER 1994). Den Antisemitismus lehnt BOAS (1933) entschieden ab. Sein Kulturrelativismus stellt somit eine konsequente Gegenposition zum Ethnozentrismus dar. BOAS wendet sich allgemein gegen rassistische und somit normative Konzeptionen des Kulturbegriffes und befreit somit die Kulturanthropologie von dem Zwang einseitiger Denkmuster, wie dem Evolutionismus und der Völkerpsychologie[16][17]. BOAS verwies ausdrücklich auf die schädlichen sozialen Folgen dieser normativen Kulturbegriffe[18]. Wie HERDER hebt auch BOAS die historische Komponente bei der Entwicklung von Kulturen hervor und weist insbesondere darauf hin, dass das Verhalten eines Volkes nicht durch die biologische Abstammung, sondern durch seine Kultur und Tradition geprägt wird. BOAS betont den Pluralismus, d.h. das Nebeneinander von Kulturen, die nicht miteinander verglichen werden können. Bestimmte Verhaltens- und Umgangsformen müssen somit immer vor dem Hintergrund des dazugehörigen Sozial- und Wertesystems betrachtet werden. Kulturelle Phänomene können folglich nur in ihrem individuellen Zusammenhang verstanden und beurteilt werden. Für ein ethnozentrisches Kulturverständnis ist somit innerhalb des Kulturrelativismus kein Platz. BOAS verwies insbesondere die kulturanthropologische Forschung darauf, „…die detaillierte und integrierte Untersuchung aller Aspekte der Genese und Kultur von Ethnien in ihrem Zusammenhang…“ (KUMMER 1994, S. 54) zu betrachten. Für BOAS verdienen somit alle Kulturen, ob komplex oder weniger komplex die gleiche Beachtung und sind von gleichem Interesse (DORNHEIM 1997). Alle denkbaren Prägungen von Kulturen gelten somit als „typische Chancen menschenmöglichen Verhaltens“ (MÜHLMANN 1966, S. 17, zit. nach ebd., S. 19).

Die totalitätsorientierte Dimension des Kulturbegriffs war eine Weiterentwicklung und Loslösung vom normativen Verständnis von Kultur und schließt wertneutral alle menschlichen Lebensformen im Allgemeinen ein. Eine weitere Entwicklung aus dem normativen Kulturbegriff heraus stellt die differenzierungstheoretische Dimension von Kultur dar, die im Folgenden näher betrachtet wird.

2.1.3 Die differenzierungstheoretische Dimension des Kulturbegriffs

„Kultur ist vor allem Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäußerungen eines

Volkes“ (FRIEDRICH NIETZSCHE 1873/76, zit. nach RECKWITZ 2000)

An der einleitenden Kulturdefinition NIETZSCHES wird deutlich, dass der differenzierungstheoretische Kulturbegriff sich nicht an der Begriffsexpansion des totalitätsorientierten Kulturverständnisses orientiert, sondern vielmehr die diametrale Richtung einschlägt und die radikale Beschränkung des Kulturbegriffs auf ein gesellschaftliches Subsystem (durch NIETSCHE in erster Linie die `Kunst´) vornimmt (RECKWITZ 2000).

„Was bleibt, ist eine wertfreie Identifikation von Kultur mit jenem gesellschaftlichen Handlungsfeld, in dem die Produktion, Verteilung und Verwaltung von `Weltdeutungen` intellektueller, künstlerischer, religiöser oder massenmedialer Art stattfindet.“ (ebd., S. 79)

Kultur wird in diesem Rahmen als ein soziales Teilsystem betrachtet, welches sich auf den Umgang mit Weltdeutungen spezialisiert hat. Hierbei wird Kultur im 19.Jahrhundert zunächst auf intellektuelle Tätigkeiten und künstlerische Aktivitäten begrenzt. Grundlage und Ursache dieses Verständnisses von Kultur ist die (zunehmende) komplexe Stratifikation von gesellschaftlichen Subsystemen innerhalb moderner Volksgemeinschaften[19]. Aus dieser Komplexität folgt eine hohe Ausdifferenzierung von Weltdeutungsfunktionen. Solche gesellschaftlichen Weltdeutungen sind nach der Auffassung des Soziologen FRIEDRICH TENBRUCK getrennt vom gesellschaftlichen Alltag zu betrachten, auf den sie allerdings in unterschiedlicher Art und Weise einen maßgeblichen Einfluss ausüben. Die kulturellen Deutungen sind nicht das Ergebnis aller sozialen Gesellschaftsgruppen, sondern werden in Form einer Art `Kulturintelligenz` von kulturellen Experten entwickelt (HABERMAS 1981) und finden über die Massenmedien den Zugang zur Alltagswelt. Aus dieser Perspektive stellt Kultur somit ein funktionales differenziertes Teilsystem innerhalb der Subsysteme der Gesamtgesellschaft dar. Diese klassische Konzeptualisierung wurde von TALCOTT PARSONS aus einer systemtheoretischen Perspektive vorgenommen (RECKWITZ 2000). Bei PARSON erscheint die Kultur innerhalb der Gesellschaft als das ´sozial-kulturelle System´, eines der unentbehrlichen Teilsysteme der modernen Gesellschaft. Er ordnet dem sozial-kulturellen Teilsystem vorwiegend die religiösen Institutionen, die Bildungseinrichtungen sowie Kunst und Wissenschaft zu. Es ist offensichtlich, dass dem Kulturbegriff aus einer systemtheoretischen Perspektive das holistische Paradigma verloren geht und Kultur auf ein bestimmtes Handlungsfeld reduziert wird. Im Rahmen dieses Kontextes steht beispielsweise auch THEODOR W. ADORNOS und MAX HORKHEIMERS Konzeption der `Kulturindustrie´. Aufgabe der Kulturindustrie ist es insbesondere über die Nutzung der Massenmedien für eine Anpassung des Individuums an die Gesellschaft zu sorgen (KÜBLER 1977). ADORNO und HORKHEIMER prangern im Wesentlichen die Dominanz des Kapitals über die Kultur an. Die Funktion der Kulturindustrie innerhalb der Gesamtgesellschaft ist die Manipulation der Individuen in der Weise, dass sie in einem gewissen Bewusstseinszustand gehalten werden und somit das bestehende System stabilisieren[20].

Abschließend lassen sich zwei grobe Richtungen der differenzierungstheoretischen Dimension von Kultur identifizieren. Auf der einen Seite ein Kulturbegriff, geprägt durch ´kulturelle Experten´, der sich auf die Hochkultur (Kunst, Wissenschaft, etc.) beschränkt, auf der anderen Seite ein Verständnis von Kultur, welches die Grenzen der Hochkultur sprengt, in das Alltagsleben der Menschen eindringt und beispielsweise aus der ideologie-kritischen Perspektive ADORNOS und HORKHEIMERS als ´Kulturindustrie´ bezeichnet wird.

2.1.4 Die bedeutungs- und wissensorientierte Dimension des Kulturbegriffs

„The symbolic representations that constitute human knowing are […] the cultural.“

(JENKS 1993, S.8 zit. nach RECKWITZ 2000, S.86)

Durch das einführende Zitat wird die Perspektive des Kulturverständnisses auf die symbolischen Zeichen, Muster, Bedeutungs- und Sinnzusammenhänge gelenkt, in deren Kontext das Verhalten des Individuums und die sozialen Strukturen erst erkennbar werden (RIEGLER 2005). Kultur stellt sich in diesem Verständnis als System von Sinnzielen und Wertorientierungen dar (REITERER 1998). Durch die Betonung der Sinnwelt, die nur mit Hilfe von Bedeutungen erschaffen werden kann erhält dieser Kulturbegriff seinen semantischen Charakter (DORNHEIM 2001). Das bedeutungs- und wissensorientierte Verständnis von Kultur postuliert, dass der Mensch in einem ´symbolischen Universum´ lebt, in der er nur über die Hilfe von bedeutsamen Signalen (Symbolen) in einer ´Bedeutungswelt´ handeln kann (RECKWITZ 2000). Das Individuum ist in ein „…selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe verstrickt…“ (GEERTZ 1983, S. 9). Die Kultur stellt de facto das Gewebe, die Sinnwelt des Menschen, dar. In den Mittelpunkt dieses Kulturbegriffs werden die Lebenswelt des Menschen und das Wissen um diese platziert. Kultur begibt sich nicht auf die Ebene kollektiver Sinnsysteme, sondern bezieht sich auf die Sinnsysteme der Akteure, deren Handeln durch ihr spezifisches Sinnsystem gesteuert wird. Diese steuernden Sinnsysteme können demzufolge mit dem Begriff ´Wissen´ in Zusammenhang gebracht werden.

„`Kultur´ sind dann jene Sinnsysteme, über die die Akteure im Sinne von `geteilten´ Wissensordnungen verfügen, die ihre spezifische Form des Handelns ermöglichen und

einschränken.“ (ebd., S.85)

Dieses Kulturverständnis verfolgt nicht die Absicht die Bräuche, Sitten, Traditionen, künstlerischen Leistungen, etc. empirisch-analytisch zu untersuchen. Vielmehr ist eine interpretierende Wissenschaft gefordert, die nach Bedeutungen von, anfangs mysteriös erscheinenden, Ausdrucksformen (GEERTZ 1983) sucht. Diese deutende Wissenschaft fragt danach, was die Individuen wissen müssen um (in ihrem Kulturkreis) handlungskompetent zu sein.[21] Dieser als `Cultural Turn´ bezeichnete Paradigmen-Wechsel innerhalb der Begriffbestimmung von Kultur führte innerhalb der Sozialforschung zu einer Kritik an der bisherigen Vorherrschaft quantitativ-standardisierter Forschungsmethoden und es kam zu der Entwicklung eines heterogenen Feldes von qualitativen Forschungsmethoden (RIEGLER). Das wissenschaftstheoretische Fundament für diese qualitative Vorgehensweise bildet unter anderem die Phänomenologie und Hermeneutik.[22] Die Phänomenologie nach EDMUND HUSSERL ist dem bedeutungs- und wissensorientierten Kulturbegriff zweckdienlich, da ihr zentraler Ausgangspunkt die Erfahrung der Lebenswelt des Menschen (KRON 1999), und somit dessen Sinn- und Bedeutungswelt, darstellt. Gegenüber dem cartesianisch-galileischen Inbegriff der objektivistischen Wissenschaften versucht die Phänomenologie herauszuarbeiten, wie die mutmaßlichen `Strukturen der Welt´ vom Verstand als ein sinnhaftes Korrelat erkannt werden (RECKWITZ 2000). HUSSERL ordnet der Welt aus der Perspektive des Individuums eine Bedeutungsvielfalt zu.

Dabei ist … Welt für mich nicht da als eine bloße Sachwelt, sondern in derselben Unmittelbarkeit als Wertewelt, Güterwelt, praktische Welt. Ohne weiteres finde ich die

Dinge vor mir ausgestattet, wie mit Sachbeschaffenheiten, so mit Wertcharakteren, als schön und hässlich, als gefällig und missfällig, als angenehm und unangenehm u. dgl. … Dasselbe gilt natürlich ebenso wohl … auch für Menschen und Tiere meiner Umgebung hinsichtlich ihres soziales Charakters. Sie sind meine ´Freunde´ oder ´Feinde´, meine ´Diener´ oder ´Vorgesetze´, ´Fremde´ oder ´Verwandte´ usw.“ (HUSSERL 1950, S. 59 zit. nach KRON 1999, S.193)

Im Mittelpunkt der Phänomenologie steht demnach die Frage, wie das denkende Bewusstsein sich die Welt in seinen zielgerichteten Aktionen als sinnhaft erarbeitet. HUSSERL spricht in diesem Zusammenhang von kulturspezifischen aber auch universal geltenden Sinnhorizonten, die die Welt des Einzelnen beeinflusst. Mit Hilfe einer phänomenologischen Einstellung können diese ´Sinnhorizonte´ verstehbar gemacht werden. Die methodische Schrittfolge der Phänomenologie[23] versucht über die Rücknahme von Vorurteilen und Meinungen (Enthaltung) und über weitere folgerichtige Reduktionen zum Wesen[24] der Dinge vorzudringen. Die Hermeneutik ist als Forschungsmethode eng mit der Phänomenologie verbunden. Sie wird als die Kunst der Auslegung von Texten (ebd.) bezeichnet. In einem breiteren Verständnis kann aber der Terminus `Auslegung´ auf alle symbolischen Äußerungen bezogen werden. Nach DILTHEY (1927) ist die Hermeneutik überall dort erforderlich, wo etwas fremd ist. Die Hermeneutik bewegt sich zwischen den Polen partiell unbekannter und annähernd bekannter Lebensweisen[25].

Abschließend kann konstatiert werden, dass ein Kulturbegriff aus einer bedeutungs- und wissensorientierten Perspektive die durch Symbole erschaffene Sinnwelt des Menschen umfasst. Diese subjektive Sinnwelt kann durch phänomenologische und hermeneutische Methoden wertneutral dem Außenstehenden zumindest partiell erschlossen werden.

2.1.5 Diskussion

Nachdem nun die einzelnen Perspektiven des Kulturbegriffs eingehend beleuchtet wurden, wird in der Diskussion der Frage nachgegangen, inwiefern den unterschiedlichen Begriffsbestimmungen von Kultur ein stereotypisierender und möglicherweise stigmatisierender Charakter implizit ist. Diese Ausprägungen des Kulturverständnisses müssten vor dem Hintergrund eines humanistischen Menschenbildes der Pflege abgelehnt und somit zurückgewiesen werden. Um die Relevanz einer Auseinandersetzung von Pflegenden mit den unterschiedlichen Prägungen des Kulturbegriffs hervorzuheben, wird des Weiteren die Frage diskutiert, welche Bedeutung der reflektierte Umgang[26] mit den Kulturbegriffen für die kulturelle Pflege hat.

Wenden wir uns zunächst dem normativen Verständnis von Kultur zu. Es wurde postuliert, dass der normative Kulturbegriff durch eine wertende Perspektive bestimmt wird. Dies bedeutet, dass im Allgemeinen bei allen Nuancierungen des normativen Kulturverständnisses aus einem ethnozentrischen Blickwinkel die Bewertung anderer Kulturen vorgenommen wird. Aus einer ethnozentrischen Sichtweise werden kulturelle Eigenheiten anderer Kulturkreise bewertet, ohne deren Sinnwelten, deren Bedeutungshorizonte, etc. zu durchdringen, wie es etwa das bedeutungs- und wissensorientierte Kulturverständnis postuliert. Infolgedessen kann es zu einer Fehleinschätzung des Kulturkreises in positiver wie auch negativer Weise kommen. Es wird folglich ein Vorurteil aus ethnozentrischer Sicht generiert. Die ohnehin schon vorhandene universelle Neigung des Menschen zur Bildung von Vorurteilen (GOTTSCHALCH 1984), die in der Regel inhaltlich negativ in Bezug auf die Fremdgruppe und positiv in Bezug auf die Eigengruppe besetzt sind (KÖNIG 1958), wird demnach durch den normativen Kulturbegriff noch verstärkt. Durch den Hinweis auf den Begriff `Gruppe´ wird überdies deutlich, dass Vorurteile häufig stereotypen Charakter besitzen, die undifferenziert eine ganze Bevölkerungsgruppe in einem oft wenig verbindlichen Konsens bewerten. Diese Zuschreibung negativer Eigenschaften, die eine soziale Nichtakzeptanz nach sich zieht, kann dann als Stigmatisierung bezeichnet werden (GOFFMAN 1980). Solch eine Stigmatisierung führt zu einer Vielzahl von Diskriminationen, durch die die Lebenschancen der stigmatisierten Gruppe vielfach in hohem Maße reduziert werden. Dies führt zwangsläufig auch zu einem Verlust der sozialen und materiellen Lebensqualität. Ein normativer Kulturbegriff kann vor diesem Hintergrund nicht die Grundlage einer durch den Humanismus geleiteten kulturellen Perspektive der Pflege bilden.

[...]


[1] Zur besseren Lesbarkeit werden die Migranten aus den ländlichen Gebieten Anatoliens (1.Generation) in Deutschland als türkische Migranten bezeichnet. Es wird darauf verwiesen, dass es sich im Allgemeinen bei türkischen Migranten um eine weitaus heterogene Bevölkerungsgruppe handelt. Ferner ist bei der Verwendung der maskulinen Form die weibliche Form darin eingeschlossen. Das Maskulinum bedeutet hier also die geschlechtsabstrakte Form. Die geschlechtsspezifische Form des Maskulinums erschließt sich aus dem Kontext des Textes.

[2] Als Beleg hierfür gelten die zahlreichen Veröffentlichungen, die sich mit kultureller Pflege auseinandersetzen. Hier seien exemplarisch DOMENIG (2001), SCHILDER (1998), UZAREWICZ & PIECHOTTA (1997) und ZIELKE-NADKARNI (2003) erwähnt.

[3] Exemplarisch sei hier auf das Lehrbuch ´Professionelle Transkulturelle Pflege´ von DAGMAR DOMENIG 2001), auf den Ratgeber ´Muslimische Patienten` von SILKE A. BECKER U.A. (1998) oder auf die Studie von MICHAEL SCHILDER (1998) `Türkische Patienten pflegen´ verwiesen.

[4] Der Artikel ´Muslimische Patienten im Krankenhaus´ Teil 1 + 2 von Elka Meyer u.a. ist ein Musterbeispiel für die Stereotypisierung muslimischer Patienten. Vielfach werden aus dem Islam exakte Verhaltensmuster muslimischer Patienten abgeleitet, an denen sich Pflegende orientieren sollen. So heißt es beispielsweise zur Bekleidung des Mannes: „Der Mann ist angehalten, eine Kopfbedeckung zu tragen, die Krawatte (gilt als Symbol westlicher Kultur) ist verpönt, er trägt sein Hemd mit offenem Kragen.“ (MEYER 1998, S. 20)

[5] So konstatiert beispielsweise ZIELKE-NADKARNI (2003) in ihrer Studie, dass in der Interaktion mit dem Patienten die situationsrelevanten Deutungs-, Sinn- und Handlungsstrukturen thematisiert werden müssen.

[6] Mit Ethnozentrismus ist die Bewertung und Beurteilung anderer Völker und Kulturen verbunden. Dieses geschieht vor dem Hintergrund der eigenen Kultur und der mit ihr verbundenen Wertmaßstäbe. (Ethnozentrismus aus WIKIPEDIA, der freien Enzyklopädie)

[7] Der Terminus ´Stigma´ wird in diesem Buch insbesondere in Bezug auf phylogenetische (GOFFMAN 1980) Eigenschaften (Rasse, Nation, Religion) verwendet, die zutiefst diskreditierend sind.

[8] siehe hierzu: Waldenfels, Bernhard (1999): Topographie des Fremden.

[9] Worte mit entgegengesetzter Bedeutung (HÜBNER 2001), „… meistens im Sinne eines polarkonträren Gegensatzes …“ (DORNHEIM 2001, S. 30).

[10] Dies wird insbesondere bei HANSEN (2000) deutlich, der differenziert darlegt, dass Natur und Kultur sich gegenseitig bedingen und aufeinander bezogen sind und eine Grenze zwischen den Begriffen nicht klar gezogen werden kann.

[11] siehe 2.1.2

[12] Im Gegensatz zu RECKWITZ (2000) wird der Kulturbegriff TYLORS daher in diesem Buch auch der normativen und nicht der totalitätsorientierten Dimension von Kultur zugeordnet.

[13] Siehe exemplarisch TYLOR (1873), der das Individuum für die Beurteilung einer Kultur als unwichtig einstuft.

[14] Verwendung findet der normative Kulturbegriff noch im Rahmen des differenzierungstheoretischen Kulturbegriffs (siehe 3.1.3)

[15] BOAS führte hierzu Forschungen über die dekorative Kunst der Nordwestküstenindianer durch, in deren Verlauf er unter anderem nachweisen konnte, dass sich geometrische dekorative Formen nicht aus naturalistischen Darstellungen entwickelt haben (KUMMER 1994).

[16] Die Völkerpsychologie nimmt an, dass psychische Dispositionen dem Menschen speziesspezifisch angeboren sind (KUMMER 1994). Durch diese Annahme ist ihr ein rassistisches und zentristisches Moment implizit.

[17] Von KUMMER (1994) wird in diesem Zusammenhang ebenso auf den Diffusionismus verwiesen, auf den in diesem Buch aufgrund fehlender Relevanz nicht näher eingegangen wird.

[18] Insbesondere mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus in Deutschland lehnte sich BOAS gegen den Rassismus und jede Form von Intertoleranz auf (Boas Kulturrelativismus aus WIKIPEDIA, der freien Enzyklopädie)

[19] Den Gegensatz stellen nach TENBRUCK die archaischen Gesellschaften dar, deren Kulturkreise eine gewisse Strenge, Geschlossenheit und geringe Divergenz der Kultur aufweisen (RECKWITZ 2000). Hier ist die Verwendung eines totalitätsorientierten Kulturbegriffs eher geeignet.

[20] KÜBLER (1977) bezeichnet die Kulturindustrie daher auch als die „Kultur der Subjektlosen“ (S.193)

[21] Siehe hierzu die Definition eines Kulturbegriffs, der auf dem Wissen aufbaut: „ a new view of culture as shared knowledge – not as people´s customs and artifacts and oral traditions, but what they must know in order to act as they do, making things they make, and interpret their experiences in the distinctive way they do.” (QUINN und HOLLAND 1987, zit. nach ebd., S.86)

[22] Von RECKWITZ (2000) wird zusätzlich noch auf den Strukturalismus, die Semiotik, den Pragmatismus und die wittgensteinianische Philosophie verwiesen, auf die aber hier nicht näher eingegangen wird.

[23] Der methodische Weg der Phänomenologie wird hervorragend bei KRON (1999), S. 194-195 beschrieben.

[24] Mit Wesen ist der Kern einer Sache gemeint, den alle Objekte, die begrifflich zusammengefasst werden, gemeinsam haben.

[25] „Die Auslegung wäre unmöglich, wenn die Lebensäußerungen gänzlich fremd wären. Sie wäre unnötig, wenn in ihnen nichts fremd wäre. Zwischen diesen beiden äußersten Gegensätzen liegt sie [die Hermeneutik, der Verf.] also.“ (DILTHEY 1927, S. 225)

[26] Mit ´reflektiertem Umgang´ ist insbesondere auch ein Wissen der praktisch Pflegenden über differierende Kulturbegriffe gemeint.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2005
ISBN (eBook)
9783836605151
ISBN (Paperback)
9783836655156
Dateigröße
1.3 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Bremen – Human- und Gesundheitswissenschaften, Studiengang Lehramt für Pflegewissenschaft
Note
1,3
Schlagworte
deutschland türkischer einwanderer erste ausländergeneration kulturelle identität transkulturelle pflege anatolien kultursensible pflegedidaktik transkulturell familiäre struktur migration türkei
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Titel: Kulturelle Identität in der Pflege
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