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Wohnen und geistige Behinderung

Eine vergleichende Untersuchung zur Zufriedenheit und Selbstbestimmung in Wohneinrichtungen

©2004 Doktorarbeit / Dissertation 259 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Zusammenfassung:
Die vorliegende Untersuchung setzt sich dem Thema Zufriedenheit und Selbstbestimmung aus der Perspektive der Bewohnerinnen und Bewohner von Wohneinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung auseinander. Wohnraum als zentraler Lebensraum bietet sich zur Beurteilung individueller Lebensqualität und zur Untersuchung von Möglichkeiten der Selbstbestimmung an.
Anhand eines Fragebogens, entwickelt auf Grundlage aktueller Forschungsergebnisse, wurden Daten zur Zufriedenheit und dem Grad an realisierter Selbstbestimmung der Bewohnerinnen und Bewohner erhoben. Die Untersuchung umfasst sowohl die Erfassung der individuellen, subjektiven Wahrnehmung als auch zusätzlich drei Fremdwahrnehmungen, um diese miteinander zu vergleichen. Mehre Fragestellungen wurden damit verfolgt: Wie werden Zufriedenheit und Selbstbestimmung aus unterschiedlichen Perspektiven definiert? Schätzen Bewohnerinnen und Bewohner sich selbst zufriedener ein als Dritte? Stimmen Selbst- und Fremdwahrnehmung überein? Besteht ein positiver Zusammenhang zwischen erlebter Zufriedenheit und Möglichkeiten der Selbstbestimmung?
Entstanden ist ein Erhebungsinstrument zur breiten Anwendung in Wohneinrichtungen, welches sich auf bekannte theoretische Konzepte stützt und erfolgreich angewendet werden konnte. Fragebögen sind ein geeignetes Instrument, um eine Vollerhebung in Einrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung durchzuführen. Themen wie die Beurteilung der Dienstleistungsqualität und die Zufriedenheit der Bewohnerinnen und Bewohner sind zwei Aspekte, die gut aus der individuellen Perspektive beurteilt und eingeschätzt werden können. Dies ist – wie die vorliegenden Ergebnisse zeigen – auch möglich, wenn noch keine Erfahrungen mit einer Fremdbefragung in Form eines Interviews vorliegen.
Es liegen Ergebnisse vor aus insgesamt 181 Interviews mit Bewohnerinnen und Bewohnern (Interviews anhand eines strukturierten Fragebogens, der als Interviewleitfaden genutzt wurde), Fragebögen von 101 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, 62 Angehörigen und 43 gesetzlichen Betreuern. Auf dieser Grundlage erfolgt eine umfassende Beurteilung der Untersuchungsmethodik sowie Überprüfung und Diskussion der 13 formulierten Hypothesen. Es konnte u.a. nachgewiesen werden, dass Selbst- und Fremdwahrnehmung in vielen Bereichen der Zufriedenheit und Selbstbestimmung nicht übereinstimmen: Zufriedenheit kann nur als subjektives Phänomen begriffen und daher nur ergänzend […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Kristin Sonnenberg
Wohnen und geistige Behinderung
Zufriedenheit und Selbstbestimmung in Wohneinrichtungen
ISBN: 978-3-8366-0237-2
Druck Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2007
Zugl. Universität zu Köln, Köln, Deutschland, Dissertation / Doktorarbeit, 2004
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2007
Printed in Germany

Für Volker & Johanna

Vorwort & Danksagung
Von 1998 bis 2002 hatte ich die Gelegenheit, jeden Sommer gemeinsam mit einer
Gruppe von 14 unterschiedlichen Menschen mit geistiger und / oder körperlichen Be-
hinderung und einem Team aus sechs ehrenamtlichen Begleitern eine Woche in
Deutschland, Holland oder Dänemark zu segeln. Organisiert wurde diese für alle
Teilnehmenden besondere Fahrt von der Pfarrstelle für Behindertenarbeit des Evan-
gelischen Kirchenkreises an Sieg und Rhein. Eine Woche auf See bedeutet ein au-
ßergewöhnlich intensives Zusammenleben aller Beteiligten für einen begrenzten Zeit-
raum auf engem Raum. Es ist eine Zeit, die es ermöglicht, Abstand vom eigenen Le-
ben zu gewinnen und gleichzeitig am Leben anderer Menschen teilzuhaben und in
die verschiedenen Lebenswelten einzutauchen. In dieser Zeit konnte ich die unter-
schiedlichsten Menschen und ihre Bedürfnisse, Wünsche und Ansichten kennen ler-
nen.
Meine zweite intensive Auseinandersetzung mit Fragestellungen der Behindertenhilfe
erfolgte seit dem Jahr 2000 über meine Arbeit als Referentin für Qualitätsmanage-
ment in der Stabsstelle ,,AWO - Qualitätsmanagement" beim Bundesverband der Ar-
beiterwohlfahrt. Im Rahmen von Seminaren und Fortbildungen lernte ich nun Einrich-
tungsleitungen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und ihre Sichtweisen kennen. 2002
begann eines unserer großen Projekte, welches gemeinsam mit der Gesellschaft für
Organisationsentwicklung und Sozialplanung mbH (gos, gGmbH) durchgeführt und
von dieser begleitet wurde: Die Einführung eines Qualitätsmanagementsystems im
AWO-Kreisverband Siegen-Wittgenstein/Olpe. Teil dieses Projektes war ein Wohn-
stättenverbund von sechs Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderungen.
Auch die Bewohnerinnen und Bewohner der Wohneinrichtungen sollten bei einer ers-
ten Bestandsaufnahme zum Qualitätsmanagement befragt werden, um die Leistun-
gen der AWO-Wohneinrichtungen und ihre eigene Zufriedenheit zu beurteilen. So
konnte ich erste Erfahrungen in der Entwicklung eines Befragungsinstrumentariums
für Menschen mit Behinderungen sammeln und Interviews durchführen. Mein Inte-
resse, mehr über die Zufriedenheit und die Wahrnehmungen der Bewohnerinnen und
Bewohner sowie über Möglichkeiten der Selbstbestimmung in Wohneinrichtung he-
rauszufinden, war geweckt und konnte im Rahmen der vorliegenden Forschungsar-
beit realisiert werden.

Mein Dank gilt insbesondere Herrn Professor Jörg Fengler, der mich im Sommer
2002 in sein Doktorandenkolloquium aufnahm und seitdem konstruktiv und wohlwol-
lend beraten hat. Die Unterstützung des Kolloquiums empfand ich immer als sehr
hilfreich und anregend. Eine große Hilfe war es zu wissen, dass auch andere Dokto-
randinnen gleichzeitig in einem Vollzeitarbeitsverhältnis standen und wir uns immer
wieder gegenseitig austauschen und ermutigen konnten.
Frau Professor Barbara Fornefeld möchte ich an dieser Stelle ganz herzlich für die
Bereitschaft, die Arbeit als zweite Betreuerin zu begleiten und mir in Fragen der Heil-
pädagogik unterstützend zur Seite zu stehen, danken.
Ein großer Teil der Arbeit basiert auf dem Forschungsprozess vor Ort in den Einrich-
tungen. Ich möchte daher allen danken, die durch ihre Teilnahme an den Befragun-
gen eine Erhebung umfassender Daten ermöglichten. Insbesondere allen Bewohne-
rinnen und Bewohnern, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie Angehörigen
und gesetzlichen Betreuern; den Einrichtungsleitungen Herrn Hans-Gerd Fuchs, Frau
Ina Hennemann, Herrn Jörg Loose, Frau Claudia Möhring, Herrn Dirk Schefer und
Frau Jutta Sudek für ihr Engagement und ihre Organisationsarbeit; den Interviewe-
rinnen aus den Einrichtungen, stellvertretend namentlich Frau Conny Palma und
Frau Christine Thyssen, da diese mich über mehrere Tage begleitet und somit stark
entlastet haben. Ein weiterer Dank in diesem Zusammenhang gilt Frau Petra Gess-
ner und Frau Sigrid Müller aus dem Bezirksverband der Arbeiterwohlfahrt Westliches
Westfalen e.V., die den Kontakt zu den Einrichtungen herstellten und mir über den
Zeitraum der Befragungen hinaus als Ansprechpartnerinnen zur Verfügung standen.
Danken möchte ich ebenfalls Herrn Doktor Wolfgang Bodenbender von der gos, der
mich durch sein großes Interesse an dem Forschungsprozess unterstützte und för-
derte. Er ermöglichte es mir aufgrund großzügiger zeitlicher Entlastung, die umfang-
reichen Befragungen im Juli durchzuführen.
Ohne die tatkräftige Unterstützung meines Freundes Volker Lütz während der Befra-
gungen vor Ort und seiner unermüdlichen Bereitschaft, immer wieder Teile der Arbeit
zu lesen, sich mit mir darüber auseinanderzusetzen und mich immer wieder zu ermu-
tigen, wäre eine Realisierung kaum möglich gewesen.

Ausdrücklicher Dank gilt auch meiner Mutter Frau Ursula Sonnenberg, die sich die
Zeit nahm, sich kritisch mit der letzten Entwurfsfassung der Arbeit auseinanderzuset-
zen und meiner Tante Frau Elisabeth Dudler für das Korrigieren des Manuskripts.
Jeder, der sich über mehrere Jahre intensiv mit einer Forschungsarbeit auseinander-
gesetzt hat, weiß, wie viel Kraft, Energie, Zeit, Disziplin und Konzentration es kostet,
kontinuierlich sein Ziel zu verfolgen. Zweifel nach dem Sinn tauchen immer wieder
auf, so dass Fragen von Außenstehenden, wie die folgende einer Bewohnerin,
durchaus zu einer kritischen Selbstreflexion führen können:
,,Warum machst Du das? Hast Du zuviel Zeit?"
In solchen Momenten war es wichtig, mir zu verinnerlichen, warum ich das ganze
Projekt begonnen hatte. Rückmeldungen wie diese halfen mir, die Arbeit zielstrebig
zu Ende zu führen:
,,Das ist aber lieb, dass ihr mich fragt, danke."
,,Endlich fragt uns mal jemand."
Das Ergebnis liegt nun vor.
Bonn, den 24. Januar 2004
Kristin
Sonnenberg

Collage
,,Wir haben mitgemacht"
Stellvertretend für alle Bewohnerinnen und Bewohner aus den sechs Einrichtungen
finden sich auf den folgenden vier Seiten Collagen mit Fotos derer, die bei den Inter-
views mitgemacht haben.





Inhaltsverzeichnis
1
Inhaltsverzeichnis
INHALTSVERZEICHNIS... 1
1. EINLEITUNG ... 3
2. FRAGESTELLUNG... 5
3.
STAND DER FORSCHUNG ... 8
3.1. B
EGRIFFSBESTIMMUNGEN
... 9
3.1.1. Wohneinrichtungen... 9
3.1.2. Menschen mit geistiger Behinderung ... 18
3.1.3. Zufriedenheit... 21
3.1.4. Selbstbestimmung ... 27
3.1.5. Zum Begriff des Nutzers... 29
3.2. E
MPIRISCHE
U
NTERSUCHUNGEN
... 32
3.3. P
ROBLEME DER
B
EDÜRFNISFORSCHUNG
... 40
3.4. S
YSTEMISCH
-
ÖKOLOGISCHER
A
NSATZ
... 43
3.5. K
ONSEQUENZEN FÜR DAS EIGENE
F
ORSCHUNGSDESIGN
... 46
4. HYPOTHESEN ... 48
4.1. H
YPOTHESEN ZUR
,,Z
UFRIEDENHEIT
" ... 50
4.2. H
YPOTHESEN ZUR
,,S
ELBSTBESTIMMUNG
" ... 53
4.3. H
YPOTHESE ZUR
,,Z
UFRIEDENHEIT UND
S
ELBSTBESTIMMUNG
"... 55
5. UNTERSUCHUNGSMETHODIK ... 56
5.1. A
USWAHL DER
U
NTERSUCHUNGSMETHODEN
... 58
5.2. K
ONSTRUKTION DER
F
RAGEBÖGEN
... 62
Teil A: Grundlagen theoretischer Fragebogenkonstruktion... 62
Teil B: Konstruktion der Fragebögen für die Befragungen... 73
5.3. D
URCHFÜHRUNG DER
B
EFRAGUNGEN
... 81
Bewohnerinnen und Bewohner ... 82
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter... 84
Angehörige und gesetzliche Betreuer ... 85
Interviewerteam ... 86
5.4. Ü
BERLEGUNGEN ZUR
A
USWERTUNG
... 91
Quantitative Auswertung ... 91
Qualitative Daten ... 94
6. UNTERSUCHUNGSVERLAUF... 97
6.1. P
LANUNGSPHASE
... 97
6.2. U
MSETZUNGSPHASE
... 101
6.3. A
USWERTUNGSPHASE
... 109
7. ERGEBNISSE
UND
DISKUSSION... 111
7.1.
E
RGEBNISSE DER
H
YPOTHESENPRÜFUNG UND
D
ISKUSSION
... 111
Teil 1... 112
Hypothesen zur Zufriedenheit ... 112
HYPOTHESE 1: Einschätzung Zufriedenheit Bewohner / Mitarbeiter ... 112
HYPOTHESE 2: Einschätzung Zufriedenheit Bewohner / Angehörige... 122
HYPOTHESE 3: Einschätzung Zufriedenheit Bewohner / gesetzliche Betreuer ... 129
HYPOTHESE 4: Definition Zufriedenheit Bewohner / Mitarbeiter... 135
HYPOTHESEN 5 & 6: Definition Zufriedenheit Bewohner / Angehörige / gesetzliche
Betreuer ... 148

Inhaltsverzeichnis
2
Teil 2
...
154
Hypothesen zur Selbstbestimmung... 154
HYPOTHESE 7: Forderung nach Selbstbestimmung Bewohner / Mitarbeiter... 154
HYPOTHESE 8: Forderung nach Selbstbestimmung Bewohner / Angehörige ... 157
HYPOTHESE 9: Forderung nach Selbstbestimmung Bewohner / gesetzliche Betreuer
... 158
Kategorien zu den Hypothesen 10, 11 & 12... 159
HYPOTHESE 10: Definition Selbstbestimmung Bewohner / Mitarbeiter ... 162
HYPOTHESE 11: Definition Selbstbestimmung Bewohner / Angehörige... 167
HYPOTHESE 12: Definition Selbstbestimmung Bewohner / gesetzliche Betreuer ... 172
Teil 3... 175
Hypothese zum Zusammenhang von Zufriedenheit und Selbstbestimmung... 175
HYPOTHESE 13: Zufriedenheit und Selbstbestimmung ... 175
7.2.
B
EURTEILUNG DER ANGEWANDTEN
U
NTERSUCHUNGSMETHODIK
... 182
7.2.1.
E
RGEBNISSE IN
B
EZUG AUF DEN
E
INSATZ DES
F
RAGEBOGENS
... 183
(1) Interviewdauer... 183
(2) Umgang mit der Situation des Interviews ... 185
(3) Interviewerteam... 190
(4) Zur Beurteilung der Fragen des Fragebogens... 191
7.2.2.
S
CHLUßFOLGERUNGEN
... 198
8. EMPFEHLUNGEN
FÜR DIE PRAXIS... 199
LITERATURVERZEICHNIS... 202
ABBILDUNGSVERZEICHNIS ... 210
TABELLENVERZEICHNIS ... 211
ANHANG... 212

Kapitel 1. Einleitung
3
1. Einleitung
Seit Mitte der 90er Jahre finden Konzepte des Qualitätsmanagement und der
Qualitätsentwicklung Einzug in die unterschiedlichen Bereiche sozialer Arbeit
und haben inzwischen nicht geringen Einfluss auf die Erbringung sozialer
Dienstleistungen. Nicht unerheblicher ökonomischer Druck und konkrete Forde-
rungen des Gesetzgebers bzw. der Kostenträger sind Auslöser der Auseinan-
dersetzung mit diesen Themen. In den letzten Jahren gab es zahlreiche Veröf-
fentlichungen, die Für und Wider dieser Entwicklung analysierten und diskutier-
ten (zur Anwendung von Qualitätsmanagement in Bereichen der sozialen Arbeit
siehe z.B. Drabner & Pawellek 1996, Jantzen, Lanwer-Koppelin & Schulz 1999,
Sonnenberg 1999, Sonnenberg 2000, Wittenius 2003). Auf diese soll daher
nicht weiter eingegangen werden.
Die intensive Auseinandersetzung mit Methoden des Qualitätsmanagement
führte dazu, den klassischen ,,Klienten" sozialer Arbeit, bzw. ,,Nutzer" sozialer
Dienstleistungen mit anderen Augen zu betrachten. Der Begriff der ,,Kundenori-
entierung" hat zahlreiche Diskussionen angeregt und an vielen Stellen dazu
geführt, die Betroffenen und ihre Perspektive stärker einzubeziehen. Verkürzt
könnte man sagen, dass Kundenorientierung langfristig zu einer Stärkung der
Betroffenenperspektive führen kann, wird sie für den Bereich der sozialen Arbeit
angemessen interpretiert und umgesetzt.
Eine Forderung in den meisten Ansätzen des Qualitätsmanagement wie z.B.
der DIN EN ISO 9001:2000 ist die intensive Auseinandersetzung mit dem Kun-
den, die Einbeziehung von dessen Wünschen sowie eine Beurteilung der er-
brachten Leistung durch diesen. Die Zufriedenheit des Kunden ist eine der zent-
ralen Anforderungen. Voraussetzung der Erfüllung von Kundenanforderungen
und ­wünschen ist es zunächst, Kenntnis davon zu haben. Dies führt direkt zu
Überlegungen, wie Anforderungen, Wünsche und Zufriedenheit ermittelt werden
können.
In vielen Feldern der sozialen Arbeit stoßen die derzeit üblichen Befragungsin-
strumente und -methoden an deutliche Grenzen (z.B. Jugendhilfe, Psychiatrie,

Kapitel 1. Einleitung
4
Wohnungslosenhilfe, Behindertenhilfe). Für viele Bereiche müssen erst geeig-
nete Methoden zur Erfassung entwickelt werden, so z.B. in der Geistigbehinder-
tenpädagogik, da hier noch wenig Erfahrungen mit der Berücksichtigung der
Nutzer- oder Betroffenenperspektive vorliegen (Schwarte & Oberste-Ufer 2001,
gos 2002). Erst in wenigen Einrichtungen liegen Erfahrungen mit Qualitätsent-
wicklungskonzepten und der Einführung von Qualitätsmanagementsystemen
vor, obwohl die Beurteilung von Dienstleistungen durch Nutzer und sogenannte
,,Nutzerkontrolle" als wichtiger Bestandteil von Qualitätssicherung seit Mitte der
90er diskutiert werden (Gromann 1996, Gromann & Niehoff-Dittmann 1999).
Meine Untersuchung wird sich auf den Lebensbereich WOHNEN, bzw. das Le-
ben in Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung
konzentrieren. Im Mittelpunkt der Arbeit steht eine empirische Untersuchung, in
der ein Vergleich der Perspektiven von Menschen mit geistiger Behinderung als
direkten Nutzern einer Dienstleistung mit denen von Mitarbeiterinnen, Angehö-
rigen und gesetzlichen Betreuern erfolgt. Ermittelt werden die verschiedenen
Wahrnehmungen in Bezug auf die Zufriedenheit und Selbstbestimmung der
Bewohnerinnen und Bewohner als elementaren Bestandteilen von Lebensquali-
tät.
Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass ich in Bezug auf die Nutzung
der weiblichen und männlichen Form, grundsätzlich den Anspruch an den Leser
habe, bei der Personengruppe der ,,Bewohnerinnen und Bewohner" in der Re-
gel die doppelte Ausführung zu lesen, da gleich viele Personen der Zielgruppen
betroffen und ausdrücklich gemeint sind. Bei der Gruppe der ,,Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter" soll dies nur im Ausnahmefall erfolgen, ansonsten wird hier die
weibliche Form gewählt, da mehr weibliche Personen in den Wohneinrichtun-
gen arbeiten. In allen anderen Fällen wird im Sinne der Lesbarkeit die übliche
Form der männlichen Schreibweise gewählt. Die Vertreter des jeweils anderen
Geschlechts sind selbstverständlich ebenfalls gemeint.

Kapitel 2. Fragestellungen
5
2. Fragestellung
Ausgehend von dem Anspruch einer umfassenden Beteiligung von Bewohne-
rinnen und Bewohnern an der Gestaltung ihrer Lebensbedingungen sollen in
der vorliegenden Arbeit einige Aspekte der Zufriedenheit und der Selbstbe-
stimmung, sowie Zusammenhänge zwischen beiden Aspekten im Bereich des
Wohnens in Wohneinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung ge-
nauer untersucht werden.
Lebensbedingungen lassen sich auf die unterschiedlichsten Weisen untersu-
chen. Eine Möglichkeit ist die direkte Befragung der Menschen, deren Lebens-
welt im Mittelpunkt des Interesses steht: die Bewohnerinnen und Bewohner von
Wohneinrichtungen. Dies kann in Form einer Nutzerbefragung realisiert werden.
Zentrale Fragestellungen in diesem Zusammenhang müssen lauten:
·
Sind Grundlagen zur Durchführung von Interviews auf den Bereich
der Geistigbehindertenpädagogik übertragbar? Welche Ergebnisse
und Erfahrungen liegen bereits vor?
·
Welches Konzept bzw. welche Definition von ,,Zufriedenheit" eignet
sich als theoretische Grundlage der Untersuchung?
·
Wie muss eine Nutzerbefragung konzipiert sein, um Bewohnerinnen
und Bewohner als gleichberechtigte Interviewpartner zu unterstüt-
zen?
·
Können mit einem strukturierten und standardisierten Fragebogen
aussagefähige und zuverlässige Ergebnisse ermittelt werden?
·
Wie kann eine solche Befragung für die Einrichtungen ökonomisch
realisiert werden?
Eine weitere Möglichkeit der Ergründung der Lebensbedingungen von Men-
schen ist die Befragung ihnen nahestehender Dritter. Einen großen Anteil und
Einfluss auf das Leben der Bewohnerinnen und Bewohner haben zum einen die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer Einrichtung und zum anderen die Ange-
hörigen und gesetzlichen Betreuer. Sie stehen jeweils in unterschiedlichen Ver-
hältnissen zu den Bewohnerinnen und Bewohnern. Für die Gruppe der Mitar-

Kapitel 2. Fragestellungen
6
beiterinnen und Mitarbeiter ist die Wohneinrichtung der Arbeitsplatz. Die Grup-
pe der Angehörigen ist in erster Linie emotional mit den Bewohnerinnen und
Bewohnern verbunden. Sie kennen die Einrichtung gut, da sie wesentlich bei
der Auswahl der Einrichtung beteiligt sind, den Einzug begleiten und zu Besuch
kommen bzw. zu Veranstaltungen und Festen oder zu einem Gespräch mit der
Einrichtungsleitung oder den Mitarbeiterinnen. Die Gruppe der gesetzlichen Be-
treuer vertritt die Interessen der Bewohnerinnen und Bewohner in festgelegten
Bereichen. In der Regel haben sie weniger Kontakt zu der Einrichtung als die
Angehörigen. Beide sind von der Einrichtung unabhängig, da sie in keinem di-
rekten Arbeits- oder Abhängigkeitsverhältnis zur Einrichtung stehen.
Fremdwahrnehmungen unterscheiden sich von der Selbstbeurteilung und
Selbstwahrnehmung. In welcher Weise diese Wahrnehmungen voneinander
abweichen, kann gerade in Wohneinrichtungen von hoher Bedeutung sein. Vor-
stellungen der Bewohnerinnen und Bewohner von ,,Zufriedenheit und ,,Selbst-
bestimmung" entsprechen nicht unbedingt den Vorstellungen der Mitarbeiterin-
nen oder der Angehörigen und gesetzlichen Betreuer. Abhängig von unter-
schiedlichen Machtverhältnissen, Entscheidungsbefugnissen und möglicher
Einflussnahme auf das Leben in den Einrichtungen können Differenzen für die
Bewohnerinnen und Bewohner bedeutsam und folgenreich sein. Daher müssen
unterschiedliche Wahrnehmungen und Vorstellungen besonders sorgsam und
kritisch analysiert werden, um bestehende Regelungen in Einrichtungen even-
tuell verändern zu können.
Es ergeben sich folgende Fragen:
·
Gibt es Unterschiede in der Definition von ,,Zufriedenheit" bei Be-
wohnerinnen und Bewohnern, Mitarbeiterinnen, Angehörigen und
gesetzlichen Betreuern? Wo liegen diese Unterschiede?
·
Sind die Bewohnerinnen und Bewohner aufgrund mangelnder Ver-
gleichswerte unkritischer? Schätzen sie sich selbst als zufriedener
ein, als dies durch Mitarbeiterinnen, Angehörige und gesetzliche Be-
treuer der Fall ist?
·
Wann sind die Bewohnerinnen und Bewohner zufrieden?

Kapitel 2. Fragestellungen
7
·
Stimmen deren Vorstellungen mit denen der anderen Gruppen über-
ein?
·
Gibt es Unterschiede in der Wahrnehmung und den Interessen der
Mitarbeiterinnen, Angehörigen und gesetzlichen Betreuer?
·
Wird Selbst- und Mitbestimmung für die Bewohnerinnen und Bewoh-
ner in der Einrichtung zufriedenstellend praktiziert?
·
Fordern Bewohnerinnen und Bewohner mehr Selbstbestimmung für
sich als andere? Oder sind sie unkritischer und eher geneigt, sich mit
einer Situation so wie sie ist abzufinden?
·
Unterscheiden sich die Bereiche, in denen Selbstbestimmung gefor-
dert wird, in der Selbst- und Fremdwahrnehmung?
·
Lässt sich ein Zusammenhang zwischen Zufriedenheit und dem
Grad an verwirklichter Selbstbestimmung nachweisen?
Aus der Analyse der Zufriedenheit der Bewohnerinnen und Bewohner aus un-
terschiedlichen Perspektiven lassen sich wesentliche Aspekte von Lebensquali-
tät und Lebensbedingungen in Wohneinrichtungen ableiten.
Zunächst ist es notwendig, den aktuellen Stand der Forschung zu analysieren,
um meine Hypothesen zu formulieren und das Forschungsdesign zu konkreti-
sieren.

Kapitel 3. Stand der Forschung
8
3. Stand der Forschung
Im vorliegenden Kapitel werden zunächst die für die Untersuchung wichtigsten
Begriffe hergeleitet und erläutert (Kapitel 3.1.). Ein Überblick der für die Frage-
stellung relevanten empirischen Untersuchungen (Kapitel 3.2.) ermöglicht eine
Berücksichtigung der Ergebnisse bisheriger Forschung sowie die Festlegung
des Schwerpunktes der vorliegenden Untersuchung mit Aspekten, die bisher in
der Forschung vernachlässigt bzw. nicht untersucht wurden. Die empirischen
Untersuchungen sind ausgewählt worden aus den Bereichen der allgemeinen
Erhebungen, der Forschung zur Lebensqualität, der Forschung zu Nutzerbefra-
gungen und Initiativen von Nutzern. Auf Forschungsprobleme der Bedürfnisfor-
schung wird in Kapitel 3.3. verwiesen, um entsprechende Konsequenzen in der
Planung zu berücksichtigen. Als ein theoretischer Rahmen dieser Untersuchung
wird in Anlehnung an die bisherige Forschung der systemisch-ökologische An-
satz gewählt und an dieser Stelle kurz erläutert (Kapitel 3.4.). Eine abschlie-
ßende Bewertung und zusammenfassende Darstellung der abgeleiteten Kon-
sequenzen für das eigene Forschungsdesign (Kapitel 3.5.) leitet zu den Hypo-
thesen in Kapitel 4 über.

Kapitel 3.1. Begriffsbestimmungen
9
3.1. Begriffsbestimmungen
Für das Verständnis der vorliegenden Untersuchung ist die Herleitung und Ana-
lyse von fünf grundlegenden Begriffen notwendig. Es handelt sich um die Beg-
riffe: ,,Wohneinrichtungen", ,,Menschen mit geistiger Behinderung", ,,Zufrieden-
heit", ,,Selbstbestimmung" und ,,Nutzer"
3.1.1. Wohneinrichtungen
Wohnraum als Lebensraum bildet den Rahmen der vorliegenden Untersu-
chung.
,,Wie kaum ein anderer Lebensbereich bietet das Wohnen Möglichkeiten der freien
Entscheidung und der selbstbestimmten sozialen, kreativen, zeitlichen Gestaltung und
Nutzung." (Beck 2001b 348)
Daher ist Wohn- und Lebensraum der zentrale Ort zur Ermittlung der Zufrie-
denheit und Selbstbestimmung der Menschen, die in ihm leben. Der hohe Ein-
fluss von Zufriedenheit mit Wohnbedingungen auf die Lebensqualität ist in der
Forschung belegt (Beck 2000a, Beck 2001b). Determinanten der Zufriedenheit
sind quantitative und qualitative Wohnungsmerkmale (z.B. Zimmergröße, Aus-
stattung), die Wohnform, individuelle Faktoren (z.B. Bildungsstatus), infrastruk-
turelle / ökologische Faktoren (z.B. gute Verkehrsanbindung, Nähe zu Geschäf-
ten und Cafés) und identitätsstiftende Faktoren (z.B. Eingebundenheit in soziale
Beziehungen).
Als Nachbarwissenschaft der Erziehungswissenschaften kann die Soziologie für
die Erkundung und Analyse des Begriffes ,,Wohnen" wichtige Erkenntnisse für
die Bedeutung des Wohnens in Wohneinrichtungen für Menschen mit geistiger
Behinderung liefern. Im folgenden wird daher kurz die Bedeutung des Wohn-
raums als Lebenswelt aus soziologischer und pädagogischer Sicht dargestellt.
Es wird dabei eine Reihe von Fragen aufgeworfen, die in der Untersuchungs-
methodik Berücksichtigung finden.
Aspekte des Wohnens
,,Wohnen" stand lange primär im Interesse der Architekten und Kunsthistoriker.
Seit den 70ern ist ein Interesse der Soziologen zu beobachten, die soziale
Wirklichkeit des Wohnens zu erkunden. Norbert Elias hat Wohnweisen als

Kapitel 3.1. Begriffsbestimmungen
10
räumlich organisierte Lebensweisen systematisch analysiert und festgestellt,
dass diese einen höchst anschaulichen Zugang zum Verständnis gesellschaftli-
cher Beziehungen bieten (Elias 1983).
"Soziologischer Gegenstand ist, was an den verschiedenen Ausformungen des Woh-
nens jeweils gesellschaftlich verursacht ist und was sich mit unterschiedlichen gesell-
schaftlichen Formationen verändert, was also historisch wandelbar ist. Nicht nur wie
man sich schützt, sondern erst recht wer und was als schutzbedürftig gilt, ist sozial de-
finiert."
(Häussermann 1996 13).
Zentrale Funktionen des Wohnens, neben der physischen Schutzfunktion, sind
die soziale und psychologische Funktion des Wohnens. Während die physische
Schutzfunktion sich durch verschiedene Epochen identifizieren lässt, unterlie-
gen soziale Interaktion und Kommunikation dem historisch-kulturellen Wandel.
"Wohnweise und Wohnkultur repräsentieren auch die soziale Zugehörigkeit, die Nor-
men einer Gesellschaft und die Verfügung über materielle Ressourcen." (Häussermann
1996 44)
An der Art und Weise wie Wohneinrichtungen gestaltet sind, lässt sich ablesen,
welchen Stellenwert die Gesellschaft den Bewohnerinnen und Bewohnern zu-
weist. Der historische Wandel von Wohnformen für Menschen mit geistiger Be-
hinderung verdeutlicht den Wandel der Einstellung der Gesellschaft gegenüber
dieser Zielgruppe. Eine Frage, die sich direkt an diesen Gedanken anschließt,
ist die nach einem Zusammenhang von politisch realisierten und somit aner-
kannten Angeboten an Wohnformen für Menschen mit geistiger Behinderung
und den politisch geforderten Wohnformen von Vertretern der Behindertenhilfe.
Integrationsbereitschaft muss als Grundvoraussetzung innerhalb einer Gesell-
schaft vorhanden sein, um unterschiedliche Lebensformen sowie Menschen mit
besonderen Fähigkeiten und Grenzen anzuerkennen.
Durch die Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit hat sich die Bedeutung
von Wohnraum verändert. Erwartungen an die Erfüllung bestimmter Bedürfnis-
se haben zugenommen. Zu diesen zählen: Interaktion, Kommunikation, emotio-
nale Bindung, soziale Zugehörigkeit, Privatheit, Intimität, Selbstbestimmung,
Persönlichkeitsentfaltung, Aktivität, Ruhe (Beck 2001b), Selbstverwirklichung,
Geborgenheit, Schutz und individuelle Lebensführung (Brattgard 1986) und die
Begegnung mit Anderen. Als charakteristisch für das 20/21. Jahrhundert wer-

Kapitel 3.1. Begriffsbestimmungen
11
den die Emotionalisierung des Wohnens, die Funktion der Wohnung zur Reprä-
sentation des sozialen Status und eine wachsende Privatisierung von Bedürf-
nisbefriedigung bezeichnet (Häussermann 1996).
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben
hat einen entscheidenden Einfluss auf
Selbstverwirklichung und Zufriedenheit. Teilhabe an unterschiedlichen sozialen,
und informellen Beziehungskreisen gilt als ein Indikator für Lebensqualität
(Beck 2000a). Teilhabe kann durch die Teilnahme an organisierten Veranstal-
tungen außerhalb der Wohneinrichtung (z.B. Kurse an der Volkshochschule),
die Mitgliedschaft in einem Verein, Engagement in der Gemeinde oder durch
Ausflüge und Aktivitäten mit Freunden sein (z.B. Kinobesuch, Einkaufsbummel,
Flohmarkt) erreicht werden. Soziale Integration ist notwendig zur Realisierung
der Ziele der Normalisierungsprinzips, wird diese nicht gefördert oder ermög-
licht, so bleiben Einrichtungen Instrumente gesellschaftlicher Ausgrenzung:
,,Die Forderungen nach Mitbestimmung und Autonomie für die Klienten können zwar
konzeptuell verankert, jedoch nicht eingelöst werden, da sich deren Bedürfnisse im-
mer auch auf etwas in der gesamten sozialen Welt beziehen werden. Eine innerinsti-
tutionelle Lösung der gesellschaftlichen Ausgrenzungspolitik ist aber nicht möglich
und Normalisierung kann nicht innerhalb von Institutionen abgehalten werden."
(Ober-
holzer 1999)
Die
Lage der Wohnung
im sozialräumlichen Gefüge hat daher eine hohe Be-
deutung. Im Rahmen des Normalisierungsprinzips gehören Integration und Nä-
he zu Infrastruktur zu den zentralen Forderungen. Selbstbestimmung und För-
derung von Eigenständigkeit kann optimal nur mit einer guten Infrastruktur er-
reicht werden (z.B. gut erreichbare Einkaufsmöglichkeiten, Cafés, Restaurants,
die Volkshochschule und andere gut erreichbare Angebote für Freizeitaktivitä-
ten).
Mit Blick auf
soziale Beziehungen
entspricht gerade in Wohneinrichtungen das
Zusammenleben in der Gemeinschaft nicht dem einer Familie. Die Entschei-
dung, wer mit wem zusammenwohnt, liegt häufig nicht im Ermessen der Be-
wohnerinnen und Bewohner. Selten werden betroffene Personen beim Aus-
wahlverfahren neuer Mitbewohner beteiligt. Es ist daher um so wichtiger, dass
privater Raum zur Entfaltung von Individualität und Intimität zur Verfügung steht
und Rückzug möglich ist. Das Spannungsverhältnis zwischen Individualität und

Kapitel 3.1. Begriffsbestimmungen
12
verordneter Gemeinsamkeit kann problematisch sein (Metzler 2000). Wohn-
gruppen unterscheiden sich von Privathaushalten durch das intensive Zusam-
menleben mit zunächst fremden Menschen in vorgegebenen und schwer ver-
änderbaren Strukturen. Eine Fülle von Verhaltensregeln wird schon aufgrund
der gemeinschaftlichen Lebensform notwendig. Diese können sich eingrenzend
auf die eigene Individualität auswirken.
Hinzu kommt die zentrale
pädagogische Bedeutung des Wohnens
. Abgelei-
tet aus der Erziehung von Kindern und Jugendlichen innerhalb der Familie hat
sich der pädagogische Zielbereich der ,,Förderung von Kompetenzen der Be-
wohnerinnen und Bewohner" in Bezug auf soziale und lebenspraktische Kom-
petenzen. Der pädagogische Auftrag wird somit im freien Lebensraum des er-
wachsenen Menschen verwirklicht, ohne dass dieser ihn zwangsläufig freiwillig
wählt. Es ist ein weiterer Faktor, der sich einschränkend auf die Gestaltung der
freien Zeit des Individuums auswirken kann. Positiv interpretiert ist es jedoch
genau die Wohngruppe, in welcher die Aneignung von Kompetenzen ohne viel
zusätzliche Konstruktion und alltagsnah stattfinden kann. Eine bewährte Me-
thode ist es, über die ,,Individuelle Hilfeplanung" persönliche Ziele der Bewohne-
rinnen und Bewohner zu erkunden und zu vereinbaren. Viele dieser Ziele las-
sen sich zunächst innerhalb der Wohneinrichtung oder in der eigenen Gruppe
anstreben. Praktisch bedeutet dies beispielsweise den Erwerb sozialer Kompe-
tenzen, die selbständige Erledigung von Hausarbeiten, selbständiges Einkaufen
für den eigenen und / oder den Gruppenbedarf, die selbständige Vereinbarung
und Einhaltung von Terminen und den eigenständigen Umgang mit Geld.
Die
Trennung von Wohnen und Arbeiten
macht den Wohnraum zu einem Ort
des außerberuflichen Lebens:
"Wohnen beinhaltet ein von beruflicher Arbeit gereinigtes Leben der verpflichtungs-
freien Zeit, der Erholung und des Konsums."
(Häussermann 1996 15 und 29).
Kritisch zu fragen ist an dieser Stelle, ob durch die Organisation der Wohnein-
richtungen in Wohngruppen von bis zu acht Personen ein zu großer Bereich an
Verpflichtungen eingeführt wird, der dem Bedürfnis nach Erholung und ver-
pflichtungsfreier Zeit widerspricht. Dies kann eintreten, wenn diese Verpflich-
tungen eine Überforderung darstellen. Als positives Argument ist anzuführen,

Kapitel 3.1. Begriffsbestimmungen
13
dass die Gruppe eine für das Individuum wichtige soziale Einheit darstellt. Für
deren Zusammenhalt ist ein Gemeinschaftsleben und somit auch die Übernah-
me von Pflichten ­ ähnlich dem Zusammenleben von Wohngemeinschaften ­
notwendig.
Privater Wohnraum ermöglicht aus sozialpsychologischer Sicht eine Abgren-
zung gegenüber anderen und psychische Erholung. Privater Raum ist Raum
zur Entfaltung von Intimität und Individualität, da er von fremden Blicken ge-
schützt ist. Innerhalb des privaten Raums kann sich der einzelne durch persön-
liche Andenken, Fotografien und im Laufe des Lebens angesammelte Dinge,
seiner eigenen Geschichte versichern, eine eigene Identität entwickeln und le-
ben. Psychische Erholung hat einen hohen Stellenwert. Um diese realisieren zu
können, müssen Grundvoraussetzungen wie die Möglichkeit einer Binnendiffe-
renzierung des Wohnraums z.B. in Form von Gemeinschaftsräumen und Ni-
schen vorhanden sein. Von hoher Bedeutung ist der Rückzug auf das eigene
Zimmer, da dieses den einzigen wirklichen privaten Raum darstellt. Eine kon-
sequente Respektierung von privatem Raum kann durch das Einhalten von Re-
geln wie z.B. dem Anklopfen, das Vorhandensein von Zimmerschlüsseln und
das zur Verfügung stellen von ausreichend verpflichtungsfreier Zeit realisiert
werden. Kritisch zu betrachten sind gerade unter diesen Aspekten Doppelzim-
mer, die einen individuellen Rückzug erschweren.
Zur Definition und zum Begriff des Wohnheims / der Wohneinrichtungen
Die Begriffe Wohnheim, Wohnstätte und Wohneinrichtungen werden in Literatur
und Praxis synonym verwendet. In der Geschichte der Wohnform findet sich ein
durchgängiger Gebrauch des Begriffes ,,Wohnheim", der in diesem Abschnitt
übernommen wird, anschließend wird konsequent der neuere Begriff ,,Wohnein-
richtung" verwendet, da dieser frei von der Stigmatisierung ,,Heim" ist.
Wohnheime entstanden in der 60-70er Jahren in der BRD. Im Gegensatz zu
Anstalten, Heimen und Pflegeheimen steht bei Wohnheimen konzeptionell das
Wohnen
von Menschen mit Behinderungen im Vordergrund. In den unter-
schiedlichen Formen von Wohnheimen leben zwischen 20-100 Personen. 1975
waren es in der Regel noch 40 Plätze (BMJFFG 1990a), 1990 wurden maximal

Kapitel 3.1. Begriffsbestimmungen
14
25 Plätze als geeignet angesehen und nach einem Erlass des Ministeriums für
Bauen und Wohnen vom 12.07.1999
:
,,...dürfen bei der Errichtung von Heimen künftig nicht mehr als 24 Plätze an einem
Standort vorhanden sein."
(Seifert et al. 2001 355).
Aktuelle Empfehlungen liegen bei 20 Plätzen, um die soziale Integration in
das Umfeld nicht zu gefährden (Seifert et al. 2001).
Die interne Struktur eines Wohnheims ist in der Regel entweder in Wohngrup-
pen organisiert oder als loser Verbund des Zusammenlebens. Die Mehrzahl
bilden Wohngruppen mit 8-11 Personen (Metzler 2000). Als Argumente für die
Struktur in Wohngruppen werden im wesentlichen die Vermittlung von Aner-
kennung und sozialer Geborgenheit, eine gute Organisation der Selbstversor-
gung und gute Möglichkeiten für Lernerfahrungen genannt. Als Argumente ge-
gen Gruppenstrukturen gelten begrenzte Rückzugsmöglichkeiten, einge-
schränkte Lebensgestaltung durch Gruppenzwänge und Regeln. Hinzu kommt,
dass erwachsene Singles in der Regel nicht in familienähnlichen Gruppen, son-
dern alleine leben (BMJFFG 1990a). Ergebnisse einer anderen Untersuchung
belegen, dass das Wohnheim meistens keine freiwillige Alternative zu anderen
Wohnmöglichkeiten darstellt und mindestens drei gravierende Nachteile mit
dem Leben im Wohnheim verbunden sind: der Verzicht auf individuelle Wün-
sche, viele unerwünschte Kontakte und zahlreiche Reglementierungen des All-
tags (Metzler & Wacker 1998b). Besonders kritisch formuliert Schwarte den
maximalen Nachteil von stark isoliert gelegenen Wohneinrichtungen:
,,Dass die auf gesellschaftliche Integration zielende Rehabilitation Behinderter über-
wiegend in Einrichtungen betrieben wird, die strukturell auf Absonderung hin angelegt
sind, bezeichnet den paradoxen Ausgangspunkt innovativer Bemühungen." (Schwarte
1982 71)
Kaspar entwickelt diesen Gedanken weiter und formuliert positiv Anforderungen
an Großeinrichtungen, welche sie erfüllen müssen, um den Ansprüchen als Le-
bensraum und als Ausgangsort für Integration und Normalisierung gerecht zu
werden:
,,`Großeinrichtungen` können auch heute nur dann Lebens- und Begegnungsräume
bieten, wenn der einzelne Mensch mit einer geistigen Behinderung, so wie er ist, bei
allen Bemühungen um seine Veränderung und Entfaltung, als solcher im Mittelpunkt

Kapitel 3.1. Begriffsbestimmungen
15
steht und respektiert wird, also Ausgangs- und Zielpunkt aller Konzepte und Organisa-
tionen bleibt und ihm in einem strukturierten - besonderen Gemeinwesen Raum zum
Leben und zur Begegnung mit anderen geboten wird."
(Kaspar 2000 240)
Die Erfüllung der Bedürfnisse nach Sicherheit, Schutz und Geborgenheit sowie
die Realisierung von Entfaltungsmöglichkeiten zur individuellen Entwicklung
sind Grundvoraussetzungen für das Leben in Wohneinrichtungen.
Ein Gutachten mit konkreten Empfehlungen für die Landesregierung NRW von
1992 empfiehlt sogar Kleinstwohneinheiten von maximal sechs Personen bei
einer Gesamtgröße von zwei Wohngruppen (MASSKS 1999). Zwei der sehr
weit gehenden Empfehlungen lauten:
- Unbeschadet der konsequenten Vorhaltung stationärer und teilstationärer Wohnange-
bote, soll die Priorität in den nächsten Jahren auf der Förderung des individuellen Woh-
nens liegen, da hier gravierende Defizite in der Versorgung festgestellt wurden.
- Ein differenziertes Wohnangebot soll durch entsprechende rechtliche und finanzielle
Rahmenbedingungen abgesichert werden:
,,Die Wohnungspolitik sollte stärker als bisher auf die Bedarfe behinderter Men-
schen und anderer bisher vernachlässigter Bevölkerungsgruppen ausgerichtet
sein."
(MASSKS 1999 25)
In den 90ern hat sich insgesamt ein differenzierteres, aber dennoch unzurei-
chendes Wohnangebot entwickelt. Die Forderung nach einem inneren Ausbau
und einer Verbesserung der Wohnatmosphäre bleibt bestehen, da Selbstver-
wirklichung, Vertrauen und Geborgenheit zentrale Bedürfnisse des Menschen
im Bereich des Wohnens und Lebens darstellen (Böing 2000).
Mangelnde Wohnangebote schränken den Entscheidungsspielraum bei der
Wahl alternativer Wohnformen erheblich ein. Wohneinrichtungen stellen derzeit
ein nicht unwesentliches Angebot der Eingliederungshilfe dar. Als Folge einer
konsequenten Umsetzung des Normalisierungsgedankens (z.B. Deinstitutiona-
lisierung, Abbau von Großeinrichtungen und Komplexeinrichtungen zugunsten
kleinerer Einheiten, dezentraler Wohnangebote und anderer betreuter Wohn-
formen) ist eine andere Realität wünschenswert, aber derzeit noch nicht umge-
setzt. Die Betrachtung der Wohnform ,,Wohneinrichtungen für Menschen mit
geistiger Behinderung" ist von hoher Bedeutung, da deren Bewohnerinnen und
Bewohner in höherem Maße von anderen abhängig sind, als Menschen in an-

Kapitel 3.1. Begriffsbestimmungen
16
deren Wohnformen, wie z.B. in dezentralen Wohngruppen oder dem Betreuten
Einzelwohnen. Sie gehören innerhalb der Landschaft des Wohnens zu einer der
politisch und ökonomisch schwächsten Gruppen.
Häussermann benennt beispielhaft das "Wohnen der Arbeiter", als einer poli-
tisch und ökonomisch schwachen Gruppe, und verweist darauf, dass es fast nur
Material und Informationen von anderen (z.B. normative Vorstellungen von Bür-
gern und der professionellen Avantgarde von Wohnungsreformern und Archi-
tekten) gibt, wie Arbeiter wohnen sollten und nirgendwo so wenig Material dar-
über, wie sie wirklich wohnen wollen:
"Weder wurden sie gefragt, noch ließen ihre materiellen Verhältnisse Variationsmög-
lichkeiten des Wohnverhaltens zu, in denen sie ihre Vorstellungen hätten zum Aus-
druck bringen können."
(Häussermann 1996 43)
An diesem Beispiel lassen sich Parallelen zum Wohnen von Menschen mit
geistiger Behinderung ziehen, denn auch diese Zielgruppe, wie auch ihre An-
gehörigen, haben wenig Einfluss auf die Wahl einer Wohnmöglichkeit jenseits
der Wohneinrichtungen, da häufig keine Kenntnis alternativer Wohnformen vor-
handen ist oder keine Möglichkeit zum Umzug besteht.
Sozialstaatliche Bestimmungen sollten sich an den Bedürfnissen der Menschen
orientieren, insbesondere denen Geltung verschaffen, die sich nicht aus eigener
Kraft über eine kaufkräftige Nachfrage auf dem Markt durchsetzen können. Im
politischen Entscheidungssystem setzen sich in der Regel die artikulationsfähi-
gen, organisierten und konfliktbereiten Gruppen durch. Politisch schwache
Gruppen haben kaum Möglichkeiten, ihre Interessen und Bedürfnisse zu artiku-
lieren:
"Die Selektivität von Markt und politischen Entscheidungssystemen geht beide Male
zu Lasten der ökonomisch und politisch schwachen Gruppen."
(Häussermann 1996
215)
Diese Erkenntnis führt direkt zu einer kompromisslosen Forderung nach Förde-
rung und Stärkung von Selbstbestimmung und Mitbestimmung der Betroffenen.
Ihr Beteiligung sollte verpflichtend sein, gerade bei Fragen der Strukturverände-
rung und zukünftiger Entwicklungen. Auf diese Weise wird zum einen

Kapitel 3.1. Begriffsbestimmungen
17
,,...die Entwicklung persönlicher und sozialer Kompetenzen der Betroffenen unter-
stützt..."
(BMJFFG 1990b 189)
und zum anderen werden innovative Anregungen und Verbesserungsvorschlä-
ge für Lebensbereiche behinderter wie nicht behinderter Menschen gegeben.
Fasst man den bisherigen Stand der Forschung zusammen, kommt der Ent-
wicklung von Instrumenten, die in der Lage sind, Interessen und Bedürfnisse
der Bewohnerinnen und Bewohner von Wohneinrichtungen zu erheben eine
immense Bedeutung zu. Dies kann z.B. realisiert werden, indem Bewohnerin-
nen und Bewohner stärker in Planungs- und Gestaltungsprozesse innerhalb der
Einrichtungen einbezogen werden und wissenschaftliche Forschung dazu ge-
nutzt wird, deren Interessen an die Öffentlichkeit und die politischen Vertreter
zu vermitteln. Um die Nutzerperspektive zu ermitteln, müssen entsprechende
Methoden zur Verfügung gestellt werden. Das derzeitige Angebot ist unzurei-
chend.
Ausgehend von einem Ungleichgewicht an Macht und Einfluss bezüglich Ent-
scheidungen innerhalb der Wohneinrichtung, also des Lebensraumes und der
Lebenswelt der Bewohnerinnen und Bewohner, gilt es herauszufinden, inwie-
fern sich die Sichtweisen und Wahrnehmungen der Bewohnerinnen und Be-
wohner von denen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterscheiden.
Bei einem Vorliegen wesentlicher Unterschiede in der Definition von Zufrieden-
heit und Selbstbestimmung wird die Ermittlung der Anforderungen und Wün-
sche der Nutzer immer wichtiger. Diese müssen ermittelt und bekannt sein, um
sie entsprechend in Planungsprozesse einbeziehen zu können. Am Geschehen
in den Einrichtungen beteiligte, d.h. gestaltende und Einfluss nehmende Grup-
pen sind im engeren Sinne: Bewohnerinnen und Bewohner, Mitarbeiterinnen,
Angehörige und gesetzliche Betreuer.
Außer Acht gelassen werden im Rahmen dieser Untersuchung strukturelle, poli-
tische und rechtliche Rahmenbedingungen, da diese weitgehend bekannt sind
und leicht auf andere Weise erhoben werden können.

Kapitel 3.1. Begriffsbestimmungen
18
3.1.2. Menschen mit geistiger Behinderung
Ausgehend von einer humanistischen Sichtweise besitzt jeder Mensch einzigar-
tige Fähigkeiten. Diese zu entdecken und zu fördern, die Selbständigkeit und
Selbstbestimmung des Einzelnen zu achten und zu erweitern, in gegenseitiger
Anerkennung, ist das der Arbeit zugrundeliegende Verständnis und gilt für alle
beteiligten Zielgruppen ausnahmslos.
Im Folgenden sollen kurz die wichtigsten Aspekte der Diskussion um den Beg-
riff der ,,geistigen Behinderung" bzw. der Bezeichnung ,,Menschen mit geistiger
Behinderung" zusammengefasst werden, um das der Arbeit zugrundeliegende
anthropologische Verständnis zu verdeutlichen.
Die erste und wichtigste Stellungnahme findet sich im ,,Wörterbuch für leichte
Sprache":
,,Ich will nicht geistig behindert genannt werden! Wir sind Menschen mit Lernschwie-
rigkeiten. Eigentlich kann man sagen wir sind Menschen mit unterschiedlichen Fähig-
keiten. Ganz einfach, egal was wir darstellen."
(Wir vertreten uns selbst 2001 5)
Diese eindeutige Ablehnung der Bezeichnung ,,geistig behindert" wird von eini-
gen Wissenschaftlern in dem Sinne realisiert, als das
von ,,Menschen, die wir
als geistig behindert bezeichnen"
gesprochen wird. Meines Erachtens bleibt es
beim Gebrauch dieser Bezeichnung jedoch bei einer Stigmatisierung, da konti-
nuierlich auf die ,,geistige Behinderung", wenn auch aus einer Außenperspekti-
ve und provokativ, verwiesen wird. Dreher greift die Grundidee deutlicher in
seiner folgenden These auf:
,,,Geschädigtsein` und ,Behindertsein` sind Konstrukte von außen und treffen (zumin-
dest) nicht die (Erlebens-) Wirklichkeit des Anderen."
(Dreher 2000 9/10)
Es ist zu bedenken, dass ein Konstrukt, formuliert von einem Außenstehenden,
die Wirklichkeit eines Anderen treffen oder in Annäherung beschreiben kann.
Eine äußerliche Beschreibung, zudem eine theoretische kann in der Regel nicht
die Wirklichkeit eines Individuums zufriedenstellend beschreiben und in keinem
Fall das Erleben als innere Erfahrung wiedergeben. Diese These hat daher
weitgehende Gültigkeit. Es wird an diesem Beispiel deutlich, dass Kategorien
wie die der ,,geistigen Behinderung" konstruiert sind, um Menschen aus den
unterschiedlichsten Gründen in Gruppen klassifizieren zu können. Über den

Kapitel 3.1. Begriffsbestimmungen
19
Menschen selbst wird keine Aussage getroffen und wie Dreher resümiert, auch
dessen Erleben nicht erfasst. Auch Fornefeld greift die Diskussion um den Beg-
riff der ,,geistigen Behinderung" in seiner Unzulänglichkeit auf:
,,Nennen wir einen Menschen in seinem Geist behindert, werten wir ihn damit zwangs-
läufig in seinem Menschsein ab."
(Fornefeld 2002 50)
und verweist darauf, dass es bisher nicht gelungen ist, eine treffendere Be-
zeichnung für den gemeinten Personenkreis zu finden. Thesen von Beck ver-
weisen darauf, dass Behinderung sich nicht auf den einzelnen Menschen be-
ziehen sollte, sondern vielmehr eine Beziehung zwischen Menschen beschreibt.
Sie definiert:
,,Behinderung als Verhinderung von Handlungs- und Kommunikationsprozessen"
so-
wie als
,,Erschwerung der selbständigen Lebensführung"
, welche zusätzlich gekenn-
zeichnet ist durch eine
,,besonders hohe materielle und soziale Abhängigkeit von an-
deren Menschen"
(Beck 2000a 11).
Diese Definitionen ermöglichen eine Abkehr von stigmatisierenden Begriffen
und fördern ein Umdenken. Der weitergehende Vorschlag der betroffenen Per-
sonen selbst, fordert eine vollständige Ersetzung des Begriffes der ,,geistigen
Behinderung" durch ,,Menschen mit Lernschwierigkeiten" oder ,,Menschen mit
unterschiedlichen Fähigkeiten". Eine weitere mögliche Definition lautet: ,,Men-
schen mit besonderen Grenzen und Fähigkeiten", deren Potentiale erkannt und
ausgeschöpft werden müssen. Diesen Wandel zu vollziehen, bedeutet den
endgültigen Abschied von der Defizitorientierung und fördert ein Leben in Be-
gegnung und Gemeinschaft mit einer allumfassenden Anerkennung des
Menschseins in allen seinen Formen (Dreher 2000).
Akzeptanz wird erreicht
durch Erkenntnis und Begegnung.
Begegnung ist gerade für Menschen mit besonderen Fähigkeiten und Grenzen
unverzichtbar, legt man die konstruktivistische Idee nach Maturana und Varela
zugrunde, welche ,,
Kommunikation als biologische Existenz des Men-
schen"
bezeichnet (Maturana & Varela 1987). Die Entwicklung eines Selbst-
bewusstseins kann demnach erst durch Interaktion und Teilhabe realisiert wer-
den. Der Mensch ist immer auch angewiesen auf ein Interesse des Anderen.
Dies setzt allerdings einen gewissen Grad an Integrationsbereitschaft der Ge-
sellschaft und Akzeptanz des Andersseins voraus (Speck 1999).

Kapitel 3.1. Begriffsbestimmungen
20
Die Vermeidung der Bezeichnung von ,,Menschen mit geistiger Behinderung"
wird in der vorliegenden Arbeit umgesetzt. Während der Untersuchung wird die
Zielgruppe als ,,Bewohnerinnen und Bewohner" bezeichnet. Dies folgt der Logik
des zu untersuchenden Feldes: Das Interesse der empirischen Untersuchung
ist es, die subjektive Meinung der Bewohnerinnen und Bewohner von Wohnein-
richtungen zu ermitteln, unabhängig von der Art oder dem Grad ihrer Behinde-
rung. Auf die Verwendung der Klassifizierung ,,geistig behindert" kann also wei-
testgehend verzichtet werden.
Eine zu berücksichtigende Tatsache, die schon im Zusammenhang der Definiti-
on des Wohnens deutlich wurde (in der Diskussion um politisch und ökono-
misch schwache Gruppen), ist das Mehr an sozialer Abhängigkeit von Bewoh-
nerinnen und Bewohnern in Wohneinrichtungen, welches sich in einer Ein-
schränkung ihrer persönlichen Freiheit niederschlägt (Hahn 1981). Daher muss
diese Zielgruppe dahingehend unterstützt und gefördert werden, selbst das
Wort zu ergreifen, gehört zu werden und Möglichkeiten der Beeinflussung zu
erhalten.

Kapitel 3.1. Begriffsbestimmungen
21
3.1.3. Zufriedenheit
Zufriedenheit wird in der aktuellen Forschung in direkten Zusammenhang mit
,,Lebensqualität" gesetzt: Modelle der Lebensqualität sind Grundlage verschie-
dener Forschungen zur Zufriedenheit. Es gibt keine allgemeingültige Definition
von ,,Lebensqualität":
,,Gleichwohl kann Lebensqualität weder abschließend noch eindeutig definiert werden.
Vielmehr ist es als komplexes und mehrdimensionales, offenes und relatives Arbeits-
konzept zu betrachten, das der theoretischen und empirischen, der normativen und
lebensweltlichen Begründung bedarf." (Beck 2001a 339).
Als mehrdimensionales Konzept beinhaltet Lebensqualität mindestens die Un-
terscheidung zwischen objektiven Merkmalen und subjektiven Bedeutungen. Zu
den objektiven Bedeutungen zählen alle beobachtbaren Lebensverhältnisse,
die von Außenstehenden nach wissenschaftlichen oder moralischen Standards
bewertet werden können (Zapf 1984). Subjektive Bedeutungen erhalten be-
stimmte Lebensverhältnisse durch dass Individuum. Sie entstehen aufgrund
individueller Urteile von Personen über die eigene Situation (BMFSFJ 2002). So
kann einer von außen als ähnlich bewerteten Situation von unterschiedlichen
Individuen eine grundlegend andere Bedeutung zugewiesen werden.
Die gegenwärtige Wissenschaft wendet
integrierte Ansätze
an, da sich in der
empirischen Forschung die Unterscheidung und Gegenüberstellung objektiver
Lebensbedingungen und subjektiven Wohlbefindens bewährt hat (Glatzer &
Zapf 1984). Durch eine Kombination beider Aspekte in einfach dichotomisierter
Weise (gut / schlecht) ergeben sich vier Typen der Lebensqualität, wie sie in
der folgenden Vier-Felder-Tafel dargestellt sind:
Abbildung 1:
Vier Typen der Lebensqualität, bzw. Wohlfahrtspositionen (nach Zapf 1984)
Subjektives Wohlbefinden
Objektive
Lebensbedingungen
+ -
+ Well-being
Dissonanz
- Adaption
Deprivation
Folgende vier Kombinationen sind demnach denkbar: (1) Ein Maximum an Le-
bensqualität ist erreicht, wenn gute objektive Lebensbedingungen vorhanden
sind, die das Individuum auch als positiv erlebt. Man spricht von ,,well-being".

Kapitel 3.1. Begriffsbestimmungen
22
Eine Bevölkerungsgruppe, auf die dies zutrifft, ist z.B. die obere Mittelschicht.
(2) Ein Minimum an Lebensqualität liegt vor, wenn objektiv schlechte Lebens-
bedingungen vorherrschen und diese vom Individuum negativ erlebt werden.
Man spricht von ,,Deprivation". Unter diesen Typ fallen alle Gruppen der klassi-
schen Armenfürsorge, teilweise auch soziale Randgruppen. Hinzu kommen
zwei Mischtypen: (3) Beim Vorherrschen objektiv guter Lebensbedingungen
und einer negativen Einschätzung des subjektiven Wohlbefindens spricht man
von ,,Dissonanz". Diesem Typ wird Potential für Wandel und Protest zugeord-
net. (4) Im umgekehrten Fall von schlechten objektiven Bedingungen und einem
positiven subjektiven Empfinden spricht man von ,,Adaption". Dieser Typ lässt
auf eine Realität von Ohnmacht, Anpassung und gesellschaftlichem Rückzug
schließen.
Mit diesem Modell können bekannte, allgemein beobachtbare und messbare
objektive Lebensbedingungen zugrunde gelegt werden und das subjektive
Wohlbefinden einer Gruppe ermittelt werden. In der Kombination objektiver und
subjektiver Aspekte lässt sich ein bestimmter Typ von Lebensqualität zuordnen.
Nach bisherigen Nachforschungen ergeben sich vorwiegend schlechte objekti-
ve Bedingungen in Wohneinrichtungen ­ gemessen an Einzelhaushalten der
Mittelschicht - auch wenn in den letzten Jahren eine Verbesserung deutlich er-
kennbar ist. Mit den Ergebnissen der Befragungen zur Zufriedenheit der Be-
wohnerinnen und Bewohner ließe sich entsprechend auf zwei Typen schließen:
dem der ,,Deprivation" oder der ,,Adaption".
Die aktuelle Forschung innerhalb der Geistigbehindertenpädagogik schließt sich
den integrierten Ansätzen an:
,,Lebensqualität ist abhängig vom Grad der Berücksichtigung der individuellen Bedürf-
nisse durch die ökologische Umwelt. Die personellen, materiellen und konzeptionellen
Rahmenbedingungen einer Wohneinrichtung müssen den Bedürfnissen des Indivi-
duums entsprechen."
(Seifert 1999 217)
Man kann also mindestens drei Aspekte unterscheiden: (1) die individuellen
Bedürfnisse (subjektive Wahrnehmung der Lebensqualität), (2) deren Berück-
sichtigung durch die ökologische Umwelt und (3) objektive Lebensbedingungen
(Rahmenbedingungen). Zu den bisher besprochenen Komponenten von ,,Le-

Kapitel 3.1. Begriffsbestimmungen
23
bensqualität" wird hier ein neuer Aspekt ergänzt: Individuelle Bedürfnisse müs-
sen von anderen berücksichtigt werden. Dies setzt zum einen voraus, dass in-
dividuelle Bedürfnisse bekannt sind und zum anderen eine Bereitschaft, diese
anzuerkennen.
Das Konzept der Lebensqualität beinhaltet als einen Aspekt der objektiven Le-
bensbedingungen das Ausmaß an Ressourcen, die einer Person zur Verfügung
stehen. Dies können personenbezogene Ressourcen sein oder Ressourcen,
die von der Umwelt und Infrastruktur zur Verfügung gestellt werden (Glatzer &
Zapf 1984). Die objektiven Rahmenbedingungen stehen nicht im Mittelpunkt
dieser Untersuchung, da sie unabhängig vom Individuum erhoben werden kön-
nen. Daher werden die Ebenen der Leistungsanbieter, Kostenträger, Sozialpoli-
tik, Sozialrecht und gesellschaftliche Aspekte nicht berücksichtigt. Schwerpunkt
der Befragung ist das Mikrosystem Wohneinrichtung sowie die individuellen
bzw. interaktionalen Ebenen in dem System. Diese sind in der Regel nicht von
außen beobachtbar, sondern müssen im Dialog mit den Betroffenen ermittelt
werden.
Insbesondere die Erhebung der subjektiven Bedeutung der Zufriedenheit ist an
die Person des Betroffenen gebunden und kann nicht durch Beobachtungen
ergründet oder aus Konzeptionen abgeleitet werden. Die bedürfnistheoretische
Betrachtung versteht unter Lebensqualität das Ausmaß der Befriedigung indivi-
dueller Bedürfnisse oder die Erreichung persönlicher Ziele. Grundlage dieser
Theorie ist Maslows Hierarchie der Bedürfnisse (Maslow 1954, 2002). Die meis-
ten Motivationstheorien bauen darauf auf:
Abbildung 2:
Hierarchie der Bedürfnisse (Maslow 1954, 2002)
Selbstverwirklichung
Bedürfnis nach Achtung
Bedürfnis nach Liebe und
Zugehörigkeit
Bedürfnis nach Sicherheit
Physiologische Bedürfnisse

Kapitel 3.1. Begriffsbestimmungen
24
Maslows Motivationstheorie unterscheidet fünf unterschiedliche Arten von Be-
dürfnissen, welche in einer Hierarchie geordnet sind: Ausgehend von der Be-
friedigung physiologischer Bedürfnisse tauchen die höheren Bedürfnisse bis hin
zur Selbstverwirklichung auf. Es lassen sich zwei unterschiedliche Klassen von
Bedürfnissen differenzieren: Grundbedürfnisse und Wachstumsbedürfnisse
(Gröschke 1999).
Maslow betont, dass die Befriedigung biologischer Grundbedürfnisse wie Hun-
ger und Durst nur in Einheit mit den psychischen Bedürfnissen wie Zuneigung,
Wertschätzung und Achtung zur Selbstverwirklichung der Person beitragen
kann. Übertragen auf Heilpädagogik bedeutet dies, dass eine personenzentrier-
te Werthaltung der Mitarbeiterinnen entwicklungsbestimmenden Einfluss hat
(Gröschke 1999). Verallgemeinernd kann festgehalten werden, dass jedes Indi-
viduum in seiner Entwicklung dem Aufbau der Bedürfnispyramide folgt. Subjek-
tive Bedürfnisse und die Wahrnehmung ihrer Befriedigung können jedoch recht
unterschiedlich ausfallen. Wo genau diese Unterschiede liegen, kann anhand
der Untersuchung der Variablen Zufriedenheit und Selbstbestimmung festge-
stellt werden.
Die Verbesserung der Lebenswirklichkeit ist ein Ziel, welches ausgehend vom
individuellen und höchst subjektiven Empfinden, Wahrnehmen und Interpretie-
ren einer konkreten Lebenssituation angestrebt werden und unterschiedliche
Ausprägungen annehmen kann:
,,Vergessen wir nicht, dass Zustände des Wohlbefindens aufgrund subjektiver Inter-
pretationsleistungen der erfahrbaren Welt des Individuums zustande kommen und
dass dieses anthropologische Phänomen durch Behinderung nicht beseitigt wird.
Wohl aber wird die Realisierung des menschlichen Autonomiepotentials, das zum
Wohlbefinden führt, erschwert, wenn wir nicht lernen, selbstverständlich Selbstbe-
stimmung ­ trotz eines ,Mehrs' an sozialer Abhängigkeit ­ über Assistenz in der Be-
gegnung zu realisieren."
(Hahn 2000 20).
Dies fordert die Anwendung einer Methode, welche die Bewohnerinnen und
Bewohner in der Artikulation von Bedürfnissen unterstützt und sie ermutigt,
selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen, um so eigenständig zur Verbesse-
rung ihrer Lebenswirklichkeit beitragen zu können.

Kapitel 3.1. Begriffsbestimmungen
25
Lebensqualität stellt sich aus der Perspektive des Individuums anders dar, als
aus der Perspektive von Außenstehenden. Lebensqualität sollte nicht durch
Außenstehende definiert werden (Diener 2000), da Fremd- und Selbstperspek-
tive sich nicht selten bei der Beurteilung scheinbar objektiver Situationen unter-
scheiden. Dies wurde nachgewiesen im Rahmen einer Expertise zur Altersfor-
schung (Filipp & Mayer 2002). Für Menschen mit geistiger Behinderung liegen
keine entsprechenden Daten vor. Ob dies für Menschen mit geistiger Behinde-
rung und andere ihnen nahestehende Personen ebenfalls Gültigkeit hat, soll im
Rahmen der vorliegenden Arbeit untersucht werden.
Es gibt nahezu unbegrenzte Möglichkeiten, das Konzept des ,,subjektiven
Wohlbefindens" zu operationalisieren. In den Sozialwissenschaft werden dazu
vorrangig die Begriffe ,,Zufriedenheit" und ,,Glück" verwendet (Glatzer 1984a).
Generell werden positive und negative Konzepte unterschieden. Zu den ersten
gehört die Abfrage positiver Aspekte, wie Lebenszufriedenheit, Glück und Ge-
sundheit, zu den negativen Konzepten gehört die Abfrage negativer Aspekte
des subjektiven Befindens wie Sorgen, Schwierigkeiten, Besorgnis, Unglück
und Ängstlichkeit. Zufriedenheit sollte nicht nur gleichgesetzt werden mit der
Abwesenheit negativer Erfahrungen und Empfindungen. Eine Abfrage sowohl
positiver als auch negativer Aspekte ist sinnvoll, insbesondere bei der Befra-
gung von Personen, denen es schwerfällt, konkret Zufriedenheit oder Unzufrie-
denheit zu formulieren.
Für die Erfassung des subjektiven Wohlbefindens wird die Erhebung verschie-
dener Indikatoren empfohlen, um ein umfassendes Bild zu erhalten (Mayring
1991). Wenn Lebenszufriedenheit eines Individuums als zusammenfassende
Bewertung aller individuellen Lebensumstände interpretiert wird, dann sind ent-
sprechend bei verschiedenen Personen unterschiedliche Faktoren ausschlag-
gebend sein (Glatzer 1984b). Daher ist es für die vorliegende Arbeit zum einen
bedeutsam, Meinungen verschiedener Personengruppen in Wohneinrichtungen
für Menschen mit geistiger Behinderung zu erheben und zum anderen, Indikato-
ren zur Zufriedenheit zu definieren. Zur Operationalisierung des Begriffs der
,,Zufriedenheit" werden für die Untersuchung die fünf Kategorien des Wohlbe-
findens zugrunde gelegt, wie sie von Felce und Perry (Felce & Perry 1996,

Kapitel 3.1. Begriffsbestimmungen
26
1997) erstellt und von Seifert et al. erfolgreich für Menschen mit schweren Be-
hinderungen angewendet wurden (Seifert et al. 2001). Sie werden für Men-
schen mit geistiger Behinderung unter Berücksichtigung aktueller Forschungs-
ergebnisse modifiziert. Die fünf Kategorien sind: physisches, soziales, materiel-
les, aktivitätsbezogenes und emotionales Wohlbefinden. Zwischen den einzel-
nen Kategorien gibt es Überschneidungen und Wechselbeziehungen. Im fol-
genden werden die fünf Bereiche exemplarisch vorgestellt, die für den Bereich
der Geistigbehindertenpädagogik relevant sind.
Das
,,Physische Wohlbefinden"
umfasst die subjektive Wahrnehmung körper-
licher Zustände. Es kann durch folgende Komponenten erfasst werden: Ruhe,
Ungestörtheit, Muße, Bewegungsaktivitäten. Es wird davon ausgegangen, dass
soziale Kontakte zu Freunden und Bekannten sich positiv auf das physische
Wohlbefinden auswirken. Das
,,Soziale Wohlbefinden"
basiert auf sozialer
Unterstützung und sozialen Beziehungen. So ist z.B. das Gefühl sozialer Zuge-
hörigkeit ein wirksames Mittel bei Stressbewältigung. Weitere Komponenten
sind die Entwicklung eines Selbstwertgefühls, Identitätsbildung, zuverlässige
Beziehungen und das Gefühl, von anderen gebraucht zu werden. Im Mittelpunkt
stehen persönliche Beziehungen zu Mitarbeiterinnen, Mitbewohnerinnen,
Freunden und Verwandten, die soziale Integration in der Gruppe und Wert-
schätzung. Zum
,,Materiellen Wohlbefinden"
zählen finanzielle Mittel, die
Ausstattung der Zimmer, Eigentum und die Infrastruktur. Auch die Einrichtung
oder die Ausstattung der Gruppen sind Aspekte, die hier berücksichtigt werden
können.
,,Aktivitätsbezogenes Wohlbefinden"
umfasst die Tagesstruktur,
Freizeitaktivitäten und Aufgaben, die jemand übernimmt. Bewegungsaktivitäten
aus dem Bereich des physischen Wohlbefindens sind meines Erachtens hier
nicht deutlich abzugrenzen, da sie Teil von Freizeitverhalten sind und eher in
diese Kategorie passen. Dies verdeutlicht, dass teilweise fließende Grenzen
zwischen den Bereichen bestehen und diese nicht völlig unabhängig von ein-
ander zu betrachten sind. Das
,,Emotionale Wohlbefinden"
ist die zentrale
psycho-soziale Kategorie. Emotionale Grundbedürfnisse nach Zuwendung, Zu-
gehörigkeit, Geborgenheit, Trost und Zuspruch sind Komponenten. Negative
Aspekte wie Sorgen, Angst und Alleinsein können meines Erachtens ebenfalls
in dieser Kategorie abgefragt werden.

Kapitel 3.1. Begriffsbestimmungen
27
3.1.4. Selbstbestimmung
,,Selbstbestimmung ist, wenn Menschen selbst entscheiden was sie machen; Mitbe-
stimmung ist, wenn man das Recht hat, etwas mitzuentscheiden, man darf Vorschlä-
ge machen und mit abstimmen; Mitwirkung ist, wenn man das Recht hat die eigene
Meinung zu sagen, man darf Vorschläge machen, aber nicht mit abstimmen; Bevor-
mundung ist, wenn andere Menschen bestimmen, was man darf und was man nicht
darf, man wird nicht gefragt, ob man das will."
(Wir vertreten uns selbst! 2001)
Selbstbestimmung ist ein handlungsleitendes Paradigma der Geistigbehinder-
tenpädagogik seit Beginn der 90er Jahre (Seifert 1997). Diese Entwicklung hat
ihren Ursprung in der ,,Independent Living"-Bewegung, die in den 60ern in den
USA begann (z.B. Miles-Paul 1992). Auslöser waren entmündigende Lebens-
bedingungen körperbehinderter Menschen in Großanstalten und die damit ver-
bundene Sichtweise des Menschen als Objekt von Fürsorge. Zentrale Forde-
rung war und ist es, Unabhängigkeit und Freiheit für jeden Menschen zu ermög-
lichen. Eine konkrete Aufgabe, die sich daraus für die Geistigbehindertenpäda-
gogik ableitet, ist die Entwicklung von Kompetenzen, die selbstbestimmtes
Handeln ermöglichen und Unterstützung bei der Artikulation und der Realisie-
rung eigener Wünsche geben (Seifert 1997).
Selbstbestimmung aus Sicht des einzelnen Individuums bedeutet, Verantwor-
tung für sich selbst zu übernehmen. Bestandteil von Selbstbestimmung ist es,
eine eigene Wahl zu treffen und den eigenen Willen deutlich zu äußern (Appel
& Kleine Schaars 2002). Unterschiedliche Machtverteilung und Abhängigkeits-
verhältnisse schränken die Selbstbestimmungsmöglichkeiten des Einzelnen ein.
MACHT - im klassischen Sinne als persönliche Stärke definiert - und deren
Missbrauch führen zu Fremdbestimmung, Bevormundung, Überbehütung, An-
passung und Abhängigkeit auf Seiten derer, die durch Macht beeinflussbar
sind. Man kann dies als einen Zustand der OHNMACHT bezeichnen, als ein
Unvermögen, über die eigenen Möglichkeiten zu verfügen. Eine neuere Defini-
tion von MACHT versteht diese als die Stärke, Macht nicht zu missbrauchen,
andere nicht zu bevormunden und Abhängigkeit nicht zu verstärken (Haaren
1989, Appel & Kleine Schaars 2002). Dieses Machtverständnis richtet sich an
Mitarbeiterinnen von Wohneinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinde-
rung, aber auch an alle anderen Personen, die in Lebenszusammenhängen von

Kapitel 3.1. Begriffsbestimmungen
28
Menschen stehen, die von Machtmissbrauch besonders gefährdet sind. Es ist
wichtig zu reflektieren, was bestimmendes Verhalten und gut gemeintes Über-
nehmen von Entscheidungen auslösen kann.
Speck fordert im Rahmen des ,,Wandels des Systems Heilpädagogik" eine kriti-
sche Betrachtung des Verhältnisses von Fachleuten und den Menschen mit
einer Behinderung und damit einhergehend die Forderung nach Selbstbestim-
mung von Lebensformen und Wohnorten, um nicht länger
,,einer einseitigen externen Definitionsmacht und Abhängigkeit von Organisationen
ausgeliefert zu sein."
(Speck 2003 39).
Aus dieser Forderung leitet sich der Anspruch an die Fachleute in den Einrich-
tungen ab, den Betroffenen verstärkt Einflussmöglichkeiten zu geben.
Die Förderung von Mitsprache und Mitbestimmung unterstützt die Selbstbe-
stimmung des Einzelnen. Die direkte Befragung von Bewohnerinnen und Be-
wohnern, ob sie ausreichend selbst bestimmen können oder ob es Bereiche
gibt, in denen sie gerne mehr mitbestimmen möchten, trägt konkret zu einem
MEHR an Selbstbestimmung bei. Ein Mehr an Selbstbestimmung wiederum
fördert die Zufriedenheit und das allgemeine Wohlbefinden. Daher soll Selbst-
bestimmung in der vorliegenden Arbeit zum einen als ein besonderer Aspekt
von Zufriedenheit untersucht werden und zum anderen der Zusammenhang von
Selbstbestimmung und Zufriedenheit erforscht werden.

Kapitel 3.1. Begriffsbestimmungen
29
3.1.5. Zum Begriff des Nutzers
Lange Zeit wurde in der Behindertenhilfe der Begriff ,,Hilfebedürftiger" verwen-
det. Er betonte eine einseitig orientierte Beziehung im Kontext ,,Hilfe geben ­
Hilfe nehmen". Es hat sich inzwischen ein Perspektivenwechsel vollzogen, der
die aktive und mitgestaltende Rolle der Betroffenen bzw. Nutzer einer Dienst-
leistung am personalen Dienstleistungsgeschehen betont. Nutzerorientierung
und eine damit einhergehende Partizipation der als Nutzer verstandenen Men-
schen bestimmen seitdem stärker die Diskussion.
Noch Mitte der 90er spielte die Kontrolle und Bewertung der Dienstleistungen
durch die Nutzer kaum eine Rolle. Es fehlen insgesamt Studien zur Erfassung
der qualitativen Lebenssituation der Betroffenen (Gromann 1996). Dies führt
Gromann vor allem darauf zurück, dass grundsätzlich in Frage gestellt wurde,
ob Menschen mit geistiger Behinderung komplexe und komplizierte Zusam-
menhänge bewerten können, oder ob aufgrund vorhandener Abhängigkeitsver-
hältnisse Gefälligkeitsaussagen zu erwarten sind. Insbesondere ausgehend von
einem ,,mündigen Konsumenten" mussten mindestens zwei Voraussetzungen
verneint werden: Zum einen lagen und liegen die finanziellen Ressourcen zur
Kaufentscheidung auch trotz der teilweisen Einführung persönlicher Budgets
nicht bei den betroffenen Personen. Zum anderen ist die lebenspraktische Ab-
hängigkeit von der Hilfeleistung problematisch. Zu wenig Wahlalternativen ste-
hen zur Verfügung, um eine wirkliche Entscheidung treffen zu können (auf
mangelhafte Wohnalternativen wurde bereits im Zusammenhang der Begriffs-
definition ,,Wohnen" hingewiesen). Auch kann bei den Empfängern von sozialen
Dienstleistungen in der Regel nicht von einem
,,kritischen Verbraucherverhalten"
ausgegangen werden (Neumann 1998 123).
Seit Mitte der 90er wird die Bewertung von Dienstleistungsangeboten durch ihre
Nutzer angestrebt. Dies kann beispielsweise durch die Messung der Zufrieden-
heit der Nutzer mit den Angeboten eines Dienstleisters realisiert werden (Jan-
ßen & Begemann 1998). Mit dieser veränderten Sichtweise eröffnen sich Mög-
lichkeiten und Chancen der Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen in
Prozesse der Qualitätsentwicklung. Damit verbunden ist die Chance zur Reali-

Kapitel 3.1. Begriffsbestimmungen
30
sierung von Selbstbestimmung und zu Mitgestaltungsmöglichkeiten (Gromann
1996, Gromann & Niehoff-Dittmann 1999). Mit einiger Verzögerung werden so-
mit Gedanken und Entwicklungen aus den USA (Schalock 1989) und Großbri-
tannien (z.B. Southampton Centre for Independent Living 1999) aufgenommen.
Es entsteht der Versuch, diese auf die Verhältnisse der Behindertenhilfe in
Deutschland zu übertragen.
,,Gerade in der Umsetzung von Kundenbefragungen kann eine deutliche Nutzerorien-
tierung realisiert werden, weil dabei die Menschen mit Behinderungen in Planungs-
prozesse, die Umsetzung und Auswertung von Dienstleistungen mit einbezogen wer-
den."
(Daub, Eike & Sonnenberg 2003 175).
Die Durchführung von Nutzerbefragungen folgt der Aufforderung als Gesell-
schaft Verantwortung für die Partizipationschancen von Menschen mit Behinde-
rungen zu übernehmen (WHO 2000) und konsequente Nutzerorientierung kann
die Partizipation von Menschen mit Behinderungen erhöhen (Beck 2000a). Die
Verwendung des Begriffes ,,Nutzer" rückt die betroffene Gruppe und deren Ei-
geninteressen in den Mittelpunkt.
Die Verwendung der Begriffe ,,Nutzer" und ,,Kunde" hat zu einer positiven Ent-
wicklung geführt: Weg vom ,,Hilfebedürftigen" hin zu einer Person mit Ansprü-
chen an die Qualität einer Dienstleistung. Daher werden beide Begriffe befür-
wortet. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass trotz noch so großer Kun-
denorientierung die Abhängigkeit vieler Menschen mit Behinderungen von Zu-
wendung und Hilfe anderer bestehen bleibt (Seifert et al. 2001). Insbesondere
dem Begriff des ,,Kunden" haftet eine Beschränkung auf ein utilitaristisch be-
stimmtes Anbieter-Kunden-Verhältnis an. In einer solchen einseitigen Betonung
wird die Gefahr gesehen, dass zwischenmenschliche Verhältnisse ignoriert o-
der zumindest vernachlässigt werden. Eine Interpretation des Kundenbegriffs
mit diesen Konsequenzen würde einer Nutzerorientierung, wie sie weiter oben
beschrieben wurde, widersprechen.
Da eine vollständige Kundensouveränität im Sinne von Entscheidungssouverä-
nität nicht immer vorausgesetzt werden kann, ist es von großer Bedeutung, den
Kundenbegriff bzw. die Definition von ,,Kunden" für den Bereich der Behinder-
tenhilfe zu erweitern. Ausgehend von einem umfassenden Dienstleistungsver-

Kapitel 3.1. Begriffsbestimmungen
31
ständnis zählt zu den indirekten Kunden auch der Personenkreis der Angehöri-
gen und gesetzlichen Betreuer und Betreuerinnen, die in der Regel einen er-
heblichen Einfluss auf die Entscheidungsfindung, die Inanspruchnahme der
entsprechenden Wohnstätte und auf die Lebensqualität von Menschen mit Be-
hinderungen haben.
,,Kunden" in der vorliegenden Arbeit sind als Nutzer der Dienstleistung ,,Wohn-
einrichtung" also die Bewohnerinnen und Bewohner und stehen daher im Mit-
telpunkt. Die Entscheidung von dieser Zielgruppe als ,,Kunden" oder ,,Nutzer" zu
sprechen, ist zweitrangig, da es im wesentlichen um die konsequente Umset-
zung des Gedankens der Nutzerorientierung und Kundenorientierung geht. Die-
se ist durch die Fragestellung der Arbeit und größtmögliche Beteiligung der Be-
wohnerinnen und Bewohner realisiert. Auf eine Verwendung der Begriffe selbst
wird daher verzichtet.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2004
ISBN (eBook)
9783836602372
DOI
10.3239/9783836602372
Dateigröße
2.3 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität zu Köln – Heilpädagogische Fakultät, Studiengang Erziehungswissenschaften
Erscheinungsdatum
2007 (März)
Note
1,5
Schlagworte
behindertenwohnheim geistige behinderung zufriedenheit selbstbestimmung qualitätsmanagement heilpädagogik behindertenarbeit soziale arbeit
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Titel: Wohnen und geistige Behinderung
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