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Quo Vadis SGB II? - Die Neuorganisation der Grundsicherung für Arbeitsuchende im Spannungsfeld zwischen politischen, wissenschaftlichen und pragmatischen Interessen

Ein Lösungsweg unter Einbeziehung der regionalen Strukturen Bodensee-Oberschwabens

©2008 Masterarbeit 204 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Die Verfassungswidrigkeit der ARGEn und das Erfordernis, die Grundsicherung für Arbeitsuchende neu zu regeln:
Eine der umfangreichsten Sozialreformen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland trat in Form des Sozialgesetzbuches II, der Grundsicherung für Arbeitsuchende, am 01.01.2005 in Kraft und führte die vormals bestehende Sozialhilfe nach dem BSHG mit der Arbeitslosenhilfe nach dem SGB III zusammen. Ziel der Reform war unter anderem, das Nebeneinander mehrerer Transferleistungen zu beenden und die Hilfen aus einer Hand zu gewährleisten.
Der während des Gesetzgebungsverfahrens entbrannte politische Streit, wer Träger dieser neu geschaffenen Leistungen sein sollte und wie die organisatorische Umsetzung auszusehen habe, konnte nur durch einen Kompromiss im Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat beigelegt werden, mit dessen Folgen sich diese Masterthesis in weiten Teilen beschäftigt.
Während die damalige Regierungskoalition die Bundesagentur für Arbeit als alleinigen Grundsicherungsträger in den Gesetzesentwurf einbrachte, sah die Opposition die Aufgabe bei den Kommunen besser aufgehoben. Das verabschiedete Gesetz schrieb in der Folge sowohl dem Bund als auch den Kommunen Aufgaben nach dem SGB II zu, was zu gemeinsamen Grundsicherungsstellen, den so genannten Arbeitsgemeinschaften (ARGEn) als Regelmodell im Rahmen einer Mischverwaltung führte. Zusätzlich, als zunächst zeitlich begrenztes Experiment, wurde 69 Kommunen die alleinige Grundsicherungsträgerschaft als zugelassene kommunale Träger (zkT) übertragen, um Aussagen darüber gewinnen zu können, welche Trägerform die bessere sei.
Vom Gesetzgeber ungewollt, etablierte sich eine dritte Umsetzungsform in Gebieten, in denen sich Kommunen und lokale Agenturen für Arbeit nicht auf eine Arbeitsgemeinschaft einigen konnten: die Aufgabenwahrnehmung in getrennter Trägerschaft (gAw), bei denen jeder Grundsicherungsträger die ihm jeweils zugeschriebenen Aufgaben in eigener Zuständigkeit erbringt.
Knapp drei Jahre nach Einführung dieser Organisationsmodelle erklärte das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 20.12.2007 die Mischverwaltung, und damit das im Bundesgebiet weit überwiegend umgesetzte Regelmodell der ARGE, für verfassungswidrig und gab dem Gesetzgeber bis zum 31.12.2010 Zeit, um unter Einbeziehung der Ergebnisse der gesetzlich verankerten Wirkungsforschung die Betreuung der Hilfebedürftigen neu zu regeln. Seitdem entstehen in schneller […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Peter Kneisel/Marion Schuler
Quo Vadis SGB II? ­ Die Neuorganisation der Grundsicherung für Arbeitsuchende im
Spannungsfeld zwischen politischen, wissenschaftlichen und pragmatischen Interessen
Ein Lösungsweg unter Einbeziehung der regionalen Strukturen Bodensee-Oberschwabens
ISBN: 978-3-8428-1440-0
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2011
Zugl. Fachhochschule Ravensburg-Weingarten, Weingarten, Deutschland, MA-Thesis /
Master, 2008
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http://www.diplomica.de, Hamburg 2011

ii
Wir danken den Mitarbeitern und Führungskräften des Geschäftsbe-
reichs II der Agentur für Arbeit Ravensburg, des Amts ,,Hilfen zur Arbeit"
in Friedrichshafen und des Jobcenters Konstanz für ihre bereitwillige
und konstruktive Mitarbeit im Rahmen der Befragung.

iii
Inhaltsverzeichnis
Kapitel
Seite
Danksagung
ii
Inhaltsverzeichnis
iii
Abkürzungen
vii
Abbildungen und Tabellen
ix
1.
Einleitung und Problemstellung
1
1.1
Die Verfassungswidrigkeit der ARGEn und das Erfor-
dernis, die Grundsicherung für Arbeitsuchende neu zu
regeln
1
1.2
Konkretes Vorgehen bei der Entwicklung einer funktio-
nierenden Organisation
2
1.3 Methodischer
Ansatz
4
2.
Das Bundesverfassungsgerichtsurteil vom
20.12.07
5
3.
Die Geschichte des SGB II und der verschiedenen
Umsetzungskonstellationen
8
3.1
Der Reformbedarf und der Wille der Regierung: Der
Gesetzesentwurf zum ,,Hartz IV-Gesetz"
8
3.2
Modifikationen des Gesetzes bis zur Verabschiedung
15
3.3 Der
politische Weg: Neue Modelle seit dem Verfas-
sungsgerichtsurteil vom 20.12.2007
20
3.3.1
Das kooperative Jobcenter (KJC) ­ BMAS/BA
20
3.3.2
Zentrum für Arbeit ­ Deutscher Städte- und Gemeindebund
21
3.3.3
Die Bundesauftragsverwaltung (das ,,Bayernmodell")
22
3.3.4
Aktueller Stand der politischen Diskussion ­ Modell ,,ZAG"
mit Verfassungsänderung und Festschreibung der Option
24
3.4
Die alles beherrschende Frage: Wer kann es besser?
Der Bund oder die Kommunen?
25

iv
4.
Evaluation der Experimentierklausel und allge-
meine Wirkungsforschung
29
4.1
Wirkungsforschung zur Experimentierklausel im Auf-
trag des BMAS: ISG ­ Institut für Sozialforschung und
Gesellschaftspolitik
30
4.1.1
Ergebnisse aus den Untersuchungsfeldern des ISG-For-
schungsverbundes
33
4.1.2
Wer ist besser? ARGE, zkT oder gAw?
37
4.2
ISE ­ Internationales Institut für Staats- und Europa-
wissenschaft im Auftrag des DLT (Deutscher Land-
kreistag)
39
4.3
Bundesagentur für Arbeit (BA): Sonderbericht ­ ,,Über-
gänge aus Grundsicherung in Beschäftigung"
42
4.4 Weitere
Forschungsansätze
44
4.5
Zusammenfassung des aktuellen Forschungsstandes
46
5.
Die Ausgestaltung des SGB II im regionalen Kon-
text ,,Bodensee-Oberschwaben"
49
5.1 Methodische
Erläuterungen
49
5.2
Überprüfung der Vergleichbarkeit des Landkreises
Ravensburg, des Bodenseekreises und des Landkrei-
ses Konstanz
50
5.2.1
SGB II-Vergleichstypen nach IAB
50
5.2.2
Regionenmatching des ZEW im Rahmen der Evaluation der
Experimentierklausel des § 6c SGB II
51
5.2.3
Deskriptive Analyse des regionalen Arbeitsmarkts
54
5.3
Zeitreihen zur Entwicklung der Arbeitsmarktlage sowie
der Situation im SGB II ­ Bereich der untersuchten
Kreise
56
5.4 Erfolgsparameter:
Aktivierungs-
und
Integrationsquo-
ten
62
5.5
Fazit aus dem Vergleich der Erfolgsparameter
72

v
5.6
Die organisatorische Ausgestaltung der drei Grundsi-
cherungsträger ARGE Konstanz, zkT Bodenseekreis
und gAw Ravensburg ­ Vorstellung der dazu verwen-
deten Methode (Befragung)
75
5.6.1
Umsetzung des SGB II in der gAw Ravensburg
77
5.6.1.1 Entstehungsgeschichte
und
organisatorische
Ausgestaltung
77
5.6.1.2
Ausgestaltung des Fallmanagements und der Vermittlung
88
5.6.1.3 Qualitätsmanagement
92
5.6.1.4
Einsatz der Arbeitsmarktinstrumente (,,Maßnahmemix")
94
5.6.1.5
Bewertung der getrennten Aufgabenwahrnehmung und der
Umsetzung des Gesetzes durch die befragten Mitarbeiter
96
5.6.2
Die Umsetzung des SGB II beim zkT Bodenseekreis
99
5.6.2.1 Entstehungsgeschichte
und
organisatorische
Ausgestaltung
100
5.6.2.2
Ausgestaltung des Fallmanagements und der Vermittlung
105
5.6.2.3 Qualitätsmanagement
109
5.6.2.4
Einsatz der Arbeitsmarktinstrumente (,,Maßnahmemix")
110
5.6.2.4
Bewertung der kommunalen Option und der Umsetzung des
Gesetzes durch die befragten Mitarbeiter
112
5.6.3
Die Umsetzung des SGB II in der ARGE Konstanz
115
5.6.3.1 Entstehungsgeschichte
und
organisatorische
Ausgestaltung
115
5.6.3.2
Ausgestaltung des Fallmanagements und der Vermittlung
125
5.6.3.3 Qualitätsmanagement
127
5.6.3.4
Einsatz der Arbeitsmarktinstrumente (,,Maßnahmemix")
128
5.6.3.5
Bewertung der ARGE und der Umsetzung des Gesetzes
durch die befragten Mitarbeiter
130
5.7
Gemeinsamkeiten und Unterschiede bezüglich der
Erfolgsfaktoren bei der Umsetzung des SGB II in den
befragten Grundsicherungsstellen der Region Boden-
see-Oberschwaben
134
5.7.1 Organisatorische
Ausgestaltung
134
5.7.2 Wahrgenommene
Erfolgsfaktoren
138
5.7.3 Wahrgenommene
hemmende
Faktoren
143
5.7.4
Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse
147

vi
6.
Entwicklung eines regionalen Trägermodells für
Bodensee-Oberschwaben
150
6.1
Die Entscheidungsgremien des regionalen Modells
150
6.2
Die Aufbau- und Ablauforganisation des regionalen
Modells
151
6.3 Fallmanagement
und
Vermittlung
156
6.4 Der
,,Maßnahmemix"
159
6.5 Das
Qualitätsmanagement
160
6.6
Die trägerübergreifende IT-Lösung
163
7.
Übertragung des regionalen Modells auf den Bund
164
7.1
Einbettung des regionalen Modells in die Kompetenz-
ordnung des Bundes und der Länder
165
7.2
Alles schon mal da gewesen...? ­ ein möglicher Aus-
weg
166
8.
Schlussbemerkung und Ausblick
167
9. Literatur
169
Anhang
I­XVI

vii
Abkürzungen ­ ohne die im Schriftdeutschen ohnehin gebräuchlichen
Agh
Arbeitsgelegenheit oder ,,-Job"
AG
Arbeitgeber
ALG II
Arbeitslosengeld II
AN
Arbeitnehmer
ARGE
Arbeitsgemeinschaft
ASMK
Arbeits- und Sozialministerkonferenz
BA
Bundesagentur für Arbeit
BAB
Berufsausbildungsbeihilfe
BaE
Berufsausbildung in außerbetrieblichen Einrichtungen
BaWü
Baden-Württemberg
BIP
Bruttoinlandsprodukt
BMAS
Bundesministerium für Arbeit und Soziales
BMGS
Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung
BSHG
Bundessozialhilfegesetz
BT Drucks.
Bundestagsdrucksache
BVerfG
Bundesverfassungsgericht
BvR
Bundesverfassungsrichter
DLT
Deutscher Landkreistag
eHb
Erwerbsfähiger Hilfebedürftiger
EQJ
Einstiegsqualifizierung für Jugendliche
FM
Fallmanager/Fallmanagement
FN
Friedrichshafen
gAw
getrennte Aufgabenwahrnehmung
GG
Grundgesetz
IAB
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Nürnberg
IAJ
Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe,
Oldenburg
IAQ
Institut Arbeit und Qualifikation, Duisburg/Essen
IAW
Institut für angewandte Wirtschaftsforschung, Tübingen
ifo
Institut für Wirtschaftsforschung, München
IHK
Industrie- und Handelskammer
IKS
Internes Kennzahlensystem
infas
Institut für angewandte Sozialwissenschaft, Bonn
ISE
Institut für Staats- und Europawissenschaft, Berlin
ISG
Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik, Köln
ISR
Institut für Stadt- und Regionalentwicklung, Frankfurt am Main

viii
KdU
Kosten der Unterkunft
KJC
Kooperatives Jobcenter
KN
Konstanz
LRA
Landratsamt
LSB
Leistungssachbearbeiter
nEf
nicht Erwerbsfähige
pAp
persönlicher Ansprechpartner
RD
Regionaldirektion
REHA
Rehabilitation
REZ
Regionales Einkaufszentrum
RV
Ravensburg
SGB II
Sozialgesetzbuch Grundsicherung für Arbeitssuchende
SGB III
Sozialgesetzbuch Arbeitsförderung
SGB X
Sozialgesetzbuch Sozialverwaltungsverfahren und
Sozialdatenschutz
SGB XII
Sozialgesetzbuch Sozialhilfe
SIE
Selbstinformationseinrichtungen
soz.-
pflichtig
sozialversicherungspflichtig
SWL
sonstige weitere Leistungen
TNS Emnid
Medien- und Sozialforschungsinstitut, Bielefeld
U-25
unter 25-jährige
Ü-50
über 50-jährige
Ü-Raten
Übergangsraten
UF
Untersuchungsfeld
VAM
Virtueller Arbeitsmarkt
Ver.di
Vereinte Dienstleistungsgesellschaft
VFB
Vereinbarkeit Familie und Beruf
WoGG
Wohngeldgesetz
WZB
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung
ZAG
Zentrum für Arbeit und Grundsicherung
ZEW
Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung, Mannheim
ZfA
Zentrum für Arbeit
zkT
zugelassener kommunaler Träger

ix
Abbildungen und Tabellen:
Seite
Abb. 1
Reformbedarf der unterschiedlichen Transfersysteme
Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe
9
Abb. 2
Vom BMAS beauftrage Institute zur Wirkungsforschung
und deren Forschungsfelder
31
Abb. 3
Daten- und Ergebnisfluss im Forschungsverbund der §
6c-Evaluation
32
Abb. 4
Entwicklung der Arbeitslosigkeit seit Januar 2005
(SGB III + SGB II)
57
Abb. 5
Entwicklung der Arbeitslosigkeit im Rechtskreis SGB II
seit Januar 2005
57
Abb. 6
Zeitreihe zur absoluten Anzahl der eHb von Januar
2005 ­ April 2008
58
Abb. 7
Zeitreihe Anteil der Arbeitslosen an Anzahl der eHb von
Jan. 2005 ­ Apr. 2008
59
Abb. 8
Entwicklung der SGB II ­ Jugendarbeitslosigkeit von
Jan. 2005 ­ Juli 2008
59
Abb. 9
Entwicklung der Anzahl der jüngeren eHb von Aug.
2005 ­ Apr. 2008
61
Abb. 10
Abgangsrate aus Hilfebedürftigkeit von Januar 2007 ­
April 2008
62
Abb. 11
Aktivierungsquote 1
(Maßnahmeteilnehmer : Arbeitslose SGB II)
63
Abb. 12
Aktivierungsquote 1 für Jüngere
64
Abb. 13
Aktivierungsquote 2 (Maßnahmeteilnehmer : eHb)
64
Abb. 14
Aktivierungsquote 2 für Jüngere
65
Abb. 15
Übergangsrate für arbeitslose SGB II-Bezieher in
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nach einem
Monat
67
Abb. 16
Übergangsrate für arbeitslose SGB II ­ Bezieher in
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nach 6 Mo-
naten
67
Abb. 17
Übergangsraten für erwerbsfähige Hilfebedürftige in
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nach einem
Monat
68

x
Abb. 18
Übergangsraten für erwerbsfähige Hilfebedürftige in
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nach sechs
Monaten
68
Abb. 19
Gesamtübergangsraten und Übergangsraten nach Teil-
modellen nach einem Monat für eHb in sozialversiche-
rungspflichtige Beschäftigung
71
Abb. 20
Gesamtübergangsraten und Übergangsraten nach Teil-
modellen nach einem Monat in sozialversicherungs-
pflichtige Beschäftigung für arbeitslose SGB II-Bezieher
71
Abb. 21
Der Landkreis Ravensburg
77
Abb. 22
Überblick über die Aufgabenverteilung bei den Grundsi-
cherungsleistungen
80
Abb. 23
Das Organigramm der gAw Ravensburg (kommunaler
Anteil)
82
Abb. 24
Das Organigramm der gAw Ravensburg (Bundesanteil)
83
Abb. 25
Ablauforganisation des Kundenzentrums der Zukunft
86
Abb. 26
Der Bodenseekreis
99
Abb. 27
Das Organigramm des zkT Bodenseekreis (Amt ,,Hilfen
zur Arbeit")
101
Abb. 28
Der Landkreis Konstanz
115
Abb. 29
Das Organigramm der ARGE Konstanz (,,Job Center
Landkreis Konstanz")
121
Abb. 30
,,Musterorganigramm" des regionalen SGB II-Umset-
zungsmodells
153
Abb. 31
Zielsystem der BA
161
Tab. 1
Organisationstypologie für die Organisation der Betreu-
ung von Kunden über 25 Jahren zum 31.12.2005
34
Tab. 2
Übersichtsstatistik zum aggregierten Distanzmaß
52
Tab. 3
Fälle, die als Übergänge in sozialversicherungspflich-
tige Beschäftigung gezählt werden
66
Tab. 4
Integrationsquoten 2006/2007 auf Basis veröffentlichter
Zahlen der Grundsicherungsträger zkT Bodenseekreis,
gAw Ravensburg, ARGE Konstanz
69

QUO VADIS SGB II ?
1
1.
Einleitung und Problemstellung
1.1
Die Verfassungswidrigkeit der ARGEn und das Erfordernis, die
Grundsicherung für Arbeitsuchende neu zu regeln
Eine der umfangreichsten Sozialreformen in der Geschichte der Bundesrepu-
blik Deutschland trat in Form des Sozialgesetzbuches II, der Grundsicherung
für Arbeitsuchende, am 01.01.2005 in Kraft und führte die vormals bestehende
Sozialhilfe nach dem BSHG mit der Arbeitslosenhilfe nach dem SGB III
zusammen. Ziel der Reform war unter anderem, das Nebeneinander mehrerer
Transferleistungen zu beenden und die Hilfen aus einer Hand zu gewährleis-
ten.
Der während des Gesetzgebungsverfahrens entbrannte politische Streit, wer
Träger dieser neu geschaffenen Leistungen sein sollte und wie die organisato-
rische Umsetzung auszusehen habe, konnte nur durch einen Kompromiss im
Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat beigelegt werden,
mit dessen Folgen sich diese Masterthesis in weiten Teilen beschäftigt.
Während die damalige Regierungskoalition die Bundesagentur für Arbeit als
alleinigen Grundsicherungsträger in den Gesetzesentwurf einbrachte, sah die
Opposition die Aufgabe bei den Kommunen besser aufgehoben. Das verab-
schiedete Gesetz schrieb in der Folge sowohl dem Bund als auch den Kom-
munen Aufgaben nach dem SGB II zu, was zu gemeinsamen Grundsiche-
rungsstellen, den so genannten Arbeitsgemeinschaften (ARGEn) als Regel-
modell im Rahmen einer Mischverwaltung führte. Zusätzlich, als zunächst zeit-
lich begrenztes Experiment, wurde 69 Kommunen die alleinige Grundsiche-
rungsträgerschaft als zugelassene kommunale Träger (zkT) übertragen, um
Aussagen darüber gewinnen zu können, welche Trägerform die bessere sei.
Vom Gesetzgeber ungewollt, etablierte sich eine dritte Umsetzungsform in
Gebieten, in denen sich Kommunen und lokale Agenturen für Arbeit nicht auf
eine Arbeitsgemeinschaft einigen konnten: die Aufgabenwahrnehmung in
getrennter Trägerschaft (gAw), bei denen jeder Grundsicherungsträger die
ihm jeweils zugeschriebenen Aufgaben in eigener Zuständigkeit erbringt.
Knapp drei Jahre nach Einführung dieser Organisationsmodelle erklärte das
Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 20.12.2007 die Mischverwal-
tung, und damit das im Bundesgebiet weit überwiegend umgesetzte Regelmo-
dell der ARGE, für verfassungswidrig und gab dem Gesetzgeber bis zum

QUO VADIS SGB II ?
2
31.12.2010 Zeit, um unter Einbeziehung der Ergebnisse der gesetzlich veran-
kerten Wirkungsforschung die Betreuung der Hilfebedürftigen neu zu regeln.
Seitdem entstehen in schneller Abfolge sich je nach politischer Grundposition
gegenseitig ausschließende Umsetzungsvarianten, die alle dem Prinzip des
alten Weins in neuen Schläuchen, also der Beibehaltung der bisherigen Posi-
tionierungen zu folgen scheinen.
Aus Sicht der Verfasser nähern sich die politischen Haltungen kaum an und
es steht zu befürchten, dass die Grundsicherung für Arbeitsuchende wiede-
rum Opfer eines Kompromisses wird, der inhaltlich kaum besser ausgestaltet
ist als bisher und dem Willen des Gesetzes nach einheitlicher und bürgerna-
her Leistungsgewährung nach wie vor nicht gerecht wird.
Es gilt deshalb, und das ist das Anliegen dieser Masterthesis, einen vom
bisherigen, mittlerweile mehr als fünf Jahre andauernden politischen ,,Macht-
gerangel" unabhängigen, überwiegend an inhaltlichen Kriterien orientierten
Lösungsansatz für eine neue Organisationsform des SGB II zu entwickeln.
1.2
Konkretes Vorgehen bei der Entwicklung einer funktionierenden
Organisation
Ausgehend von den rechtlichen Hintergründen der Verfassungswidrigkeit der
ARGEn, über die das Urteil des Bundesverfassungsgerichts Auskunft gibt,
wird zunächst der Gesetzentwurf (,,Hartz IV-Gesetz") und damit verbunden der
ursprüngliche Wille des Gesetzgebers untersucht, der in dem neu zu entwi-
ckelnden Umsetzungsmodell Berücksichtigung finden soll.
Des Weiteren wird die Entstehungsgeschichte der Grundsicherung für
Arbeitsuchende beschrieben und die normative Kraft des Faktischen in Bezug
auf die etablierten drei Umsetzungsmodelle kritisch hinterfragt.
Es folgt eine differenzierte Analyse des bisherigen Standes der Evaluations-
und Wirkungsforschung, aus der sich folgende zentrale Zwischenergebnisse
ableiten lassen:
·
Es lassen sich auf Bundesebene bislang keine systematischen Vor-
teile eines bestimmten Umsetzungsmodells erkennen.
· Die
Unterschiede
innerhalb jedes der drei Umsetzungsmodelle sind
mindestens so vielfältig wie zwischen den Formen der Aufgaben-
wahrnehmung.

QUO VADIS SGB II ?
3
·
Unterschiedliche Wirtschaftsräume scheinen einen größeren Einfluss
auf die operativen Ergebnisse zu haben als die Modelle selbst.
Zum einen veranlassen diese Resultate die Verfasser zu der Annahme, dass
ein ,,Festhalten" der Entscheidungsträger an Option, ARGE oder getrennter
Aufgabenwahrnehmung unter wissenschaftlichen Aspekten wenig sinnvoll
erscheint; zum anderen wird der Frage nachgegangen, inwiefern sich auf der
Mikroebene in einem möglichst homogenen Wirtschaftsraum unterschiedliche
Rahmenbedingungen minimieren und Vorteile entweder eines Modells oder
bestimmter organisatorischer Ausgestaltungsformen finden lassen.
Anhand der Resultate verschiedener Studien wird in einem ersten Schritt die
Region Bodensee-Oberschwaben (speziell die Landkreise Ravensburg, Kon-
stanz und Bodenseekreis) als weitgehend homogener Wirtschaftsraum identi-
fiziert, in dem zudem alle drei Organisationsformen in unmittelbarer Nachbar-
schaft vorzufinden sind.
Um vergleichbare operative Ergebnisse der drei Grundsicherungseinheiten
zu erhalten, werden die umfangreichen statistischen Datenbanken der Bun-
desagentur für Arbeit genutzt, ausgewertet und aufbereitet, dabei die Para-
meter ,,Aktivierung der Hilfebedürftigen" und ,,Übergang in sozialversiche-
rungspflichtige Beschäftigung" als wesentliche Indikatoren für erfolgreiche
Arbeit der Grundsicherungseinheiten herangezogen.
Festzustellen ist, dass bezüglich der gewählten Erfolgsparameter in allen
drei Kreisen bei vergleichbarem Mitteleinsatz vergleichbar erfolgreich gear-
beitet wird, also wiederum keine systematischen Unterschiede zwischen den
Umsetzungsmodellen erkennbar sind.
Es erscheint daher legitim, sich in der Folge mit der inhaltlichen Arbeit vor
Ort im Jobcenter Konstanz, in der gAw in Ravensburg und im Amt ,,Hilfen für
Arbeit" in Friedrichshafen auseinanderzusetzen und inhaltliche Erfolgsfaktoren
sowie hemmende Faktoren zu identifizieren, die sich in ein neues ,,funktionie-
rendes" Modell für die Region Bodensee-Oberschwaben integrieren lassen.
Eine Erhebung in Form teilstrukturierter Leitfadengespräche bei den drei
Grundsicherungsstellen führt zu Aussagen bezüglich der konkreten Ausge-
staltung der jeweiligen Organisation und den subjektiv wahrgenommenen
Erfolgs- und hemmenden Faktoren bei der Umsetzung des SGB II.
Unter Einbeziehung der deskriptiven Forschungsergebnisse sowie organisa-
tions- und managementtheoretischer Aspekte wird darauf ein neuartiges regi-
onales Umsetzungsmodell aufgesetzt, das möglichst vielen Kriterien einer

QUO VADIS SGB II ?
4
erfolgreichen Aufgabenerledigung in Bodensee-Oberschwaben weitgehend
Rechnung trägt.
Das Modell erscheint durch seine Flexibilität sowohl im Rahmen einer bun-
desunmittelbaren als auch einer kommunalen Aufsicht funktionsfähig.
1.3 Methodischer
Ansatz
Ansatz dieser Arbeit ist es, einen zum Verständnis der Thematik erforderli-
chen Überblick über die Chronologie der Ereignisse, die (politischen) Grund-
positionen sowie die Zwischenergebnisse der Forschung zu bieten und letzte-
re nicht nur darzustellen, sondern teilweise auch zu integrieren, also als erwei-
terte Datenbasis für eine eigene, kleinräumige und als solche nicht repräsen-
tative Erhebung bei drei Grundsicherungseinheiten in Bodensee-Oberschwa-
ben zu nutzen. Neuartig ist in diesem Zusammenhang u. a. die Einbeziehung
verschiedener operativer Ergebnisse als Indikatoren für die Qualität der Arbeit
der drei Organisationseinheiten. Dadurch wird eine Verbindung zwischen ein-
zelnen Forschungsansätzen, die sich entweder auf deskriptive Aussagen oder
einzelne operative Ergebnisse beschränken, hergestellt. Es zeigen sich dabei
Zusammenhänge; Kausalschlüsse können jedoch nicht gezogen werden.
Das auf diese Weise anschließend erarbeitete regionale Lösungsmodell
erscheint auf den Bund übertragbar; der Versuch, sowohl die Erfahrungen aus
der Praxis als auch die Evaluationsforschung sowie management- und organi-
sationsentwicklungstheoretische Aspekte bei der Entwicklung einer tragfähi-
gen Lösung zu integrieren, stellt dabei die Einzigartigkeit dieses Ansatzes dar.
Trotz des relativ hohen Umfangs dieser Arbeit handelt es sich ­ angesichts
Hunderter allein in den letzten Jahren veröffentlichter, inzwischen weit mehr
als 50.000 Seiten umfassender Fachbeiträge aus Wissenschaft, Politik und
Gesellschaft ­ um einen Ansatz zur Reduktion von Komplexität und zur Rück-
besinnung auf pragmatische Prinzipien des Managements bei der Umgestal-
tung sozialer Dienstleistungsorganisationen. Der Sachverstand, die Professio-
nalität und die kreativen Denkansätze der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die
täglich ihren Dienst in den Grundsicherungsstellen verrichten und dadurch
wirkliche Experten sind, bilden dabei die Basis für bislang im politischen Dia-
log fast unbeachtete bottom up-Prozesse, die die Diskussion um inhaltliche
und insbesondere ,,unpolitische" Lösungsansätze bereichern und weiterbrin-
gen könnte.

QUO VADIS SGB II ?
5
2.
Das Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 20.12.2007
Das Bundesverfassungsgericht urteilte am 20.12.2007, dass ein Teil der
Umsetzung der Hartz IV-Reform gegen das Grundgesetz verstößt. Dabei han-
delt es sich im Wesentlichen um das organisatorische Kernstück der Reform,
die von Kommunen und Arbeitsagenturen gebildeten Arbeitsgemeinschaften
(ARGEn), die nach der Zusammenlegung der Sozial- und Arbeitslosenhilfe zur
Grundsicherung für Arbeitsuchende in weiten Teilen der Bundesrepublik den
organisatorischen Rahmen bilden.
Beschwerdeführer waren Kreise und Landkreise, die u. a. die Verpflichtung,
Arbeitsgemeinschaften mit der Bundesagentur zu bilden beanstandeten.
Leitsatz zum Urteil des Zweiten Senats vom 20.12.07:
-
,,Arbeitsgemeinschaften gemäß § 44b SGB II widersprechen dem
Grundsatz eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung, der den zu-
ständigen Verwaltungsträger verpflichtet, seine Aufgaben grundsätzlich
durch eigene Verwaltungseinrichtungen, also mit eigenem Personal,
eigenen Sachmitteln und eigener Organisation wahrzunehmen".
(BVerfG, 2 BvR 2433/04 vom 20.12.2007, hier: Leitsatz).
@
Hauptaspekt der Urteilsbegründung: unzulässige ,,Mischverwaltung"
Der § 44b des SGB II regelt, dass die kommunalen Träger (Kreise und kreis-
freie Städte) mit den Agenturen für Arbeit zur einheitlichen Wahrnehmung
ihrer Aufgaben Arbeitsgemeinschaften errichten (Abs.1 Satz 1) und dass die
kommunalen Träger der Arbeitsgemeinschaft die Wahrnehmung ihrer Aufga-
ben übertragen sollen (Abs. 3 Satz 2). Das in dieser Vorschrift geregelte
Zusammenwirken von Bundes- und Landesbehörden überschreitet die Gren-
zen des verfassungsrechtlich Zulässigen. Bundesgesetze können nach der
Systematik des Grundgesetzes entweder von den Ländern oder vom Bund,
nicht aber zugleich von Bund und Land oder einer von beiden geschaffenen
dritten Institution vollzogen werden (vgl. BVerfG, 2 BVR 2433/04, 2007, Abs.
161 f und Abs. 167).
Bei den Arbeitsgemeinschaften handelt es sich jedoch um eine Gemein-
schaftseinrichtung von Bundesagentur und kommunalen Trägern. Nach der
Kompetenzordnung des Grundgesetzes (vgl. GGArt. 83 ff) ist eine solche
Mischverwaltung nicht vorgesehen. Überschreitet der Gesetzgeber die ihm
dort gesetzten Grenzen des zulässigen Zusammenwirkens von Bundes- und
Landesbehörden, ,,führt dies gleichzeitig zu einer Verletzung der kommunalen

QUO VADIS SGB II ?
6
Selbstverwaltungsgarantie in ihrer Ausprägung als Garantie eigenverantwortli-
cher Aufgabenwahrnehmung im Sinne des Art. 28 Abs. 2 GG" (ebd., Abs.
150).
Zudem verstoße der § 44b gegen den Grundsatz der Verantwortungsklar-
heit. Die organisatorische und personelle Verflechtung bei der Aufgabenwahr-
nehmung behindere eine klare Zurechnung staatlichen Handelns zu einem der
beiden Leistungsträger. Insbesondere für den Bürger bedeute rechtstaatliche
Verwaltungsorganisation zuallererst Klarheit der Kompetenzordnung; denn nur
so werde die Verwaltung in ihren Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten für
den einzelnen greifbar (vgl. BVerfG, 2 BVR 2433/04, 2007, Abs. 157 u. 191).
Der Grundsatz der Bestimmtheit des Gesetzes, der sich aus dem Rechts-
staatsprinzip ergibt, sei damit ebenso wenig berücksichtigt (vgl. BVerfG, 2
BVR 2433/04, 2007, Abs. 156).
Beide Aspekte der Klarheit sind in den Arbeitsgemeinschaften nicht eindeu-
tig zu erkennen. Der Gesetzgeber überlässt zwar den Trägern der
Grundsicherung, wie sie ARGEn errichten und wie sie im Einzelnen organi-
satorisch ausgestaltet werden (§ 44b Abs. 1 Satz 3), schreibt jedoch vor, dass
die gesamten operativen Aufgaben einer hoheitlichen Leistungsverwaltung
auch dort wahrgenommen werden müssen. Das bedeutet eine selbständige,
sowohl von der Sozial- als auch von der Arbeitsverwaltung getrennte Organi-
sation, die den gesamten Bereich der Grundsicherung für Arbeitssuchende
umfasst (vgl. ebd. Abs. 163)
Diese Organisationsstruktur mit ihrem gemeinsamen Aufgabenvollzug
verhindert, dass sowohl der kommunale Träger als auch die Bundesagentur
für Arbeit ihren Aufgaben verfassungsverantwortlich nachkommen können,
wenn Entscheidungen über Organisation, Personal und Aufgabenerfüllung nur
in Abstimmung mit dem anderen Träger in der ARGE getroffen werden kön-
nen. Die Letztentscheidungsmöglichkeit des zuständigen Leistungsträgers
fehlt (vgl. ebd. Abs. 181 ff).
Selbst die von der ARGE erlassenen Verwaltungsakte und Widerspruchsbe-
scheide lassen nicht erkennen, welche Leistung vom gesetzlich vorgeschrie-
benen Träger bewilligt oder abgelehnt wurde, noch gegen welchen Träger
einer gesetzlich eindeutig zugeordneten Leistung Widerspruch erhoben wer-
den kann. Das Konstrukt der Arbeitsgemeinschaft ordnet hier nicht zu. Die
Leistungen werden demnach trotz geteilter Leistungsträgerschaft eigenver-
antwortlich aus einer Hand erbracht. Auch das entsprechende Personal beider

QUO VADIS SGB II ?
7
Leistungsträger wird in die ARGE eingebracht und verrichtet jeweils Tätigkei-
ten, die in die Aufgabenzuschreibung des jeweils anderen Leistungsträger
fällt. So betreut ein kommunaler Mitarbeiter im Rahmen des Fallmanagements
erwerbsfähige Hilfebedürftige, obwohl dies originäre Aufgabe der Agentur für
Arbeit ist, im Gegenzug bearbeiten Mitarbeiter der Agenturen ALG II Anträge
und bewilligen Kosten der Unterkunft, wobei letzteres eine kommunale Auf-
gabe ist (vgl. ebd. Abs. 178 f).
Das Bundesverfassungsgericht gab der Bundesregierung bis zum
31.12.2010 Zeit, die Betreuung der Empfänger von Hartz IV ­ Leistungen
organisatorisch neu zu regeln. Dabei berücksichtigte es durchaus das Erfor-
dernis einer durchgängigen Betreuung der betroffenen Hilfebedürftigen, indem
der § 44b SGB II nicht für nichtig, sondern lediglich für verfassungswidrig
erklärt wurde (vgl. BVerfG, 2 BVR 2433/04, 2007, Abs. 203­207).
Mittels dieser Appellentscheidung wurde der erforderlichen Umstrukturierung
der Arbeitsgemeinschaften, die zwingend in eine verfassungskonforme Orga-
nisationsstruktur überführt werden müssen sowie der Neuorganisation der
Grundsicherung für Arbeitsuchende ein relativ langer Zeitraum mit dem Hin-
weis zugestanden, dass dies u. a. erforderlich sei, um die Ergebnisse der
gesetzlich vorgesehenen Wirkungsforschung berücksichtigen zu können:
,,Dem Gesetzgeber muss für eine Neuregelung, die das Ziel einer Bündelung
des Vollzugs der Grundsicherung für Arbeitsuchende verfolgt, ein der Größe
der Umstrukturierungsaufgabe angemessener Zeitraum belassen werden.
Dabei muss ihm die Möglichkeit gegeben werden, die Erfahrungen der ein-
heitlichen Aufgabenwahrnehmung in den so genannten Optionskommunen
des § 6a SGB II und die Ergebnisse der gemäß § 6c SGB II vorgesehenen
Wirkungsforschung zu den Auswirkungen der Neuregelung des Sozialgesetz-
buchs ­ Zweites Buch - zu berücksichtigen" (ebd. Abs. 210).
Um nachvollziehen zu können, wie es zu den Arbeitsgemeinschaften, dem
höchstinstanzlichen Urteil zum § 44b des SGB II, der Verfassungswidrigkeit
der Arbeitsgemeinschaften und somit dem erneuten Reformbedarf, der auch
auf alle anderen bestehenden Umsetzungskonstellationen ausstrahlt über-
haupt gekommen ist, ist es notwendig, die Entstehungsgeschichte des Geset-
zes, seine Ziele und seine Änderungen in Auszügen zu betrachten:

QUO VADIS SGB II ?
8
3.
Die Geschichte des SGB II und der verschiedenen Umset-
zungskonstellationen
3.1
Der Reformbedarf und der Wille der Regierung: Der Gesetzesent-
wurf zum ,,Hartz IV-Gesetz"
Ausgangspunkt des Reformprozesses war die anhaltende Massenarbeitslo-
sigkeit in der Bundesrepublik Deutschland, die die damalige Bundesregierung
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen unter Bundeskanzler Schröder abzu-
bauen versprach. Die im Jahr 2002 begonnenen Arbeitsmarktreformen, die u.
a. die im Februar 2002 eingesetzte ,,Hartz-Kommission" erarbeitete, führten zu
einer grundlegenden Veränderung der Systeme der Sozialen Sicherung.
Das bis zum 31. Dezember 2004 bestehende Nebeneinander von ,,Hilfen zur
Arbeit" nach dem SGB III einerseits und dem BSHG andererseits, einherge-
hend mit zwei
staatlichen Transferleistungen für Arbeitslose (Arbeitslosenhilfe
nach dem SGB III, Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem BSHG), ergänzt
durch das Wohngeld (nach dem WoGG) war nach einhelliger Auffassung
ineffizient, intransparent und wenig bürgerfreundlich (vgl. Hartz u. a. 2002, S.
125 ff).
Im Rahmen der Agenda 2010 legte die damalige Bundesregierung im Sep-
tember 2003 den Entwurf des SGB II schaffenden IV. Gesetzes für moderne
Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vor (BT Drucks. 15/1516). Mittelpunkt der
Gesetzesregelungen war die Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosen-
hilfe zu einer einheitlichen Leistung, der Grundsicherung für Arbeitsu-
chende (Reformmodul 6 der Hartz-Kommission). Zur Verdeutlichung der
Gründe (Reformbedarf) und der konkreten Reformziele folgt eine Konkretisie-
rung in Auszügen:
Reformbedarf:
Das Nebeneinander von zwei ,,Hilfen zur Arbeit"
Sowohl die Bundesagentur für Arbeit als auch die örtlichen Träger der Sozial-
hilfe mussten bis 31. Dezember 2004 Arbeitslosen bei der Suche nach einem
Arbeits- oder Ausbildungsplatz helfen, die letzteren im Rahmen der Hilfe zum
Lebensunterhalt. Das hatte oft ein ,,Hin- und Herschieben" von Arbeitslosen
und jungen Menschen ohne Ausbildungsplatz zwischen den beteiligten Lei-
tungsträgern zur Folge, an denen auch die in § 18 BSHG genannten ,,Koope-
rationsvereinbarungen" zwischen Trägern der Sozialhilfe und zuständigen
Agenturen nichts Wesentliches änderte.

QUO VADIS SGB II ?
9
Abb. 1: Reformbedarf der unterschiedlichen Transfersysteme Arbeitslosenhilfe und
Sozialhilfe (In: Anzinger u. a. 2003, S. 10)
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Reformziel: Hilfe zur Arbeit ,,aus einer Hand"
Ab 01. Januar 2005 sollte nur noch die Bundesagentur für Arbeit ,,Hilfe zur
Arbeit" leisten; dies sollte nicht mehr eine Aufgabe (auch) der Sozialhilfeträger
im Rahmen der Hilfe zum Lebensunterhalt sein.
Reformbedarf:
Defizit beim ,,Fördern und Fordern"
Weder der Bundesagentur für Arbeit noch den örtlichen Sozialhilfeträgern
stand ein Instrumentarium zur Verfügung, das geeignet gewesen wäre, den
später zum Gesetz gewordenen Grundsatz des ,,Förderns und Forderns" wir-
kungsvoll in die Realität umzusetzen. Eine individuelle Betreuung der Arbeits-
losen war ­ bei der Vielfältigkeit der Aufgaben der Sachbearbeiter beider
Leistungsträger ­ nicht möglich und Sanktionen gegen Arbeitsunwillige waren
eher die Ausnahme als die Regel. In der Praxis hatte die Hilfe zur Arbeit sel-
ten Vorrang gegenüber steuerfinanzierten Transferleistungen. Andererseits
erhielten junge Menschen bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz keine
ausreichende Unterstützung (vgl. Linhart u. a. 2004, Teil 1, S. 10).
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Reformziel: Vorrang der Hilfe zur Arbeit gegenüber Transferleis-
tungen
Der Bundesagentur für Arbeit sollte ein wirkungsvolleres Instrumentarium zur
Verfügung gestellt werden, um den Vorrang der Hilfe zur Arbeit gegenüber
den steuerfinanzierten Transferleistungen zu realisieren. Ziel war insbeson-

QUO VADIS SGB II ?
10
dere die Einführung von ,,persönlichen Ansprechpartnern" in den Agenturen
für Arbeit, von denen sich jeder um maximal 75 Arbeitslose individuell küm-
mern sollte. Die Arbeitslosen sollten verstärkt zur Mitwirkung bei der Suche
nach einem Arbeitsplatz herangezogen werden können. Sie sollten verpflichtet
werden, eine ,,Eingliederungsvereinbarung" abzuschließen. Arbeitsunwillige
sollten zudem mit härteren Sanktionen zur Aufnahme einer Arbeit veranlasst
werden und sich nicht mehr so leicht auf die Unzumutbarkeit einer angebo-
tenen Arbeit berufen können. Der einzelne Arbeitslose hätte Arbeitsangebote
auf dem ,,zweiten Arbeitsmarkt" mit geringerer Entlohnung ebenso anzuneh-
men wie die sogenannten ,,Mini-" und ,,Ein-Euro-Jobs". Der Grundsatz des
Förderns und insbesondere des ,,Forderns" sollte zum Gesetz werden:
,, (1) Erwerbsfähige Hilfebedürftige und die mit ihnen in einer Bedarfsgemein-
schaft lebenden Personen müssen alle Möglichkeiten zur Beendigung oder
Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit ausschöpfen. Der erwerbsfähige Hilfebe-
dürftige muss aktiv an allen Maßnahmen zu seiner Eingliederung in Arbeit
mitwirken, insbesondere eine Eingliederungsvereinbarung abschließen. Wenn
eine Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in absehbarer Zeit
nicht möglich ist, hat der erwerbsfähige Hilfebedürftige eine ihm angebotene
zumutbare Arbeitsgelegenheit zu übernehmen.
(2) Erwerbsfähige Hilfebedürftige und die mit ihnen in einer Bedarfsgemein-
schaft lebenden Personen haben in eigener Verantwortung alle Möglichkeiten
zu nutzen, ihren Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln und Kräften zu bestrei-
ten. Erwerbsfähige Hilfebedürftige müssen ihre Arbeitskraft zur Beschaffung
des Lebensunterhalts für sich und die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft
lebenden Personen einsetzen" (Sozialgesetzbuch II, Kapitel 1 ­ Fördern und
Fordern - § 2, Abs. 1 und 2: Grundsatz des Forderns).
Reformbedarf:
Das Nebeneinander von drei Transferleistungen
Arbeitslose, die keine Arbeitslosenhilfe erhielten, mussten sich an das Sozial-
amt wenden, das Ihnen (bei Erfüllen der Voraussetzungen) Hilfe zum Lebens-
unterhalt und ggf. das pauschalierte Wohngeld gewährte. Häufig kam es auch
vor, dass Arbeitslose Arbeitslosenhilfe in einer Höhe erhielten, die für die De-
ckung des notwendigen Lebensunterhaltes im Sinne von §12 BSHG nicht aus-
reichte. Diese Personen mussten sich wegen einer Aufstockung der Arbeitslo-
senhilfe bis zum sozialhilferechtlichen Bedarf ebenfalls an das Sozialamt
wenden, das ihnen dann im Rahmen der ,,ergänzenden Hilfe zum Lebensun-
terhalt" möglicherweise auch das Wohngeld zu gewähren hatte. Sowohl ge-
genüber der Bundesagentur für Arbeit als auch gegenüber dem Sozialamt und

QUO VADIS SGB II ?
11
der Wohngeldstelle musste ein solcher Hilfesuchender detaillierte Angaben zu
seinen persönlichen und zu seinen Einkommens- und Vermögensverhältnis-
sen auf umfangreichen Antragsformularen machen, wobei die geforderten
Angaben oft dieselben waren. Die drei Leistungsträger hatten sich dann mit
der Geltendmachung von Erstattungsansprüchen zu beschäftigen, was oft
zwangsläufig in juristische Akrobatik ausartete und in der Folge in schöner
Regelmäßigkeit die Verwaltungs- und Sozialgerichte beschäftigte (vgl. Linhart
u. a. 2004, Teil 1, S. 10 f.).
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@
Reformziel: Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe,
Ausschluss von Wohngeld
¾
Nur noch eine Transferleistung
Um das Nebeneinander von zwei steuerfinanzierten staatlichen Fürsorgeleis-
tungen zur Abdeckung ein und desselben Bedarfs von Arbeitslosen zu been-
den, sollten Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammengeführt werden. Ar-
beitslose sollten, wenn sie bestimmte Voraussetzungen erfüllten, zur Siche-
rung ihres Lebensunterhalts das ,,Arbeitslosengeld II" als eine neue Art von
steuerfinanzierter Transferleistung erhalten. Leistungsberechtigt sollten alle
,,erwerbsfähigen Hilfebedürftigen" sein. Das sind die Arbeitslosen, denen bis
zum 31. Dezember 2004 Arbeitslosenhilfe nach dem SGB III zustand sowie
die bisherigen, erwerbsfähigen Empfänger der Hilfe zum Lebensunterhalt
nach dem BSHG, später SGB XII (vgl. BMGS/BW, Ausgabe 2005, Teil 12, S.
617).
¾
Ausschluss von Wohngeld
Sowohl die Empfänger des Arbeitslosengeldes II als auch die Empfänger von
Hilfe zum Lebensunterhalt im Rahmen der Sozialhilfe sollten keinen Anspruch
auf Wohngeld mehr haben. Die Unterkunftskosten sollten von der jeweiligen
Transferleistung gedeckt werden. Für die Leistungsträger sollte der Wegfall
des Wohngelds mit einer Verwaltungsvereinfachung verbunden sein (vgl.
ebd., Teil 20, S. 825 ff).
Reformbedarf:
Die unterschiedliche Höhe von Arbeitslosenhilfe und
Sozialhilfe
Da sich die Höhe der Arbeitslosenhilfe bisher prozentual am letzten Nettoein-
kommen des Arbeitslosen orientierte, war die Arbeitslosenhilfe in vielen Fällen
erheblich höher als die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem BSHG. Diese

QUO VADIS SGB II ?
12
Differenz
war eigentlich nicht gerechtfertigt, denn bei beiden Hilfen handelte
es sich um beitragsunabhängige, steuerfinanzierte Transferleistungen, die bei
der Arbeitslosenhilfe aus Steuermitteln des Bundes und bei der Sozialhilfe aus
den allgemeinen Haushaltsmitteln der Kommunen aufgebracht wurden.
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@
@
@
Reformziel: Orientierung der Leistungshöhe an der Sozialhilfe
¾
Gleichartigkeit der Transferleistungen
Die neue Transferleistung ,,Arbeitslosengeld II" (ALG II) sollte sich als subsidi-
äre, steuerfinanzierte und bedürftigkeitsorientierte Fürsorgeleistung in der Sa-
che von der Sozialhilfe nicht mehr unterscheiden
.
Bei angestrebter gleicher
Qualität der Leistungen gab es für eine unterschiedliche Quantität des ALG II
und der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem BSHG (später SGB XII) keine
Rechtfertigung mehr. Gleiches galt für die Orientierung an der Dauer der frü-
heren Erwerbstätigkeit bzw. der Höhe des letzten Arbeitslohnes.
¾
Bedürftigkeitsabhängigkeit des ,,Arbeitslosengeldes II"
ALG II sollte nur der beanspruchen können, der seinen notwendigen Lebens-
unterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften oder Mitteln be-
schaffen kann. Es mussten gesetzliche Regelungen getroffen werden, wonach
u. a. etwaiges Einkommen oder Vermögen des Arbeitslosen angerechnet oder
die Bedürftigkeit verneint werden sollte, wenn der Arbeitslose mit einer gut
verdienenden oder vermögenden Person in einer so genannten ,,Bedarfsge-
meinschaft" lebt. Auch sollte bei Ablehnung eines Arbeitsangebots das ALG II
gekürzt werden oder ­ bei Jugendlichen unter 25 Jahren ­ ganz wegfallen
dürfen.
¾
Der Gesichtspunkt der Gerechtigkeit
Die Absenkung der früheren Arbeitslosenhilfe auf ,,Sozialhilfeniveau" und die
Bedürftigkeitsabhängigkeit sollte dem Gerechtigkeitsgedanken Rechnung tra-
gen. Als ungerecht galt zum einen, dass ein gering verdienender, aber Steu-
ern zahlender Arbeitnehmer u. U. weniger verdiente als jemand, der von einer
Transferleistung lebte (die frühere Arbeitslosenhilfe brachte bei 53-57% des
letzten Nettolohns oft mehr ein als Arbeit), und zum anderen, dass der
Geringverdiener mit seinen Steuern den Lebensunterhalt von Arbeitslosen
sicherstellen musste, die über Einkommen und Vermögen verfügten oder mit
gut verdienenden oder vermögenden Partnern in einer Bedarfsgemeinschaft
lebten (vgl. Linhart u. a. 2004, Teil 1, S. 14 f).

QUO VADIS SGB II ?
13
¾
Sozialgeld
Ein weiteres Reformziel in diesem Zusammenhang war es, für nicht erwerbs-
fähige Angehörige, die mit erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in Bedarfsgemein-
schaft leben, ebenfalls Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vorzu-
sehen, die nicht vom Begriff des Arbeitslosengeldes II erfasst, sondern als
,,Sozialgeld" bezeichnet werden sollten, zwar
eine ebenfalls steuerfinanzierte
Transferleistung wie die Sozialhilfe, aber keine Leistung im Rahmen der Sozi-
alhilfe (des späteren SGB XII; - vgl. Linhart u. a. 2004, Teil 1, S. 15).
Reformbedarf:
Die übermäßige Belastung der Kommunen
Auf Grund der allgemeinen wirtschaftlichen Stagnation und der hohen Ar-
beitslosenzahl mussten die kreisfreien Städte, die Landkreise, sowie der Bund
bis zum 31. Dezember 2004 verstärkt die entstehenden Lasten tragen. Dies
galt sowohl für die laufenden und einmaligen Leistungen der Hilfe zum
Lebensunterhalt an Arbeitslose, die weder Arbeitslosengeld noch Arbeitslo-
senhilfe erhielten als auch für die Kosten der Hilfe zur Arbeit im Rahmen der
Hilfe zum Lebensunterhalt. Die Kommunen gerieten dadurch in eine kaum
noch hinnehmbare finanzielle Not (vgl. Linhart u. a. 2004, Teil 1, S. 11 f).
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Reformziel: Entlastung der Kommunen
¾
Grundsatz: Verlagerung von Leistungspflichten
Zur Entlastung der finanziell Not leidenden Kommunen sollte künftig nur noch
die (damalige) Bundesanstalt für Arbeit den ,,erwerbsfähigen Hilfebedürftigen"
bei der Suche nach einem Arbeitsplatz helfen und ihnen und ihren Bedarfs-
gemeinschaften Geldleistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes gewäh-
ren, was gleichzeitig naturgemäß mit einer höheren Belastung der Bundesan-
stalt (und damit des Bundes) einhergehen musste. Im Gesetzesentwurf von
September 2003 war zudem vorgesehen, dass der Bund alle Aufwendungen
der Grundsicherung für Arbeitssuchende, also z. B. auch die Kosten für
Unterkunft und Heizung, Schuldner- oder Suchtberatung etc. tragen und somit
die Kommunen erheblich entlasten sollte (vgl. § 46 SGB II, Stand Sept. 2003
in BT Drucks. 15/1516).
¾
Effizienzgewinne
Über die Entlastung der Kommune hinaus wurden allgemeine Effizienzge-
winne von jährlich etwa 4,2 Mrd. durch die Zusammenlegung von Arbeitslo-
sen- und Sozialhilfe erwartet:

QUO VADIS SGB II ?
14
,,(...) wurde darauf hingewiesen, dass bei der Berechnung der finanziellen
Auswirkungen auch Einsparungen zu berücksichtigen sind, die aus einer effi-
zienteren Ausgestaltung des neuen Leistungssystems resultieren unter der
Bedingung, dass intensivere Betreuung erwerbsfähiger Leistungsberechtigter
stattfindet. (...) ermöglicht eine Erhöhung der Personalausgaben der neuen
Leistung um 760 Mio. im Rahmen des Stufenmodells ein Verhältnis von
Betreuern zu Hilfebedürftigen von 1:75 im Front-Office. Es wurde empirische
Evidenz dafür angeführt, dass eine derart dichte Betreuung ein dauerhaftes
Absinken der Zahl der Hilfebedürftigen um 15 % (Effizienzgewinne) zur Folge
hätte. Die finanziellen Folgen des Stufenmodells unter Berücksichtigung der
Mehrausgaben bei Personal/Verwaltung einerseits und der damit verbunde-
nen Effizienzgewinne andererseits werden in Tabelle 10 dargestellt. Die
gesamtwirtschaftlichen Einsparungen belaufen sich auf 4,2 Mrd. jährlich.
Mittelfristig sind darüber hinaus aufgrund der geschilderten Effizienzgewinne
Einsparungen bei Personal/Verwaltung möglich" (Anzinger u. a. 2003, S. 36).
Reformbedarf:
Die einmaligen Leistungen der Sozialhilfe
Die Gewährung einmaliger Leistungen im Sinne von § 21 Abs. 1 a BSHG war
oft mit einem gewaltigen Verwaltungsaufwand verbunden; die Auseinander-
setzung über das ,,Ob" sowie die Form und die Höhe der Leistungen beschäf-
tigten oft jahrelang Behörden und Gerichte. Die Pauschalierung dieser Leis-
tung erleichterte den Gesetzesvollzug zwar, war jedoch nur mit dem Einver-
ständnis des Hilfeempfängers möglich (vgl. Linhart u. a. 2004, Teil 1, S. 12).
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Reformziel: Pauschalierung im Sozialhilferecht
Mit der Pauschalierung der einmaligen Leistungen der Hilfe zum Lebensun-
terhalt und ihre Einbeziehung in den Regelsatz sollten detaillierte Bedarfsprü-
fungen und Einzelfallentscheidungen überflüssig gemacht und Auseinander-
setzungen, z. B. Widerspruchs- und Gerichtsverfahren, vermieden werden.
Zusammengefasst bestanden die Ziele des Gesetzgebers in diesem ersten
Entwurf darin, die Hilfen für alle erwerbsfähigen Hilfebedürftigen künftig aus
einer Hand und unter einem Dach, nämlich dem der (damaligen) Bundesan-
stalt für Arbeit zu erbringen. Die Arbeitslosigkeit sollte signifikant sinken, öf-
fentliche Mittel sollten durch Absenken der Leistungen auf das Niveau der
Sozialhilfe eingespart, weitere erhebliche Effizienzgewinne erzielt und die
Kommunen entlastet werden. Der erwerbsfähige Hilfebedürftige sollte gefor-
dert aber auch ,,gefördert" werden, er sollte ferner von kunden- bzw. bürger-
freundlicheren, wesentlich vereinfachten Verfahren profitieren, einen Fallma-
nager oder persönlichen Ansprechpartner für alle Belange haben und Gerech-
tigkeit erfahren.

QUO VADIS SGB II ?
15
3.2
Modifikationen des Gesetzes bis zur Verabschiedung
Die geplante Zuständigkeit der Bundesagentur für Arbeit rief bei der damali-
gen Opposition aus CDU/CSU und FDP Protest hervor, da sie davon ausging,
dass die Kommunen eher die geeigneten Träger für die Betreuung der Lang-
zeitarbeitslosen seien. Die Zuweisung aller Vermittlungs-, Beratungs- und
Leistungsaufgaben an die Kommunen sei unabdingbare Voraussetzung für
ein effektives Hilfesystem (vgl. BT Drucks. 15/1523, S. 63). Ein ergänzender
Grundgesetzartikel (106b) sollte nach dem Willen der Opposition die finanziel-
le Verteilung regeln. Die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende
sollte durch den Bund den Ländern erstattet werden, die wiederum ihrerseits
verpflichtet werden sollten, diese Erstattung an die Kommunen bzw. kreisfrei-
en Städte als zuständige Träger weiter zu geben (vgl. BT Drucks. 15/1527).
Diese Regelungen waren identisch mit im Bundesrat eingebrachten Ent-
würfen aus dem Land Hessen (Existenzgrundlagengesetz).
Der Bundestag nahm den Gesetzesentwurf der Mehrheitsfraktion an, die
Bundesratsmehrheit verlangte jedoch die Einberufung des Vermittlungsaus-
schusses, um die von ihnen priorisierte Zuständigkeit der Kommunen durch-
zusetzen.
Vermittlungsausschuss:
@
@
@
@ Arbeitsgemeinschaften
(ARGEn)
Bereits beim Gesetzgebungsverfahren hatten sich wesentliche Unterschiede
in der Sicht der Zuständigkeit für SGB II Leistungen gezeigt. Gewollt vom
Gesetzgeber und allen Fraktionen war die Einheitlichkeit der Trägerschaft,
also das Erbringen aller wesentlichen Leistungen aus einer Hand. Die Oppo-
sition sah in der kommunalen Trägerschaft die beste Form der Betreuung der
zumindest zum Teil aus der Sozialhilfe bestehenden Klientel, die bereits über
viele Jahre hinweg, zum Beispiel bei der Hilfe zur Arbeit nach dem BSHG,
richtig und engmaschig betreut worden war.
Die Regierungsparteien sahen die Kompetenz zur Vermittlung von SGB II-
Kunden bei der Bundesbehörde Agentur für Arbeit, da nur dort überregional
und über die Kreisgrenzen hinaus ein effektiver und überregionaler Arbeits-
marktausgleich erreicht werden könne. Zur einheitlichen Ausführung der
Gesetze eigne sich eine Bundesinstitution ebenfalls eher als viele Kommunen
mit unterschiedlichen Entscheidungspraxen oder die jeweils zuständigen Bun-
desländer, die ihre Eigenständigkeit als hohes Gut betrachteten und damit die
Gefahr, grundsätzlich Gleiches nicht gleich zu behandeln,
erhöhen würden.

QUO VADIS SGB II ?
16
Mit der im Vermittlungsausschuss erarbeiteten Kompromisslösung (vgl. BT
Drucks. 15/2259) wurde dem Gebot der einheitlichen Trägerschaft eine har-
sche Absage erteilt:
Die Kreise und kreisfreien Städte sollten für die Suchtberatung, psychosozi-
ale Beratung, die Betreuung von Kindern und die Pflege von Angehörigen, die
Leistungen für Unterkunft und Heizung und deren Erstausstattung sowie für
Erstausstattung für Bekleidung und mehrtägige Klassenfahrten zuständig
werden. Die Agenturen für Arbeit dagegen sollten für die Grundsicherungs-
leistungen Arbeitslosengeld II, die Unterhaltsheranziehung und alle Leistun-
gen, die mit der Beratung, Betreuung, Vermittlung und Qualifizierung von Er-
werbsfähigen Hilfebedürftigen in Verbindung stehen, die Verantwortung tragen
(§ 6 Abs. 1 SGB II - E). Es sollten gemäß § 44 b SGB II ­ E Arbeitsgemein-
schaften (ARGEn) gebildet werden, in denen Mitarbeiter der Agenturen und
kommunale Mitarbeiter gemeinsam alle Leistungen des SGB II erbringen
sollten ­ ein Ansatz, der von Beginn an mit verfassungsrechtlichen Bedenken
verknüpft war.
Im Bundestag wurde die Beschlussempfehlung angenommen, der Bundes-
rat stimmte dem Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeits-
markt zu; es wurde am 29.12.2003 verkündet (Bundesgesetzblatt 2003, I,
Nr.66, S. 2954) und trat am 01.01.2004 in Kraft, löste die Frage einer optio-
nalen Trägerschaft der Kommunen jedoch nicht
.
Ein weiteres Gesetzge-
bungsverfahren erschien deshalb notwendig:
Kommunales Optionsgesetz:
@
@
@
@ 69 Kommunen erproben Trägerschaft
Die Regierungsfraktionen brachten den Entwurf eines kommunalen Options-
gesetzes ein, das wiederum auf Verlangen des Bundesrates den Weg über
den Vermittlungsausschuss nehmen musste. Diesmal wurden die Ausgestal-
tung der Option und die befürchteten finanziellen Mehrbelastungen der Kom-
munen bemängelt.
Den Empfehlungen des Vermittlungsausschusses wurde insofern Rechnung
getragen, als die Kommunen eine jährliche Entlastung für die Leistungen für
Unterkunft und Heizung von 2,5 Mrd. Euro erhalten sollten und die alleinige
Trägerschaft von bundesweit 69 Kommunen im Rahmen einer Experimen-
tierklausel ermöglicht wurde (§ 6a SGB II - E). Das kommunale Optionsgesetz
wurde im Bundestag am 02.07.2004 verabschiedet und den Kommunen bis
zum 15. September 2004 die Möglichkeit eröffnet, die Option ,,zu ziehen", also

QUO VADIS SGB II ?
17
Anträge auf Zulassung zur kommunalen Option zu stellen, die nach Zulassung
der Landesbehörde ab 01.01.2005, des Datums der endgültigen Umsetzung
des SGB II, dann für einen Zeitraum von sechs Jahren wahrgenommen (und
evaluiert) werden sollte (vgl. Bundesgesetzblatt 2004, I, Nr. 41).
Auch im derzeit gültigen SGB II (Stand April 2008) sind nach wie vor nur
zwei Organisationsformen, nämlich die ,,Arbeitsgemeinschaften" (ARGEn) und
die ,,zugelassenen kommunalen Träger" (zkT) als Leistungsträger des SGB II
vorgesehen. Die Experimentierklausel besagt u. a. in ihrem ersten Absatz:
,,1) Zur Weiterentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende sollen an
Stelle der Agenturen für Arbeit als Träger der Leistung nach § 6 Abs. 1 Satz 1
Nr. 1 im Wege der Erprobung kommunale Träger im Sinne des § 6 Abs. 1
Satz 1 Nr. 2 zugelassen werden können. Die Erprobung ist insbesondere auf
alternative Modelle der Eingliederung von Arbeitsuchenden im Wettbewerb zu
den Eingliederungsmaßnahmen der Agenturen für Arbeit ausgerichtet" (§ 6a
SGB II Abs. 1).
Auch hier ist ­ wie im Übrigen an allen entsprechenden Stellen des Gesetz-
buches ­ von einer einheitlichen Trägerschaft entweder der ARGEn oder (an
deren Stelle) der zkT die Rede, die in einem Wettbewerb miteinander vergli-
chen werden sollen. § 6c beinhaltet u. a., dass das Ministerium für Arbeit und
Soziales eine Wirkungsforschung betreiben und über die Erfahrungen beider
Modelle bis zum 31.12.2008 berichten solle.
Das dritte Modell:
@
@
@
@ getrennte Trägerschaft (gAw)
Vom Gesetz nicht vorgesehen und dort auch nicht aufgeführt, entwickelte sich
in einigen Kreisen die zunächst als ,,Betriebsunfall" geltende ,,Aufgabenwahr-
nehmung in getrennter Trägerschaft (gAw): Konnten sich Agenturen und
Kommunen vor Ort nicht zur engen Zusammenarbeit in einer ARGE entschei-
den, so verrichten sie ihre Arbeit seitdem in getrennter Aufgabenwahrneh-
mung, jeder also für seine ihm per Gesetz zugeschriebenen Aufgaben selbst.
Da im SGB II zwar die Bildung einer ARGE verpflichtend vorgeschrieben,
aber keine Folgen oder gar Sanktionen bei Nicht-Bildung der ARGE benannt
sind, musste diese dritte Verwaltungsform ,,geduldet" werden und
wurde in der
ersten Zeit offiziell als ,,in Gründung befindliche ARGE" betituliert. Da deren
Zahl jedoch im Laufe der Zeit zunahm und sich einige ARGEn sogar zuguns-
ten einer getrennten Aufgabenwahrnehmung wieder auflösten, wurden sie
teilweise in den Evaluierungsprozess im Rahmen der Wirkungsforschung ein-
bezogen und sollten nach Verkündung des Verfassungsgerichtsurteils noch
weiter an Bedeutung gewinnen.

QUO VADIS SGB II ?
18
Heute:
@
@
@
@ Drei Verwaltungsformen zur Umsetzung des SGB II
Auf Grund der o. g. Entwicklungen gewährleisten aktuell 23 (anfangs 19) Auf-
gabenwahrnehmungen unter getrennter Trägerschaft der Arbeitsagenturen
und Kommungen (gAw), 347 ARGEn mit gemeinsamer Aufgabenwahrneh-
mung und 69 zugelassene Optionskommunen (zkT) mit alleiniger Aufgaben-
wahrnehmung an Stelle einer Arbeitsgemeinschaft in der Bundesrepublik
Deutschland die Durchführung des Sozialgesetzbuches II, obwohl die gesetz-
lichen Aufgaben lediglich der BA und den Kommunen als Grundsicherungs-
trägern zugeschrieben sind (Verteilung der Trägerformen über die Bundesre-
publik: Anhang I).
Welche Leistungen im Einzelnen welchem Grundsicherungsträger obliegen,
soll der folgende Abschnitt verdeutlichen:
Aufgaben der jeweiligen Grundsicherungsträger:
Aufgaben der Agentur für Arbeit im Rahmen der Gewährung von passiven
Leistungen (Regelleistungen):
· Bearbeitung und Auszahlung des Arbeitslosengeldes II für erwerbsfä-
hige Hilfebedürftige (§ 19 SGB II),
· Bearbeitung und Auszahlung des Sozialgeldes für nicht erwerbsfähige
Hilfebedürftige, wenn sie mit einem eHb in einer Bedarfsgemeinschaft
leben (§ 28 SGB II),
· Leistungen für Mehrbedarfe (für Schwangere, Behinderte und für
medizinisch begründete Mehrbedarfe, z. B. Diabetes),
· Befristete Zuschläge nach dem Bezug von Arbeitslosengeld nach dem
SGB III (§ 24 SGB II),
· Zuschüsse zu Beiträgen bei Befreiung von der Versicherungspflicht
(Sozialversicherungsbeiträge ohne Beiträge zur Arbeitslosenversiche-
rung - § 26 SGB II),
· Aufstockende Leistungen bei Hilfebedürftigkeit.
Zuständigkeit der Agentur für Arbeit für Leistungen zur Eingliederung in
Arbeit (aktive Leistungen):
· Vermittlung von Arbeits- und Ausbildungssuchenden in Arbeit oder
Ausbildung, Unterbreitung von Bewerberangeboten an Arbeitgeber
zum Zwecke der Vermittlung (§ 35 SGB III).
Ferner kann sie
· Jugendlichen und Erwachsenen Berufsberatung und Arbeitgebern
Arbeitsmarktberatung anbieten (§§ 29 ­ 40 SGB III),

QUO VADIS SGB II ?
19
· Leistungen zur Unterstützung der Beratung und Vermittlung, z. B.
Reisekosten zur Vorstellung bei einem Arbeitgeber (§§ 45 ­ 46 SGB
III) gewähren,
· zur Verbesserung der Vermittlungsaussichten (Trainingsmaßnahmen
zur Eignungsfeststellung/Kinderbetreuungskosten - §§ 48 -55) beitra-
gen,
· die berufliche Weiterbildung fördern (Weiterbildungskosten etc.) §§ 77
­ 87 SGB III
· Unterstützung bei der Berufsausbildung §§ 240 ff SGB III (ohne BAB)
leisten und
· beschäftigungsbegleitende Hilfen und Beschäftigung schaffende Maß-
nahmen wie Arbeitsgelegenheiten (§ 16 SGB II) gewähren, z. B. Ein-
gliederungszuschüsse, Beschäftigungszuschuss und Förderung der
Selbständigkeit.
· Eine Besonderheit hierbei stellt die ,,Sonstige weitere Leistung" dar,
die nach § 16 Abs. 2 Satz 1 SGB II dann gewährt werden kann, wenn
die gesetzlich geregelten Instrumente keine Fördermöglichkeit herge-
ben.
Die Aufgaben der Kommune im Rahmen der passiven Leistungen (Leistun-
gen zur Sicherung des Lebensunterhalts in kommunaler Zuständigkeit)
o
Leistungen für Unterkunft und Heizung (§ 22 SGB II)
o
Leistungen für Erstausstattung der Wohnung, Erstausstattung für
Bekleidung und Leistungen für mehrtägige Klassenfahrten (§ 23 Abs.3
SGB II)
Aktive Leistungen, die der jeweiligen Kommune nach § 16 Abs. 2 Satz 2 Nr.
2 - 4 SGB II zugeschrieben sind:
o
Schuldnerberatung
o
Psychosoziale
Beratung
o
Suchtberatung
Diese aktiven Leistungen der Kommune sollen verhindern, dass die Einglie-
derung an Schwierigkeiten scheitert, die in der allgemeinen Lebensführung
ihren Grund haben.
Im Falle der Zulassung als kommunaler Grundsicherungsträger übernimmt
der zugelassene kommunale Träger im Rahmen des Experiments auch die
der Agentur für Arbeit zugeschriebenen passiven Leistungen sowie die
Betreuung und Eingliederung der Arbeitsuchenden.

QUO VADIS SGB II ?
20
Zusammengefasst musste der Gesetzgeber seinen ursprünglichen Willen,
nämlich alle Leistungen aus einer Hand zu gewähren, zu Gunsten politischer
Kompromisse weitgehend aufgegeben. Zu der Tatsache, dass in einigen Um-
setzungsmodellen die Leistungen definitiv nicht aus einer Hand gewährt wer-
den, gibt es drei unterschiedliche Verwaltungsformen, sodass der Bürger sich
darauf einstellen muss, nach Überschreitung einer Kreisgrenze (beispielswei-
se bei einem Umzug) eine völlig andere Organisation vorzufinden, die seinen
Grundsicherungsantrag bearbeitet, ihn betreut und in Arbeit vermittelt.
Gleichzeitig wurde mit den §§ 6a (1), 6c und 55 SGB II ein Wettbewerb zwi-
schen den Trägermodellen ARGE und zkT eröffnet und im Gesetz implemen-
tiert.
Aus Sicht der Verfasser beinhaltet die gesetzliche Implementierung der Wir-
kungsforschung, auf die im Urteil des Bundesverfassungsgerichts noch einmal
deutlich hingewiesen wurde, implizit die Chance, sowohl inhaltliche Webfehler
des Gesetzes als auch fragwürdige Organisationsentscheidungen zu über-
denken und zu korrigieren. Zwar ist das Reformvorhaben, mehrere Transfer-
leistungen zu bündeln erreicht; angesichts der ,,vielen Hände" der zwei Grund-
sicherungsträger und drei Organisationsformen, die die gesetzlichen Leistun-
gen in einem Jobcenter, einer ARGE, einer Agentur für Arbeit, bei der kom-
munalen Vermittlungsstelle oder beim Amt für ,,Hilfe zur Arbeit" erbringen, er-
schien bereits vor der Urteilsverkündung Handlungsdruck, der sich durch die
Erklärung der ARGEn als nicht verfassungskonform noch verschärft hat. Es
genügt nun nicht mehr, das ,,bessere Modell" zu finden: durch die ,,Disqualifi-
zierung" des Hauptakteurs sind neue Ansätze gefragt.
3.3 Der
politische Weg: Neue Modelle seit dem Verfassungs-
gerichtsurteil vom 20.12.2007
3.3.1 Das kooperative Jobcenter (KJC) ­ BMAS/BA
Das kooperative Jobcenter (KJC), Vorschlag des Bundesministeriums für
Arbeit und Soziales in Zusammenarbeit mit der Bundesagentur für Arbeit kann
als Weiterentwicklung des Modells der getrennten Aufgabenwahrnehmung
beschrieben werden, welche das BMAS noch am Tag der Urteilsverkündung
des Bundesverfassungsgerichts unter dem Titel ,,So geht es auch" als erfolg-

QUO VADIS SGB II ?
21
reiches Modell, mit dem Beispiel der gAw Ravensburg an erster Stelle, in sei-
ner Presseerklärung beschrieb (vgl. BMAS 2007).
Es zielt auf die verfassungskonforme Umgestaltung der ARGEn hin, bei der
­ wie in der getrennten Trägerschaft ­ die gesetzlichen Aufgaben wie auch
das Personal eindeutig beim jeweiligen Grundsicherungsträger verbleiben.
Kommunale Mitarbeiter, die in der ARGE Bundesaufgaben, wie zum Beispiel
Fallmanagement oder Leistungsbearbeitung wahrnehmen, hätten freiwillig die
Möglichkeit, unter Wahrung ihrer Besitzstände zur Bundesagentur für Arbeit
als neuem Dienstherren zu wechseln (vgl. Scheele Weise 2008a, 2008b).
Die in der politischen Auseinandersetzung wesentlichste Kritik an diesem
Modell ist die untergeordnete Rolle der Kommunen, die lediglich für Kosten
der Unterkunft und flankierende Maßnahmen zuständig wären und damit kei-
nen Einfluss auf die regional zu gestaltende Arbeitsmarkpolitik hätten. Der
damit befürchteten Einführung der Bundesverwaltung durch die Hintertür, in-
dem die BA-gesteuerten Aktivierungs- und Integrationsstrategien eng entlang
der Interessen des Bundes verwirklicht werden, versucht die Idee des KJC da-
durch zu begegnen, dass freiwillige Kooperationsvereinbarungen der Grund-
sicherungsträger die partnerschaftliche Zusammenarbeit vor Ort regeln sollen.
Auf eine nicht zu unterschätzende Problematik dieser Umsetzungsvariante
sei von Seiten der Verfasser hingewiesen: Tragende Säule des KJC ist das
Zustandekommen freiwilliger Kooperationsvereinbarungen. Diese hängen
jedoch von der Kooperationswilligkeit und -fähigkeit der beteiligten Partner ab.
Langwierige Verhandlungen bei der Gründung von ARGEn und die im Laufe
der Zeit erfolgten vier Kündigungen von ARGE-Verträgen zeigen die Gefahr
auf, dass unter neuen Bedingungen und ohne fehlenden Einigungszwang völ-
lig offen bleibt, ob es zu der angestrebten gemeinsam inhaltlichen Ausrichtung
der Arbeit tatsachlich kommen würde.
3.3.2 Zentrum für Arbeit ­ Deutscher Städte- und Gemeindebund
Einen interessanten Ansatz der Neuordnung der Arbeitsverwaltung nach dem
SGB II erläutert Albert von Mutius in seinem Rechts- und verwaltungswissen-
schaftlichen Gutachten vom April 2008, das vom Deutschen Städte- und
Gemeindebund in Auftrag gegeben wurde. Er zeigt eine, auch unter den herr-
schenden politischen Mehrheitsverhältnissen realisierbare Lösung auf, die die
Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts berücksichtigt:

QUO VADIS SGB II ?
22
Grundlage ist die eindeutig getrennte Aufgabenzuschreibung, die die verfas-
sungsrechtlich zulässigen Ansätze der Kooperation und Koordination nutzt.
Das Zentrum für Arbeit wird im Rahmen des § 1 Abs. 2 SGB II als Behörde
geführt. Sie erlässt einen gemeinschaftlichen Verwaltungsakt, bestehend aus
zwei trennbaren Regelungen und ist mit zwei Unterschriften gem. § 31 Satz 1
SGB X versehen. Als Dienststelle im Sinne des Personalvertretungsrechts
wird zur Wahrnehmung des kollektiven Grundrechts aus Art. 9 Abs. 3 GG eine
ordnungsgemäße Personalvertretung abgeleitet, ein Vorteil zur heterogenen
Personalvertretungsstruktur der ARGEN.
Ein Vorstand, bestehend aus den beiden Geschäftsführern der Zuständig-
keitsbereiche der Arbeitsagentur einerseits und des kommunalen Trägers der
Aufgaben der Grundsicherung andererseits, wechseln sich als Geschäftsfüh-
render Vorstand im zweijährigen Turnus ab, sodass die gleichrangige Bedeu-
tung von kommunalen - und Bundesinteressen zum Ausdruck kommt.
Ein gemeinsames Front-Office zur Aufnahme der Grunddaten und der
unmittelbaren Erstbetreuung wäre solange verfassungskonform, als die jewei-
lige Sachbearbeitung im Hintergrund (back-office) klar getrennt arbeiten würde
und eine eindeutige Zuordnung zum jeweiligen Grundsicherungsstrang
bestünde. Auch eine gemeinsame Software ist dann zulässig, wenn den Trä-
gern Entscheidungsspielräume verblieben (vgl. von Mutius 2008, S. 91 f).
Insgesamt wären Koordination und Kooperation, anders als bei der getrennten
Trägerschaft, stärker festgeschrieben und die Leistungen, wenn auch nicht
gänzlich ,,aus einer Hand", so wenigstens ,,aus einem Haus" gewährleistet.
3.3.3 Die Bundesauftragsverwaltung (das ,,Bayernmodell")
Hierbei handelt es sich um einen im Mai 2008 veröffentlichten Vorschlag der
Länder Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen zur Zusammenarbeit von
Bundesagentur für Arbeit und Kommunen bei getrennter Trägerschaft (so
genanntes ,,Bayernmodell" oder ,,Südländermodell").
Die Eckpunkte:
Die Geldleistung (ALG II und Sozialgeld) wird allein von den Kommunen voll-
zogen, sodass die Bearbeitung und Zahlbarmachung sowie die Betreuung der
eHb in Leistungsdingen von den jeweiligen Kommunen erbracht wird. Konse-
quenz daraus ist die vollständige Erstattung der Regelleistungen durch den

QUO VADIS SGB II ?
23
Bund an die Länder als Aufsicht der Kommunen im Rahmen einer Bundes-
auftragsverwaltung und die Aufhebung der bisherigen Zuständigkeitsregelung
nach § 6 Abs.1 Nr. 1 SGB II.
Die Vermittlung und Betreuung der eHb verbliebe bei der Bundesagentur für
Arbeit, wobei die Kommune weiterhin für die flankierenden Leistungen ver-
antwortlich zeichnen könne; eine gesetzliche Kooperationspflicht könne die
Prinzipien des Förderns und Forderns verknüpfen.
Des Weiteren enthält der Vorschlag der o. g. Länder Elemente des KJC, die
beide Träger der Grundsicherung verpflichtet, einen Kooperationsausschuss
zu bilden, welcher die Arbeitsmarktpolitik erörtert, die Beauftragung der Kom-
munen mit der Betreuung bestimmter Hilfebedürftiger ermöglicht und Rege-
lungen, die die Schnittstellen zwischen den Trägern berühren, klärt (vgl. Kon-
zeptpapier der Südländer 2008).
Zwar kann in diesem Modell den regionalen Besonderheiten und die Nut-
zung kommunaler Kompetenzen durch die Aufgabenwahrnehmung vor Ort
Rechnung getragen werden, jedoch steht dem Auseinanderfallen von aktiven
und passiven Leistungen eine effektive und effiziente Aufgabenerledigung
entgegen. Die Gewährung von Leistungen zum Lebensunterhalt steht unmit-
telbar mit der Forderung Integrationsfortschritte zu erzielen, um dem Arbeits-
markt näher zu kommen, in Zusammenhang. Fördern und Fordern würde
auseinanderdividiert und die Aufgabenerledigung aus einer Hand für den Bür-
ger/Kunden nicht mehr sichtbar. Die Abstimmung bei jeder Eingliederungsver-
einbarung würde den Verwaltungsaufwand stark erhöhen und zeitnahe Ent-
scheidungen, zum Beispiel bei der Umsetzung von Sanktionen, verhindern.
Jedwede Änderung in den Lebensverhältnissen der Bedarfsgemeinschaft
müsste, mangels einheitlicher IT-Lösungen, über Kopien an den jeweils
zuständigen Träger weitergeleitet werden, was zu weit reichendem, zusätzli-
chem Verwaltungsaufwand führen würde (vgl. Schmachtenberg 2008a, Folie
12+17).
Bund-Länder-Arbeitsgruppe/Arbeits- und Sozialministerkonferenz
Um doch noch zu einer Lösung zu kommen, wurde nach Beschluss der
Arbeits- und Sozialministerkonferenz am 09.05.2008 eine Bund-Länder
Arbeitsgruppe gebildet, die die in der Zwischenzeit erarbeiteten Alternativen
des KJC (kooperatives Jobcenter), der Bundesauftragsverwaltung für passive
Leistungen und KJC (,,Bayernmodell") und die Beibehaltung der ARGEn durch

QUO VADIS SGB II ?
24
Verfassungsänderung prüfen sollte. Nicht diskutiert wurde das von Professor
von Mutius entwickelte Modell Zentrum für Arbeit (ZfA), das wie oben
beschrieben ohne Verfassungsänderung umsetzbar wäre.
3.3.4 Aktueller Stand der politischen Diskussion ­ Modell ,,ZAG" mit
Verfassungsänderung und Festschreibung der Option
Mit einer 16:0 Entscheidung haben sich die Minister und Senatoren für Arbeit
und Soziales auf ihrer Sonderkonferenz am 14. Juli 2008 gegen das koopera-
tive Jobcenter und das ,,Bayernmodell" entschieden und sich vielmehr in Kon-
sequenz des Urteils des Bundesverfassungsgerichts und um die Hilfen aus
einer Hand gewährleisten zu können, entschlossen, das Modell der Misch-
verwaltung im Rahmen einer Verfassungsänderung zu ,,legalisieren".
Damit werde, so der Vorsitzende der ASMK, den Bürgern, aber auch den Mit-
arbeitern der ARGEn ein Stück Verunsicherung genommen, indem die
bewährte gemeinsame Aufgabenerledigung fortgesetzt würde. Im Beschluss-
vorschlag heißt es zudem, dass eine Regelung vorzusehen sei, die den Fort-
bestand des bisherigen Optionsmodells gewährleiste.
Konkret bedeutet dieser Beschluss, zum einen ein ARGE- Nachfolgemodell
zu etablieren, gleichzeitig jedoch ein zweites Modell, das der kommunalen
Option, dauerhaft festzuschreiben, sodass weiterhin mehrere Organisations-
formen nebeneinander der aus Sicht der Verfasser erforderlichen bundesein-
heitlichen Aufgabenerledigung der Grundsicherung für Arbeitssuchende ent-
gegenstünden.
Der verabschiedete Kompromiss zwischen Ländern, Kommunen und dem
Bund wurde durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Entwurf
zur Neuorganisation der Durchführung des SGB II (Nachfolgeregelung für
ARGEn, Verstetigung der kommunalen Option) mit Stand vom 23.09.2008
unter dem Namen Zentrum für Arbeit und Grundsicherung (ZAG) konkreti-
siert.
Der erhoffte politische Konsens als Grundlage für einen Gesetzesentwurf,
der die Chance hat den Bundesrat zu passieren, kann durch dieses vom
BMAS ausgearbeitete Modell jedoch voraussichtlich nicht erreicht werden.
Aus dem Rundschreiben des Landkreistages Baden Württemberg, Sicht des
Deutschen Landkreistages, (Rundschreiben 858/2008) und dem Schreiben
der Staatsministerin Christa Stewens des Bayerischen Staatsministerium für

QUO VADIS SGB II ?
25
Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen vom 02.10.2008 (Sicht der Uni-
onsländer) werden wesentliche Kritikpunkte, insbesondere die unmittelbare
Aufsicht und die Informationstechnik des Bundes betreffend, deutlich. Außer-
dem sei die Dienstherreneigenschaft des ZAG nicht gegeben und eigenes
Personal würde nicht vorgehalten. Die Umsetzungsverantwortung müsse ein-
deutig beim ZAG selbst liegen, um Weisungsdurchgriffe des Bundes bzw. der
Länder zu vermeiden. Lediglich die Gewährleistungsverantwortung dürfe bei
den einzelnen Grundsicherungsträgern liegen. Operative Entscheidungen
seien über die Trägerversammlung vor Ort zu treffen und dürften der Aufsicht
des Bundes nicht unterliegen.
Weiteres Konfliktpotenzial liegt in der vom Landkreistag und den unionsge-
führten Ländern kritisierten Festschreibung der Optionskommunen auf die
bisherige Anzahl von 69, über die der Bund die Aufsicht führen soll, was zu
einer für die Kommunen unbilligen Einschränkung ihrer Freiheit führen würde.
Eine unbefristete Verankerung kommunaler Option oder deren Erweiterung
würde aus Sicht der Verfasser die bundeseinheitliche Umsetzung des Geset-
zes dauerhaft verhindern.
3.4
Die alles beherrschende Frage: Wer kann es besser? Der Bund
oder die Kommunen?
Seit Verkündung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts am 20.12.2007
entstehen je nach politischer Positionierung ­ wie oben dargestellt ­ immer
neue Umsetzungsvarianten, die ­ unter dem Deckmantel inhaltlicher Verbes-
serungen ­ jeweils lediglich den eigenen Machterhalt und die Stärkung des
Einflusses auf die Grundsicherung für Arbeitsuchende zum Ziel haben, ohne
inhaltlich signifikant weiter zu führen. Anstatt der Annäherung in Form eines
tragfähigen Kompromisses sind verhärtete Fronten zu erkennen, wodurch das
bereits im Rahmen des Gesetzentwurfs begonnene ,,Machtgerangel" immer
wieder eine Neuauflage nach dem gleichen Muster erfährt: jede Aktion, jede
Äußerung eines beteiligten Akteurs fordert jeweils unmittelbar die Reaktionen
aller anderen Gruppierungen heraus, deren Stellungnahmen dann je nach
politischer oder gesellschaftlicher Positionierung ausfallen.
Als beteiligte Akteure sind dabei insbesondere die Regierungs- und die
Oppositionsparteien, der Deutsche Landkreistag, der Deutsche Städte- und

QUO VADIS SGB II ?
26
Gemeindebund, die Bundesagentur für Arbeit, die Länderregierungen, arbeit-
geber- oder gewerkschaftsnahe Verbände sowie verschiedene Wohlfahrtsver-
bände und Arbeitsloseninitiativen zu identifizieren (vgl. dazu Anhang II). Die
Grundpositionen sind seit dem ersten Gesetzentwurf weitgehend unverändert
und beschränken sich nach wie vor in erster Linie auf die Frage, wer es denn
nun besser könne: Der Bund in Form der Bundesagentur für Arbeit oder die
Kommunen in eigener Zuständigkeit?
Das Ziel der Bundesregierung, noch in dieser Legislaturperiode eine Ent-
scheidung über das SGB II zu treffen, steht damit zumindest in Frage, wohl
wissend, dass die Zeit allmählich drängt und bis zum 31.12.2010 bereits eine
Nachfolgeorganisation der ARGE umgesetzt sein muss.
Unterstrichen wird die Forderung nach einem ,,funktionierenden Modell" auf
Bundesebene durch die Volumina und die Dimension der Grundsicherung für
Arbeitsuchende. Bisher nicht arbeitslos gemeldete, erwerbsfähige Sozialhilfe-
empfänger wurden durch die Reform aktiv in die Arbeitsvermittlung mit einbe-
zogen und statistisch erfasst, das Ausmaß der Hilfebedürftigkeit in Deutsch-
land wurde offenbar. Fast 10% aller in Deutschland lebenden Menschen
erhalten Leistungen dieser Grundsicherungsart. Das zeigt, welche Herausfor-
derungen für Wirtschaft und Gesellschaft am Arbeitsmarkt zu lösen sind. In
der Umsetzung der Grundsicherung für Arbeitssuchende arbeiten ca. 71.500
Beschäftigte, die im Jahr 2007 fast 2,5 Millionen Eintritte in Arbeitsmarktpoliti-
sche Maßnahmen realisierten und 7,72 Millionen Erst- und Folgeanträge
bewilligten. Die Gesamtkosten betrugen in diesem Zeitraum rund 45,5 Mrd.
Euro (vgl. Schmachtenberg 2008b, S. 80).
Eine Alternative, z. B. eine bundeseinheitliche, eigenständige Organisati-
onsform mit dezentralem Gestaltungsspielraum auf kommunaler Ebene, wie
von den Verfassern wegen des Erfordernisses gleicher Rechtsanwendung im
Geltungsbereich des Gesetzes bevorzugt, scheitert regelmäßig an den unter-
schiedlichen o. g. Grundpositionen der Entscheidenden. Dr. Rolf Schmach-
tenberg vom BMAS erläutert in seinem Artikel im ,,Wirtschaftsdienst" dazu:
,,Wenn die Leistungen der Grundsicherung allein von den Kommunen
erbracht werden, so ist damit zwangsläufig der Aufbau einer kompletten Dop-
pelstruktur in Deutschland im Bereich der öffentlichen Arbeitsvermittlung ver-
bunden. Will man tatsächlich eine weitgehende Bündelung der Leistungen aus
einer Hand, so muss man den Weg des ursprünglichen Gesetzesentwurfs der
Bundesregierung verfolgen und die Leistungen bei der Bundesagentur für
Arbeit zusammenfassen. Dies ist kein optimaler Ansatz da hiermit ein Krite-
rium für die Entscheidung allein ausschlaggebend wäre, und gerade die neue

QUO VADIS SGB II ?
27
Qualität in der Grundsicherung für Arbeitssuchende, nämlich die Bündelung
von kommunalen und Bundeskompetenzen, geschwächt würde oder sogar
verloren ginge". (Schmachtenberg 2008b, S. 82).
In seinem Ausblick plädiert Schmachtenberg für die enge Zusammenarbeit
von Kommunen und Agenturen für Arbeit, die der Leistungserbringung der
ARGEn bereits sehr nahe käme (ebd. S. 84), bedauert an anderer Stelle
jedoch, dass eine Bundeseinheitlichkeit der Leistungserbringung nicht erreicht
werden konnte und sich der Zustand uneinheitlicher Rechtsanwendung hin-
ziehe (ebd. S 84).
Im Gegensatz dazu zieht Professor Dr. Hans-Günther Henneke (geschäfts-
führendes Präsidialmitglied des Deutschen Landkreistages) in seinem Aufsatz
,,Karlsruhe setzt Signale für kommunale Gesamtträgerschaft des SGB II" fol-
gendes Resümee:
,,Aus Sicht der Arbeitsuchenden muss die Hilfegewährung aus einer Hand
nach wie vor das leitende Ziel sein. Dabei bringen die Kommunen entschei-
dende Kompetenzen zur orts- und bürgernahen Betreuung und Vermittlung
erwerbsfähiger Hilfebedürftiger mit, weswegen eine kommunale Verantwor-
tung für vorzugswürdig gehalten wird" (Henneke 2008, S. 90)
Ein ähnlicher Trend der Kommunalisierung ist auch in anderen Staaten zu
beobachten, in denen die Gemeinden traditionell für die Sozialhilfe und für
Integrationsmaßnahmen der entsprechenden Zielgruppen zuständig sind, z.B.
in den Niederlanden, Dänemark und Schweden. Allerdings sind diese Länder
zentral regierte Staaten, die bei den kommunalen Verwaltungen steuernd ein-
greifen können. In den USA und Kanada wird z.B. seit vielen Jahren die
Umsetzung der Arbeitsmarktpolitik nach nationalen Leitlinien den Bundessta-
ten bzw. den Provinzen übertragen, die Vereinbarungen mit der entsprechen-
den Bundesregierung abschließen. Andererseits betrachten andere Länder,
wie Großbritannien, die Arbeitsmarktpolitik als eine eminent wichtige nationale
Aufgabe, die zentral und einheitlich geführt werden sollte, einschließlich der
Grundsicherung (vgl. Mosley 2008, S.92).
Bei einem internationalen Wissenschaftsworkshop im September 2007 in
Berlin wurden Modelle verschiedener europäischer Nachbarn hinsichtlich
möglicher Übertragungsmöglichkeiten auf die Bundesrepublik diskutiert.
Wenngleich die Ansätze ­ wie bereits oben von Mosley erwähnt ­ unter-
schiedlich sind, so finden die Verfasser in der Dokumentation keine Anhalts-
punkte dahingehend, dass in einem Staat zwei Modelle (kommunaler und

QUO VADIS SGB II ?
28
zentraler Ansatz) dauerhaft parallel existieren, was bei der geplanten Verfas-
sungsänderung zugunsten der ARGEn und der Weiterführung der kommuna-
len Option der Fall wäre (vgl. ISG 2007b).
Zusammengefasst zeigen die Beispiele und Positionierungen auf, dass eine
politische Lösung zum einen in der Legalisierung der Mischverwaltung mit all
ihren Reibungsverlusten liegen kann, zum anderen in der Wahl der Übertra-
gung der Aufgaben an die Länder, die wiederum die Verantwortung den
Kommunen übertragen können oder in der vollständigen Übertragung der
Aufgaben auf den Bund.
Weiterhin zeigt sich, dass ­ obwohl eine Vielzahl von Zwischenergebnissen
der Evaluationsforschung bereits veröffentlicht sind und auch die Endergeb-
nisse dem BMAS inzwischen vorliegen dürften ­ in keiner Positionierung und
in keinem der Modellentwürfe seit dem Bundesverfassungsgerichtsurteil die
Wirkungsforschung auch nur andeutungsweise Erwähnung findet.
Da sich auf der politischen Ebene ­ wie oben differenziert beschrieben ­
keine konsensfähige Lösung abzeichnet, verfolgen die Verfasser hier nun
einen neuen Ansatz zur Entwicklung eines Umsetzungsmodells, das zum
einen dem ursprünglichen Willen des Gesetzes Rechnung trägt, zum anderen
eine bürgerfreundliche Aufgabenerledigung gewährleisten kann und ­ im
Gegensatz zu den bisherigen Ansätzen ­ die Evaluationsforschung sowie an
der Basis entstandene inhaltliche Kriterien ebenso wie organisations- und
managementtheoretische Aspekte konsequent mit einbezieht. Dazu wird in
einem ersten Schritt ein Überblick über Forschungsansätze und Zwischener-
gebnisse der (nicht abgeschlossenen) vielfältigen Evaluationsprojekte gege-
ben.

QUO VADIS SGB II ?
29
4.
Evaluation der Experimentierklausel und allgemeine Wir-
kungsforschung
Im Gesetz festgeschrieben sind zwei Formen der Wirkungsforschung: wäh-
rend die eine sich unmittelbar auf den Wettbewerb der Agenturen für Arbeit
und der zugelassenen kommunalen Träger bezieht (§ 6a Abs. 1 bzw. § 6c
SGB II) und durch oder im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und So-
ziales durchgeführt wird, bezieht sich der § 55 des SGB II auf die allgemeine
Wirkungsforschung zu den ,,Instrumenten" des SGB II, also z. B. zu den ver-
schiedenen Leistungen der Eingliederung und der Leistungen zur Sicherung
des Lebensunterhalts und unterliegt u. a. der Bundesagentur für Arbeit und
deren Institut zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB).
,,§ 6a Experimentierklausel
(1) Zur Weiterentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende sollen an
Stelle der Agenturen für Arbeit als Träger der Leistung nach § 6 Abs. 1 Satz 1
Nr. 1 im Wege der Erprobung kommunale Träger im Sinne des § 6 Abs. 1
Satz 1 Nr. 2 zugelassen werden können. Die Erprobung ist insbesondere auf
alternative Modelle der Eingliederung von Arbeitsuchenden im Wettbewerb zu
den Eingliederungsmaßnahmen der Agenturen für Arbeit ausgerichtet".
,,§ 6c Wirkungsforschung zur Experimentierklausel
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales untersucht die Wahrnehmung
der Aufgaben durch die zugelassenen kommunalen Träger im Vergleich zur
Aufgabenwahrnehmung durch die Agenturen für Arbeit und berichtet den
gesetzgebenden Körperschaften des Bundes bis zum 31. Dezember 2008
über die Erfahrungen mit den Regelungen nach den §§ 6a und 6b. Die Länder
sind bei der Entwicklung der Untersuchungsansätze und der Auswertung der
Untersuchung zu beteiligen".
,,§ 55 Wirkungsforschung
Die Wirkungen der Leistungen zur Eingliederung und der Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts sind regelmäßig und zeitnah zu untersuchen
und in die Arbeitsmarkt- und Berufsforschung nach § 282 des Dritten Buches
einzubeziehen. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und die Bun-
desagentur können in Vereinbarungen Einzelheiten der Wirkungsforschung
festlegen. Soweit zweckmäßig, können Dritte mit der Wirkungsforschung
beauftragt werden".
Aufgeführt ist allerdings an keiner Stelle des Gesetzes, was der Gesetzge-
ber zu tun gedenkt, wenn die Berichte der Forschungsinstitute zum
31.12.2008 vorliegen und sich der Erprobungszeitraum der zkT langsam dem

QUO VADIS SGB II ?
30
Ende entgegen neigt (31.12.2010 ­ nur zufällig zeitgleich mit dem vom Ver-
fassungsgericht anberaumten ,,Ablaufdatum" für die ARGEn?). Was ist vorge-
sehen, wenn sich im wettbewerblichen Vergleich zeigt, dass ARGEn oder gAw
,,besser" sind als die zkT? Was geschieht, wenn die zkT einen Vorsprung
erringen oder was, wenn alle in unterschiedlichen Aspekten gut abschneiden?
Ist eine Vereinheitlichung der Organisationsform zu Gunsten einer der zwei
(drei) Verwaltungsformen oder die Einrichtung einer ganz neuen Umset-
zungsform vorgesehen? Dies alles lässt der Gesetzgeber offen.
Angesichts der zahl- und umfangreichen, vom BMAS einerseits sowie ver-
schiedenen ,,Lobbyisten" (u. a. Landkreistag, BA,) andererseits in Auftrag
gegebenen Untersuchungen zur Evaluation im Rahmen der Experimentier-
klausel erscheint es erforderlich, zunächst einen Überblick über den aktuellen
Forschungsstand zu erhalten, auf den bei der regionalen Betrachtung ab
Kapitel fünf immer wieder Bezug genommen wird.
4.1
Wirkungsforschung zur Experimentierklausel im Auftrag des
BMAS: ISG ­ Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik
Schwerpunkt der § 6c-Evaluation ist die Frage, welches der beiden Hauptmo-
delle der Aufgabenwahrnehmung, die nach dem Willen der Experimentier-
klausel zur Weiterentwicklung der Grundsicherung für Arbeitssuchende im
Wettbewerb stehen, Arbeitsgemeinschaften (ARGEn) und zugelassene kom-
munale Träger (zkT), bei der Umsetzung des SGB II, insbesondere bezüg-
lich der Eingliederungsleistungen, erfolgreicher ist und warum. Ergänzt
wird dies durch die Frage, welche organisatorischen Umsetzungsstrate-
gien erfolgreicher sind und zwar dies unabhängig vom Modell der Aufga-
benwahrnehmung (vgl. ISG ­ Internetauftritt 2008).
Das ISG wurde mit der wissenschaftlichen Beratung des BMAS und der
Koordination der Wirkungsforschung nach § 6c SGB II beauftragt. Die Evalua-
tion wird in vier Untersuchungsfeldern durch neun weitere namhafte und
unabhängige Forschungsinstitute durchgeführt.
Laut dem ISG basiert das Gesamtkonzept der Evaluation nach § 6c SGB II
auf einem integrierten Ansatz zur Vernetzung aller in diesem Rahmen durch-
geführten Vorhaben. Es sei ein Forschungsverbund geschaffen worden, in
dem die einzelnen Untersuchungsfelder jeweils Aufgaben für die anderen mit
übernehmen:

QUO VADIS SGB II ?
31
Die vier Untersuchungsfelder der Evaluation der Experimentierklausel
nach § 6c SGB II
Untersuchungsfeld
Auftragnehmer
Felderübergreifende
Koordination und Bera-
tung, Integration der
Einzelergebnisse.
Beratung des BMAS
Institut für Sozialforschung und Gesell-
schaftspolitik
UF 1
Deskriptive Analyse
und Matching
·
IAW - Institut für angewandte Wirtschaftsforschung e.V.,
Tübingen
·
ZEW ­ Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung
GmbH, Mannheim
Das Untersuchungsfeld 1 arbeitet flächendeckend in allen Kreisen und kreisfreien
Städten, es erhebt Organisationsindikatoren bei allen ARGEn, zkT und Kommunen
mit getrennter Aufgabenwahrnehmung und stellt den anderen drei Feldern die bei der
Bundesagentur für Arbeit erfassten Prozessdaten zur Verfügung.
UF 2
Implementations- und
Governance-Analyse
·
ISR ­ Institut für Stadt- und Regionalentwicklung der Fach-
hochschule Frankfurt am Main
·
infas ­ Institut für angewandte Sozialwissenschaft GmbH,
Bonn
·
IAJ ­ Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufs-
hilfe, Oldenburg
·
WZB ­ Wissenschaftszentrum Berlin, Abt. Arbeitsmarktpolitik
und Beschäftigung
·
Simma Partner Consulting GmbH, Bregenz
Das Untersuchungsfeld 2 führt intensive Fallstudien in einer repräsentativen Aus-
wahl von 154 regionalen Einheiten durch. Alle diese Informationen werden zusätzlich
quantitativ verdichtet und dienen den Feldern 3 und 4 als Input für deren mikro- und
makroanalytischen Analysen.
UF 3
Wirkungs- und Effi-
zienzanalyse
·
ZEW ­ Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung
GmbH, Mannheim
·
IAQ ­ Institut Arbeit und Qualifikation, an der Universität
Duisburg Essen
·
TNS Emnid, Bielefeld
Das Untersuchungsfeld 3 bewertet die Wirksamkeit der unterschiedlichen Modelle
der Aufgabenwahrnehmung auf Ebene der einzelnen SGB II-Bezieher/-Bezieherin-
nen sowie deren Bedarfsgemeinschaften auf Basis der von den Feldern 1 und 2 zur
Verfügung gestellten Informationen zum Prozess der Leistungserbringung sowie
eigener Erhebungen bei Leistungsempfängern/-empfängerinnen. Diese Bewertungen
werden in den repräsentativ ausgewählten 154 Regionen erfolgen.
UF 4
Makroanalysen und
regionale Vergleiche
·
ifo ­ Institut für Wirtschaftsforschung, München
·
IAW - Institut für angewandte Wirtschaftsforschung e.V.,
Tübingen
Das Untersuchungsfeld 4 hat die Aufgabe, die unterschiedlichen makroökonomi-
schen Effekte der unterschiedlichen Modelle der Aufgabenwahrnehmung zu ermit-
teln. Es wird Analysen auf der Ebene aller 442 regionalen Einheiten durchführen und
dabei auf die Ergebnisse der anderen drei Felder zurückgreifen.
Abb. 2: Vom BMAS beauftrage Institute zur Wirkungsforschung und deren For-
schungsfelder (Quelle: ISG-Internetauftritt 2008; eigene Darstellung)

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Originalausgabe
Jahr
2008
ISBN (eBook)
9783842814400
Dateigröße
2.7 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Hochschule Ravensburg-Weingarten – Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege, Studiengang Management im Sozial- und Gesundheitswesen
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
1,0
Schlagworte
sozialpolitik hartz jobcenter organisationsentwicklung
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Titel: Quo Vadis SGB II? - Die Neuorganisation der Grundsicherung für Arbeitsuchende im Spannungsfeld zwischen politischen, wissenschaftlichen und pragmatischen Interessen
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