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Der Konflikt um Berg-Karabach

Ursachen für das Scheitern der Konfliktlösungsstrategien

©2006 Magisterarbeit 118 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind in der Region zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer mehrere Nationalstaaten entstanden. Die neuen territorialen Grenzen, die Herausbildung nationaler Identitäten und die politische Liberalisierung im Zuge der Demokratisierung brachten im Kaukasus mehrdimensionale Konflikte hervor, die zuvor während des kommunistischen Regimes durch Repression kontrolliert wurden. Im Südkaukasus äußerte sich dies im Konflikt um Berg-Karabach, das als ein autonomes Gebiet unter der Jurisdiktion der Aserbaidschanischen Sowjetrepublik stand. Die armenisch-aserbaidschanische Konfrontation brach 1988/89 aus, als die ansässige armenische Mehrheit der Bevölkerung in Berg-Karabach den Anschluss ihres Gebietes an Armenien forderte und von beiden Seiten Gewaltausschreitungen einsetzten. Die Auseinandersetzung präsentierte sich als eine der längsten und opferreichsten Sezessionskonflikte im postsowjetischen Raum.
Achtzehn Jahre nach den ersten Auseinandersetzungen in Berg-Karabach ist die militärische Konfliktaustragung zwar beigelegt worden, doch der politische Konflikt ist bis heute präsent. Zwar werden im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) seit 1992 immer wieder Verhandlungen geführt, ein Konsens zur endgültigen Beilegung der armenisch-aserischen Interessengegensätze konnte jedoch bislang nicht erreicht werden.
Mit dem Ausbruch des Jugoslawienkonfliktes trat Berg-Karabach in der weltweiten Berichterstattung zwar immer mehr in den Hintergrund, dessen internationale Bedeutung nahm jedoch in den letzten Jahren besonders zu. Entscheidend dafür waren die Erschließung der kaspischen Energierohstoffe und die geostrategische Lage des Transkaukasus als Transitkorridor für die Pipelines in den Westen und als Brücke zwischen Europa und Asien. Die internationale Relevanz des Transkaukasus rückt zugleich die Notwendigkeit von Stabilisierungsmaßnahmen durch Beilegung der Konflikte in den Vordergrund, um erneute Gewaltausbrüche in der Region langfristig zu vermeiden.
Ziel der vorliegenden Arbeit ist die Identifikation derjenigen Ursachen, die eine endgültige friedenspolitische Konfliktlösung erschweren oder verhindern. Es wird dabei der Frage nachgegangen, welche Hindernisse für die vierzehnjährige Verzögerung des Vermittlungsprozesses und damit für das Scheitern der Konfliktlösung ausschlaggebend sind. Insbesondere die Konfliktlösungsstrategien der internationalen […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1. Fragestellung
1.2. Aufbau, Methode und Literaturauswahl
1.3. Konflikt: Definition, Theorie, Erkenntnisinteresse

Teil I: Konfliktstruktur

2. Konfliktverlauf

3. Konfliktakteure und strukturelle Asymmetrien

4. Konfliktursachen
4.1. Lokale Ebene
4.1.1. Ethnisch-territoriale Faktoren
4.1.2. Sozial-ökonomische Faktoren
4.2. Nationale Ebene
4.2.1. Historische Narrative und nationale Identitätssuche
4.2.2. Demokratiedefizite
4.3. Internationale Ebene
4.3.1. Wirtschafts- und sicherheitspolitische Interessen externer Akteure
4.3.2. Konfliktträchtige Interventionen externer Akteure

Teil II: Internationale Konfliktlösung

5. Verlauf der Konfliktvermittlung

6. Analyse der Vermittlungshindernisse
6.1. Die Konfliktreife
6.2. Die Rolle der strukturellen Asymmetrien
6.2.1. Qualitative Asymmetrien im Verhandlungsprozess
6.2.2. Quantitative Asymmetrien durch Allianzbildungen
6.3. Das Sicherheitsdilemma
6.4. Institutionelle Defizite der OSZE

7. Fazit und Perspektiven

Karte der Konfliktregion

Abkürzungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

1.1. Fragestellung

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind in der Region zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer mehrere Nationalstaaten entstanden. Die neuen territorialen Grenzen, die Herausbildung nationaler Identitäten und die politische Liberalisierung im Zuge der Demokratisierung brachten im Kaukasus mehrdimensionale Konflikte hervor, die zuvor während des kommunistischen Regimes durch Repression kontrolliert wurden. Im Südkaukasus äußerte sich dies im Konflikt um Berg-Karabach,[1] das als ein autonomes Gebiet unter der Jurisdiktion der Aserbaidschanischen Sowjetrepublik stand. Die armenisch-aserbaidschanische Konfrontation brach 1988/89 aus, als die ansässige armenische Mehrheit der Bevölkerung in Berg-Karabach den Anschluss ihres Gebietes an Armenien forderte und von beiden Seiten Gewaltausschreitungen einsetzten. Die Auseinandersetzung präsentierte sich als eine der längsten und opferreichsten Sezessionskonflikte im postsowjetischen Raum.

Achtzehn Jahre nach den ersten Auseinandersetzungen in Berg-Karabach ist die militärische Konfliktaustragung zwar beigelegt worden, doch der politische Konflikt ist bis heute präsent. Zwar werden im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) seit 1992 immer wieder Verhandlungen geführt, ein Konsens zur endgültigen Beilegung der armenisch-aserischen[2] Interessengegensätze konnte jedoch bislang nicht erreicht werden.

Mit dem Ausbruch des Jugoslawienkonfliktes trat Berg-Karabach in der weltweiten Berichterstattung zwar immer mehr in den Hintergrund, dessen internationale Bedeutung nahm jedoch in den letzten Jahren besonders zu. Entscheidend dafür waren die Erschließung der kaspischen Energierohstoffe und die geostrategische Lage des Transkaukasus als Transitkorridor für die Pipelines in den Westen und als Brücke zwischen Europa und Asien. Die internationale Relevanz des Transkaukasus rückt zugleich die Notwendigkeit von Stabilisierungsmaßnahmen durch Beilegung der Konflikte in den Vordergrund, um erneute Gewaltausbrüche in der Region langfristig zu vermeiden.

Ziel der vorliegenden Arbeit ist die Identifikation derjenigen Ursachen, die eine endgültige friedenspolitische Konfliktlösung erschweren oder verhindern. Es wird dabei der Frage nachgegangen, welche Hindernisse für die vierzehnjährige Verzögerung des Vermittlungsprozesses und damit für das Scheitern der Konfliktlösung ausschlaggebend sind. Insbesondere die Konfliktlösungsstrategien der internationalen Vermittler, die unter der Ägide der OSZE agieren, deren Rolle und Auswirkungen auf den Konfliktlösungsprozess bilden das Augenmerk dieser Arbeit. Der Ursachenforschung für das Scheitern der Konfliktlösungsstrategien kommt hierbei eine zentrale Bedeutung zu, da sie neue Perspektiven hinsichtlich der Perzeption und Lösung des Konfliktes eröffnen kann. Zugleich werden durch die Konfliktanalyse am Beispiel des Berg-Karabachs die Dynamik und Struktur von Sezessionskonflikten im postsowjetischen Raum veranschaulicht.

1.2. Aufbau, Methode und Literaturauswahl

Die Arbeit gliedert sich in zwei aufeinanderfolgende Teile. Um ein besseres Verständnis für die Thematik zu liefern, wird im ersten Teil aus konfliktanalytischer Sicht zunächst die Konfliktstruktur untersucht. Dabei werden der Verlauf, die Konstellation der Konfliktparteien und die Ursachen des Konfliktes herausgearbeitet. Eine Identifikation Letztgenannter erfolgt bezogen auf die lokale Ebene in Berg-Karabach, die nationale Ebene in Armenien und Aserbaidschan und die internationale Ebene, über welche die konfliktträchtigen Interventionen externer Akteure beobachtbar werden. Die Analyse der Konfliktursachen soll aufzeigen, welche Entwicklungen zur Gewalteskalation führten und Auswirkungen auf die Konfliktlösung haben. Hierbei ist anzumerken, dass auf den lokalen und nationalen Ebenen die historischen Erfahrungen der beiden ethnischen Gruppen (Armenier und Aserbaidschaner) im 20. Jahrhundert besonders berücksichtigt werden, da diese die Perzeptionsprismen und die politischen Handlungsoptionen entscheidend geprägt haben. Im Gegensatz dazu ist der dritte Aspekt aktueller Natur. Er befasst sich mit der Internationalisierung des Konfliktes, welche eigenständige Konfliktursachen aufweist.

Vor dem Hintergrund der in vorherigen Kapiteln gewonnenen Einblicke werden im zweiten Teil die bisher geführten internationalen Konfliktlösungsstrategien dargestellt und ihre Auswirkungen hinsichtlich der Beantwortung der oben behandelten Fragestellung analysiert. Die Darstellung des Vermittlungsverlaufes dient als Grundlage für die anschließende Untersuchung des Vermittlungsprozesses. Dabei bildet die Identifikation der Faktoren, die Erkenntnisse für das Scheitern der Konfliktlösungsbemühungen liefern, den Schwerpunkt. Das Fazit dient zur Zusammenfassung und Bewertung der in dieser Arbeit erlangten Ergebnisse und zur Beantwortung der Fragestellung. Darüber hinaus werden darin Lösungsvorschläge und Perspektiven zur Überwindung der Konfliktlösungshindernisse aufgestellt.

Die Methodik dieser Arbeit basiert auf dem Heranziehen verschiedener Theorien in einzelnen Kapiteln, die angesichts ihres spezifischen Erklärungsgehalts ausgewählt wurden. Diese werden anhand der empirischen Erkenntnisse überprüft und bewertet. Die Verbindung von mehreren theoretischen Überlegungen und deren Überprüfung durch Empirie ermöglicht Perspektiven verschiedener Paradigmen und hinterfragt zudem die Praxisrelevanz der Theorien. Eine analytische Herangehensweise wird einer deskriptiven Methode vorgezogen. Eine persönliche empirische Datenerhebung konnte aufgrund der geographischen Entfernung des Konfliktgebiets und der damit verbundenen materiellen Kosten nicht durchgeführt werden.

Der Forschungsstand über den Konflikt um Berg-Karabach ist trotz der langen Konfliktdauer wenig fortgeschritten. Die einschlägige Literatur, die sich zumeist mit der Konfliktstruktur und selten mit dem Konfliktvermittlungsprozess befasst, ist vorrangig von einem deskriptiven Vorgehen geprägt. Theoretisch fundierte empirische Analysen sind kaum aufzufinden.[3] Umgekehrt existiert eine Vielzahl von theoretischen Studien, die sich mit Konflikten zwischen unterschiedlichen Nationalitäten nach dem Ende des Kalten Krieges auseinandersetzen. Jedoch unterlassen sie es oft, ihre theoretischen Hypothesen durch empirische Fallstudien zu belegen.

Die Analyse der Konfliktstruktur stützt sich weitgehend auf wissenschaftliche Sekundärliteratur und auf internationale Presse- und Nachrichtendienste. Die systematische Aufarbeitung der Zeitungsartikel und Agenturmeldungen ermöglicht einen Vergleich von unterschiedlichen Interpretationen sowie eine Bewertung des Wahrheitsgehaltes bezüglich umstrittener Ereignisse. Hierbei ist besonders auf die Widersprüchlichkeit zwischen armenischer und aserischer Quellen hinzuweisen. In solchen Fällen wurde auf möglichst neutrale, argumentative Quellen zurückgegriffen oder auf die Erwähnung konkreter Tatsachen verzichtet. Ein Beispiel dafür sind genaue Zahlen über Kriegstote, Opfer der Gewaltausschreitungen und kollaterale Kriegsschäden.

Die Untersuchung der Konfliktlösungsstrategien basiert vorrangig auf der Sekundärliteratur und auf den in vorherigen Kapiteln ausgewerteten Quellen. Weiterhin werden Primärquellen verwendet. Wichtige Einblicke in den Vermittlungsprozess bieten dabei die Dokumente der Vereinten Nationen, der OSZE und des Europarates.

1.3. Konflikt: Definition, Theorie, Erkenntnisinteresse

Definition

Eine einheitliche allgemeine Konfliktdefinition, über die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen hinweg, ist nicht vorhanden. Auch aus der sozialwissenschaftlichen Perspektive sind Konflikte aufgrund ihrer Mehrdimensionalität und Unterschiedlichkeit nicht konkret definierbar. Stattdessen gibt es eine Vielzahl von verschiedenen Ansätzen, die sich je nach Erkenntnisinteresse mit Konflikten befassen. Auf diese Vielfalt kann jedoch an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden.

Vielmehr lassen sich die Konflikte hinsichtlich ihrer Struktur und Inhalte differenzieren. So betont Strasser die Unterscheidung der Konflikte nach ihrem „Gegenstand, der Ursache, Ebene, Erscheinungsform, Intensität, Gewaltsamkeit und den Bewältigungs- bzw. Lösungsformen“ (Strasser 2002: 248). Es ist dabei dennoch notwendig, Verallgemeinerbares über ihre charakteristischen Erscheinungsformen, Ebenen und unterschiedlichen Austragungsformen zu wissen. In Anlehnung an Aubert unterscheidet die Konfliktforschung zwischen zwei Konflikttypen, „competition“ und „dissensus“ (Aubert 1963: 26f.), die in der deutschsprachigen Literatur als Interessen- und Wertekonflikte beschrieben werden. Diese Unterscheidung ist vorrangig für die Konfliktregelung bedeutend. Als Interessen- oder Verteilungskonflikte lassen sich Auseinandersetzungen zwischen Konfliktparteien kennzeichnen, die gegensätzlich ausschließenden Anspruch auf ein knappes Gut erheben. Da diese Güter als Konfliktgegenstand häufig teilbar sind, ist eine Kompromissfindung zwischen den Interessengegnern möglich. Dagegen lassen sich die Wert- oder Identitätskonflikte weniger einfach beilegen. Diese entstehen aus einer Differenz von Wert-, Norm- und Moralvorstellungen der Konfliktparteien (vgl. Meyer 1997: 32-35).

Senghaas bezeichnet Wertkonflikte als Identitätskonflikte und weist auf ein häufiges Vermengen von Interessen- und Identitätskonflikten hin. Gleichzeitig räumt er ein, dass Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen ethnischen Gruppen, die sogenannten ethnonationalistischen Konflikte, zumeist als Identitätskonflikte zu definieren sind:

„Es geht bei ihnen dann um unterschiedliche Lebensentwürfe, die in ihrer verschiedenartigen Geschichte, in unterschiedlichem Brauchtum, einer eigenen Sprache und in widerstreitenden politischen Zielsetzungen begründet sind“ (Senghaas 1992: 72).

Konflikte können zudem symmetrisch oder asymmetrisch auftreten. Darunter ist ein Gleichgewicht oder ein Ungleichgewicht zwischen den konfligierenden Parteien zu verstehen. Meyer stellt fest, dass in den meisten Konfliktfällen und -ebenen, ob innergesellschaftlich, interethnisch oder zwischenstaatlich, asymmetrische Differenzen dominieren. Denn es handelt sich zumeist um eine Konstellation, „in der eine Seite schwächer als die andere“ ist (Meyer 1997: 42). Ob die Zusammensetzung der Konfliktparteien Symmetrien oder Asymmetrien aufweist, ist von den jeweiligen Ressourcen und des Status quo abhängig. Die dominierenden Asymmetrien in den Konflikten erklärt Ropers zum charakteristischen Merkmal der ethnonationalen Konflikte. Denn Letztere sind in der Regel Auseinandersetzungen zwischen Mehrheiten und Minderheiten, die über unterschiedliche Ressourcen- und Statuslagen verfügen (vgl. Ropers 1997: 352-353).

Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal von Konflikten ist ihre variierende Erscheinungsform. Geht es um eine „Positionsdifferenz“ zwischen den Konfliktparteien, die nicht offen ausgetragen wird und damit verborgen ist, spricht man von einem latenten Konflikt. Dagegen bekommt der Konflikt eine manifeste Form, indem er eine „kritische Spannung“ erreicht und dadurch deutlich zum Vorschein kommt (vgl. Meyer 1997: 20-21).

Die Manifestation des Konfliktes kann sich in Gewaltausbrüchen ausdrücken. Jedoch bedarf es hierbei einer Unterscheidung von Konflikt und Krieg. Die Konflikttypologie der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) definiert den Krieg „als ein[en] gewaltsame[n] Massenkonflikt“, der alle folgenden Merkmale aufweist:

1. an den Kämpfen sind mindestens zwei bewaffnete Streitkräfte beteiligt, „bei denen es sich mindestens auf einer Seite um reguläre Streitkräfte (Militär, paramilitärische Verbände, Polizeieinheiten) der Regierung handelt“;
2. auf beiden Seiten existiert ein „Mindestmaß an zentralgelenkter Organisation der Kriegführenden und des Kampfes“, auch wenn es sich dabei um „organisierte bewaffnete Verteidigung oder planmäßige Überfälle (Guerillaoperationen, Partisanenkrieg usw.)“ handelt;
3. die „bewaffneten Operationen ereignen sich mit einer gewissen Kontinuierlichkeit und nicht nur als gelegentliche, spontane Zusammenstöße“ (AKUF 2000).

Als bewaffnete Konflikte werden demgegenüber diejenigen gewaltsamen Auseinandersetzungen bezeichnet, bei denen die Kriterien der Kriegsdefinition nicht im vollen Umfang erfüllt sind. In der Regel handelt es sich um Fälle, in denen eine hinreichende Kontinuität der Kampfhandlungen nicht mehr oder noch nicht gegeben ist (vgl. AKUF 2000).

Diese verallgemeinernden Abgrenzungen von Konflikten dienen als Grundlage für eine Konfliktanalyse. Zugleich zeigen sie auch das weitgefächerte Spektrum ihrer Differenzierungsmöglichkeiten. Aufgrund seiner Komplexität und Divergenz fordert jeder Konflikt dennoch eine spezifische Definition. Um diese zu erarbeiten, werde ich in Anlehnung an das Dargestellte die Struktur des Konfliktes um Berg-Karabach im ersten Teil dieser Arbeit untersuchen.

Theorie

Neben der Notwendigkeit, die Konflikte nach ihrer Struktur zu definieren, besteht zugleich die Erfordernis eines theoretischen Konfliktverständnisses. So gestaltet Bonacker die Bestimmung der Konflikte abhängig von der theoretischen Perspektive und dem damit verbundenen Erkenntnissinteresse (vgl. Bonacker 2005: 9). Um das politikwissenschaftliche Konfliktverständnis in Bezug auf diese Arbeit zu präzisieren, bedarf es einer entsprechenden Theorie.

Vor dem Hintergrund der Renationalisierung der südkaukasischen Länder nach dem Zerfall der Sowjetunion gewinnt der Neorealismus, auch struktureller Realismus genannt, an großer Erklärungskraft. Sein staatszentrischer Ausgangspunkt, der das Weltbild eines anarchischen und multipolaren Staatensystems reflektiert, stellt die einzelnen Nationalstaaten als Akteure der internationalen Gesellschaft dar (vgl. Meyers 1994: 124-136). Im Gegensatz zu der kontroversen Haltung[4] der „Globalistischen Gegenposition“ (Meyers 1994: 136) wird in diesem Ansatz nicht von einem Bedeutungsverlust der Staatsräson, sondern von völkerrechtlichen Staatsbildungen, die ihrerseits eine nationalstaatliche Sichtweise voraussetzen. Eine neorealistische Herangehensweise der Konfliktanalyse scheint hierbei besonders geeignet zu sein, weil Entwicklungen, wie die anarchische Umbruchssituation nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes, die Bildung neuer Nationalstaaten, die „ethnischen Vernichtungsängste“ (Halbach 2003: 148) und die strategischen Bündnisse der Konfliktparteien macht- und sicherheitspolitische Erklärungszusammenhänge erfordern.

Mit seiner zentralen Annahme über das „Sicherheitsdilemma“ trägt der Neorealismus dazu bei, theoretische Begründungen für das Scheitern der Kooperation zwischen den Konfliktparteien aufzuzeigen. Demnach führt die strukturelle Unsicherheit der Staaten zu Macht- und Gegenmachtbildung. Im Unterschied zum klassischen Realismus, der die Macht als höchstes Ziel des außenpolitischen Handelns bezeichnet, sieht der Neorealismus die Machtvermehrung als Mittel der eigenen Sicherheitsgewährleistung:

„Nicht in der menschlichen Natur wurzelndes diffuses Machtstreben, sondern die sich aus der Struktur ergebende Notwendigkeit, sich als autonom und unabhängig im anarchischen System gegenüber anderen zu behaupten und der ständigen Gefahr, Opfer der Gewaltanwendung anderer zu werden, gegenzusteuern, bestimmt das Verhalten der Staaten“ (Gu 2000: 51).

Durch diese Konstellation des wettbewerbsartigen Sicherheitsdenkens steigen grundsätzlich die Kooperationshindernisse, denn

- die Staaten befürchten, dass die Kooperationspartner mehr profitieren können, als sie selbst. Hierbei spricht man von der „Orientierung an relative[n] Gewinne[n]“ (Roloff 2005: 101);
- sie haben keine Sicherheit, dass ihre Kooperationsbereitschaft von den Partnern erwidert wird;
- die Vielzahl der Kooperationspartner erhöht den Schwierigkeitsgrad der Kompromissfindung und die Interaktionskosten (vgl. Jacobs 1998: 110).

Die letzte als besonders kooperationshemmend geltende Annahme über die Anzahl der Akteure wurde von der Allianztheorie aufgegriffen und mit einer positiven Wirkung bewertet. Das Sicherheitsstreben der Staaten zur Existenzerhaltung wird demnach als Anlass zu Allianzbildungen gesehen. Die Staaten gehen Bündnisse ein, um der Bedrohung, die aus den betreffenden Potentialen resultieren kann, wirkungsvoll entgegenzustehen (vgl. Snyder 1991: 103-123). Zwar fördern Bündnisse mit anderen Staaten sowohl die eigene Sicherheit als auch die internationale Zusammenarbeit, dies jedoch, so Link, „beseitigt auch nicht die Konkurrenz zwischen den Staaten“ (Link 1997: 271).

Die von Link herausgearbeitete neorealistische Konfliktdefinition beruht auf diesem Konkurrenzgedanken. Der Autor stellt heraus, dass eine Zuspitzung des Wettbewerbs, welche die Beziehungen zwischen den Akteuren gefährdet, einen Konflikt ausmacht. Link definiert den Konflikt als einen

„Prozeß, in dessen Verlauf unvereinbare (oder unvereinbar erscheinende) Tendenzen eine kritische Spannung erzeugen, indem diese Unvereinbarkeit 1. den Akteuren bewusst und 2. für ihr Handeln bestimmend wird und 3. die Organisation bzw. Struktur der die Akteure integrierenden Einheit potenziell oder aktuell gefährdet“ (Link 1980: 40).

Roloff deutet diese Aussage in der Weise, dass ein Konflikt aus einem Konfliktkern, der die unvereinbaren Tendenzen und Interessen beinhaltet, und aus einer „kritischen Spannung“ besteht, die als ein Element zur Unterscheidung des Konfliktes von Wettbewerb dient (vgl. Roloff 2005: 104). Eine kritische Spannung, die den Konflikt erst begründet, tritt nämlich auf, wenn sich das Mischungsverhältnis zwischen den gemeinsamen und unvereinbaren Interessen ändert und zwar,

„wenn sich die unvereinbaren Tendenzen verschärfen [...], wenn sie quasi dominant werden, dann entsteht in der Regel eine Gefährdung der bestehenden Beziehungsstruktur“ (Link 1994: 104).

Mit dieser Hypothese liefert Links Theorie sowohl eine Definition als auch eine Entstehungsdeutung des Konfliktes. Ihre essentielle Erklärungskraft bekommt diese aber durch die Verbindung von strukturellen mit machtpolitischen Aspekten, aus denen der Konfliktaustrag, die Konfliktregulierung und die Konfliktlösung abgeleitet werden.

Für den Konfliktaustrag ist die Machtverteilung zwischen den Akteuren bedeutsam. In diesem Zusammenhang weist Link auf die Machtverschiebungen hin, die aus dem Mischungsverhältnis der konvergierenden und divergierenden Interessen hervorgehen und die Struktur verändern (vgl. Link 1994: 104f.). Laut Link gilt es bei der Analyse des Konfliktverlaufes und der Konfliktbearbeitung, Machtverschiebungen stark zu berücksichtigen. Hierbei spielen die oben genannten allianztheoretischen Handlungsmuster der Akteure eine relevante Rolle. Denn durch die Bündnisse verändert sich die Machtkonstellation der Konfliktparteien und die bestehende Beziehungsstruktur nimmt folglich einen Wandel an.

Zur Konfliktbearbeitung unterscheidet Link zwei Möglichkeiten:

1. eine Lösung, die nur im Kern des Konfliktes erfolgen kann und
2. eine Konfliktregulierung, sofern eine Lösung nicht möglich ist.

Diese weisen ihrerseits verschiedene Wege auf. Die Konfliktlösung setzt ein:

(a) bei Durchsetzung einer Tendenz, entweder auf gewaltsame oder friedliche Weise;
(b) im Falle einer Kompromissfindung der Konfliktparteien, die symmetrisch, aber auch asymmetrisch sein kann;
(c) insofern eine bzw. beide Tendenzen sich so evolutionär ändern, dass sich die Unvereinbarkeit zwischen ihnen verringert und damit die kritische Spannung aufgehoben wird (vgl. Roloff 2005: 107).

Die ersten zwei Prozessmuster der Linkschen Konfliktlösung stehen allerdings in Widerspruch zu der Annahme über die kooperationshemmende Orientierung an relativen Gewinne. Während Link an dieser Stelle auch asymmetrische Kompromisse zur Konfliktlösung zulässt, weist Roloff auf die Wichtigkeit der symmetrischen Verteilung der relativen Gewinne hin:

„Kooperation kommt dann zustande, wenn relative Gewinne gleich verteilt sind. Wenn sie asymmetrisch verteilt sind, sinkt auch die Neigung zur Kooperation“ (Link, zit. nach Roloff 2005: 109).

Auch Galtungs Betonung der Notwendigkeit einer symmetrischen Gewinnverteilung für eine Konfliktlösung relativiert die optionale Möglichkeit zu gewaltsamer Durchsetzung der Tendenzen und der asymmetrischen Kompromissfindung von konfligierenden Gegnern (vgl. Galtung 1970: 11f.).

Im Gegensatz zur Konfliktlösung findet die Konfliktregulierung nicht im Kern des Konfliktes statt, sondern am Beziehungszusammenhang, wo die kritische Spannung vorhanden ist. Folgende Prozessmuster sind zur Konfliktregelung möglich:

(a) die am Erhalt der bestehenden Akteursbeziehung orientierte Verdichtung der Beziehungen durch Kooperation;
(b) Verminderung der Beziehung durch Regression oder Abgrenzung;
(c) die an der Beseitigung der Beziehungen ausgerichtete kämpferische Sprengung der Beziehung zwecks Neugestaltung mittels Krieg, Konfrontation oder Revolution;
(d) Rückzug aus der Beziehung zwecks Isolation (vgl. Roloff 2005: 107).

Festzuhalten ist demnach, dass durch die Regulierung des Konfliktes eine „Entspannungspolitik“ (Roloff 2005: 107) zur Reduzierung der kritischen Spannung stattfindet. Somit sind zwar die ersten Voraussetzungen für einen kooperativen Wettbewerb geschaffen, jedoch bleibt der Konfliktkern weiterhin erhalten und kann immer wieder eine neue kritische Spannung hervorrufen. Diese wesentliche Beeinträchtigung der Konfliktregulierung wurde von Link nicht berücksichtigt.

Erkenntnisinteresse

Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit gilt somit nicht der Konfliktregulierung, sondern der Konfliktlösung im Sinne von Link. Denn durch den anhaltenden Waffenstillstand wurde die Konfliktregulierung, die bis jetzt zwar die kritische Spannung im Konflikt um Berg-Karabach reduziert, dennoch nicht aufgelöst hat, durchgeführt. Somit sind neue Gewaltausbrüche als Resultat dessen jederzeit möglich. Es mangelt hierbei an einer Konfliktlösung, die den Grundstein für eine friedliche Kooperation und für die Reduzierung des Konfliktes zu einem fairen Wettbewerb legen würde. Die Ausgangsfragestellung bezieht sich demnach auf Aufschlüsse, welche die Ursachen für die Verhinderung solch einer Konfliktlösung erklären.

Bonackers Anfangsthese über eine Konfliktdefinition je nach theoretischer Ausrichtung kann hiermit bestätigt werden. Festzuhalten ist, dass im Rahmen der neorealistischen Theorieabhandlung eine präzise Konfliktdefinition und -perzeption erlangt wurde. Darüber hinaus sind konflikttheoretische Aussagen zu den zentralen Problemen und Fragen der in dieser Arbeit zu behandelnden Fragestellung aufgezeichnet worden. Jedoch reicht eine alleinige theoretische Sichtweise nicht aus. Denn der Versuch, mit einer einzigen universellen Theorie einen mehrdimensionalen Konflikt zu analysieren, wäre wissenschaftlich nicht begründbar, zumal in der Lehre der Internationalen Beziehungen keine allgemeine Konflikttheorie existiert und existieren kann. Denn somit wäre bereits die Vielzahl gegenwärtiger Konflikte mit Hilfe einer universellen Theorie erforscht und gelöst worden.

Angesichts dessen bedarf es je nach Sachverhalt und Erklärungsgehalt weiterer theoretischer Ergänzungen. Die Verbindung des neorealistischen Paradigmas mit anderen Ansätzen kann einer komplexen empirischen Problemstellung besser gerecht werden.

Insgesamt stellt die Theorie des Neorealismus, insbesondere das Konflikt- und Konfliktlösungsverständnis von Link, den allgemeinen Theorierahmen der vorliegenden Arbeit dar. Dementsprechend orientiert sich das Erkenntnisinteresse dieser Untersuchung an einer staatszentrierten Akteursbestimmung, an der Berücksichtigung nationaler Interessen einzelner Staaten und an macht- und sicherheitspolitischen Aspekten, die eine theoretische Verortung für die Ursachenforschung der gescheiterten Konfliktlösungsstrategien bieten.

Im Anschluss an die Untersuchung wird rückblickend der Frage nachgegangen, inwiefern der neorealistische Ansatz einen Erklärungswert für die Konfliktanalyse und für die Konfliktvermittlungen um Berg-Karabach hat.

Teil I: Konfliktstruktur

2. Konfliktverlauf

Eine Darlegung des Verlaufes sollte Faktoren berücksichtigen, die relevant für das Konfliktverständnis sind und in der Gegenwart Aktualität besitzen. In Anbetracht dessen ist die Einbeziehung einiger historischer Hintergründe unerlässlich.

Die Geschichte des Konfliktes um Berg-Karabach kann bis in das Altertum zurückverfolgt werden. Sie ist jedoch in zwei unterschiedlichen Fassungen überliefert, eine armenische und eine aserische, die zur Rechtfertigung des eigenen und zur Delegitimierung des gegnerischen Anspruches eingesetzt werden (vgl. Soljan 1995; Auch 1992; Mamedova 1995). Aufgrund ihrer Aktualität weisen dagegen die historischen Gegebenheiten des 20. Jahrhunderts eine relative Kongruenz auf.

Als Anfang des „Karabach-Problems“ setzt der Historiker Soljan das Jahr 1918. Dieses markiert die Trennung des Transkaukasus[5] von Russland nach dem Sturz des Zarismus. Die Abspaltung war ein Ausdruck der Inakzeptanz der Bolschewikmacht. Mit ihren Unabhängigkeitserklärungen erhoben die neuen Republiken Armenien und Aserbaidschan gegenseitig einander ausschließende Gebietsforderungen unter anderem bezüglich des Berg-Karabachs. Letzteres gliederte sich zuvor als ein armenisch-aserbaidschanisches Mischgebiet in dem russischen Gouvernement Jelisawetpol. Die Situation verschärfte sich, als die Türkei in Transkaukasus einmarschierte, da sie Ansprüche für sich und für Aserbaidschan auf alle Gebiete mit einem muslimischen Bevölkerungsanteil geltend machte. Die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den armenisch-christlichen und turkstämmig-moslemischen Völkern gaben den kommunistischen Mächten den Anlass zur Intervention und zur Sowjetisierung des Transkaukasus (vgl. Soljan 1995: 129-140). Bemüht um eine Besserung türkisch-russischer Beziehungen, schloss Russland im Jahr 1921 einen Freundschaftsvertrag mit der Türkei und setzte damit neue Territorialgrenzen fest. Infolge dessen wurde das Gebiet Berg-Karabach dem inzwischen als eine sowjetische Republik proklamierten Aserbaidschan zugeteilt und 1923 als ein Autonomes Gebiet unter aserbaidschanischer Oberherrschaft konstituiert (vgl. Pietzonka 1995: 124).

Eine latente Phase des Konfliktes stellte sich ein. Diese wurde mittels des sowjetischen Diktates aufrecht erhalten und hatte eine zwanghafte Koexistenz der Völker zufolge. Dennoch fand sich Armenien mit dieser Lösung nicht ab. Ungeachtet repressiver Maßnahmen der Zentralregierung gegenüber den irredentistischen Ansprüchen der Unionsrepubliken gingen bei dem Obersten Sowjet mehrmals, vor allem in den 1960er Jahren, Petitionen für einen Transfer der Enklave zur Armenischen SSR ein. Die Anforderungen Armeniens lehnte Moskau ab, um angesichts diverser territorialer Spannungsfelder in der UdSSR einen Präzedenzfall für binnenstaatliche Grenzrevisionen zu vermeiden (vgl. Swietochowski 1995: 161-169).

Die Liberalisierung der sowjetischen Politik im Zuge der Perestrojka bot neue Rahmenbedingungen für die Transferforderungen des Autonomen Gebiets Berg-Karabach (im Folgenden AGBK). Der aktuelle Konflikt, der Gegenstand dieser Arbeit ist, kann in drei Phasen gegliedert werden.

Phase I: Bewaffneter Konflikt

Der Beginn der gegenwärtigen Etappe des Karabachkonfliktes wird mit dem 20. Februar 1988 vermerkt, als der Gebietssowjet, das höchste Exekutivorgan des AGBK, eine Petition bei den Obersten Sowjets von Armenien, Aserbaidschan und der UdSSR einreichte. Gefordert wurde die territoriale und politische Angliederung Berg-Karabachs an die Armenische SSR. Die politische Führung Aserbeidschans wie auch das Präsidium des Obersten Sowjets lehnten es ab, in der Befürchtung, Nachgiebigkeit gegenüber Karabach könne zu weiteren Nationalitätenkonflikten führen und zugleich den Zerfall der Sowjetunion bedeuten (vgl. Hofmann 2002: 3).

Unmittelbar nach dieser Petition verwandelte sich die Karabach-Frage von einem territorial-administrativen Anspruch zu einem manifesten Konflikt. Als Reaktion auf die Aufforderung des AGBK entstand in Armenien eine Solidaritätsbewegung, die zunächst in friedlichen Demonstrationen sowohl in Armenien als auch in Stepanakert, in der Hauptstadt des AGBK, ihren Ausdruck fand. Die aserbaidschanische Reaktion auf die Forderung Karabachs trat als erster Gewaltausbruch noch im Februar 1988 gegen die armenische Bevölkerung in den aserbaidschanischen Städten Sumgait und Baku in Erscheinung. Die sich über mehrere Tage hinziehenden Ermordungen und Vertreibungen der armenischen Einwohner (vgl. Dehdashti 2000: 39) werden von der aserbaidschanischen Seite als eine „Provokation“ (Baguirov 1998) gerechtfertigt, an deren Planung die sowjetischen Zentralbehörden beteiligt seien. Den Angaben der IWPR zufolge ist die Verantwortung lediglich auf die aserbaidschanischen Autoritäten zurückzuführen (vgl. de Waal 2003). Die Tatsache, dass zu dem erwähnten Zeitpunkt die Aserbaidschanische SSR noch unter der Befehlsgewalt von Moskau agierte, relativiert die ‚Schuldlosigkeit’ der UdSSR. Unstrittig ist jedoch, dass die sowjetischen Ordnungskräfte die Ausschreitungen abwartend duldeten, ohne entschieden einzugreifen (vgl. Dehdashti 2000: 39; Soljan 1995: 153-155). Ausschlaggebende Faktoren für die Konflikteskalation lassen sich somit aus den gewaltsamen Ereignissen in Sumgait und Baku, ebenso aus der passiven Haltung der sowjetischen Zentralregierung ableiten.

Die inkonsistent geführte Politik Moskaus zu Beginn des Konfliktes, die im späteren Verlauf in Interventionen und direkte Beteiligung an gewaltsamen Aktionen umschlug, verschärfte den Konflikt zunehmend. Das Ziel war weniger die friedliche politische Regelung der Transferfrage, als die Unterdrückung systemgefährdender territorialer Forderungen und nationaler Insurrektionen. Die Übernahme der Konfliktsteuerung seitens der UdSSR-Zentrale äußerte sich in dem Einmarsch sowjetischer Truppen, in der Direktverwaltung Moskaus in AGBK im Jahr 1989 und in der von schwersten Menschenrechtsverletzungen begleiteten Zwangsumsiedlung von mehreren tausend Armeniern aus 25 Dörfern (vgl. Hofmann 2002: 3; Cox 1997). Die russische Menschenrechtsorganisation Memorial schildert diese unter der Bezeichnung „Operation Ring“ bekannten Deportationen der Armenier im Frühjahr 1991 als eine politisch-organisierte Kampagne zwischen der Sowjetarmee, den Spezialeinheiten des sowjetischen Innenministeriums (OMON) und den aserbaidschanischen Truppen zur „ethnic cleansing“ und legt damit den Beginn des Krieges fest (Human Rights Center of Memorial Society 2006). Die armenische Seite begegnete diesen Ausschreitungen ihrerseits mit Umsiedlungen der Aserbaidschaner aus Armenien. Flüchtlingsströme aus beiden Ländern, begleitet von Pogromen und blutigen Übergriffen, setzten ein. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen um Berg-Karabach und die Zusammenstöße zwischen armenischen paramilitärischen Truppen und aserischen Milizen, unterstützt durch die sowjetischen Truppen, nahmen graduell zu.

Die von der sowjetischen Zentralmacht ausgeübte Instrumentalisierung des Geschehens zur Bekämpfung der Nationalbewegungen in den Unionsrepubliken führte zu einer Intensivierung antisowjetischer Unabhängigkeitsbestrebungen in den Republiken. Aserbaidschan wurde am 30.08.1991 zur unabhängigen Republik proklamiert. Daraufhin erklärte Karabach am 02.09.1991 seine Unabhängigkeit von Aserbeidschan. Ein am 10.12.1991 in Karabach durchgeführtes Referendum bestätigte diese Entscheidung mit 99 Prozent der Stimmen (vgl. PACE 1994). Um den Konflikt nicht weiter zu verschärfen, verzichtete Armenien inzwischen auf einen Zusammenschluss mit Berg-Karabach und befürwortete seine Unabhängigkeit (vgl. Bischof 1995). Nicht nur die Repressionsmechanismen der Sowjetunion, sondern auch die einseitige Parteinahme Moskaus für Aserbaidschan legten die Grundlagen für die Dissidentenbewegungen in Armenien. Am 21.09.1991 stimmten die Wahlberechtigten bei einem Referendum für den Austritt aus der UdSSR.[6]

Die gewaltsamen Ereignisse in dieser Phase werden nicht als kriegerische Austragung bezeichnet, da die „Auseinandersetzungen [...] in Pogromen endeten“ und die Gewalt nicht beidseitig von „regulären Truppen“ ausging (Neukirch 2004).[7] Diese weisen vielmehr die Erscheinungsform eines bewaffneten Konfliktes auf.

In Folge der blutigen Ausschreitungen in Sumgait und Baku, der Zwangsumsiedlungen, der Unterdrückungspolitik der Sowjetzentrale und der Souveränitätserklärung Karabachs vollzog sich der Übergang vom bewaffneten Konflikt zum militärischen Krieg.

Phase II: Der Krieg

Problematisch ist die Bestimmung des genauen Kriegsbeginns, da es sich hierbei um einen inoffiziellen Krieg handelte. In ihrem Report über den Berg-Karabach Konflikt verbindet die Parlamentarische Versammlung des Europarates den Anfang des Krieges mit dem Rückzug der sowjetischen Truppen im Jahr 1992 (vgl. PACE 1994).

Tatsächlich war der Abzug der sowjetischen Truppen ausschlaggebend für die Verschärfung der Lage, da er verstärkt zur Bewaffnung der Konfliktparteien beitrug. Die Verteilung der Bestände der Sowjetarmee an Armenien und Aserbaidschan ging mit illegalen Waffenverkäufen und dem Hinterlassen militärischer Ausrüstung einher. Somit kämpften die aserischen und armenischen Gruppen mit Hauptwaffensystemen regulärer Streitkräfte, wie schwere Artillerien, Panzern und raketengetriebenen Granaten (vgl. Human Rights Watch 1993: 4).

Geprägt wurde diese Phase ferner durch die territorialen Eroberungen der armenischen Truppen. Nach den Bombardements auf die armenische Bevölkerung und der Okkupation einiger Gebiete des Berg-Karabachs durch die aserischen Streitkräfte, startete die armenische Gegenoffensive. Diese hatte ihrerseits Ermordungen und Deportationen aserischer Bevölkerung aus den annektierten Gebieten zur Folge. Bis Ende Mai 1992 besetzten sie neben der in der Nähe von Stepankert gelegenen Stadt Chodschali zwei weitere strategisch wichtige Orte: Die Stadt Schuschi in Karabach, die als militärischer Stützpunkt aserischer Truppen diente und die aserbaidschanische Stadt Latschin westlich der Enklave. Die Eroberung jener führte zur Errichtung eines Landkorridors zwischen Armenien und Berg-Karabach und erleichterte den Transport von Waffen und Hilfsgütern.

Die Unterstützung der Republik Armenien und der armenischen Diaspora trug erheblich dazu bei, mit der Einnahme von Kelbadschar nördlich von Latschin im April 1993 einen zweiten Korridor zu bilden. Bis Oktober des selben Jahres gelang es ihnen, den Großteil der zwischen der Südgrenze Berg-Karabachs und der Nordgrenze von Iran gelegenen aserbaidschanischen Gebiete zu besetzen. In 1994 wurden weitere aserbaidschanische Territorien nördlich der Enklave erobert (vgl. Dehdashti 2000: 43-44). Trotz der in der einschlägigen Literatur verbreiteten Angaben Aserbaidschans, das 20 bis 25 Prozent seines Territoriums als besetzte Gebiete geltend macht, geht das Faktenbuch der CIA von insgesamt 16 Prozent einschließlich der Enklave aus[8] (vgl. CIA 2006).

Die aserbaidschanischen Gegenoffensiven blieben erfolglos. Vor dem Hintergrund der Niederlage stimmte Baku schließlich einem Waffenstillstand zu, der im Mai 1994 nach zahlreichen Vermittlungsinitiativen zustande kam und bis heute anhält. Trotz wiederholter vereinzelter Zusammenstöße an der Frontlinie ging die Konfliktintensität seitdem erheblich zurück. Weder die UN-Resolutionen in 1993, noch die Bemühungen der OSZE und Russlands seit 1992 erzielten zuvor eine langfristige Waffenruhe (vgl. Dehdashti 2000: 43-45).

Phase III: Latenter Konflikt

Eine dritte Phase setzte ein, in der bislang „weder Krieg noch Frieden“ (Walker 2000: 153) herrscht. Dieser von Halbach als „eingefrorener Konflikt“ bezeichnete Zustand weist einen ambivalenten Charakter auf. Einerseits ist er aufgrund fehlender Gewaltausbrüche und militärischer Auseinandersetzungen positiv zu deuten. Andererseits bedeutet dies eine negative Stagnation, die keine politischen Durchbrüche hinsichtlich der Konfliktlösung impliziert (vgl. Halbach 2003: 143-144). Folglich dauert der Konflikt in einer latenten Erscheinungsform an und birgt die Gefahr einer neuen militärischen Kehrtwende. Bekräftigt wird dies durch wiederholte Zwischenfälle und Kriegsdrohungen, die zu einer erneuten Eskalation der Spannungen im Konfliktgebiet und zu einer Bedrohung der Stabilität in der Region führen können. Gemäß der Erklärung des Außenministers von Republik Berg-Karabach sind

„die in der letzten Zeit zunehmenden Verstöße gegen die Waffenstillstandsbedingungen an der Trennlinie zwischen den Streitkräften der Republik Berg-Karabach und Aserbaidschans [...] nur möglich geworden, weil die kriegerischen Erklärungen, die in Aserbaidschan auf höchstem Niveau abgegeben würden, unbeachtet geblieben seien.“ (zit. nach RIA Novosti 2006).

Die konfliktive Beziehungsstruktur zwischen Armenien und Aserbaidschan ist mit dem Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen nicht aufgehoben. Besonders geprägt wurde das Verhältnis durch die Folgen des Krieges. Beide Konfliktparteien erlitten schwere ökonomische Schäden, die vorrangig auf Blockademaßnahmen zurückzuführen sind. Aserbaidschan schnitt am Anfang des Krieges Armenien von der Energieversorgung sowie von allen Eisenbahnverbindungen ab. Dem unterstützend sperrte auch die Türkei seine Grenze zu Armenien und verstärkte somit die Wirtschaftsblockade und die Isolation Armeniens (vgl. Herzig 1999: 66).

Die prekäre Lage wurde zudem durch die Flüchtlingsströme belastet. Die Ankunft der Flüchtlinge stellte die Republiken vor wirtschaftliche Herausforderungen und erhöhte zugleich die feindliche Haltung gegenüber der vertreibenden Konfliktpartei. Insgesamt werden die Zahlen der aserischen Flüchtlinge aus Armenien, Berg-Karabach und aus den eroberten Gebieten zwischen 700.000 und 900.000 geschätzt. Die Zahl der armenischen Flüchtlinge aus Aserbaidschan und Berg-Karabach beträgt etwa 380.000 (vgl. Migdalovitz 1994: 1). Vor allem in Aserbaidschan bilden die Flüchtlinge aufgrund ihres hohen Bevölkerungsanteils ein soziales und politisches Konfliktpotential.

Die Darstellung und Analyse des Konfliktverlaufes zeigte die Eskalationsfaktoren und den Prozess des Konfliktes und deckte seine Intensität und sein Potenzial auf. Damit ist ein Teil der strukturellen Merkmale behandelt worden. Um eine explizite Konfliktanalyse durchzuführen, sind die Konfliktakteure als ein weiteres Strukturmerkmal von wesentlicher Bedeutung.

3. Konfliktakteure und strukturelle Asymmetrien

Bei der Darlegung des Konfliktverlaufes wurden involvierte Konfliktparteien bereits erfasst und einbezogen. Deren Konkretisierung und zudem die Festlegung sekundärer Konfliktakteure bilden den Gegenstand dieses Kapitels. Darüber hinaus impliziert eine Akteursanalyse zugleich die Frage nach den strukturellen Asymmetrien zwischen den Konfliktparteien, die im Rahmen folgender Untersuchung behandelt wird.

Berg-Karabach ist eine mehrheitlich von Armeniern bewohnte Enklave in der Republik Aserbaidschan. Bei dem Konflikt um das Gebiet stehen sich als primäre Akteure die Republik Armenien und die armenische Bevölkerung in Berg-Karabach auf der einen und die Aserbaidschanische Republik auf der anderen Seite gegenüber. Jedoch gestaltet sich eine derart vereinfachte Festlegung der Akteurskonstellation als schwierig. Denn je nach struktureller Gegebenheiten in den oben genannten Verlaufsphasen des Konfliktes variieren die Rahmenbedingungen für die Bestimmung der Konfliktparteien. Angesichts dessen entsteht hier die Notwendigkeit einer phasenorientierten Herangehensweise.

Die Zusammensetzung der primären Konfliktparteien in der ersten Phase des Konfliktes (1988-1992) ist unumstritten. Die armenische zivile Bevölkerung, die in der AGBK eine Mehrheit bildete, trat gegen die Aserbaidschanische SSR auf, indem sie die Forderung erhob, sich von der Unionsrepublik zu lösen. Die Souveränitätsbestrebungen des AGBK führten zum Sezessionskrieg. Kriegsführende waren reguläre Streitkräfte der Regierung, die zunächst gegen die Zivilbevölkerung einer Volksgruppe und anschließend gegen die Paramilitärs auftraten. Neben der aserischen und armenischen Zivilbevölkerung waren als unmittelbare Konfliktträger die Milizen aserbaidschanischer Republik in den anfänglichen Gewaltausschreitungen beteiligt. Zur Selbstverteidigung gegen die aserischen Regierungstruppen kam es später zur Bildung der freiwilligen armenischen Militantengruppen.

Indessen formte sich der Konflikt in der ersten Phase als eine „innere Angelegenheit“ (Bischhof 2003) der Aserbaidschanischen SSR. Argumentationskraft erhält diese These durch die oben erwähnte Akteurskonstellation. Der Sezessionskrieg, der durch Auflehnung einer regional konzentrierten Bevölkerungsgruppe gegen den Titularstaat gekennzeichnet war und auf dessen Territorium stattfand, zeigt die Merkmale eines innerstaatlichen Krieges auf (vgl. AKUF 2000). Gemäß Scherrers Kategorisierung des Konfliktes entsteht hierbei die „Staat vs. Nation/Nationalität“ Konstellation (Scherrer 1997: 161). Diese drückt sich in der konfliktiven Beziehung zwischen Aserbaidschan als Staat und der armenischen Bevölkerung des Berg-Karabachs als eine Nation aus.

Mit dem Beginn der zweiten Phase (1992) des Konfliktes treten Komplikationen bezüglich der Konkretisierung von Berg-Karabach und Republik Armenien als Konfliktparteien auf.

Direkt involvierte Konfliktparteien in dem Krieg waren die Republik Aserbaidschan und die armenischen Kämpfer in Berg-Karabach. Im Gegensatz zu Neukirchs Angaben über die kämpfenden „Armenische Milizen Nagornyj-Karabachs“ (Neukirch 2004) ist hierbei zu betonen, dass diese nach der Auflösung der Sowjetunion von Freiwilligenkämpfern ersetzt wurden. Vor der Gründung der offiziellen Armeen war auf aserbaidschanischer Seite eine große Anzahl an fremden Söldnern beteiligt. Auf der Seite von Berg-Karabach wurde der Krieg von lokalen armenischen Freiwilligen und von den Jerkrapah-Kämpfern[9] aus Armenien getragen (vgl. Hofmann 2002: 30).

Die Verantwortung für die Eroberung aserischer Territorien während des Krieges wird der Armenischen Republik zugewiesen. Demzufolge wurde sie von Aserbaidschan als „Aggressor“ bewertet (Republik Aserbaidschan, MFA). Zwar bestreitet die Republik Armenien eine direkte Beteiligung im Krieg, dennoch sprechen viele Indizien für ihre Involvierung als ein primärer Akteur. Nach Angaben des UN-Generalsekretärs Boutros-Ghali wies die schwere militärische Ausrüstung der Karabach-Armenier in 1993 auf die Teilnahme Armeniens hin (vgl. Migdalovitz 1994a: 7). Zudem bestätigt die Republik, nicht nur mit militärischer Ausrüstung und Mobilisierung vieler Freiwilligenkämpfer, sondern auch ökonomisch und ideell Berg-Karabach unterstützt zu haben (vgl. Dehdashti 2000: 46-47; Hofmann 2002: 3-4; Aves 1996). Das Engagement Armeniens bekräftigte auch ein Politologe aus Karabach, David Karabekian, während des offiziellen Treffens der Repräsentanten beider Republiken am 09.05.2006 zum zwölfjährigen Jubiläum des Armenischen ‘Sieges’:

“The military and political leadership of both Armenia and Nagorny Karabakh has directly or indirectly demonstrated that they do not intend to give in to the blackmail and threats of Azerbaijan and are ready to respond to its militaristic posturings through joint efforts” (Karabekian, zit. nach Beglarian 2006).

Darüber hinaus deutet die sowohl von Aserbaidschan als auch von der internationalen Gemeinschaft anerkannte Stellung der Republik Armenien als Verhandlungspartner auf die Rolle einer direkt beteiligten Konfliktpartei hin.

Die prekäre Sachlage zur Positionierung Armeniens und die Tatsache, dass eine offizielle Kriegsankündigung nicht stattgefunden hat, induziert die Schwierigkeit zur Konkretisierung des Kriegstyps in der zweiten Phase. Betrachtet man Armenien als eine primäre Konfliktpartei, ergibt sich, im Unterschied zu der ersten Phase, die Konstellation eines zwischenstaatlichen Krieges. Zumal sich militärische Konfrontationen an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze vollzogen haben,[10] was auf einen Krieg zwischen den beiden Staaten hinweist.

Vor dem Hintergrund der völkerrechtlichen Prinzipien der Vereinten Nationen, die einen Staat als Konfliktpartei voraussetzen, gestaltet sich die Berücksichtigung des Berg-Karabachs als Akteur besonders problematisch. Denn die heutige Republik Berg-Karabach,[11] die das Gebiet Berg-Karabach und umliegende von Armeniern besetzte aserbaidschanische Bezirke umfasst, ist als völkerrechtlich unabhängiger Staat international nicht anerkannt worden. Sie versteht sich dennoch als ein „stabilisiertes De-facto-Regime“[12], welches die Merkmale eines Staates laut Artikel 1 der Konvention von Montevideo aufweist:

“The state as a person of international law should possess the following qualifications: a) a permanent population; b) a defined territory; c) government and d) capacity to enter into relations with the other states” (Convention of Montevideo 1933).[13]

Die von der armenischen Bevölkerung 1991 gebildete Republik bildet somit eine eigenständige demokratische Regierung, deren Außenministerium ihren Status folgendermaßen definiert: „Presently, the NKR is a de facto independent state with all the necessary organs of government“ (Ministry of foreign affairs NKR).

Die Problematik der Akteursbestimmung hinsichtlich des Berg-Karabachs besteht in der folgenden Ambivalenz: Einerseits beruft sich die Republik Berg-Karabach auf ihre Rechtsgrundlagen für eine staatliche Souveränität, andererseits fehlt ihr jedoch die völkerrechtliche Legitimität zu ihrer Berücksichtigung als staatlicher Akteur. Aufgrund dessen erlangte sie von der internationalen Gemeinschaft bislang keine Anerkennung als gleichwertige Konfliktpartei und dementsprechend keine Zulassung zu Verhandlungen. Sie wird diplomatisch vertreten durch die Armenische Republik als eine armenische Minderheit im aserbaidschanischen Territorium (vgl. Minderjahn: 2005).

Während sich die erste Phase der kriegerischen Auseinandersetzungen auf primäre Akteure beschränkte, zeichnet sich die zweite Phase zudem durch eine Internationalisierung des Konfliktes aus. Neben den primären Konfliktparteien spielen demzufolge auch die externen Akteuren eine wichtige Rolle.

Als sekundäre Akteure sind sowohl die regionalen Staaten Russland, Türkei und Iran ebenso die westlichen Mächte USA und die EU in der Konfliktstruktur involviert. Der Krieg drohte sich in dieser Periode zu einem Regionalkrieg mit türkischer und russischer Beteiligung zu entwickeln. Moskau griff vor der Auflösung der Sowjetunion auf der aserbaidschanischen Seite in den Konflikt ein, da dadurch die noch existierende kommunistische Führung in der Unionsrepublik verstärkt werden sollte. Später leistete Russland der armenischen Seite Beistand, um seinen Einfluss in der Region zu sichern. Angesichts der Zuwendung der Türkei und des Westens zur Aserbaidschan sah sich das christliche Armenien bedroht durch die islamischen Turkvölker und war wieder, wie in den Jahren 1918-1920, gezwungen, sich an die Schutzmacht Russland „anzulehnen“ (vgl. Bischof 1995).

Dem neorealistischen Ansatz folgend werden die internationalen Organisationen als Instrumente der Akteure gesehen. Im Rahmen der UNO und OSZE erlangen vorrangig die westlichen Mitgliedstaaten die Instrumentarien, ihre Interessen im Transkaukasus geltend zu machen (vgl. Teil II dieser Arbeit).

Die dargestellte Konstellation der Konfliktparteien ist durch strukturelle Asymmetrien geprägt. Diese werden unter qualitativen und quantitativen Gesichtspunkten analysiert.

Eine quantitative Asymmetrie ergibt sich dadurch, dass sich Mehrheiten und Minderheiten als Kontrahenten gegenüberstehen. Dieses „grundlegende Merkmal innerstaatlicher Konflikte“ (Dehdashti 2000: 151) ist vor allem in der ersten Phase des Berg-Karabach-Konfliktes zu beobachten. Zugriffsmöglichkeiten auf personelle und materielle Ressourcen waren für die armenische Minderheit in Aserbaidschan und in Berg-Karabach im Gegensatz zur aserischen Mehrheit eingeschränkt.

Eine qualitative Asymmetrie erhält die Konfliktstruktur dadurch, dass die Mehrheiten zumeist durch Regierungen repräsentiert werden. Denn nur als Staaten verfasste Konfliktparteien verfügen über organisatorische Vorteile und völkerrechtliche Legitimität. Dies ermöglicht ihnen ein weitaus breiteres Ressourcenfeld als den nichtstaatlichen Akteuren und Oppositionsbewegungen (vgl. Ropers 1996: 149-174).

Das Fehlen der völkerrechtlichen Anerkennung der Republik Berg-Karabach führt somit zu einer qualitativen Machtasymmetrie zwischen den Konfliktparteien. Während der Kontrahent Aserbaidschan seine Interessen als ein legitimes völkerrechtliches Subjekt im internationalen Kontext durchsetzen kann, ist Berg-Karabach verhindert, Mitgliedschaft in internationalen Organisationen zu erlangen und gegebenenfalls deren Entscheidungen im Bezug auf den Konflikt zu beeinflussen. Die substanzielle Unterstützung und die diplomatische Vertretung durch Armenien relativieren jedoch diese Asymmetrie. Die Republik Armenien glich während des Krieges die Asymmetrien verhältnismäßig aus, indem sie Ressourcen zur Verfügung stellte und durch ihre staatliche Legitimation die Interessen von Berg-Karabach vertreten kann (vgl. Halbach 2003: 145).

Die aus der Zusammenstellung der Konfliktparteien resultierende Asymmetrie der Konfliktstruktur lässt sich in Anlehnung an Scherrer folgendermaßen darlegen. Entsprechend seiner Typologisierung konfliktiver Beziehungen handelt es sich hierbei um eine Mischform von „Staat vs. Staat“- und „Staat vs. Nation/Nationalität"-Typen (Scherrer 1997: 161). Denn neben dem zwischenstaatlichen Konflikt zwischen den unabhängigen Republiken Armenien und Aserbaidschan repräsentiert Berg-Karabach die armenische Nation und prägt somit die Staat-Gegen-Nation-Struktur des Konfliktes. Die Symmetrie der Staat-Gegen-Staat-Struktur nimmt somit durch Berg-Karabach eine asymmetrische Form an, indem die Staat-Gegen-Nation-Komponente hinzukommt. Daher lässt sich zusammenfassend feststellen, dass die Akteursanalyse einen innerstaatlichen Konflikt mit zwischenstaatlichen Implikationen indiziert (vgl. Halbach 2003: 145; Scherrer 1997: 130).[14]

4. Konfliktursachen

Die Kriegsursachenforschung unterscheidet zwischen Eskalationsfaktoren und Konfliktursachen. Erstere sind bei der Analyse des Konfliktverlaufes herausgearbeitet worden. Sie kategorisieren vergleichsweise kurzfristige und in dieser Form nicht wiederholte Faktoren, die zur Eskalation führen. In dem Konflikt um Berg-Karabach waren die Gewaltanwendungen, die politische Dynamik während der Perestrojka und die konkrete Politik der sowjetischen Zentralregierung die ausschlaggebenden Eskalationsfaktoren.

Konflikte haben jedoch „langfristig wirkende tiefere Ursachen“ (Dehdashti 2000: 98), die den Hintergrund ihrer Entstehung anzeigen. Im Folgenden stellt sich die Frage, worin diese Ursachen für die Konfliktformation bestehen und welche Auswirkungen sie auf die Konfliktstruktur haben. Die Beantwortung dieser Frage führt zugleich zur Bestimmung des Konflikttypus. Letzteres soll zu einem besseren Verständnis des Konfliktes und damit zu seiner Lösung beitragen.

Aufgrund der Komplexität der Konfliktstruktur ist eine Differenzierung der Konfliktebenen angebracht. Diese führt die Analyseebenen an, die eine strukturierte Suche nach den Konfliktursachen ermöglichen. Im Hinblick auf die dargestellte Akteurskonstellation lassen sich drei Ebenen feststellen: (1) die lokale Ebene, die Berg-Karabach inkludiert, (2) die nationale Ebene, welche die kontrahierenden Republiken Aserbaidschan und Armenien thematisiert und (3) die internationale Ebene mit Bezugnahme auf die involvierten externen Akteure.

Als ein Untersuchungsleitfaden dient die Abbildung 1, die diese Ebenen schematisiert. Dementsprechend steht Berg-Karabach als lokale Ebene im Zentrum und bildet somit den Kern des Konfliktes. Dieser Grundkonflikt weitet sich zu einem staatlich-nationalen Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan aus. Schließlich bilden die internationalen Beziehungen die ‚äußere Hülle’, die zwar nicht direkt zur Entstehung des Konfliktes beitragen, diesen aber erheblich beeinträchtigen.

Die Schematisierung bildet eine grobe Strukturierung als Orientierungshilfe ab. Hierbei ist aber zu beachten, dass Interferenzen zwischen den Ebenen nicht auszuschließen sind. Vielmehr ist eine Überlagerung verschiedener Ursachen auf mehrere Ebenen möglich. Die folgende Untersuchung zeigt diese auf, indem sie sich mit der Analyse der Ursachen auf den eingeführten Ebenen befasst.

[...]


[1] „Karabach“ ist die aserbaidschanische Bezeichnung für die armenische Enklave und bedeutet „Schwarzer Garten“. Aufgrund der gebirgigen Fläche kommt die russische Komponente „Nagorny“ (bergig) hinzu. Auf der armenischen Seite hat sich die historische Bezeichnung „Arzach“ für die Enklave durchgesetzt. Die Begriffswahl „Berg Karabach“ ist in dieser Arbeit keineswegs Ausdruck einer Parteinahme, sondern orientiert sich an der deutschen Übersetzung der international verbreiteten Version „Nagorny Karabach“.

[2] Die Begriffe „aserisch“ und „Aseris“ werden in der Literatur als eine Kurzform für die aserbaidschanische Volksgruppe angewendet. Somit werden im Folgenden beide Formen, „Aseris“ und „Aserbaidschaner“, berücksichtigt.

[3] Ausnahmen bilden nur Dehdashti 2000 und Mooradian/Druckman 1999.

[4] In der wissenschaftlichen Neorealismus-Globalisierung-Debatte steht der Neorealismus seit den 1970er Jahren den drei Theorieansätzen der Globalisierung entgegen: dem Neoliberalismus, Neoinstitutionalismus und Neofunktionalismus (vgl. Gu 2000: 26-27).

[5] Unter Transkaukasus wird das südliche Kaukasus mit Armenien, Aserbaidschan und Georgien verstanden.

[6] Eine stark antikommunistische Haltung in der Armenischen SSR ist zuvor mit dem Ausbruch des Konfliktes in 1988 entstanden, als unter der Führung von Levon Ter-Petrosian (der erste Präsident der unabhängigen Republik) das „Karabach-Komitee“ gegründet wurde.

[7] Auch das Außenministerium der Republik Berg-Karabach (NKR) schließt das „Sumgait –Massaker“ nicht in die Kriegsphase ein (vgl. MFA NKR 2006).

[8] Die insgesamt sieben eroberten Bezirke sind Agdam, Fizuli, Dschebrail, Kelbadschar, Kubatli, Latschin und Zangelan. Die Hälfte des Fizuli Bezirks und weniger als die Hälfte von Agdam ist jedoch durch armenische Truppen nicht besetzt worden. Zudem werden einige Territorien der Bezirke Martuni und Martakert, die im früheren AGBK lagen, nicht von Armeniern kontrolliert. Die Summe der eroberten Territorien umfasst ca. 14 bis 15 Prozent aserbaidschanischer Gebiete (vgl. Walker 2000: 170; zu genauer Anrechnung der Gebiete vgl. Office of the Nagorno Karabakh Rebublic in Washington, DC.).

[9] Die freiwilligen Kämpfer aus Armenien nannten sich Jerkrapah (deutsch: Landesverteidiger). Sie gründeten nach dem Ausbruch des Konfliktes die patriotische Vereinigung Jerkrapah kamaworakanneri miutjun (Union der freiwilligen Landesverteidiger), welche die Funktion der vorübergehenden Armee in Armenien innehatte und später einen großen Einfluss im politischen Leben der Republik innehatte (vgl. auch Hofmann 2002: 30-31).

[10] An der Grenze zwischen der Republik Armenien und der aserbaidschanischen Exklave Nachitschevan , südwestlich von Armenien, kam es während des Krieges immer wieder zu militärischen Konfrontationen.

[11] Die eigene Bezeichnung lautet in der englischen Sprache „Nagorny Karabagh Republic“ mit der Abkürzung NKR.

[12] „Stabilisiertes De-facto-Regime“ ist ein von der UNO und deren Mitgliedsländern verwendeter Begriff, mit dem sie im Völkerrecht diejenigen Gebilde bezeichnen, welche alle Merkmale eines Staates aufweisen und somit eigentlich gleichwertige Staaten sind, jedoch aus überwiegend politischen Gründen von der UNO bzw. den UNO-Staaten vielfach nicht de jure als Staat anerkannt werden (vgl. Chen/Malla/Schellhorn 1977: 154-156).

[13] Hierbei tritt zudem folgender Widerspruch in Erscheinung: nach dem Art. 3 der Montevideo Konvention muss ein Staat von anderen nicht anerkannt werden, um als solches zu gelten, wenn er die oben genannten Merkmale aufweist: „The political existence of the state is independent of recognition by the other states. Even before recognition the state has the right to defend its integrity and independence, to provide for its conservation and prosperity, and consequently to organize itself as it sees fit, to legislate upon its interests, administer its services, and to define the jurisdiction and competence of its courts” (Convention of Montevideo 1933). Dennoch wird diese Bestimmung in der Praxis der internationalen Beziehungen häufig missachtet.

[14] Im Gegensatz dazu vertritt Dehdashti die These, dass es sich hierbei um einen innerstaatlichen Konflikt handelt, verzichtet dennoch auf eine Argumentation (vgl. Dehdashti 2000: 150f.).

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2006
ISBN (eBook)
9783842807815
Dateigröße
1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Osnabrück – Sozialwissenschaften, Studiengang Politikwissenschaften
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
1,2
Schlagworte
berg karabagh arzach kaukasus konflikt großmächte
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Titel: Der Konflikt um Berg-Karabach
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