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Die Außenbeziehungen der EU zu den arabischen Mittelmeeranrainern im Rahmen der Euro-Mediterranen Partnerschaft

©2007 Diplomarbeit 175 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Da im Fokus einer nachhaltigen Entwicklungsstrategie die grundlegende Transformation der Gesellschaften und der politischen Systeme steht, stellt sich die Frage, welche Rolle in einem solchen Prozess, der primär von den Gesellschaften selbst getragen werden muss, externen Akteuren wie der EU zukommen kann und vielleicht sogar zukommen muss. Für Europa begründet sich der eigene Anspruch, durch die Anbindung der arabischen Staaten an das westliche Wirtschaftssystem ein höheres Wohlstandsniveau dieser Staaten zu erreichen und so zu Stabilität beizutragen, sowohl aus der geschichtlichen Verflechtung mit der Region, als auch aus der geographischen Nähe. Während letztere die Möglichkeiten einer intensiven Austauschbeziehung und einer Ausweitung europäisch-arabischer Handelsverflechtungen impliziert, birgt sie gleichsam die Gefahren illegaler Migration und eines Überschwappens der regionalen Konflikte nach Europa. Es ist daher im ureigensten Interesse der EU, die Probleme der Region nicht zu ignorieren. Ein stärkeres europäisches Engagement in der Region wird auch von arabischer Seite gefordert, die die EU zunehmend als alternativen Verhandlungspartner zu den USA wahrnimmt.
Dass die EU bereit ist, die Rolle des externen Förderers der Region zu übernehmen, bekräftigte sie in einem 2004 veröffentlichten Papier zur „Strategischen Partnerschaft der EU mit dem Mittelmeerraum und dem Nahen Osten“. Darin wird die Ambition zum Ausdruck gebracht, die Erkenntnisse und Erfahrungen, die man in der „Euro-Mediterranen Partnerschaft“ seit 1995 gesammelt hat, auf den größeren arabischen Raum östlich von Jordanien auszuweiten. Die Frage, ob durch dieses Partnerschaftsprogramm tatsächlich ein effektiver Handlungsrahmen geschaffen wurde, macht eine eingehende Analyse der Kooperations- und Prozessstrukturen dieser Partnerschaft notwendig. Die „Euro-Mediterrane Partnerschaft“ stellt daher nicht nur das Kernkonzept der „Strategischen Partnerschaft“ dar. Es dient auch in der vorliegenden Arbeit als Analysemodell, anhand dessen aufgezeigt werden soll, unter welchen Bedingungen ökonomische Zusammenarbeit als integratives Element in einem Prozess inter-regionaler Kooperation fungieren kann. Die zentrale Fragestellung dieser Diplomarbeit lautet daher: Kann die EU über den Weg der wirtschaftlichen Kooperation die Weichen stellen für anhaltendes Wachstum in den arabischen Entwicklungsländern? Eröffnet sich dadurch auch die Möglichkeit, politisch Einfluss […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Melanie Noetzel
Die Außenbeziehungen der EU zu den arabischen Mittelmeeranrainern im Rahmen der
Euro-Mediterranen Partnerschaft
ISBN: 978-3-8366-0575-5
Druck Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2007
Zugl. Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen, Deutschland,
Diplomarbeit, 2007
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2007
Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis
I
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis... I
Tabellenverzeichnis... III
Abbildungsverzeichnis... V
Abkürzungsverzeichnis... VII
1. Einleitung ... 1
2. Theoretischer Analyserahmen ... 9
2.1. Problematik nationalstaatlicher Rhetorik...10
2.2. Interdependenztheorie...12
2.3. Integrationstheorie ...14
2.4. Friedensforschung ...17
2.5. Universalismus vs. Regionalismus...20
3. Historische Entwicklung der Beziehungen der EU zum Mittelmeerraum ...23
3.1. Bilaterale Abkommen (Phase I: 1957 ­ 1972) ...23
3.2. Globale Mittelmeerpolitik (Phase II: 1972 ­ 1990) ...26
3.2.1. Struktur und Umsetzung des Globalansatzes...27
3.2.2. Problematische Partnerschaft...30
3.3. Multilaterale Initiativen zur Formulierung einer Mittelmeerpolitik...32
3.3.1. Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittelmeerraum ...33
3.3.2. ,,5 plus 5"-Gespräche...34
3.4. Zusammenfassung ...35

Inhaltsverzeichnis
II
4. Die Euro-Mediterrane Partnerschaft ­ der Barcelona Prozess ab 1995... 39
4.1. Barcelona Deklaration ­ Programm, Motivation und Zielsetzungen... 43
4.2. Bedeutung des Wirtschaftsraums für die EU... 48
4.2.1. Grundlagen neoklassischer und endogener Wachstumsmodelle... 49
4.2.2. Stabilität als Wachstumsfaktor ... 51
4.2.3. Analyse des ökonomischen (Entwicklungs-) Potentials ... 54
4.2.4. Vergleich zu AKP-Staaten... 67
4.3. Freihandelszone als Kernstück der EMP ... 73
4.3.1. Europa-Mittelmeer-Abkommen ... 73
4.3.2. Freihandel im Rahmen der WTO/GATT 1994... 75
4.3.3. Ökonomische Implikationen des Freihandelskonzepts ... 77
4.4. Zusammenfassung... 83
5. Spannung zwischen Konzeption und Implementierung ... 85
5.1. Defizite in der europäischen Marktöffnungspolitik ... 88
5.2. Institutioneller Dualismus ... 93
5.3. Demokratisierung vs. Stabilisierung ... 96
5.4. EU als ,,Global Payer" oder ,,Global Player"?... 99
5.5. Regionalkonflikte als Kooperations-Determinante... 102
5.6. Nahost-Konflikt und dessen Auswirkungen auf die EMP... 105
5.7. Zusammenfassung... 108
6. Fazit... 109
Literaturverzeichnis ... i
Aufsätze, Monographien und Sammelwerke... i
Dokumente... xi
Institutionen... xv
Online-Publikationen ...xix
Anhang... xxvii

Tabellenverzeichnis
III
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1:
MEDA I: Zahlungen im Verhältnis zu den Verpflichtungen (1995-1999) ...43
Tabelle 2:
Durchschnittlicher Anteil bestimmter Warengruppen an den Gesamtexporten
der MDL in die EU (1995-1998) ...59
Tabelle 3:
Anteil traditioneller Handelsprodukte an den Gesamtexporten in die EU
(1989-1993) ...60
Tabelle 4:
Transparency International Korruptionsindex (1996-2006) ...63
Tabelle 5:
Entwicklung der jährlichen Direktinvestitionen aus dem Ausland (2001-2004)
in Mio. US-Dollar und des Außenhandelsvolumens als Anteil des BIP (2000-2005) ..65
Tabelle 6:
Budget zur Unterstützung der MDL und AKP-Länder ...71
Tabelle 7:
Euro-Mediterrane Handelsabkommen ­ Übersicht ...74
Tabelle 8:
Bedeutung des Agrarsektors für die MDL (1997-1999)...75
Tabelle 9:
Zollsätze und Zolleinnahmen als Anteil am Staatseinkommen der MDL
(1994-1996) ...79
Tabelle 10: Volkswirtschaftliche Bedeutung des Werts der Präferenzmargen für die MDL
(2001-2003) ...90

Abbildungsverzeichnis
V
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Unterzeichnerstaaten der Deklaration von Barcelona... 6
Abbildung 2: Glaubwürdigkeitsindikator...52
Abbildung 3: Grundlagen des Wachstums in Entwicklungsländern ...53
Abbildung 4: Durchschnittliche Entwicklung des BIP pro Arbeitnehmer (1965-1993) ...56
Abbildung 5: Quantitative Bedeutung der EU als Handelspartner der MDL (1990-1999) ...57
Abbildung 6: Quantitative Bedeutung der MDL als Handelspartner der EU (1980-2001) ...58
Abbildung 7: Jährliche Veränderung der MDL-Exporte in die EU (1997-2000)...58
Abbildung 8: Weltbank Governance Indikator ­ Perzentil-Ranking (1996-2005) ...64
Abbildung 9: Exporte der MDL und AKP-Länder in die EU (2001-2005)...69
Abbildung 10: Quantitative Bedeutung der MDL und AKP-Länder für Ex- und Importe
der EU (2005) ...70
Abbildung 11: Sektorelle Betrachtung der Exporte der MDL und AKP-Länder in die EU (2005) ...71
Abbildung 12: Kurz- und langfristige Wirkung des Freihandelskonzepts ...80

Abkürzungsverzeichnis
VII
Abkürzungsverzeichnis
ADI (FDI)
Ausländische Direktinvestitionen (Foreign Direct Investment)
AHDR
Arab Human Development Report
AKP (ACP)
Afrika-Karibik-Pazifik
AL Arabische
Liga
APS Allgemeines
Präferenzsystem
AMU Arabische
Maghreb-Union
BIP Bruttoinlandsprodukt
BMENA
Broader Middle East and North Africa
BTI
Bertelsmann Transformation Index
CEPS
Center for European Policy Studies
CPI
Corruption Perception Index
DG Generaldirektion
(Directorate-General)
ECU
European Currency Unit
EEA
Einheitliche Europäische Akte
EEF Europäische
Entwicklungsfonds
EFTA
European Free Trade Association
EG Europäische
Gemeinschaft
EGV
Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft
EIB Europäische
Investitionsbank
EMA Europa-Mittelmeer-Abkommen
EMHRN
Euro-Mediterranean Human Rights Network
EMP Euro-Mediterrane
Partnerschaft
EMPA
Euro-Mediterranean Parliamentary Assembly
ENP Europäische
Nachbarschaftspolitik
EPA
Economic Partnership Agreement
EPZ
Europäische Politische Zusammenarbeit
ESVP (ESDP)
Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik
(European Security and Defence Policy)
EU Europäische
Union
EuGH Europäischer
Gerichtshof
EWG Europäische
Wirtschaftsgemeinschaft
FAO
Food and Agriculture Organization

Abkürzungsverzeichnis
VIII
FAZ
Frankfurter Allgemeine Zeitung
FEMIP
Investitionsfazilität und Partnerschaft Europa-Mittelmeer (Facility
for Euro-Mediterranean Investment and Partnership)
FEMISE
Forum Euro-Méditerranéen des Instituts Economiques
GAP Gemeinsame
Agrarpolitik
GASP
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
GATT
General Agreement on Tariffs and Trade
GKR Golf-Kooperationsrat
IEMED
Institut Europeu de la Mediterrània
KSZE
Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
KSZM
Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit im
Mittelmeerraum
LW Landwirtschaft
MDL
Mittelmeerdrittländer
MEDA
Mesures d'accompagnement des réformes des structures
économiques et sociales dans les pays tiers méditerranéens
MENA
Middle East and North Africa
MFN
Most Favoured Nation
NATO
North Atlantic Treaty Organisation
OECD
Organisation for Economic Co-operation and Development
OIC
Organization of the Islamic Conference
PHARE
Poland and Hungary: Aid for Restructuring of the Economies
TACIS
Technical Assistance to the Commonwealth of Independent
States
TFP Totale
Faktorproduktivität
TI Transparency
International
UNCTAD
United Nations Conference on Trade and Development
UNDP
United Nations Development Programme
ZEI
Zentrum für Europäische Integrationsforschung
USA
United States of America
WTO
World Trade Organisation

Kapitel 1 - Einleitung
1
,,One thing is certain: The Mediterranean exists as a human, social
and historical reality ­ a reality that calls with ever-greater
urgency for courageous and long-term action."
(Romano Prodi)
1. Einleitung
Die Beziehungen zwischen Europa und der arabischen Welt bewegen sich seit jeher in einem Span-
nungsfeld zwischen (kolonial-)historischem Konflikt, ressourcenbedingter Abhängigkeit und integra-
tiver Kooperation. Ihnen liegt ein gemeinsames Erbe zugrunde, das nicht nur von Geschichten aus
der Zeit der Kreuzfahrer lebt, die zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert versuchten, das Christen-
tum ins Heilige Land zu bringen. Die Vergangenheit, die Europäer und Araber, Christen und Muslime
teilen, ist vielschichtiger und facettenreicher. So legt neben vielen anderen Episoden inter-kultureller
Einheit vor allem die hundertjährige Periode des im Jahre 929 n. Chr. in Andalusien ausgerufenen
Kalifats Zeugnis einer friedlichen Koexistenz, gar einer gegenseitigen Befruchtung und Bereicherung
der Kulturen und Religionen ab. Denkklischees, die sich durch Beiträge wie Huntingtons ,,Kampf der
Kulturen" verfestigen, tragen jedoch dazu bei, dass die damals demonstrierte Fähigkeit zu inter-kul-
tureller Toleranz zur bloßen Verklärung der Vergangenheit degradiert wird.
Mit der Ausbreitung des Islams durch die Omaijaden nach Europa wurde Córdoba, Hauptstadt des
maurischen Spaniens, zum geistigen und kulturellen Zentrum des Islams und eine der reichsten
Städte des mittelalterlichen Europas. Das Arabische wurde nicht nur von den anderen Glaubensrich-
tungen als Ausweis höchster Klasse und Fähigkeiten erachtet. Es wurde zur ,,lingua franca" eines
Reichs im Mittelmeer, dessen Größe im 7. und 8. Jahrhundert dem mediterranen Zentrum des römi-
schen Reichs in nichts nachstand.
1
Dies war Beleg für die Anerkennung der geistigen Leistungen
der arabischen Zivilisation, die mit ihrem Wissen und ihren Innovationen das schwarze Loch füllte,
,,das sich seit dem kompletten Zusammenbruch des Römischen Reiches im kulturellen, materiellen
und intellektuellen Gefüge des Westens aufgetan hatte".
2
Doch sowohl die geistige Opulenz als auch
der materielle Wohlstand der Iberischen Halbinsel, die sich in Form von prächtigen Palast- und Bibli-
otheksbauten, Moscheen und Kathedralen wie der ,,Alhambra" in Granada oder ,,La Giralda" in
1
Vgl. Menocal 2003: 35, 45.
2
Ebd.: 52.

Kapitel 1 - Einleitung
2
Sevilla, auch heute noch erahnen lassen, gingen letztlich an der auch damals stets gegenwärtigen
Intoleranz zugrunde, die nicht nur zwischen den Religionen, sondern auch innerhalb der einzelnen
Glaubensrichtungen tiefe Gräben aufriss. Denn damals wie heute kämpften und kämpfen die großen
monotheistischen Religionen nicht primär um die Vorherrschaft im Glauben, sondern vielmehr um
eine Selbstdefinition dessen, was sie konstituiert, was sie waren und was sie werden wollten.
3
Speziell die Frage nach der islamischen Identität begründet sich aus der Entstehung des Islams in
den frühen Jahrzehnten des siebten Jahrhunderts, als die lokalen Traditionen der einzelnen Völker
mit der neuen Religion verschmolzen und über die Jahrhunderte viele unterschiedliche Strömungen
des islamischen Glaubens entstanden. Dass die innerislamischen Spannungen von den Auseinan-
dersetzungen der arabischen Welt mit dem Westen überlagert wurden, nahm mit der französischen
Besatzung Ägyptens durch Napoleon Ende des 18. Jahrhunderts seinen Anfang. Die Konfrontation
der arabischen Welt mit der militärischen, wirtschaftlichen und politischen Übermacht des Westens,
die sich mit der Kolonialisierung Nordafrikas und des Nahen Ostens durch Frankreich, Großbritan-
nien und Italien bis ins frühe 20. Jahrhundert fortsetzte, hält bis in die Gegenwart an.
4
In antikolonialistischer Tradition stehen auch heute die unterschiedlichen Strömungen und Organisa-
tionen, die sich in der ,,Islamismus"-Bewegung sammeln. Ihre Motivation hat vielfältige Wurzeln wie
die Zersetzung der traditionellen, gesellschaftlichen Strukturen durch die Kolonialherrschaft, die Ent-
täuschung über das politische und ökonomische Versagen der nachkolonialen Regime sowie anti-
westliche und antimodernistische Ressentiments. Der Islamismus ist daher als ein ,,Krisensymptom"
5
zu verstehen und richtet sich ebenso gegen die Marginalisierung der arabischen Welt im Prozess
der Globalisierung wie gegen die Marginalisierung der islamischen Identität im vermeintlichen Pro-
zess der Ausbeutung und Verwestlichung der arabischen Zivilisation. Die Sprengkraft, die die politi-
schen Ideologien auf islamischer Basis durch ihre Verbindung mit oppositionellen und revolutionären
Gruppen entfalten können, ist mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ins Bewusstsein
nicht nur der westlichen Welt gerückt.
6
Die als grundlegende Ursache der islamistischen Bewegungen identifizierten Entwicklungsdefizite
können jedoch nicht, wie die Kongruenz zwischen islamischer Glaubensverbreitung und Unterent-
3
Vgl. ebd.: 350f.
4
Vgl. Haarmann 2002: 11f.
5
Halm 2002: 240.
6
Vgl. Halm 2002: 240ff.

Kapitel 1 - Einleitung
3
wicklung in den arabischen Staaten vermutet lassen könnte
7
, pauschalisierend ,,dem Islam" angelas-
tet werden. Die Ursachen der Unterentwicklung liegen vielmehr in den gesellschaftlichen, wirtschaft-
lichen und politischen Strukturen der arabischen Staaten begründet, denn eigenständige Industrien
haben sich in der Kolonialzeit ebenso wenig entwickelt wie in den sozialistischen Systemen, auf die
die meisten arabischen Staaten nach der Unabhängigkeit als Entwicklungsmodell zurückgegriffen
haben.
8
Zur Sicherung der eigenen Machtposition bauten die autoritären Regime auf Klientel- und
Patronagesysteme auf und bremsten dadurch nicht nur die Modernisierung von Staat und Gesell-
schaft. Durch Protektion und Abschottung entstandene, nachhaltige Effizienzdefizite erschweren in
Teilen auch heute noch die wirtschaftlich notwendige Anpassung an Weltmarkterfordernisse. Seit
2002 ist diese Entwicklung Gegenstand wissenschaftlicher Aufbereitung im Rahmen des vom
,,United Nations Development Programme" (UNDP) und dem ,,Arab Fund for Economic and Social
Development" jährlich herausgegebenen ,,Arab Human Development Report" (AHDR). Zu den vor-
dringlichen Entwicklungshemmnissen in den arabischen Staaten zählen demnach in erster Linie
Beteiligungs-, Wissens- und Freiheitsdefizite.
9
Daraus kann gefolgert werden, dass die grundlegen-
de Ursachenbekämpfung in der Schaffung zivilgesellschaftlicher Strukturen, politischer Partizipation
und Rechtstaatlichkeit zu sehen sind sowie im Abbau von Privilegien und in der Etablierung von
Wettbewerbsstrukturen, kurz: in der Emanzipierung, Zivilisierung und vor allem in der Demokratisie-
rung der Gesellschaften.
Diese Problematik auf eine arabische oder islamische Herausforderung zu reduzieren, würde jedoch
die Fehlperzeptionen bestätigen, die bereits heute die unvoreingenommene Begegnung der Kulturen
erschweren. Denn es handelt sich auch im arabischen Raum um eine Modernisierungskrise, wie sie
in fast allen Ländern der dritten Welt existiert, deren Staatensysteme europäische Mächte formten,
deren Gemeinwesen allerdings geprägt sind durch lokale Loyalitäten tribalen Ursprungs.
10
Diese
Krise wird in den Ländern Nordafrikas sowie des Nahen und Mittleren Ostens allerdings durch viel-
zählige regionale Konflikte beschwert, für die die Kriege in der Golfregion und die bereits Jahrzehnte
währenden israelisch-palästinensischen Auseinandersetzungen besonders eindringliche Beispiele
darstellen. Die Kämpfe in Afghanistan, die Instabilität im Irak nach der Befreiung von Saddam
7
Nur knapp über 10% der 57 Mitgliedstaaten der Organization of the Islamic Conference (OIC) gehören gemäß
der Klassifikation der Weltbank zur Gruppe der Länder mit hohen Einkommen. Dazu gehören vornehmlich Öl-
Staaten des Mittleren Ostens wie Saudi-Arabien und die Vereinten Arabischen Emirate. Knapp 50% zählen auch
2006 zu den Ländern mit niedrigen Einkommen, d.h. mit einem BNE pro Kopf von weniger als 825 US-Dollar.
Vgl. Organization of the Islamic Conference: Member States (Online-Publikation) und Weltbank 2006: 349.
8
Vgl. Nienhaus 2004: 229.
9
Vgl. Arab Fund for Social and Economic Development/ United Nations Development Programme 2002.
10
Vgl. Erhart/ Johannsen 2005: 252.

Kapitel 1 - Einleitung
4
Hussein und das iranische Nuklearprogramm machen aber auch in jüngster Zeit deutlich, dass die
Region auch in Zukunft die größte außen- und sicherheitspolitische Herausforderung für die west-
liche Welt im Allgemeinen und für Europa als unmittelbaren Nachbarn im Speziellen, sein wird.
Da im Fokus einer nachhaltigen Entwicklungsstrategie also die grundlegende Transformation der
Gesellschaften und der politischen Systeme steht, stellt sich die Frage, welche Rolle in einem sol-
chen Prozess, der primär von den Gesellschaften selbst getragen werden muss, externen Akteuren
wie der EU zukommen kann und vielleicht sogar zukommen muss. Für Europa begründet sich der
eigene Anspruch, durch die Anbindung der arabischen Staaten an das westliche Wirtschaftssystem
ein höheres Wohlstandsniveau dieser Staaten zu erreichen und so zu Stabilität beizutragen, sowohl
aus der geschichtlichen Verflechtung mit der Region, als auch aus der geographischen Nähe. Wäh-
rend letztere die Möglichkeiten einer intensiven Austauschbeziehung und einer Ausweitung euro-
päisch-arabischer Handelsverflechtungen impliziert, birgt sie gleichsam die Gefahren illegaler Migra-
tion und eines Überschwappens der regionalen Konflikte nach Europa. Es ist daher im ureigensten
Interesse der EU, die Probleme der Region nicht zu ignorieren.
11
Ein stärkeres europäisches Enga-
gement in der Region wird auch von arabischer Seite gefordert, die die EU zunehmend als alternati-
ven Verhandlungspartner zu den USA wahrnimmt.
12
Dass die EU bereit ist, die Rolle des externen Förderers der Region zu übernehmen, bekräftigte sie
in einem 2004 veröffentlichten Papier zur ,,Strategischen Partnerschaft der EU mit dem Mittelmeer-
raum und dem Nahen Osten"
13
. Darin wird die Ambition zum Ausdruck gebracht, die Erkenntnisse
und Erfahrungen, die man in der ,,Euro-Mediterranen Partnerschaft" seit 1995 gesammelt hat, auf
den größeren arabischen Raum östlich von Jordanien auszuweiten. Die Frage, ob durch dieses Part-
nerschaftsprogramm tatsächlich ein effektiver Handlungsrahmen geschaffen wurde, macht eine ein-
gehende Analyse der Kooperations- und Prozessstrukturen dieser Partnerschaft notwendig. Die
,,Euro-Mediterrane Partnerschaft" stellt daher nicht nur das Kernkonzept der ,,Strategischen Partner-
schaft" dar. Es dient auch in der vorliegenden Studie als Analysemodell, anhand dessen aufgezeigt
werden soll, unter welchen Bedingungen ökonomische Zusammenarbeit als integratives Element in
einem Prozess inter-regionaler Kooperation fungieren kann. Die zentrale Fragestellung dieser Studie
lautet daher: Kann die EU über den Weg der wirtschaftlichen Kooperation die Weichen stellen für
anhaltendes Wachstum in den arabischen Entwicklungsländern? Eröffnet sich dadurch auch die
11
Vgl. Erhart/ Johannsen 2005: 7.
12
Vgl. Schäfer 2005: 143.
13
Vgl. Euromed Report Nº 78.

Kapitel 1 - Einleitung
5
Möglichkeit, politisch Einfluss zu nehmen auf den Prozess der Demokratisierung, der für eine
gesellschaftliche und politische Transformation als Grundlage betrachtet wird?
Dazu werden in einer kritischen Auseinandersetzung mit der Entstehung, der Art und der Entwick-
lung der Euro-Mediterranen Partnerschaft zunächst die Schwachpunkte des Kooperationskonzepts
identifiziert. In einem nächsten Schritt werden die Schwierigkeiten, die sich bei der Implementierung
des Konzepts ergeben haben, auf ihr Reformpotential untersucht, um in einem abschließenden
Kommentar auf Erfolg versprechende Entwicklungsmöglichkeiten des Partnerschaftsprogramms hin-
zuweisen.
Der Fokus auf die euro-mediterranen Beziehungen bedingt eine geographische Eingrenzung des
Analyserahmens. Dieser umfasst, wie Abbildung 1 zeigt, neben den fünfzehn Mitgliedstaaten der EU
die folgenden Mittelmeerstaaten bzw. -subregionen: Marokko, Tunesien und Algerien, die die Kern-
staaten des Maghreb bilden
14
, die Mashriq-Staaten Ägypten, Jordanien
15
, Libanon, Syrien, Israel
und die Palästinensischen Autonomiegebiete sowie Malta, Zypern und die Türkei. Da Malta und Zy-
pern seit der EU-Osterweiterung zu den EU-Staaten gezählt werden müssen und die Problematik
der europäisch-türkischen Beziehungen bewusst ausgeklammert wird, werden diese Staaten im Fol-
genden nur an relevanter Stelle, so z.B. zu Vergleichszwecken, Erwähnung finden. Da das Hauptau-
genmerk dieser Studie auf den Beziehungen der EU zu den arabischen Mittelmeeranrainern liegt,
wird auch Israel eine lediglich marginale Rolle spielen. Gleiches gilt aufgrund der mangelhaften Da-
tenverfügbarkeit für die Palästinensischen Autonomiegebiete. Die nachfolgenden Ausführungen be-
ziehen sich im Kern also auf die Staaten Algerien, Ägypten, Jordanien, Libanon, Marokko, Syrien
und Tunesien. Diese werden unter den synonym verwendeten Bezeichnungen ,,Mittelmeerdrittländer
(MDL)", ,,arabische Mittelmeerpartner" bzw. ,,Mittelmeerpartnerländer" zusammengefasst. Beziehen
sich statistische Angaben auf die Gesamtregion, so wird im Folgenden von der MENA-Region
(Middle East and Northern Africa) gesprochen, zu der die im obigen Sinne definierten Subregionen
Maghreb und Mashriq sowie die Türkei und Israel zählen. An dieser Stelle sei ebenfalls angemerkt,
dass aus Gründen der Vereinfachung und unabhängig vom europäischen Integrationsstand die Be-
zeichnung ,,EU" für die europäischen Mitgliedstaaten verwendet wird. Davon wird nur abgewichen,
14
Zum Maghreb zählen darüber hinaus Mauretanien und Libyen. Während Mauretanien Beziehungen zur EU im
Rahmen des EU-AKP-Kooperationsprogramms unterhält, war eine Kooperation mit Libyen aufgrund von UN-
Sanktionen gegen das Land zum damaligen Zeitpunkt nicht wünschenswert. Seit 2004 können allerdings ernst zu
nehmende europäisch-libysche Annäherungsversuche beobachtet werden. Vgl. Werenfels 2004.
15
Obwohl Jordanien kein Mittelmeeranrainer ist, wurde das Land aufgrund seiner Bedeutung im Nahostkonflikt in
die Kooperation einbezogen. Vgl. Jünemann 1999: 32.

Kapitel 1 - Einleitung
6
wenn es um die genaue Bezeichnung bilateraler Abkommen bzw. um die Vertragswerke der EU
geht.
Marokko
Tunesien
Algerien
Ägypten
Türkei
Malta
EU-15
Mittelmeerdrittländer
Israel
Jordanien
Syrien
Libanon
Paläst.
Autonom.
Ägypten
Zypern
E
F
GB
P
D
DK
S
FIN
IRL
NL
I
A
B
L
GR
0
200km
500
0
1000km
Gaza
Marokko
Tunesien
Algerien
Ägypten
Türkei
Malta
EU-15
Mittelmeerdrittländer
EU-15
Mittelmeerdrittländer
Israel
Jordanien
Syrien
Libanon
Paläst.
Autonom.
Ägypten
Zypern
E
F
GB
P
D
DK
S
FIN
IRL
NL
I
A
B
L
GR
0
200km
500
0
1000km
500
0
1000km
Gaza
Abbildung 1: Unterzeichnerstaaten der Deklaration von Barcelona
16
Bevor in Kapitel 3 mit einem historischen Rückblick auf die euro-mediterranen Beziehungen seit den
frühen sechziger Jahren die Grundlagen für ein besseres Verständnis der Entstehung und Entwick-
lung der Euro-Mediterranen Partnerschaft geschaffen werden, wird im zweiten Kapitel ein theoreti-
scher Analyserahmen aufgestellt. Dieser dient dazu, die deskriptive Darstellung der historischen Pro-
zesse und Muster um eine analytische Perspektive zu erweitern. Zur Unterstützung der Argumenta-
16
Eigene Darstellung.

Kapitel 1 - Einleitung
7
tionslinie dieser Studie wurden mit der Interdependenztheorie, der Integrationstheorie sowie der Frie-
densforschung spezifische Erklärungsansätze internationaler Interaktion gewählt, die der idealisti-
schen Denkschule zugeordnet werden können. Die Theorien unterstützen sich in ihrer Aussage ge-
genseitig und stellen für den Versuch, die Motivation des europäischen Handelns zu beleuchten und
die normative Handlungsorientierung der EU aufzuzeigen, ein hilfreiches Instrument dar. Dass durch
die Begrenzung auf drei Theorien der idealistischen Strömung bestimmte Verhaltens- und Erklä-
rungsmuster betont werden, andere jedoch unberücksichtigt bleiben, liegt in der Natur der Sache.
Die Wahl der theoretischen Ausrichtung hat somit einen stark instrumentellen Charakter, so dass
eine alternative Deutungsweise der europäischen Politik im mediterranen Kontext denkbar, ange-
sichts der Fragestellung dieser Studie aber nicht Ziel führend wäre.
Im dritten Kapitel wird zunächst der inkrementelle Charakter der euro-mediterranen Kooperationsbe-
ziehung herausgestellt und die Dynamik beleuchtet, die der europäische Integrations- und Erwei-
terungsprozess auf die Entwicklung der euro-mediterranean Beziehungen überträgt. Als erste
gesamteuropäische Kooperationsinitiative wird die ,,Globale Mittelmeerpolitik" vorgestellt, die sich als
ein umfassender Ansatz mit handelspolitischen, finanziellen und technischen Kooperationselemen-
ten auszeichnet. Die kritische Betrachtung der einzelnen Elemente führt jedoch zu der Feststellung,
dass der Nutzen für die arabischen Kooperationspartner aufgrund wesentlicher Einschränkungen im
Handelsbereich, und hier vor allem im Agrarsektor, begrenzt bleibt. Die Einordnung dieser ersten
Phase der Zusammenarbeit in den größeren historischen Kontext sowie die Auseinandersetzung mit
den staatlichen Strukturen der arabischen Mittelmeerpartner, führen in einem nächsten Schritt zu der
Erkenntnis, dass eine erfolgreiche Kooperation nicht nur ökonomische Elemente beinhalten darf,
sondern dass zivilgesellschaftliche Reformen ebenso in die europäische Strategie einbezogen
werden müssen wie die Aspekte Rechtstaatlichkeit, Transparenz und ,,Good Governance".
Mit der Barcelona-Deklaration wird im November 1995 die ,,Euro-Mediterrane Partnerschaft" ins Le-
ben gerufen, die die Etablierung einer Region des Friedens und des Wohlstands anstrebt. Kapitel 4
erläutert, wie mit der Gliederung der Zusammenarbeit in einen politischen, einen wirtschaftlichen und
einen sozialen Bereich die Defizite der ,,Globalen Mittelmeerpolitik" behoben und dem gewandelten
Sicherheitsverständnis der EU Rechnung getragen werden soll. Das Konzept der Konditionierung
finanzieller Unterstützung auf politische Reformen ist dafür wegweisend. Da das europäische Inte-
resse an der Mittelmeerregion jedoch nicht auf dessen ,,Potential" als Sicherheitsrisiko beschränkt
ist, wird in einem nächsten Schritt das ökonomische Potential der Region analysiert. Aufgrund der
Klassifizierung der arabischen Partnerländer als Entwicklungsländer wird dafür ein Ansatz der endo-

Kapitel 1 - Einleitung
8
genen Wachstumstheorie herangezogen. Die in diesem Kontext angewandte Definition von ökono-
mischem Potential besteht demnach in der Fähigkeit der Mittelmeerpartnerstaaten, durch die Einfüh-
rung von ,,Good Governance"-Strukturen die Bedingungen für Investition und Wachstum zu generie-
ren. Aus einem Vergleich des in diesem Sinne definierten, ökonomischen Potentials mit dem der
AKP-Staaten wird zwar das relativ größere Gewicht der Mittelmeerpartner für die EU deutlich. Die
Marginalität im Gesamtverhältnis lässt allerdings erkennen, dass die euro-mediterrane Zusammenar-
beit im wirtschaftlichen Bereich primär unter dem Gesichtspunkt der Stabilisierung der Region ge-
sehen werden muss. Kapitel 4 schließt mit dem Projekt der euro-mediterranen Freihandelszone, das
als Kernstück der Partnerschaft unter den Aspekten der Vereinbarkeit mit bestehenden WTO-Rege-
lungen und der ökonomischen Folgewirkungen betrachtet wird.
Das fünfte Kapitel setzt sich schließlich mit den konkreten Problemen auseinander, die eine effektive
Umsetzung des Partnerschaftsprogramms behindern. Die unterschiedlichen Hemmnisse werden zu
diesem Zweck vorwiegend auf ihre Wirkungsweise sowie auf ihr Reformpotential untersucht. Die
Hauptaufgabe besteht dabei weniger in der Klärung der Schuldfrage, als vielmehr in der Herausar-
beitung der Bedingungen, die für eine erfolgreiche und effiziente Arbeit der Partnerschaft in Zukunft
geschaffen werden müssen. Die Flexibilisierung des Partnerschaftskonzepts steht dabei im Zentrum
eines jeden Reformvorschlags.
Das Fazit stellt zunächst die vielfältigen Interdependenzverhältnisse, die die EU zu den arabischen
Mittelmeerpartnern in Bezug setzen, dar. Dabei wird vor allem der stets an der Euro-Mediterranen
Partnerschaft geübten Kritik, eine asymmetrische Beziehung zu einer partnerschaftlichen Beziehung
zu stilisieren, Rechnung getragen. Positive Betonung findet dagegen das Reformpotential, das in der
gegenseitigen Ergänzung des euro-mediterranen und des innereuropäischen Integrationsprozesses
steckt. Optimistische Erwartungen für die Umsetzung der unterschiedlichen Reformvorschläge wer-
den vor allem mit der ,,Strategischen Partnerschaft der EU mit dem Mittelmeerraum und dem Nahen
Osten" verbunden, da diese die zukünftigen europäisch-arabischen Beziehungen als inhaltlich und
geographisch ausgeweitetes Konzept durchaus Erfolg versprechend abbildet.
Die zentrale Frage, ob die EU durch ihr ökonomisches Gewicht eine politische Rolle im Nahen Osten
übernehmen kann, lässt sich letztlich nur bedingt beantworten: ,,Ja", wenn die EU im Konzert mit den
USA als gemeinsamer und somit in der Sache glaubhafter Akteur auftritt; ,,Nein", wenn die EU diese
Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzt, indem sie innereuropäische Interessenkonflikte die außenpolitische
Verantwortung der gesamten EU dominieren lässt.

Kapitel 2 ­ Theoretischer Analyserahmen
9
2. Theoretischer Analyserahmen
Um die dargestellte Zielsetzung der vorliegenden Studie in geradliniger Argumentation zu erreichen,
wird zunächst ein theoretischer Rahmen aufgestellt. Dieser soll nicht nur die Grundlage für ein struk-
turiertes Verständnis der Handlungsmotivation sowie der Entscheidungsprozesse der EU bilden,
sondern zugleich die Möglichkeit eröffnen, Elemente der politischen und ökonomischen Wissen-
schaft zu verbinden. Das bedeutet, dass die Euro-Mediterrane Partnerschaft primär Gegenstand ei-
ner ökonomischen Analyse ist, diese aber ­ im Sinne der Vollständigkeit und auch ihrer inhärenten
Sachlogik folgend ­ den Bereich des Politischen weder ausgrenzen darf noch kann. Die in dieser
Studie Anwendung findenden Theorien, namentlich die Interdependenztheorie, die Integrations-
theorie und die Friedensforschung, sind daher der politischen Theorie der internationalen Be-
ziehungen entnommen. Grundlegend kann allerdings festgestellt werden, dass Theorien zu außen-
politischen Entscheidungsprozessen in all ihren Dimensionen auf theoretischen Annahmen und em-
pirischen Ergebnissen nicht nur der Politikwissenschaft, sondern auch anderer sozialwissenschaft-
licher Disziplinen basieren.
17
Zur Verknüpfung von Theorie und Geschichte gibt es zwei Möglichkeiten, mit denen jeweils unter-
schiedliche Zielsetzungen verfolgt werden. Bei der ersten Variante stellt man die Theorie ins Zent-
rum der Betrachtung. Durch die Überprüfung anhand einer historischen Begebenheit lassen sich
Aussagen zur Allgemeingültigkeit der Theorie ableiten, die entweder zur ­ vollständigen oder teilwei-
sen ­ Verifizierung bzw. Falsifizierung der Theorie führen. Untersucht man andererseits einen histo-
rischen Prozess, so wird eine Theorie lediglich zur Verfestigung der Erklärungsversuche, die man für
den historischen Prozess als ursächlich erachtet, herangezogen. Auf deren Grundlage wird die Ein-
bettung des Geschehenen in größere Zusammenhänge und eventuell auch eine Bewertung ermög-
licht. Die Theorie stellt in diesem Falle nur ein konstruktives Hilfsmittel dar. Auf genau diesen sinn-
stiftenden Nutzen soll das theoretische Rahmengebilde auch im vorliegenden Fall beschränkt blei-
ben. Denn im Fokus der Betrachtung steht die kritische Analyse der Konzeption sowie der Imple-
mentierung der Euro-Mediterranen Partnerschaft. Als Evaluation des faktisch Gegebenen wird diese
Dimension durch die polit-theoretische Fundierung ergänzt, als dadurch der normative Rahmen für
das europäische Handeln abgesteckt werden soll. Durch partiellen Rekurs auf die Annahmen, die
Argumente und die gedanklichen Netzstrukturen der nachfolgenden Theorien wird im Laufe der
Studie versucht, eine Erklärung auf Fragen zu geben wie ,,Warum ist die Euro-Mediterrane Partner-
schaft in dieser Form konzipiert worden und nicht anders?", ,,Wie fügen sich die Kooperationsbereit-
17
Vgl. Haftendorn 1990: 402f.

Kapitel 2 ­ Theoretischer Analyserahmen
10
schaft und die damit verbunden Interessen in das Weltbild der EU ein?" und ,,Lässt sich ein mög-
liches Scheitern durch die Konzeption der Partnerschaft an sich erklären oder nur durch ihre mangel-
hafte Implementierung, bzw. lässt die Orientierung an den politischen Theorien der Internationalen
Beziehungen ­ ihre Allgemeingültigkeit vorausgesetzt ­ Rückschlüsse auf Reformansätze zu?".
2.1. Problematik nationalstaatlicher Rhetorik
Bevor die einzelnen Theorien vorgestellt werden, muss auf eine Besonderheit eingegangen werden,
die die Konzeption der EU als eine Gruppierung von Staaten, wie sie zuvor noch nicht existierte, für
die Verwendung der Begriffe ,,Staat" und ,,Außenpolitik" mit sich bringt. Denn die EU als ,,Organisa-
tion sui generis"
18
fällt, gemäß dem Duktus der allgemeinen politologischen Terminologie, aus der
ursprünglich engen Definition des außenpolitischen Entscheidungsträgers, dem Nationalstaat,
heraus. Der Staat ist jedoch die dominante Bezugsgröße in der Mehrzahl der Theorien der Internati-
onalen Beziehungen.
19
Zwar erfährt die Definition des Staats vor allem in der sich vom Realismus
absetzenden idealistischen Denkschule eine begriffliche Ausdehnung. So wird vor allem in der
Theorie transnationaler Politik der Nationalstaat als Hauptakteur der Internationalen Beziehungen in
Frage gestellt und der Durchdringung der klassischen Bereiche außenpolitischen Staatshandelns
durch nichtstaatliche, so genannte nicht-gouvernementale
20
Akteure wie Gewerkschaften oder inter-
nationale Großunternehmen, Rechnung getragen.
21
Es bleibt jedoch eine gewisse begriffliche Un-
schärfe, die es nahe legt, bei der Übertragung der im Folgenden zu erläuternden Theorien auf die
EU vorrangig den neutralen Begriff des ,,Akteurs" heranzuziehen.
Gleichwohl ergibt sich daraus die Problematik, dass es sich, streng genommen, bei der EU nicht um
einen einheitlichen, d.h. eigenständigen (Einzel-) Akteur der Internationalen Beziehungen handelt.
Es bedarf vielmehr einer differenzierten Betrachtung der Organisation, der Entscheidungs- und Kom-
petenzverteilung, um zu identifizieren, welche Organe wann und wie als EU handeln. R
UMMELS
Behauptung, die EU könne nur eine ,,zusammengesetzte Außenpolitik"
22
betreiben, lässt allerdings
außer Acht, dass gerade die besondere politisch-institutionelle Konzeption der EU als System mit
großer Regelungsdichte und Verbindlichkeit dazu dient, ,,die ,territoriale Inkongruenz' von Ökonomie
und Politik im internationalen System [zu überwinden], die sowohl eine Ausdehnung der Märkte wie
18
Varwick 2004: 202.
19
Meyers 1979: 216.
20
Vgl. Albrecht 1999: 87.
21
Vgl. Lehmkuhl 2001: 223f.
Zur klassischen transnationalen Politik siehe Kaiser 1969.
22
Rummel 1982.

Kapitel 2 ­ Theoretischer Analyserahmen
11
eine Internationalisierung von Staatsfunktionen erfordert"
23
Als Zugeständnis an die These von
R
UMMEL
muss jedoch berücksichtigt werden, dass das EU-System als regionale Einheit zwar das
primäre Bezugssystem der Außenpolitik der beteiligten Länder darstellt, gleichzeitig aber nur als Er-
weiterung der nationalen Handlungsmöglichkeiten gesehen werden muss, nicht als Alternative oder
Ersatz derselben.
24
Diese wechselseitigen Beziehungen führen dazu, dass die nationalen Interessen
gruppenhaft wahrgenommen werden
25
und dass eine Trennung der beiden Ebenen sich zunehmend
schwierig, da zunehmend komplex gestaltet. Eine scharfe Trennung zwischen einer rein au-
ßenpolitischen Analyse der Einzelstaaten und einer Analyse des internationalen Handelns der EU ist
vor diesem Hintergrund kaum möglich.
Als weitere Kontroverse wird von A
LBRECHT
diskutiert, ob internationale Politik tatsächlich von den
Akteuren ,,gemacht" oder eher vom System bestimmt wird
26
, worauf C
ZEMPIEL
mit der Aussage, dass
internationale Politik die Summe von Handlungszusammenhängen der verschiedensten Akteure
darstellt
27
eine ebenso kybernetisch geprägte Antwort gibt wie H
AFTENDORN
: ,,Von dem außenpo-
litischen output eines politischen Systems ­ in der Regel eines Staates ­ [...] zu unterscheiden ist
das Ergebnis (,,outcome") der internationalen Interaktion zwischen zwei oder mehreren Akteuren. Bei
der Analyse von außenpolitischen Entscheidungsprozessen ist daher zu berücksichtigen, daß sich
außenpolitisches Handeln in der Regel an einen oder mehrere Adressaten richtet und von diesem/n
Reaktionen ausgehen, die wiederum Reaktionen bei dem ersten Akteur auslösen."
28
Derartige Rück-
koppelungseffekte sind nicht nur theoretisch plausibel, sondern spiegeln in einer globalisierten Welt
unumstritten politische Realitäten wider.
Angesichts der Komplexität, die bereits die Konzeption der EU für die Analyse der Euro-
Mediterranen Partnerschaft impliziert, soll die Unterscheidung zwischen einer akteursbezogenen
Perspektive
29
und einer strukturbezogenen Perspektive
30
daher als rein definitorischer Zwang erach-
tet werden, dem die Terminologie in dieser Studie nicht unterworfen wird. Dies entspricht auch dem
23
Statz 1991: 268.
24
Vgl. ebd.: 269.
25
Vgl. Albrecht 1999: 86.
26
Vgl. ebd.: 84.
27
Vgl. Czempiel 1981: 22f.
28
Haftendorn 1990: 404.
29
Vgl. ebd.: 404.
C
ZEMPIEL
verwendet hier synonym den Begriff der aktionsbezogenen Perspektive. Vgl. Czempiel 2001: 27.
30
Der strukturellen Perspektive zufolge sind die außenpolitischen Entscheidungen primär von den Strukturen des
internationalen Systems abhängig und nur nachrangig eigendynamisch. Vgl. Haftendorn 1990: 404.

Kapitel 2 ­ Theoretischer Analyserahmen
12
Ansatz von A
LBRECHT
, dass eine strikt außenpolitische, d.h. an rein nationalstaatlicher Politik orien-
tierte Analyse mit der globalen Entwicklung einer stärker internationalen Analyse weichen muss.
31
2.2. Interdependenztheorie
Im Sinne der dichotom geprägten politikwissenschaftlichen Debatte über ideologische Denkschulen-
paare ­ so in erster Linie die Realismus-Idealismus-Debatte
32
­ hat auch die Interdependenztheorie
seit 1960 als Gegenströmung zum Neorealismus Eingang in den aktiven politischen Diskurs gefun-
den.
33
In der Überzeugung, die anarchisch
34
geprägte, internationale Ordnung ­ anders als der Neo-
realismus
35
­ ohne Konflikt und Machtkampf überwinden zu können, stellt die Interdependenztheorie
den Nationalstaat übergreifende Strukturen des internationalen Systems ins Zentrum ihrer Betrach-
tung.
36
Der Anwendung des Interdependenzbegriffs in der politischen Wissenschaft geht eine lange wirt-
schaftswissenschaftliche Diskussion voraus, die sich als Teil der klassischen Lehre der Ökonomie
etablierte und seit den siebziger Jahren wesentlichen Einfluss auf die politikwissenschaftliche Arbeit
ausübt. Beide Wissenschaften thematisieren die Auswirkungen, die Interdependenzen auf inner-
staatliche Politik haben und ob und inwieweit damit Einschränkungen der internationalen Handlungs-
möglichkeiten eines einzelnen Akteurs verbunden sind. Im ,,Power and Interdependence"-Ansatz von
K
EOHANE
und N
YE
(1977) und in der als wegweisend eingeschätzten Arbeit über ,,The Economics of
Interdependence" von C
OOPER
(1968) findet sich der Interdependenzbegriff als Maß für ,,sensitivity"
(Empfindlichkeit) wieder.
37
Demzufolge führen politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Inter-
aktions- und Verflechtungsbeziehungen dazu, dass Veränderungen in einem Land ­ perzipiert oder
nicht ­ auch Veränderungen in anderen Ländern innerhalb des Verflechtungsrahmens hervorrufen.
38
Während C
OOPER
die wirtschaftlichen Folgekosten, die sich aus interdependenten Verflechtungen
ergeben können, in Form von Zins- und Preisrelationen erfasst, befassen sich K
EOHANE
und N
YE
mit
31
Vgl. Albrecht 1991: 34.
32
Vgl. Gu 2000: 19ff.
33
Vgl. Menzel 2001: 163.
Die Eingliederung der Interdependenztheorie in eine, den größeren ideologischen Rahmen spannende Denk-
schule erfolgt eindeutig zugunsten des Idealismus. Sie ist über die Betonung, dass wirtschaftliche Verflechtungen
zu gemeinsamen Interessen und damit zu einer normativ begründeten Ordnung führen, aber auch eng mit dem
neoliberalen Institutionalismus verbunden, der sich durch die Freihandelsproklamation vom realistischen Merkan-
tilismus absetzt.
34
Anarchisch im Sinne von Abwesenheit eines offenen, multipolaren, zentralen und mit Entscheidungs- und Sank-
tionsmöglichkeiten ausgestatteten internationalen Staatensystems. Vgl. hierzu Meyers 1979: 66 und Menzel: 20.
35
Vgl. Meyers 1979: 66f.
36
Vgl. Lehmkuhl 2001: 193 und Kohler-Koch 1990: 124.
37
Vgl. Kohler-Koch 1990: 113.
38
Vgl. Lehmkuhl 2001: 195f.

Kapitel 2 ­ Theoretischer Analyserahmen
13
politischen Kosten, die sich für Gesellschaft und Regierungen ergeben. Sie unterscheiden Belastun-
gen, die als Folge von ,,sensitivity"-Interdependenz und ,,vulnerability"-Interdependenz auftreten kön-
nen. Während die ,,sensitivity"-Interdependenz das Ausmaß und die Schnelligkeit angibt, in dem Ver-
änderungen in einem Land zu kostspieligen Effekten in einem anderen Land führen, spiegelt die
,,vulnerability"-Interdependenz wider, in welchem Maße ein Land relativ zu einem anderen die politi-
schen Folgekosten durch Vorkehrungen und politische Alternativen eindämmen kann.
39
Anders aus-
gedrückt ist ein Land interdependenzempfindlich, wenn es auf externe Veränderungen reagieren
kann und so Autonomie unter Beweis stellt. Interdependenzverwundbar ist ein Land, wenn es die
Kosten der externen Veränderungen hinnehmen muss.
40
Damit wäre der Gedankengang aber noch unvollständig. Denn erst durch die Überlegung, inwieweit
bestehende, vor allem wirtschaftliche Interdependenzen Regierungen dazu bewegen, a) kooperativ
einen institutionellen Rahmen aufzubauen, in dem Normen und Regelwerke dazu beitragen, Risiken
zu managen und Kosten zu reduzieren
41
bzw. b) aufgrund des Opportunitätsgedankens in bestehen-
den Kooperationsbeziehungen zu verbleiben, wird die politische Relevanz und die Art der empiri-
schen Erprobung der Interdependenztheorie deutlich.
Dieser Gedanke gewinnt vor allem im Hinblick auf asymmetrische Interdependenzen an Brisanz.
,,Unterschiedliche ökonomische Verwundbarkeit als Kennzeichen asymmetrischer Interdependenz ist
vor allem dann relevant, wenn es um die Verteilung der Kosten und Nutzen der internationalen Aus-
tauschbeziehungen geht."
42
Zu bedenken gibt K
OHLER
-K
OCH
dabei, dass ,,[s]elbst wenn alle Beteilig-
ten an der Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Verflechtungen interessiert sind, [...] das Interesse
jedes Einzelnen darin [besteht], die sich daraus ergebende Verteilung der Gewinne im eigenen Inte-
resse zu steuern."
43
Dass asymmetrische Interdependenzen auch als Quell und Instrument von
Macht in Erscheinung treten kann, macht die Reversibilität der Kooperation bzw. die Möglichkeit zur
Entflechtung der Beziehungen deutlich. Diese hängt einerseits davon ab, inwieweit auf die die Res-
sourcenallokation steuernden Regelwerke von einzelnen Kooperationspartnern Einfluss genommen
werden kann und andererseits, inwieweit andere Handlungsmöglichkeiten gegeben sind, Macht im
Sinne von Ergebniskontrolle auszuüben.
44
Dem Interdependenzbegriff ist also eine, aus realistischer
Perspektive, negative Konnotation zu eigen, da es die teilweise Abgabe von Souveränität impli-
39
Vgl. Keohane/ Nye 1977: 11ff.
40
Vgl. Menzel 2001: 169.
41
Vgl. Gu 2000: 77f.
42
Kohler-Koch 1990: 121.
43
Ebd.: 121.
44
Vgl. ebd.: 121.

Kapitel 2 ­ Theoretischer Analyserahmen
14
ziert.
45
,,Interdependence is, realists argue, usually dominance-dependence, with the dependent par-
ty particularly vulnerable to the choices of the dominant party. [...] Indeed, interdependence as
vulnerability is a source of power of one state over another."
46
Konträr zu diesem realistischen Nullsummenspiel
47
betont die Interdependenztheorie die Vorteilhaf-
tigkeit, die sich aus Verflechtungen für alle Betroffenen ergeben kann. Die Frage danach, wie Länder
auf geänderte Rahmenbedingungen reagieren, bzw. sich diesen anpassen, ist daher eng mit der
Frage nach der Regulierung internationaler Beziehungen und insbesondere mit der Institutionalisie-
rung der Kooperation verbunden, die im Folgenden aus der Perspektive der Integrationstheorie
untersucht werden soll.
48
2.3. Integrationstheorie
Der eigentlichen Theoriedarstellung muss vorausgeschickt werden, dass sich der Begriff der Integra-
tionstheorie nur schwer von den Termini Neo-Institutionalismus, Neo-Funktionalismus
49
und dem der
Regime-Theorie trennen lässt, da sich deren Inhalte in weiten Teilen bedingen und eine (u. U. ver-
wirrende) Verknüpfung nur allzu leicht hergestellt werden kann. Doch gelingt weder eine eindeutige
Subordnung, noch eine chronologische Reihung, auch kann nicht von Synonymie gesprochen wer-
den. Im Rahmen dessen, was für die Aussagekraft der Theorien in dieser Studie vordringlich ist, wird
im Folgenden daher versucht, die Verbindungslinien zwischen den Theorien aufzuzeigen und die
sich stets in inhaltlicher Kongruenz befindenden Teilaspekte der einzelnen Theorien als sinnstiftende
Einheit zu erfassen.
Die Bandbreite der allgemeinen Definition des Integrationsbegriffs als Prozess einerseits und als Zu-
stand andererseits
50
lässt sich um die von B
EHRENS
und N
OACK
dargestellten Dimensionen erweitern
und differenzieren: unter Integration versteht man demnach auch einen Prozess, der zum Ausbau
föderativer Institutionen führt, man kann ihn aber ebenso als politischen Bewusstseinswandel der Eli-
ten und der Massen definieren, als kooperative Bewältigung funktionaler Aufgaben, als Verdichtung
45
Vgl. Menzel 2001: 170.
46
Viotti/ Kauppi 1999: 76.
47
Vgl. Menzel 2001: 170.
48
Vgl. ebd.: 167.
49
Das Präfix ,,Neo-" bezeichnet in der Zitation nach M
ENZEL
die ,,szientistische Wende", die sich in den sechziger
Jahren in der wissenschaftlichen Methodik vollzog und im Zuge derer zunehmend Instrumentarien der Wirt-
schafts- und Sozialwissenschaften auf die Lehre von den Internationalen Beziehungen übertragen wurden.
Vgl. Menzel 2001: 45ff, 91f.
50
Vgl. Beutler/ Bieber et al. 1993: 70 und Woyke 1998: 1.

Kapitel 2 ­ Theoretischer Analyserahmen
15
des Kommunikationsgeflechtes oder aber als Ausbau international beachteter Rechtsnormen.
51
Bezüglich dieses letzten Aspekts lassen sich Parallelen zu den Grundannahmen der Regime-The-
orie ziehen. Ihr Hauptvertreter, K
RASNER
, definiert Regime als ,,sets of implicit or explicit principles,
norms, rules, and decision-making procedures around which actors' expectations converge in a
given area of international relations."
52
Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, wie zwischen Staaten, die für sich Souveränität reklamieren,
Kooperation und implizit die Beachtung, Einhaltung und Bewahrung von gemeinsam gesetzten Nor-
men und Regelwerken möglich ist. Neo-Funktionalisten nähern sich der Regime-Theorie über deren
funktionalen Ansatz, wonach Staaten Nutzen- und Statusmaximierer sind und sich als rationale Ent-
scheidungsinstanzen nur unter rationalen, d.h. eigeninteressegeleiteten Gesichtspunkten normen-
konform verhalten.
53
Korrespondierend gilt im Institutionalismus, dass Kooperation prinzipiell denk-
bar ist, dazu aber nicht (nur) idealistisch, sondern (auch) realistisch, d.h. mit Eigennutz begründet,
fundiert sein muss. Hier schließt sich die Integrationsforschung an die Diskussion der Interdepen-
denztheorie an, im Rahmen derer bereits auf die Instabilität internationaler Kooperation zwischen
Staaten hingewiesen wurde, deren Ausgangspositionen asymmetrisch sind ­ ein Faktum, das in der
Behandlung der euro-mediterranen Beziehungen zwischen der EU und den arabischen Mittelmeer-
anrainern von großer Bedeutung sein wird. L
INK
weist in diesem Sinne darauf hin, dass nur ,,ein ba-
lanciertes, symmetrisches Verhältnis [...] eine annähernd gleiche Verteilung der Kooperationsgewin-
ne und damit die Bereitschaft zur Fortsetzung der Kooperation [fördert]."
54
Diese Bedingung wurde
auch von N
YE
herausgearbeitet, der zur Voraussage über die Erfolgsaussichten von Integrationspro-
zessen das so genannte ,,integrative Potential" einer Region bestimmt.
55
Die Regime-Theorie nimmt
diese Diskussion auf und betont, dass es stabile internationale Regime als eine im obig definierten
Sinne routinierte multilaterale Verhandlungspolitik nur geben kann, ,,wenn im Verlauf des Verfahrens
das Interesse an der Beibehaltung konsensual geschaffener Regelungen allmählich ein größeres
Gewicht erhält als das Interesse der einzelnen interagierenden Parteien, sich gegenüber den ande-
51
Vgl. Behrens/ Noack 1984: 136.
52
Krasner 1983: 2.
53
Vgl. Menzel 1984: 173f.
54
Link 1997: 275.
55
Vgl. Nye 1971: 77ff (Übersetzung nach Behrens/ Noack 1984: 140).
Zur Bestimmung des integrativen Potentials zieht N
YE
(1971) die folgenden sieben Aspekte heran: Symmetrie
oder wirtschaftliche Ebenbürtigkeit, gegenseitige Ergänzung der durch die Eliten hoch gehaltenen Werte, Pluralis-
mus der Interessengruppen, Reaktions- und Allokationskapazität, perzipierte Gleichheit der Profitverteilung, Per-
zeption äußerer Zwänge, geringe sichtbare Kosten.

Kapitel 2 ­ Theoretischer Analyserahmen
16
ren ohne Abstriche auch dann durchzusetzen, wenn dafür die Existenz des Regelsystems aufs Spiel
gesetzt werden muß."
56
Berechtigte Kritik an der lange Zeit aufrecht erhaltenen neo-funktionalistischen Auffassung, dass
,,Staaten sehr schwer vom Zuge der Integration abspringen können, nachdem sie zugestiegen
sind"
57
, manifestierte sich im Laufe der Zeit in der Ablehnung eines Automatismus zwischen funktio-
naler, wirtschaftlicher Integration und politischer Integration ­ ein Konzept, das als ,,spill-over" von
D
EUTSCH
ins Zentrum der Integrationsdebatte gestellt wurde, von selbigem später aber in Teilen re-
vidiert werden musste.
58
Da Politik durch Verflechtung und Interaktion nicht ersetzt werden kann,
59
baut D
EUTSCH
in seinem weiterführenden, kommunikationstheoretisch fundierten Ansatz (stets im
Bereich der Integrationstheorie) in erster Linie auf einem dichten Kommunikationsnetz als eine der
wichtigsten Voraussetzungen für Integration auf.
60
Die Verflechtung politischer, ökonomischer und
gesellschaftlicher Interessen müsse für eine erfolgreiche Integration, so D
EUTSCH
, einen gewissen
,,take-off"-Punkt erreichen, ab dem ,,die Bevölkerungen der am Integrationsprozess beteiligten Natio-
nalstaaten erkennen, daß bestimmte gesellschaftliche Bedürfnisse nur noch mittels Integration zu
befriedigen sind und infolgedessen integrative Maßnahmen von ihren Regierungen einfordern."
61
Integration als freiwillige Abgabe von Souveränität an supranationale Einheiten ist dabei die inten-
sivste und zugleich seltenste Form der Kooperation ­ weshalb die Europäische Gemeinschaft bis
Ende der siebziger Jahre im Zentrum der Integrationsforschung stand.
62
Eine Definitionsausdehnung
ist daher vor allem bei Kooperationsprozessen zwischen Staaten nötig, deren Asymmetrie nicht nur
als ökonomische Größe messbar ist, sondern sich auch in der politischen und normativen Grundhal-
tung der Kooperationspartner widerspiegelt. Ausschlaggebend für die jeweilige Form und Intensität
der Integration ist nach B
EHRENS
und N
OACK
daher nicht nur die ihr zugrundeliegende Zielsetzung,
die von den einzelnen Partnern im ungünstigsten Falle unterschiedlich perzipiert wird, sondern auch
der Grad und die Verteilung der Interdependenzen, der Grad der Nutzenverteilung sowie der Grad
56
Brock 1990: 85.
Siehe ausführlich hierzu Zürn 1987.
57
Gu 2000: 80.
58
Vgl. Behrens/ Noack 1984: 138f.
59
Vgl. Brock 1990: 86.
60
Vgl. Lehmkuhl 2001: 163.
61
Ebd.: 163.
62
Vgl. Bellers/ Häckel 1990: 294ff.
Den zeitweiligen Abbruch der integrationstheoretischen Debatte in den siebziger Jahren führen B
ELLERS
und
H
ÄCKEL
(1990) auf den Zusammenhang zwischen politischen Ereignisabläufen und der daran orientierten wissen-
schaftlichen Anteilnahme zurück.

Kapitel 2 ­ Theoretischer Analyserahmen
17
der politischen und sozialen Homogenität der kooperierenden Einheiten.
63
Dass gemeinsame Werte
der Entscheidungsträger und eine gewisse Offenheit gegenüber den Aktionen und Reaktionen der
anderen beteiligten Regierungen (,,mutual responsiveness") einem Integrationsprozess zuträglich
sind, konstatiert auch D
EUTSCH
.
64
Demnach ist im Falle mangelnder Homogenität zwar nicht zwangs-
läufig Dissoziation die Folge von Integrationsbemühungen, doch muss mit sporadischem Stillstand
gerechnet werden, wodurch der Automatismus der Integrationsentwicklung auf einen graduellen
Mechanismus reduziert wird. Der kommunikationsorientierte Ansatz von D
EUTSCH
unterscheidet sich
vom neo-funktionalistischen auch darin, dass er als Ziel der Integration nicht vorrangig Wohlstand,
sondern Friede sieht.
65
Hierin kommt die enge Verbindung der Integrationsforschung zur Friedens-
forschung zum Ausdruck, was
VON
B
ELLERS
und H
ÄCKEL
als wissenschaftsinterner spill-over
66
bezeichnet wird. Diese wird im Folgenden den letzten Untersuchungsgegenstand der Theoriedis-
kussion darstellen.
2.4. Friedensforschung
Im Rahmen der Friedensforschung wird der regionalen, mehr oder weniger intensiv institutionalisier-
ten Kooperation mehrerer Staaten oder Staatengruppen eine konfliktmindernde und friedensfördern-
de Funktion zugeschrieben
67
und von C
ZEMPIEL
daher in erster Linie als kontextveränderndes
Element interpretiert. Zwar kann und soll die Einbindung von Staaten in einen normen- und regelori-
entierten Kooperations- und Kommunikationsrahmen die nationale Souveränität dieser Staaten in
Form ihrer Entscheidungsfreiheit und Politikgestaltung nicht aufheben. Sie bewirkt jedoch eine Ver-
änderung der zwischenstaatlichen Interaktionsgrundlage und somit letztlich auch des Interaktions-
charakters.
68
Nationalstaatliche Souveränität ist insofern von Bedeutung für das Konzept des
Friedens, als sie das Ergebnis der Übertragung des klassischen Grundrechtskatalogs für Individuen,
erweitert um politische, wirtschaftliche und soziokulturelle Freiheitsrechtsbegriffs, auf Nationalstaaten
darstellt. In fortführender Analogie findet nationalstaatliche Souveränität ihre Einschränkung also
dort, wo die Ausübung staatlicher Souveränität auf Kosten der Souveränität bzw. der Freiheitsrechte
eines anderen Staates bzw. seiner Bürger geht.
69
Dass dieser Zusammenhang auch im Rahmen der
aktuellen (kritischen) Friedensforschung von Bedeutung ist, soll durch die im Folgenden dargestellte
Verbindung zwischen Freiheit und Friede verdeutlicht werden.
63
Vgl. Behrens 1984: 137.
64
Vgl. Lehmkuhl 2001: 163f.
65
Vgl. ebd.: 163.
66
Vgl. Bellers/ Häckel 1990: 306.
67
R
ITTBERGER
verwendet in diesem Zusammenhang den Ausdruck ,,Frieden durch Verfahren". Rittberger 1988: 70.
68
Vgl. Czempiel 1986: 103.
69
Vgl. Seidelmann 2001: 15f.

Kapitel 2 ­ Theoretischer Analyserahmen
18
Die kritische Friedensforschung hob sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von der traditionel-
len Friedensforschung vor allem durch eine asymmetrische Konfliktauffassung
70
und die Unterschei-
dung eines negativen und eines positiven Friedensbegriffs ab, wobei sie den negativen Frieden, defi-
niert als Abwesenheit von Gewalt, als unzureichend erachtete.
71
Die von G
ALTUNG
eingeführte Be-
grifflichkeit des positiven Friedens stützt sich auf eine differenzierte Betrachtung des Gewaltbegriffs.
Demnach ist strukturelle Gewalt von personaler Gewalt, d.h. ,,direkt auf Personen und Sachen ein-
wirkende[r] und an den davon ausgehenden Beschädigungen oder Zerstörungen empirisch erfass-
bare[r] Gewalt"
72
zu trennen.
73
Demnach spricht G
ALTUNG
von struktureller Gewalt, wenn Menschen
objektiv Schaden zugefügt wird, ohne dass dabei eine konkrete Person in Erscheinung tritt. ,,Die
Gewalt ist in das System eingebaut und äußert sich in ungleichen Machtverhältnissen und folglich in
ungleichen Lebenschancen."
74
Das Gute ist, wie es Wilhelm Busch dichterisch formuliert, also nicht nur das Böse, ,,was man läßt"
75
.
Friede erfährt hier eine soziale Dimension, nämlich nur dann umgesetzt zu sein, wenn die Forderung
nach sozialer Gerechtigkeit erfüllt und die ,,Strukturen, die zur Aufrechterhaltung von ungerechter
Herrschaft dienen und die nur indirekt, d.h. über den Rückschluß von mangelnden Selbstbestim-
mungs- und Selbstverwirklichungsmöglichkeiten erfassbar sind"
76
, überwunden werden. G
ALTUNG
s
positiver Friede als die einen Zustand beschreibende Abwesenheit von struktureller Gewalt findet
Relativierung durch die stärkere Betonung des Prozesscharakters des Friedensbegriffs durch
C
ZEMPIEL
, wonach Friede ,,ein Prozeßmuster des internationalen Systems [ist], das gekennzeichnet
ist durch abnehmende Gewalt und zunehmende Verteilungsgerechtigkeit."
77
Friede als Prozess zum
Abbau von Ungerechtigkeit dient im Umkehrschluss also der Entstehung von Freiheitsrechten. Ent-
sprechend der These, dass ,,ein Mehr an innergesellschaftlicher Gerechtigkeit und Selbstverwirklich-
ung auch ein Mehr an friedlichem Außenverhalten bedeute"
78
, bedeutet dies in Anlehnung an Kants
These des demokratischen Friedens
79
, dass die politische Realität des einen Landes durch innen-
70
Konflikte sind hier weiter gefasst als gemäß der herkömmlichen Kriegsdefinition üblich. Sie sind gekennzeichnet
durch ungleiche Allokation ökonomischer und militärischer Ressourcen. Vgl. Meyers 1979: 101.
71
Vgl. Meyers 1979: 101f.
72
Seidelmann 2001: 11.
73
S
EIDELMANN
(1996) verwendet statt personaler Gewalt den Begriff der aktuellen Gewalt, stellt ihr wie G
ALTUNG
jedoch die strukturelle Gewalt gegenüber.
74
Galtung 1975: 118.
75
Zitiert nach: Czempiel 1986: 12.
76
Seidelmann 2001: 11.
77
Czempiel 1986: 47.
78
Seidelmann 2001: 15.
79
Die rationale Interessenkalkulation und die normative Wertorientierung der Bürger einer Demokratie setzen über
die Partizipation an den Regierungsentscheidungen eine friedliche Außenpolitik durch. Zitiert nach einer hypothe-
tischen Formulierung des demokratischen Friedenskonzepts durch Müller 2002: 55.

Kapitel 2 ­ Theoretischer Analyserahmen
19
und außenpolitisches Agieren eines anderen Landes nur dann nicht belastet oder eingeschränkt
wird, wenn dieser Staat demokratisch ist. In Verbindung mit der These von B
ROCK
, dass Ungerech-
tigkeit nur durch die Anwendung von repressiver Gewalt aufrecht erhalten werden kann
80
und es ei-
ne implizite Zielvorgabe des positiven Friedensbegriffs ist, gerechte, gewalt- und herrschaftsfreie Ge-
sellschaften zu errichten, lautet eine der zentralen Fragen der Friedensforschung, wie strukturelle
Gewalt überwunden und ungerechtfertigte Herrschaftsverhältnisse, sowohl innerhalb von Staaten als
auch im zwischenstaatlichen und zwischengesellschaftlichen Kontext, abgeschafft werden können.
81
Westlichen Ordnungsmodellen zufolge kann die Durchsetzung von innergesellschaftlichen Freiheits-
rechten und deren nachhaltige Absicherung nur durch den Auf- und Ausbau demokratischer Verhält-
nisse gewährleistet werden.
82
,,Je demokratischer sich die Gesellschaften entwickeln, und je höher
demzufolge der Wert steigt, der dem einzelnen zugemessen wird, desto höher wird der Friede einge-
schätzt. Er wird zur gesamtgesellschaftlichen Anforderung an die politischen Systeme, wird zum Be-
standteil von Legitimation und Konsens."
83
Die Friedensforschung als Erklärungsmodell in der historischen Analyse der euro-mediterranen Be-
ziehungen ist vor allem in ihrer Funktion als Legitimationsbasis zu sehen, die dem europäischen
Handeln eine normative Orientierung bietet. Der Nexus zwischen Friede, Freiheit und Demokratie
wird durch die Begriffe der Wohlstandsförderung und des Freihandels in den Kontext einer liberalen
Weltanschauung gesetzt, in dem das komplexe, zwischenstaatliche Interaktionsmuster auf zweierlei
Weise beeinflusst werden kann: durch Einwirkung auf die Interaktion im Sinne von regionaler Koope-
ration einerseits und durch die Änderung der gesellschaftlichen Strukturen im Sinne einer Übertra-
gung von Grundwerten, Menschenrechten und demokratischern Verhältnissen andererseits.
B
ELLERS
und H
ÄCKEL
formulieren dies komprimiert als Zivilisierung der internationalen Beziehun-
gen
84
und nehmen somit die neuen Tendenzen der Friedensforschung seit dem Ende des Ost-West-
Konflikts auf. Denn das Bewusstsein, dass ,,Sicherheit nicht mehr vorrangig durch militärische Poten-
tiale, sondern durch vielfältige grenzüberschreitende, nicht-militärische Gefährdungen in Frage ge-
stellt"
85
wird, schärfte den Blick dafür, dass internationale Sicherheit nicht nur als Kombination militä-
rischer, ökologischer und ökonomischer Sicherheit angestrebt werden müsse, sondern dass die Er-
80
Vgl. Brock 1990: 79.
Den Rückschluss, dass das Ausmaß der Repression in dem Maße zurückgehen könnte, in dem die bestehende
Ungerechtigkeit abgebaut würde, sieht B
ROCK
(1990) jedoch als empirisch schwierig zu belegen an.
81
Vgl. Seidelmann 2001: 12.
82
Vgl. ebd.: 16.
83
Czempiel 1986: 14.
84
Vgl. Bellers/ Häckel 1990: 286.
85
Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg 1992.

Kapitel 2 ­ Theoretischer Analyserahmen
20
reichung und Gewährleistung von Sicherheit und Friede in zunehmendem Maße, in der Formulie-
rung nach S
ENGHAAS
, auch ein ,,Zivilisierungsprojekt"
86
sei. G
ALTUNG
führte dieser Erkenntnis folgend
einen dritten Begriff ein, den der kulturellen Gewalt, wonach Kultur das Konfliktverhalten entschei-
dend determiniert.
87
H
UNTINGTON
zeichnet in seinem ,,Kampf der Kulturen" eine düsteres Bild der Zu-
kunft, in der die internationale Gemeinschaft in ihrem Bemühen scheitern wird, einen interkulturellen
Wertekonsens zu schaffen und in der eine Verhärtung der Kulturfronten die Kooperation unter-
schiedlich geprägter Gesellschaften erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht.
88
Auch L
INK
konsta-
tiert, dass ,,[d]ie Werte, die dem Anspruch nach als allgemein anerkannte Werte in den universalen
Menschenrechten kodifiziert sind, [...] tatsächlich keineswegs auf einem Wertekonsens [basieren]."
89
Vor diesem Hintergrund ist die Friedensforschung für die vorliegende Studie insofern von Bedeu-
tung, als sie die Notwendigkeit zu tief greifenden, gesellschaftlichen Veränderungen als Vorausset-
zung für Frieden ins Bewusstsein holt.
90
C
ZEMPIEL
weist allerdings darauf hin, dass die Zielsetzung
zwar wichtig ist, eine ebenso große Bedeutung aber der Wahl der Mittel zufällt. Denn ,,[d]en Frieden
zum politischen Ziel zu erklären [...] nutzt dann wenig, wenn das Ziel auf der Ebene der Mittel
verfehlt oder sogar konterkariert wird."
91
Die Diskussion des Zielkonflikts zwischen Demokratisierung
und Stabilisierung, die in Kapitel 5.3. geführt wird, wird auf diese Aspekte zurückgreifen.
2.5. Universalismus vs. Regionalismus
Den Frieden als teilbar anzusehen, wird in der Friedensforschung vor allem von C
ZEMPIEL
unter-
stützt, der argumentiert, dass Friede in den verschiedenen Weltregionen verschiedene Vorausset-
zungen und Chancen hat
92
. Teilbarkeit meint hier die Möglichkeit der Übertragung eines kompletten
Theoriengehalts auf lediglich einen Ausschnitt des eigentlichen Theoriegegenstands ­ ohne Reduk-
tion der Aussagekraft. Das heißt nichts anderes, als dass die Friedensforschung trotz ihres grundle-
genden Anspruchs, Strukturen zu erforschen, die der Umsetzung eines weltweiten Friedens dienen,
weder an Berechtigung noch an Geltungskraft einbüßt, wenn sie auf regionale Konfliktstrukturen an-
gewandt wird. Diese Erkenntnis lässt sich auch auf die Theorien der Internationalen Beziehungen
übertragen. Den geo-politischen Entwicklungen im Rahmen der Globalisierung geschuldet, wird vor
86
Senghaas 1995: 196
87
Vgl. Galtung 1998: 341.
88
Vgl. Huntington 1996.
Zu den prominentesten deutschen Kritikern von Huntington zählt M
ÜLLER
, der als Gegenposition ,,Das Zusam-
menleben der Kulturen: Ein Gegenentwurf zu Huntington" veröffentlichte. Vgl. hierzu Müller 1998.
89
Link 1997: 265.
90
Vgl. Brock 1990: 77.
91
Czempiel 1986: 15.
92
Vgl. ebd.: 14f.

Kapitel 2 ­ Theoretischer Analyserahmen
21
allem seit Ende der Ost-West-Konfrontation verstärkt eine regionale Perspektive eingenommen, um
nicht nur regionale Veränderungen, sondern auch damit in Interdependenz stehende, internationale
Entwicklungen zu analysieren. Der steigende Wettbewerbsdruck als ökonomische Konsequenz der
Globalisierung verdeutlicht die Notwendigkeit der verstärkten Regionalisierung, quasi als Gegenten-
denz, mit dem Ziel der Aufrechterhaltung der internationalen Konkurrenzfähigkeit.
93
So argumentiert
C
ZEMPIEL
, dass sich die internationale Ordnung auf eine ,,regionalisierte Welt"
94
zu bewegt. Ebendies
drückt L
INK
durch die These aus, dass ,,der Regionalismus [...] die konstruktive Antwort der National-
staaten auf die [ökonomischen und politischen] Herausforderungen der Globalisierung"
95
ist.
Das Konzept des Regionalismus
96
ist in Übertragung auf die euro-mediterranen Beziehungen aller-
dings nuanciert anzuwenden. Da man unter einer Region streng genommen einen durch geographi-
sche Nachbarschaft gekennzeichneten Raum versteht, in dem ein gemeinsames kulturelles Erbe,
gleichgerichtetes politisches Interesse und geteilte gesellschaftlich-kulturelle Grundzüge zu einer Ab-
grenzung nach außen und einer Verdichtung der Beziehung nach innen führen
97
, wird klar, dass die-
se Eigenschaften weder in dem von der Partnerschaft umspannten, gesamten Kooperationsraum,
noch im stark heterogenen südlichen Mittelmeerraum allein gegeben sind, sondern lediglich auf die
EU als Integrationsregion per se zutreffen. Dennoch ist eine regionale Analyseebene sinnstiftend.
C
ALLEYA
diskutiert Regionalisierungstendenzen in Form verstärkter Integration und Kooperation geo-
graphischer Nachbarn zum einen als Abwehrreaktion auf die Bedrohung, die eine wirtschaftlich star-
ke Nachbarregion darzustellen scheint (,,threat-effect"), zum anderen als Nachahm-Effekt im Sinne
eines Zugeständnisses an die effiziente Funktionalität verstärkter regionaler Zusammenarbeit (,,de-
monstration effect").
98
Regionalismus im euro-mediterranen Raum beinhaltet somit mehrere Dimensionen: a) Verdichtung
im Sinne einer intra-regionalen (innerarabischen) Vergemeinschaftung der arabischen Partnerstaa-
ten in ihrem Potential als einheitliche Region zur Stärkung ihrer Konkurrenzfähigkeit sowie ihrer Ver-
handlungsmacht im inter-regionalen Kontext und b) Verdichtung im Sinne einer Intensivierung des
Kooperationsrahmens zwischen der EU und den Mittelmeer-Partnerländern zur gegenseitigen Stär-
93
Vgl. Link 2001: 172f.
94
Czempiel 1993.
95
Link 1997: 275.
96
L
INK
(1997) trennt zwar die Regionalisierung als ,,natürliche" Verdichtung in einer Region vom Regionalismus als
Phänomen politischer Regionalarrangements. Diese Unterscheidung soll in der vorliegenden Arbeit allerdings
vernachlässigt werden.
97
Vgl. Meyers 1979: 214.
98
Vgl. Calleya 1997: 6ff und Weltbank 1997: 16, 175.

Kapitel 2 ­ Theoretischer Analyserahmen
22
kung der Wirtschaftskraft sowie zur Überwindung gesellschaftlicher und internationaler Konfliktlinien.
Den bereits angesprochenen Asymmetrien, die die Partnerstaaten im Rahmen der euro-mediterra-
nen Beziehungen im Hinblick auf politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Strukturen trennen,
wurde in den obig beschriebenen Theorien, für den Fall, dass sie nicht überwunden werden können,
eine dissoziative, desintegrative und konfliktmehrende Wirkung zugeschrieben. Bestehen also nega-
tiv wirkende Interessengegensätze trotz objektivem Kooperationszwang im Sinne einer ökonomi-
schen und sicherheitspolitischen Rüstung für zukünftige Entwicklungen im Rahmen der Globalisie-
rung fort, so bieten die Friedensforschung, die Integrations- sowie die Interdependenztheorie im re-
gionalen Analysekontext nicht nur Aufschluss über die zugrundeliegende Ursächlichkeit, sondern
auch Ansatzpunkte für Reformen der Integrationsbestrebungen.

Kapitel 3 ­ Historische Entwicklung der Beziehungen der EU zum Mittelmeerraum
23
3. Historische Entwicklung der Beziehungen der EU zum Mittelmeerraum
Um die Evolution der euro-mediterranen Beziehungen strukturiert erfassen zu können, ist es in
Anlehnung an J
ÜNEMANN
hilfreich, vier Einflussdeterminanten zu unterscheiden: den europäischen
Integrationsprozess, die nationalen Interessen der EU-Mitgliedstaaten, die politischen, ökonomi-
schen und kulturellen Entwicklungen im südlichen Mittelmeerraum sowie Zustand und Wandel des
internationalen Systems.
99
Für die Frühphase der Beziehungen wird im Folgenden vor allem der
innereuropäischen Integrationsdynamik die größte Bedeutung beigemessen. Gerade in der Verflech-
tung der einzelnen Einflussdeterminanten kommt jedoch auch hierbei die Komplexität der Be-
ziehungen zum Ausdruck, die eine Kooperation zwischen der EU und den arabischen Mittelmeer-
drittländern zu einer Herausforderung macht.
3.1. Bilaterale Abkommen (Phase I: 1957 ­ 1972)
Seit Beginn der europäischen Wirtschaftsintegration war der europäischen Politik durch die kolonia-
len Verbindungen Frankreichs zu Marokko und Tunesien eine Mittelmeer-Dimension inhärent. Beide
Protektorate waren Teil der so genannten Franc-Zone und genossen im Handel mit Frankreich, ba-
sierend auf einem Zusatzprotokoll zu den im Jahr 1957 in Kraft getretenen Römischen Verträgen
über die Gründung der Europäischen Gemeinschaften, eine gegenüber anderen Drittstaaten privile-
gierte Stellung.
100
Damit wurde der Tatsache Rechnung getragen, dass der Anteil der Ausfuhren nach Marokko im Jahr
1958 3,5% der Gesamtausfuhren Frankreichs betrug und Marokko Ende der fünfziger Jahre somit
zehntgrößter Handelspartner Frankreichs war. Ähnliches galt für Tunesien, das mit 2,1% der
französischen Ausfuhren in seiner Bedeutung direkt hinter Marokko rangierte. Wichtigster Handels-
partner für Frankreich war Algerien, auf den im selben Jahr 19,2% der gesamten Exporte ent-
fielen.
101
Zu erklären ist dieser hohe Wert in erster Linie durch die hohe Abhängigkeit Frankreichs
von algerischen Energielieferungen, die erst in den achtziger Jahren durch den verstärkten Ausbau
der Kernenergie gesenkt wurde.
102
99
Vgl. Jünemann 1999: 30.
100
Vgl. Jünemann 1999: 37.
101
Vgl. Statistisches Bundesamt 1961: 33.
102
Dennoch spielen Algerien (und Irak) auch heute noch eine bedeutende Rolle für die französische Energieversor-
gung. Seit den neunziger Jahren decken allein die Erdgasimporte aus Algerien 30% des französischen Erdgas-
bedarfs. Vgl. Zell 1997, zitiert nach: Jacobs 2003: 74.

Kapitel 3 ­ Historische Entwicklung der Beziehungen der EU zum Mittelmeerraum
24
Im Vergleich dazu war die Abhängigkeit des Maghreb von den Handelsströmen aus und nach Frank-
reich bedeutend ausgeprägter. Im Handel mit Tunesien zeichnete Frankreich für knapp 34,4% der
Einfuhren verantwortlich, im Falle Marokkos betrug dieser Wert sogar 40,0%. Eingeführt wurde in
erster Linie Getreide. Zu den Hauptausfuhrprodukten Marokkos zählten Phosphate (24,7%) und Zi-
trusfrüchte (15,2%). Tunesien exportierte primär Olivenöl (18,2%), Phosphate (17,8%) und Wein
(6%). Auch im Exportbereich vereinte Frankreich 1966 mit 42% den größten Anteil der marokkani-
schen Ausfuhren auf sich. Dahinter folgten die USA mit 12% und Deutschland mit 6%. Die tunesi-
schen Exporte gingen zu 34,6% nach Frankreich.
103
Die Eingliederung dieser bis dato rein französisch-maghrebinischen Handelspräferenzen in das
europäische Handelssystem erfolgte 1969 mit der Unterzeichnung von Teilassoziierungsabkommen
zwischen der EWG und Marokko bzw. Tunesien. Die Präferenzregelungen wurden zudem inhaltlich
erweitert.
104
Die Dialektik eines Sonderstatus' bedingt allerdings zwangsläufig die Exklusion derer,
die keine vergleichbaren Vorzüge genießen. Dem politischen Ausgleich geschuldet, führte diese
Ungleichbehandlung in den sechziger Jahren zur Unterzeichnung zahlreicher bilateraler Abkommen
zwischen der EWG und weiteren Mittelmeerländern.
105
Diese unterschieden sich jedoch sowohl in
ihrer Motivation als auch im Regelungsgehalt, denn während durch ein Assoziierungsabkommen die
Möglichkeit eines EU-Beitritts eröffnet wird, sehen Kooperationsabkommen lediglich präferentielle
Beziehungen zur EU vor.
106
Assoziierungsabkommen, die in erster Linie sicherheitspolitisch motiviert waren, wurden 1961 bzw.
1963 mit Griechenland und der Türkei unterzeichnet. Die bedeutende Rolle des Mittelmeers als
wichtige Transportroute und die hohe Relevanz des Mittelmeerraums für die europäischen Erdölim-
porte waren der Unterzeichnung dieser Abkommen zuträgliche Faktoren.
107
Assoziierungsabkom-
men unterzeichnete die EWG auch mit Malta und Zypern, wobei auch hier die Bedeutung beider
Mittelmeerinseln als strategisch wichtige (Flotten-)Stützpunkte ausschlaggebend war.
108
Zur Verdich-
tung der bilateralen Beziehungen trug in den Folgejahren der Abschluss von präferentiellen Handels-
abkommen mit Ägypten, Jordanien, Syrien und dem Libanon bei. Trotz der Tatsache, dass es sich
103
Vgl. Statistisches Bundesamt 1969: 36f und Statistisches Bundesamt 1970: 95ff.
104
Vgl. Jünemann 1999: 38.
Auch Algerien wurde durch ein Kooperationsabkommen in das vertiefte Handelspräferenzsystem aufgenommen.
Vgl. Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Demokratischen
Volksrepublik Algerien.
105
Vgl. Jünemann 1999: 37.
106
Vgl. Weiler/ Jasper/ Metzler 2002: 18.
107
Vgl. Jacobs 2003: 259f.
108
Vgl. Puhl 1983: 35.

Kapitel 3 ­ Historische Entwicklung der Beziehungen der EU zum Mittelmeerraum
25
bei Spanien um einen europäischen Staat, d.h. einen potentiellen Beitrittskandidaten i.S. von Art. 37
EWG handelte, scheiterte der spanische Antrag auf Assoziierung mit der EWG an der ablehnenden
Haltung der Benelux-Ländern gegenüber dem Franco-Regime. Israel wurde die Assoziation dage-
gen aufgrund der für Frankreich nicht tolerierbaren Rolle Israels im Sechs-Tage-Krieg verweigert.
109
Dass mit beiden Staaten zwar keine Assoziierungsabkommen, wohl aber Kooperationsabkommen
abgeschlossen wurden, ist mit dem Prinzip des innereuropäischen Interessenausgleichs zu erklären,
dem von zahlreichen Kommentatoren eine bedeutende Rolle für den Fortgang der Beziehungen der
EU zum Mittelmeerraum zugeschrieben wird. So interpretiert P
OMFRET
dieses Ringen um einen
Kompromiss in der Frage der Kooperationstiefe als Spiel der nationalen Interessen einzelner, euro-
päischer Mitgliedstaaten.
110
Die Auffassung, dass gerade die Gegenläufigkeit von Interessen Wider-
stand und Impuls zugleich im Prozess der euro-mediterranen Beziehungen generiert, vertritt auch
J
ACOBS
. Er geht davon aus, dass für ein umfassendes Verständnis der Genese der euro-mediterra-
nen Beziehungen das Denken in Kategorien der Machtbalance eine hilfreiche, ja vielmehr noch eine
maßgebliche Voraussetzung ist.
111
Das bedeutet, dass die europäische Gemeinschaft nicht nur im
Sinne eines einzelnen bzw. einheitlichen außen(handels-)politischen Akteurs gesehen werden darf,
sondern vielmehr als dualistisch konzipiertes Gefüge: als institutionelle Einheit einerseits und als ein
Zusammenschluss von souveränen Nationalstaaten andererseits. Als institutionelle Zwangsläufigkeit
kommt der Dualismus auf zwei Ebenen zum Tragen: Zum einen besteht ein Spannungsverhältnis
auf europäischer Ebene zwischen der Ausübung von Gemeinschaftskompetenzen und den außer-
halb dieses Bereichs verbleibenden Entscheidungsbefugnissen im Rahmen zwischenstaatlicher Ko-
operation.
112
Zum anderen obliegt es den EU-Mitgliedstaaten auf nationalstaatlicher Ebene, ihre
Außenpolitik in Einklang sowohl mit nationalen als auch mit europäischen Interessen zu gestalten.
Denn trotz der im Rahmen der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) von 1986 eingegangenen
Verpflichtung zu ,,konsensfördernde[r] Selbstdisziplin"
113
, bleibt der Charakter der EU-Mitgliedstaaten
als souveräne und im Wettbewerb miteinander stehende Nationalstaaten erhalten.
114
109
Vgl. Jünemann 1999: 38.
110
Vgl. Pomfret 1986: 20.
111
Vgl. Jacobs 2003: 131.
112
Vgl. Monar 1999: 66.
113
Beutler/ Bieber et al. 1993: 526.
114
Ein eindringliches Beispiel hierfür ist das konfligierende Interesse Frankreichs, das seit jeher einer der stärksten
Befürworter einer intensiven Zusammenarbeit mit den Mittelmeerländern war, sich aber aufgrund innen-
politischem Drucks stets gegen allzu weite Handelszugeständnisse im Agrar- und Textilbereich aussprach.
Vgl. Jacobs 2003: 260.

Kapitel 3 ­ Historische Entwicklung der Beziehungen der EU zum Mittelmeerraum
26
Die daraus resultierende Komplexität der Beziehungen innerhalb der Gemeinschaften erhält zusätzli-
chen Nachdruck, wenn man die EU in ihrer Dimension als Integrationsgemeinschaft erfasst. Der Pro-
zesscharakter impliziert die stetige Fortentwicklung der Gemeinschaft ­ und zwar sowohl in ihrer in-
haltlichen Tiefe (Integration) als auch in ihrer geographischen Reichweite (Erweiterung).
115
Der
These von R
HEIN
folgend, dass sich gesellschaftliche, ökonomische und politische Veränderungen
innerhalb einer Gemeinschaft auch in deren Außenpolitik widerspiegeln
116
, wird sich das folgende
Kapitel mit den Initiativen der EU auseinander setzen, die euro-mediterranen Beziehungen der neu-
en Dynamik anzupassen, die der europäische Integrations- und Erweiterungsprozess ab 1969 ge-
wonnen hat.
117
3.2. Globale Mittelmeerpolitik (Phase II: 1972 ­ 1990)
Der Tatsache eingedenk, dass die Abfolge der bis Anfang der siebziger Jahre geschlossenen
Abkommen mit europäischen, nordafrikanischen und nahöstlichen Staaten den Eindruck einer durch
politische Bestrebungen nach Kompensation und Ausgleich ausgelösten Kettenreaktion erwecken
könnte, ist es schwierig, den Vorwurf des ,,politischen Flickwerk[s]"
118
zurückzuweisen. Pomfret
weist zudem auf die konkreten Implikationen einer fortdauernden Divergenz der einzelnen euro-
mediterranen Abkommen hin: so führen unterschiedliche Regelungen bezüglich Zollsatzsenkungen,
Übergangsfristen sowie Ausmaß und Auswahl der zugangsprivilegierten Produkte zu einer de facto-
Diskriminierung der meist in direkter Konkurrenz miteinander stehenden Mittelmeeranrainer.
119
Das
Gefühl der Diskriminierung entstand seitens der Mittelmeerpartner auch vor dem Hintergrund der be-
vorstehenden Norderweiterung der EU um Großbritannien, Dänemark und Irland, die bereits auf
dem Den Haager Gipfel der Staats- und Regierungschefs 1969 beschlossen wurde.
120
Diese hätte
zwangsläufig eine Relativierung der bestehenden Handelspräferenzen zur Folge. Die in diesem Kon-
text konsequente Forderung nach kompensatorischen Regelungen, d.h. einer stärkeren Verein-
heitlichung und deutlichen Erweiterungen der Handelsabkommen, fand auch in Anbetracht der be-
vorstehenden GATT-Verhandlungen im Rahmen der Tokio-Runde (1973-1979) ein Echo.
121
115
Vgl. Beutler/ Bieber et al. 1993: 70 und Woyke 1998: 1.
116
Vgl. Rhein 1976: 172.
Besonders deutlich wird dies auch bei J
ACOBS
. ,,Die Politik der einzelnen europäischen Staaten reflektierte [...]
immer in starkem Maße den jeweiligen Stand des europäischen Integrationsprozesses." Jacobs 2003: 129.
117
Vgl. Jacobs 2003: 131.
118
Jünemann 1999: 38.
Unterstützung in dieser Auffassung findet J
ÜNEMANN
(1999) bei P
UHL
, der ebendieses Phänomen als ,,Stückwerk-
Politik" bezeichnet. Puhl 1983: XI.
119
Vgl. Pomfret 1986: 20f.
120
Vgl. Beutler/ Bieber et al. 1993: 36.
121
Nach der Einführung des Allgemeinen Präferenzsystems (APS) durch die United Nations Conference on Trade
and Development (UNCTAD) standen auch die GATT-Verhandlungen unter dem Motto ,,[to] secure additional be-

Kapitel 3 ­ Historische Entwicklung der Beziehungen der EU zum Mittelmeerraum
27
3.2.1. Struktur und Umsetzung des Globalansatzes
Richtungweisend sollte daher die zweite Phase der europäischen Mittelmeerpolitik sein. Auf dem Pa-
riser Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs von 1972 wurde daher der ,,Globalansatz für die
Mittelmeerpolitik der Europäischen Gemeinschaft"
122
angenommen. Als Grundlage für eine Koopera-
tion ohne Abhängigkeiten sollte er es der erweiterten Gemeinschaft ermöglichen, zu einem langfris-
tigen, außenpolitischen Gesamtkonzept zu finden.
123
Der Kommissionsvorschlag ist dazu in einen
Handelsteil und in einen Kooperationsteil gegliedert
124
: die Zollbefreiung für Industriegüter und die
Zollerleichterungen für einige Güter im Agrarbereich werden durch eine engere Zusammenarbeit im
finanziellen, technischen und sozialen Bereich unterstützt.
125
Der schrittweise Zollabbau beschränkt sich auf den Handel mit gewerblichen Erzeugnissen. Proble-
matisch ist allerdings, dass dazu auch sensible Bereiche wie petrochemische Produkte und Textilien
zählen
126
, die den größten Teil des Handels der EU mit den Ländern des Mittelmeerraums
ausmachen.
127
Durch die Einstufung dieser Sektoren als sensibel behält sich die EU das Recht vor,
die Handelspräferenzen einzuschränken, entweder in Form von Jahresplafonds
128
, die in den bilate-
ralen Abkommen geregelt werden oder durch so genannte freiwillige Selbstbeschränkungsabkom-
men, durch die sich der jeweilige mediterrane Partnerstaat dazu verpflichtet, bestimmte Produkte nur
bis zu einer fixierten Höchstmenge einzuführen.
129
Derartige Einschränkungen im Textilbereich
waren vor allem für den Maghreb fatal: In Tunesien betrug der Anteil der Textil- und Bekleidungsarti-
kel an den Gesamtexporten nicht-agrarischer Produkte in die EU etwa 50%, in Marokko lag der An-
teil sogar bei knapp 70%. Beide Länder mussten Selbstbeschränkungsabkommen eingehen, um die
nefits for developing countries in order to achieve a substantial increase in their foreign exchange earnings, diver-
sification of their exports and an acceleration of the rate of growth of their trade." Hoekman 2001: 388.
122
Mitteilung der Kommission der Europäischen Gemeinschaften an den Rat vom 22. September 1972 über die
Beziehungen zwischen der Gemeinschaft und den Mittelmeerländern: Globalansatz für die Mittelmeerpolitik der
Europäischen Gemeinschaft.
123
Vgl. ebd.: 510.
124
Ausschließlich die Kooperationsabkommen mit den Maghrebstaaten enthalten als drittes Element Bestimmungen
über die Behandlung von Arbeitsmigranten. Die sozialrechtlichen Bestimmungen blieben aber hinter den arabi-
schen Forderungen nach vollständiger Freizügigkeit zurück, was seitens der Mittelmeerdrittländer vor allem im
Hinblick auf die Relevanz der Gastarbeiterüberweisungen für den heimischen Zahlungsbilanzausgleich beklagt
wurde. Vgl. dazu Jacobs 2003: 267.
125
Vgl. Jacobs 2003: 261.
126
Vgl. Wiemann 1992: 179.
127
Bereits in den siebziger Jahren wurde der europäische Markt für Erdölerzeugnisse größtenteils durch Importe aus
dem Mittelmeerraum bedient und auch für Textilien sind die mediterranen Partner die zweitgrößte Lieferanten-
gruppe außerhalb der EG. Vgl. hierzu Puhl 1983: 51.
128
Das bedeutet, dass die Zusicherung von Präferenzzöllen auf ein bestimmtes Einfuhrkontingent beschränkt ist und
für darüber hinaus gehende Mengen der reguläre Gemeinsame Außenzoll angesetzt wird. Vgl. Müller 1977: 124.
129
Vgl. Jacobs 2003: 265.

Kapitel 3 ­ Historische Entwicklung der Beziehungen der EU zum Mittelmeerraum
28
Wirkungen auf die Gemeinschaft einzuschränken.
130
Eine Sonderstellung kam den Einfuhren von
Rohöl in die Gemeinschaft zu, die bis heute weder tarifären noch mengenmäßigen Beschränkungen
unterliegen. Diese Ausnahme machte sich vor allem im Falle Syriens und Algeriens bemerkbar,
deren nicht-agrarische Exporte sich zu über 90% aus Erdöl und unbearbeiteter Baumwolle zusam-
mensetzten. Für diese Staaten waren die im Rahmen ihrer bilateralen Abkommen mit der EU verein-
barten Zollsenkungen für gewerbliche Erzeugnisse nur von marginaler Bedeutung.
131
Die Verhandlungen über präferentiellen Agrarhandel fanden unter gänzlich anderen Vorzeichen
statt. Während die Gemeinschaft durch ihre Globale Mittelmeerpolitik zu Entscheidungen gelangen
musste, die in vielfältiger Rückkoppelung mit anderen Politikbereichen standen (Energie-, Industrie-,
Umwelt-, Rohstoffpolitik u. a.) und deren Vergemeinschaftung die Betretung politischen Neulands
bedeutete, wurde im Agrarbereich bereits seit Beginn der sechziger Jahre gemeinschaftlich Politik
betrieben.
132
Im Rahmen der ,,Gemeinsamen Agrarpolitik" (GAP) der EU wurden aufgrund der be-
sonderen Strukturprobleme der Landwirtschaft nicht nur Marktordnungen eingeführt, in denen pro-
duktspezifisch alle Import- und Exportregelungen sowie die Gesamtheit der Produktions- und Ver-
marktungspolitiken festgelegt wurden. Die EU sah auch einen Gemeinsamen Außenzoll vor, der ent-
sprechend den geltenden Marktordnungen von Produkt zu Produkt variieren konnte.
133
Dementspre-
chend wurden auch die Präferenzregelungen für die Mittelmeerländer produktspezifisch verhan-
delt.
134
Da ein Konkurrenzverhältnis zu den mittelmeerischen Partnerländern aufgrund klimatisch
ähnlicher Bedingungen vor allem für die südlichen EU-Mitgliedstaaten Frankreich und Italien besteht,
enthielten die einzelnen Abkommen so genannte Einfuhrkalender, die die Gültigkeit der Zollpräferen-
zen monatsweise regelten.
135
Während von mengenmäßigen Einfuhrbeschränkungen abgesehen
wurde, trat eine zusätzliche Regulierungswirkung vor allem durch die Bindung von Präferenzzöllen
an jährliche (Einfuhr-)Höchstmengen und/oder durch die Pflicht zur Einhaltung eines Referenzprei-
ses
136
ein. Diese generellen Präferenzregelungen wichen in einigen Bereichen so genannten beson-
deren Präferenzregelungen, die von der Gemeinschaft in die Abkommen aufgenommen wurden, um
einerseits präferentiellen Marktzugang für Agrarprodukte der Partnerländer zu garantieren, anderer-
seits aber auch die fortwährende Wirkung der Gemeinschaftspräferenz für innereuropäische Erzeug-
130
Vgl. Puhl 1983: 49.
131
Vgl. ebd.: 47.
132
Für ausführliche Erläuterungen wird auf Kapitel 5.1. verwiesen.
133
Vgl. Schmitt 1998: 169ff.
134
Vgl. Grethe/ Nolte/ Tangermann 2005: 305.
135
Vgl. Puhl 1983: 55, 101.
136
Vgl. ebd.: 54.
Werden Waren zu einem Preis eingeführt, der unter dem fixierten Referenzpreis liegt, so werden auf diese keine
präferentiellen Zölle angewandt. Vgl. dazu Müller 1977: 125.

Kapitel 3 ­ Historische Entwicklung der Beziehungen der EU zum Mittelmeerraum
29
nisse zu gewährleisten.
137
Von derartigen Sonderregelungen betroffen waren vor allem die drei Kate-
gorien Obst und Gemüse, Wein und Olivenöl ­ Agrarprodukte, mit denen die Mittelmeerpartner den
größten Teil ihrer Agrarausfuhren bestritten: Israel und Marokko, deren Agrarexporte in die EU ein
Drittel ihrer jeweiligen Gesamtausfuhren in die EU ausmachten, bestritten zwei Drittel durch Obst-
und Gemüseprodukte. Verarbeitetes Obst und Gemüse trug in Marokko zu weiteren 10%, in Israel
zu 20% der Agrarexporte bei. Wein und Olivenöl fielen in Marokko mit 2% bzw. 4% ins Gewicht.
Tunesien und Ägypten exportierten zwischen 10% und 20% ihrer Agrarausfuhren in die Gemein-
schaft, wobei Tunesien zu 30% Obst und Gemüse und zu fast 50% Olivenöl exportierte. Algerien,
Jordanien und Syrien verzeichneten den geringsten Anteil der Agrarimporte in die EG. In Syrien
spielten hierbei Viehfutter und Getreide die größte Rolle.
138
Analog zu den gewerblichen Erzeugnissen galten die strikten Einschränkungen auch im Agrarhandel
primär in den Bereichen, in denen die meisten Partnerländer die größte Wettbewerbsfähigkeit besa-
ßen und folglich ein besonderes Schutzbedürfnis seitens der Gemeinschaft perzipiert wurde.
139
P
UHL
analysiert die Betroffenheit der EU-9 in den oben genannten Produktkategorien, indem er deren Be-
deutung für die Volkswirtschaft im Allgemeinen und für die Landwirtschaft im Speziellen untersucht
und darüber hinaus den Einfluss der Handelspräferenzen auf die Sozialstruktur und den Außenhan-
del der einzelnen EU-Mitgliedstaaten sowie der Gemeinschaft analysiert. Zusammenfassend kommt
er zu dem Schluss, dass die Betroffenheit in allen drei Produktkategorien generell auf Italien be-
schränkt werden könne. Nur bei Wein sei Frankreich gleichsam betroffen. Die Auswirkungen für die
Gemeinschaft insgesamt bezeichnet P
UHL
sogar als marginal.
140
Trotz der sektoralen und regionalen
Betroffenheit der Landwirtschaft wird daher die Notwendigkeit deutlich, die Organisation der europäi-
schen Agrarmärkte und das Prinzip der Einkommenssicherung für Landwirte zu hinterfragen und die
,,Unantastbarkeit der GAP"
141
unter dem Gesichtspunkt der Überschussproduktion und der Frage
nach dem optimalen Produktionsstandort in Zweifel zu ziehen.
Dass zwischen 1975 und 1978 bilaterale Abkommen im Rahmen der Globalen Mittelmeerpolitik trotz
der teils ungünstigen Bedingungen im Textil- und Agrarbereich mit allen für diese Betrachtung rele-
137
Neben der Gemeinsamen Marktorganisation und der finanziellen Solidarität bildet die Gemeinschaftspräferenz
den dritten Grundsatz der GAP. Demnach hat die innergemeinschaftliche Agrarproduktion Vorrang vor den Welt-
markterzeugnissen. Ihr Schutz wird durch ein System von Einfuhrabgaben (Abschöpfungen) und Ausfuhrsubven-
tionen (Erstattungen) gewährleistet. Vgl. Woyke 1998: 192.
138
Vgl. Puhl 1983: 54ff.
139
Vgl. Krämer 1982: 669.
140
Puhl 1983: 95.
141
Puhl 1983: 101.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2007
ISBN (eBook)
9783836605755
DOI
10.3239/9783836605755
Dateigröße
2.5 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg – Betriebswirtschaft, Betriebswirtschaftslehre
Erscheinungsdatum
2007 (Oktober)
Note
1,3
Schlagworte
europäische union mittelmeerpolitik internationale kooperation arabische staaten barcelona-prozess freihandelszone kooperationsabkommen politik
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Titel: Die Außenbeziehungen der EU zu den arabischen Mittelmeeranrainern im Rahmen der Euro-Mediterranen Partnerschaft
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