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Erstellung und Analyse einer Doppelübersetzung am Beispiel einer Kurzgeschichte von Haruki Murakami

©2009 Bachelorarbeit 118 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Haruki Murakami gilt als einer der bedeutendsten Schriftsteller der japanischen Gegenwartsliteratur. Seit 1979 hat er elf Romane, mehr als dreißig Kurzgeschichten, mehrere Sachbücher und zahlreiche japanische Übersetzungen amerikanischer Literatur veröffentlicht. Seine Texte werden in mehr als fünfunddreißig Ländern veröffentlicht und in ebenso viele Sprachen übersetzt. Obwohl mit dem Roman Wilde Schafsjagd bereits 1991 die erste deutsche Murakami-Übersetzung auf dem Buchmarkt erschien, erlangte er im deutschsprachigen Raum erst ein Jahrzehnt später durch ein öffentlichkeitswirksames Ereignis große Bekanntheit. Gleichzeitig wurde die Öffentlichkeit durch diesen Streit auf eine wenig bekannte Praxis in der Übersetzung von Literatur aufmerksam.
Während der Besprechung des Murakami-Romans Gefährliche Geliebte in der TV-Literatur-Sendung Das Literarische Quartett (ZDF) entbrannte im Juli 2000 ein heftiger Streit zwischen den Kritikern Marcel Reich-Ranicki und Sigrid Löffler (u. a. Feuilletonchefin der ZEIT 1996-1999). Löffler behauptete, das Buch ‘hätte keine Sprache’ und wäre ‘literarisches Fastfood’, während Reich-Ranicki es als ‘von ungewöhnlicher Zartheit’ beschrieb. Nur in einem Nebensatz wurde gemutmaßt, dass die Sprache des Textes durch die Übersetzung mögliche Verluste davongetragen haben könnte. Der Streit wurde schnell persönlich und führte nach zwölf Jahren Mitgliedschaft zum Ausstieg Löfflers aus der Sendung, was eine umfangreiche Medienberichterstattung nach sich zog. Diese verhalf Murakami zum Sprung auf die deutschen Bestsellerlisten, machte aber auch öffentlich, dass das Buch Gefährliche Geliebte keine direkte Übersetzung aus dem Japanischen ist. Gefährliche Geliebte basiert auf der englischen Übersetzung des Originals (engl. 1998 als South of the Border, West of the Sun; jap. 1992 als kokkyo no minami, taiyo no nishi) und ist demnach eine Doppelübersetzung. Kurz darauf wurde bekannt, dass auch Murakamis Opus Magnum Mister Aufziehvogel (dt. 1998) eine Doppelübersetzung via der englischen Fassung ist (engl. 1997 als The Wind-Up Bird Chronicle; jap. 1994-95 als nejimakidori kuronikuru).

Japanisches Original> Englische Übersetzung> Deutsche Übersetzung
a) kokkyo no minami, taiyo no nishi> South of the Border, West of the Sun> Gefährliche Geliebte.
b) neijimakidori kuronikuru> The Wind-Up Bird Chronicle> Mr. Aufziehvogel.
In seinem Sachbuch Murakami und die Melodie des Lebens (2004) widmete der Übersetzer […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Valerie Gast
Erstellung und Analyse einer Doppelübersetzung am Beispiel einer Kurzgeschichte von
Haruki Murakami
ISBN: 978-3-8366-4578-2
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2010
Zugl. Fachhochschule Flensburg, Flensburg, Deutschland, Bachelorarbeit, 2009
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2010

Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1
2. Definition: Doppelübersetzung
4
2.1 Gründe und Anwendungsgebiete für Doppelübersetzung
5
2.2 Generelle Problematik der Doppelübersetzung
6
2.3. Äquivalenz und Doppelübersetzung
7
2.3.1 Denotative Äquivalenz
8
2.3.2 Konnotative Äquivalenz
9
2.3.3 Textnormative Äquivalenz
10
2.3.4 Formal-ästhetische Äquivalenz
10
2.3.5 Äquivalenzbewertung einer Doppelübersetzung
11
2.4 Doppelte Literaturübersetzung
13
2.5 Das Problem der Übersetzbarkeit
14
3. Zur Murakami-Doppelübersetzung
15
3.1 Zur Übersetzbarkeit des Japanischen
16
4. Erstellung und Analyse einer Doppelübersetzung
19
4.1 Der Autor Haruki Murakami
19
4.2 Kulturelle Referenz in seinem Werk
20
4.3 A ,Poor Aunt Story von Haruki Murakami: Textexterne Faktoren
21
4.3.1 Handlung
22
4.3.2 Interpretation und Wirkungsabsicht
23
4.3.3 Sprachliche Merkmale des englischen Ausgangstextes
23
4.3.4 Textexterne und -interne Faktoren des Zieltextes
24
5. Präsentation der Doppelübersetzung mit Kommentar und Analyse
25
5.1. Zur Analyse gegenüber der Direktübersetzung
26
5.2 Kennzeichnende Formatierung und Abkürzungen
26
5.3 Darstellung der Doppelübersetzung und Analyse in Texteinheiten
27
5.4 Nachbemerkung zur Doppelübersetzung
98
5.5. Zusammenfassung der Vergleichsergebnisse
98
5.5.1 Abweichend dargestellte außersprachliche Sachverhalte
100
5.5.2 Schlüsselszenen
101
5.5.3 Darstellung der japanischen Textwelt
102
5.5.4 Auf das Japanische zurückführbare Abweichungen
104
5.5.5 Stilistische Abweichungen
104
6. Schlussbetrachtung
106
Literaturverzeichnis
110
Abbildungsverzeichnis
113

Anmerkung der Autorin
Diese Arbeit ist in der Darstellung der Doppelübersetzung bzw. deren Analyse für
doppelseitige Ansicht konzipiert und sollte auch so gedruckt werden.

1. Einleitung
Haruki Murakami gilt als einer der bedeutendsten Schriftsteller der japanischen Gegenwartslite-
ratur. Seit 1979 hat er elf Romane, mehr als dreißig Kurzgeschichten, mehrere Sachbücher und
zahlreiche japanische Übersetzungen amerikanischer Literatur veröffentlicht. Seine Texte wer-
den in mehr als fünfunddreißig Ländern veröffentlicht und in ebenso viele Sprachen übersetzt
(Seats 2006: xii). Obwohl mit dem Roman Wilde Schafsjagd bereits 1991 die erste deutsche
Murakami-Übersetzung auf dem Buchmarkt erschien, erlangte er im deutschsprachigen Raum
erst ein Jahrzehnt später durch ein öffentlichkeitswirksames Ereignis große Bekanntheit.
Gleichzeitig wurde die Öffentlichkeit durch diesen Streit auf eine wenig bekannte Praxis in der
Übersetzung von Literatur aufmerksam.
Während der Besprechung des Murakami-Romans Gefährliche Geliebte in der TV-Literatur-
Sendung Das Literarische Quartett (ZDF) entbrannte im Juli 2000 ein heftiger Streit zwischen
den Kritikern Marcel Reich-Ranicki und Sigrid Löffler (u. a. Feuilletonchefin der ZEIT 1996-
1999). Löffler behauptete, das Buch ,,hätte keine Sprache" und wäre ,,literarisches Fastfood",
während Reich-Ranicki es als ,,von ungewöhnlicher Zartheit" beschrieb. Nur in einem Neben-
satz wurde gemutmaßt, dass die Sprache des Textes durch die Übersetzung mögliche Verluste
davongetragen haben könnte. Der Streit wurde schnell persönlich und führte nach zwölf Jahren
Mitgliedschaft zum Ausstieg Löfflers aus der Sendung (Rezensionsforum Literaturkritik 2006: s.
p.), was eine umfangreiche Medienberichterstattung nach sich zog. Diese verhalf Murakami
zum Sprung auf die deutschen Bestsellerlisten (Baus et al. 2000: 122), machte aber auch öf-
fentlich, dass das Buch Gefährliche Geliebte keine direkte Übersetzung aus dem Japanischen
ist. Gefährliche Geliebte basiert auf der englischen Übersetzung des Originals (engl. 1998 als
South of the Border, West of the Sun; jap. 1992 als kokkyo no minami, taiyo no nishi) und ist
demnach eine Doppelübersetzung. Kurz darauf wurde bekannt, dass auch Murakamis Opus
Magnum Mister Aufziehvogel (dt. 1998) eine Doppelübersetzung via der englischen Fassung ist
(engl. 1997 als The Wind-Up Bird Chronicle; jap. 1994-95 als nejimakidori kuronikuru).
Japanisches Original > Englische Übersetzung > Deutsche Übersetzung
a) kokkyo no minami, taiyo no nishi > South of the Border, West of the Sun > Gefährliche Geliebte
b) neijimakidori kuronikuru > The Wind-Up Bird Chronicle
> Mr. Aufziehvogel
Abbildung 1: Doppelübersetzung von Haruki Murakamis Romanen.
1

In seinem Sachbuch Murakami und die Melodie des Lebens (2004) widmete der Übersetzer von
The Wind-Up Bird Chronicle, der Amerikaner Jay Rubin, der Doppelübersetzung einige Absät-
ze. Beim Lesen des Buches weckte das Thema meine Aufmerksamkeit und ich recherchierte
einen Großteil der Kontroverse in den entsprechenden Essays und Artikeln.
Nach dem öffentlichkeitswirksamen Streit im Literarischen Quartett wurde die Doppelüberset-
zung in den Feuilletons von Philologen, Kritikern und Übersetzern diskutiert und von den meis-
ten Seiten scharf verurteilt. Von einem ,,Skandal" und ,,einer Vergewaltigung des Originals" war
die Rede; auch eine erneute, direkte Übersetzung beider Romane ins Deutsche wurde gefor-
dert (Worm 2000a: 128). Der Übersetzer Rubin war bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal über
die Weiterverwendung seiner Übersetzungen informiert und nannte die Doppelübersetzung
,,absurd" (Zitat in einer Email des Übersetzers, abgedruckt in Baus et al. 2000: 124). Die einhel-
lige Meinung lautete: ein solches ,,Stille Post"-Spiel kann unmöglich zu einer dem Original an-
gemessenen deutschen Fassung führen und muss unweigerlich in der Verfälschung des Inhalts
und Verlust des autoreneigenen Stils resultieren.
Die meisten deutschsprachigen Leser sind auf dt. Übersetzungen von fremdsprachiger Literatur
angewiesen, so dass man bei diesen überwiegend negativen Reaktionen den Eindruck hat,
man würde durch die Doppelübersetzung um die ,,wahre Geschichte" betrogen und hätte einen
ganz anderen Text gelesen, hätte man die Direktübersetzung in den Händen gehalten. Sowohl
für Gefährliche Geliebte und Mr. Aufziehvogel existieren die geforderten deutschen Direktüber-
setzungen bis heute nicht, so dass ein Abgleich nicht möglich ist.
Ich stellte mir die Frage, weshalb Doppelübersetzungen überhaupt angefertigt werden, obwohl
es die Möglichkeit der direkten Übersetzung gibt. Weiterhin fragte ich mich, wie sehr sich der
Inhalt einer Doppelübersetzung von der Direktübersetzung des selben Originals unterscheiden
kann und ob es möglich ist, per Doppelübersetzung einen Text zu erstellen, der zumindest in
Bezug auf die erzählte Geschichte gegenüber einer Direktübersetzung äquivalent sein kann.
Deshalb beschloss ich, eine Doppelübersetzung eines englischen Murakami-Textes anzuferti-
gen, für die bereits eine direkte deutsche Übersetzung aus dem Japanischen existiert, und die
Texte im Vergleich zu betrachten.
Im ersten Teil dieser Arbeit wird der Vorgang der Doppelübersetzung zunächst theoretisch ins-
besondere auf seine ,,Daseinsberechtigung" untersucht. Es werden mögliche Gründe für ihre
Anwendung sowie die spezifische Problematik in der Literaturübersetzung und für den ausfüh-
renden Übersetzer erläutert.
Im zweiten Teil wird eine kommentierte Doppelübersetzung der Kurzgeschichte A 'Poor Aunt'
Story von Haruki Murakami (übersetzt von Jay Rubin) angefertigt und das Ergebnis im Ver-
gleich mit der im deutschsprachigen Raum veröffentlichten Direktübersetzung auf Abweichun-
gen in der Wiedergabe des Textgegenstands analysiert. Das Hauptinteresse lag dabei beson-
ders auf szenischen ,,Details" wie Realia sowie auf den für die Interpretation der Geschichte
2

wichtigen Elementen und Unterschieden in der sprachlichen Wirkung.
Es wird so versucht, zu einer Einschätzung darüber zu gelangen, ob durch die Doppelüberset-
zung ein Text entstanden ist, der dem Leser eine andere Geschichte erzählt als die Direktüber-
setzung oder ob beide Texte im Bezug auf die dargestellten Sachverhalte und die Interpretation
als adäquate, wenn nicht äquivalente Entsprechungen zueinander bestehen können. Die Hypo-
these der Untersuchung geht dabei analog zum Prinzip des ,,Stille Post"-Spiels davon aus,
dass in der Doppelübersetzung stellenweise klar erkennbare, signifikante Abweichungen von
der deutschen Direktübersetzung auftreten müssen.
3

2. Definition: Doppelübersetzung
Eine Doppelübersetzung ist die Übersetzung einer Übersetzung.
Der Originaltext (OT) in seiner Ausgangssprache (AS, auch Originalsprache OS) wird in eine
Zielsprache (ZS1) übertragen, um von dort Grundlage für die Übertragung in eine weitere Ziel-
sprache (ZS2) zu sein (Landers 2001: 130). Der Vorgang lässt sich beliebig fortführen und wird
dann als Mehrfachübersetzung bezeichnet.
Eine Doppelübersetzung bedeutet, dass nur der erste Übersetzer in der Kette mit dem Original-
text arbeitet. Jeder weitere Übersetzer verwendet also einen Zieltext als Ausgangstext (Dollerup
2000: 19). Es kann davon ausgegangen werden, dass dem Übersetzer, der eine Doppelüber-
setzung anfertigt, klar ist, dass ihm kein Original vorliegt und er diesen Umstand in die Vorberei-
tung der Übersetzung einbezieht. Der Übersetzer hat dabei aber keine Kompetenz in der Origi-
nalsprache des Textes, so dass er in seiner Recherche auf Quellen in den von ihm beherrsch-
ten Sprachen beschränkt bleibt.
Für den Doppelübersetzer bedeutet dies auch, dass die Position des Absenders vom ersten
Übersetzer eingenommen wird. Denn auch wenn der Inhalt und die sprachliche Gestaltung des
Textes im Original festgelegt und in der Übersetzung reproduziert wurden, ist der erste Zieltext
doch nach den Vorstellungen und der Wahrnehmung des ersten Übersetzers (in seiner Spra-
che) realisiert und somit sind seine Entscheidungen in der ersten Übersetzungsphase die
Grundlage für die Entscheidungen in der zweiten Phase (ibid.: 20). Eine kommunikative Verbin-
dung zwischen dem Originalautor und dem Übersetzer der Doppelübersetzung besteht theore-
tisch zu keinem Zeitpunkt.
In der Übersetzungswissenschaft wird der Begriff Doppelübersetzung nicht einheitlich verwen-
det. Die in der Fachliteratur, Fachübersetzung sowie im Dolmetschen zumeist verwendete Be-
zeichnung ist Relaisübersetzung. Der Begriff stammt aus der Funktechnik, in der eine Relais-
station verwendet werden kann, wenn die Sende- und Empfangsstationen für eine Transmission
zu weit voneinander entfernt liegen. Orthofer (2003) verwendet dagegen weniger fachsprachlich
den Begriff double translation. Landers bezeichnet Doppelübersetzungen als indirect translation
(indirekte Übersetzung) (2001: 130 f.). Dieser Begriff muss aber aus Klarheitsgründen von Dop-
pelübersetzung abgegrenzt werden: Eine indirekte Übersetzung liegt vor, wenn der erste (und
damit mittlere) Übersetzungsschritt nur zum Herstellen der Kommunikationskette gedacht ist
(wie in der Funktechnik). Der Text in ZS1 wird nur zur weiteren Übertragung realisiert, hat aber
keinen Empfänger. Bei einer Doppelübersetzung sind jedoch alle Zieltexte für eine Empfänger-
gruppe konzipiert, d. h. der Text wird materiell realisiert und veröffentlicht. Er nimmt in der weite-
ren Übersetzung also die Position des Originals ein. Demnach sollen nur die Übersetzungen,
deren mittlere Realisierung keinen Empfänger hat, als indirekt bezeichnet werden (Dollerup
2000: 19).
4

2.1 Gründe und Anwendungsgebiete für Doppelübersetzung
Eine Doppelübersetzung muss dann vorgenommen werden, wenn der Originaltext nicht mehr
existiert, weil er zerstört wurde oder verloren ging. Sind nur noch Übersetzungen des Originals
verfügbar, werden diese als Grundlage für weitere Übertragungen verwendet. Das prominentes-
te Beispiel ist das Alte Testament der christlichen Bibel. Einige Teile des Textes stammen aus
dem jüdischen Tanach und sind nur in der altgriechischen Septuaginta (150-100 v. Chr.) erhal-
ten. Deren lateinische Übersetzung, die Vulgata, (382 n. Chr.), wurde unter Konsultation ande-
rer, bereits vorhandener lateinischen Übersetzungen angefertigt. Die Vulgata war anschließend
wiederum Grundlage für die erste englische Bibelübersetzung von Wycliff (1383) (Dollerup
2000: 21) und die deutsche Lutherbibel (Wikipedia 2009b: s. p.). Nach ähnlichem Prinzip wur-
den lange Zeit wissenschaftliche Texte wechselseitig über die alten Wissenschaftssprachen A-
rabisch, Griechisch und Latein übertragen und überliefert (St. André 2008: 231).
Auch literarische Texte wurden in der Vergangenheit via Doppelübersetzung in andere Spra-
chen übertragen. Dokumentiert ist z. B. die Doppelübersetzung von Hans Christian Andersens
Märchen aus dem Dänischen über das Deutsche ins Englische (noch zu Lebzeiten des Autors,
1805-1875) oder eine spanische Hamlet-Übersetzung im Jahr 1722 auf Basis der französischen
Fassung. Grund dafür ist weniger die Nichtverfügbarkeit von Übersetzern, sondern mehr die
Tatsache, dass Literatur lange Zeit nur für und von der intellektuellen Elite nach ihren Vorlieben
übersetzt wurde (Dollerup 2000: 22). Seit sich eine systematische Verlagslandschaft gebildet
hat und Literatur gezielt verbreitet wird, wird ,,offiziell" zumeist direkt vom Original übersetzt.
Dennoch sind in neuerer Zeit neben Haruki Murakamis Romanen Fälle von Doppelübersetzung
von Autoren wie Stanislaw Lem (1966) und Sandór Marai (2001) bekannt geworden; ersterer
sogar ohne Zustimmung des Autors (Orthofer 2003: s. p.).
Eine ,,künstliche" Nichtverfügbarkeit des Originals kann aber auch durch das Fehlen eines Ü-
bersetzers für ein Sprachpaar bedingt sein. In diesem Fall wird die Arbeit geteilt, der Arbeitsweg
aber verdoppelt und der Text über zwei Übersetzer in die Zielsprache übertragen. Die Verfüg-
barkeit von Übersetzern für ein Sprachenpaar ist davon abhängig, wie viele Sprecher eine
Sprache als ihre natürliche Sprache (Muttersprache) haben. Die Auffassung, dass die Überset-
zungsrichtung in die Muttersprache anderen Richtungen vorzuziehen ist, wird im ,,Mutterspra-
chenprinzip" formuliert (Wikipedia 2007: s. p.). Ein weiterer Faktor ist die geografische Nähe
und damit der interkulturelle Kontakt zwischen Sprachräumen (Wienold 2004: 415). Unter den
,,großen" Sprachen (mit über 50 Mio. natürlichen Sprechern, z. B. Englisch, Chinesisch, Spa-
nisch, Französisch, Russisch, Deutsch, usw.) ist eine Nichtverfügbarkeit von fähigen Überset-
zern demnach unwahrscheinlicher als für kleinere Sprachgemeinschaften. Die genaue Zahl der
fähigen Übersetzer für jedwede Sprachkombinationen ist generell schwer zu ermitteln, es ist
aber plausibel, dass es z. B. weitaus mehr Übersetzer für Kombinationen wie Englisch/Deutsch
oder sogar Tibetisch/Englisch geben muss als für z. B. Tibetisch/Afrikaans, und es in letzterer
eher zu ,,Engpässen" kommen kann (Landers 2002: 131).
5

In bestimmten Anwendungsbereichen ist Doppelübersetzung eine anerkannte Arbeitspraxis: Bei
Konferenzen mit vielen Teilnehmern kleinerer Sprachgemeinschaften kann ein Text über eine
,,Relaiskabine" erst in eine ,,große Sprache" verdolmetscht werden, um von dort parallel in meh-
rere ,,kleine" Sprachen übersetzt zu werden. Üblich ist dies z. B. in den Sitzungen der Europäi-
schen Union, wo sich regelmäßig über 500 Sprachkombinationen ergeben können (Roxburgh
2004: s. p.). In der Lokalisierungsindustrie wird die Relaisübersetzung als Mittel zur Prozessop-
timierung genutzt und lässt sich über Übersetzungsspeichersysteme organisieren (z. B. mit dem
Across Language Server), wo sie damit auch zur Kostenoptimierung beitragen (Across Systems
s. a.: s. p.). Auch Fälle von Untertitelung via Doppelübersetzung sind bekannt (St. André 2008:
231). In diesen Bereichen ist vordergründig eine Nichtverfügbarkeit von Übersetzern der Grund
für Relaisübersetzung ­ besonders in der Lokalisierungsindustrie kann durch die starke wirt-
schaftliche Prägung des Bereichs angenommen werden, dass Relaisübersetzungen auch rein
aus Kostengründen angewiesen werden.
2.2 Generelle Problematik der Doppelübersetzung
Die Doppelübersetzung steht sowohl der Tradition der Direktübersetzung wie auch dem wis-
senschaftlichen Standpunkt entgegen, dass eine Übersetzung nur ,,vom Original" erfolgen soll.
Da Doppelübersetzungen gemeinhin ausschließlich aus praktischen Zusammenhängen not-
wendig werden, war das Thema für die Übersetzungswissenschaft bisher von wenig Interesse
und wird sogar als ,,notwendiges Übel" bezeichnet. Es gibt demzufolge auch keine systemati-
schen Untersuchungen und kaum Erkenntnisse zu Doppelübersetzungen (St. André 2008: 230).
Als gegeben wird der Umstand angesehen, dass evtl. Fehler und Ungenauigkeiten, die wäh-
rend der ersten Übersetzung entstehen, unvermeidlich in der zweiten Übersetzungsphase re-
produziert werden, da keine Möglichkeit zur Korrektur durch einen Vergleich mit dem Original-
text besteht. Dazu addieren sich die eventuellen Fehler der zweiten Übersetzung (ibid.). Doch
selbst wenn in der zweiten Übersetzung keine neuen Fehler hinzukommen, entfernt sich die
Doppelübersetzung durch die zweite Neuformulierung noch weiter von Original, und wird die im
Originaltext bezeichneten Inhalte generell ,,ungenauer" wiedergeben als eine Direktüberset-
zung:
(...) any error or misinterpretation in the first-generation translation (T1) will inevitably be
reproduced in T2 (the second generation) with no chance of correction through comparison with
the SL (source language). Thus T2 is automatically further removed from denotative fidelity than
T1, even if T2 introduces no further errors into the translation."
(Landers 2002: 131)
Mit denotative fidelity meint Landers hier die ,,Genauigkeit" der Wiedergabe des außer-sprachli-
6

chen Gegenstands gegenüber der Vorgabe des Originals
i
.
Eine Doppelübersetzung ist somit auch ,,ungenauer" als eine Direktübersetzung . Landers nennt
als Vergleich den ,,Xerox-Effekt", der besagt, dass die Kopie einer Kopie immer unschärfer sein
wird als eine Kopie vom Original (ibid.).
2.3 Äquivalenz und Doppelübersetzung
Um von ,,vom Original abweichende Übersetzungen" oder sogar ,,Übersetzungsfehlern" spre-
chen zu können ist es notwendig, zu erläutern, was unter einer ,,gelungenen" Übersetzung ver-
standen wird bzw. was dies für eine Doppelübersetzung bedeutet:
Als Bewertungsmaßstab für die Qualität der Übersetzung gilt allgemein die Äquivalenzbezie-
hung zwischen dem Ausgangstext (dem Original) und dem Translat.
Sie ergibt sich aus der Forderung des Translats nach Invarianz. Die Invarianzforderung sagt
aus, dass eine Übersetzung ,,in einer nachvollziehbaren Ähnlichkeitsrelation zum Original"
(Freunek 2007: 19) stehen muss und dass die Aspekte des Originals vergleichbar und wiede-
rerkennbar in der Übersetzung reproduziert werden müssen. Invarianz ist eine Eigenschaft von
einzelnen sprachlichen Aspekten des Originals und somit der Betrachtungsgegenstand im spra-
chenpaar-bezogenen Vergleich zwischen Original und Übersetzung. Sie bedeutet nicht ,,Unver-
änderlichkeit" im strikten Sinn, da eine gewisse Veränderung bereits durch die andere Form der
Zielsprache vorliegt.
Wenn die Invarianzforderung für einen bestimmten Aspekt erfüllt wird, entsteht eine Äquiva-
lenzbeziehung zwischen Ausgangstext und Translat. Äquivalenz bedeutet dabei nicht ,,Identität",
sondern die ,,Gleichwertigkeit" der jeweiligen Textelemente. Sie wird immer nur in Rückbezug
auf den Ausgangstext betrachtet. Die Feststellung einer Äquivalenzbeziehung zwischen Original
und Übersetzung ist auf vielen Ebenen möglich und erfordert darum die Festlegung des rele-
vanten Bezugsrahmens für den Vergleich (ibid.). Da die Invarianzforderung fast nie für alle
sprachlichen Dimensionen gleichermaßen erfüllbar ist, muss ein Übersetzer für jeden neuen
Text bzw. jede Übersetzungssituation individuell entscheiden, welcher Dimension Vorrang zu
gewähren ist. Die angemessene Hierarchisierung der Dimensionen mit ihren Invarianzforderun-
gen und damit der Entscheidungen des Übersetzers wird als Adäquatheit einer Übersetzung
bezeichnet (Freunek 2007: 22).
Koller (1992) nennt fünf Bezugsrahmen, unter denen ZS-Einheiten in unterschiedlichem Rang
und Umfang in einer Äquivalenzbeziehung zum Original stehen können:
7
i
Der Begriff ,,Treue" wird in der praktischen Übersetzungsarbeit weniger strikt ausgelegt
als in der Wissenschaft (in der er ebenfalls uneindeutig definiert wird) und teilweise sogar mit
,,Äquivalenz" gleich gesetzt (Nord 2009: 24). Landers bezieht sich auf keine weitere Definition
(z. B. zum Begriff ,,freie" und ,,treue" Übersetzung, Kapitel 2.5), weshalb ,,Treue" hier recht un-
terdifferenziert zu verstehen ist. Landers meint damit schlicht die möglichst gleichwertige Wi-
dergabe der denotativen Inhalte in all ihren Aspekten.

·
denotative Äquivalenz: Gleichwertigkeit des außersprachlichen Sachverhalts
·
konnotative Äquivalenz: Gleichwertigkeit der Art der Verbalisierung (Konnotation
bzgl. Stilschicht, soziolektale/dialektale Dimension, Frequenz)
·
textnormative Äquivalenz: Gleichwertigkeit der Gebrauchsnorm des Textes und
der Sprache
·
pragmatische Äquivalenz: Verstehensvoraussetzungen des Lesers
·
formal-ästhetische Äquivalenz: Gleichwertigkeit der ästhetischen, formalen und
individualistischen Eigenschaften des Ausgangstextes
(Koller 1992:215 f.)
Übergreifend formulierte er die Äquivalenzforderung:
,,Die Qualität(en) x des AS-Textes (Qualitäten inhaltlicher, stilistischer, funktioneller, ästhetischer
etc. Art) muß (müssen) in der Übersetzung gewahrt werden, wobei sprachlich-stilistische,
textuelle und pragmatische Bedingungen auf der Seite der Empfänger zu berücksichtigen sind."
(Koller 1992: 215).
Bei einer Doppelübersetzung werden die AS-Einheiten zweimal übersetzt, woraus sich zwei Ä-
quivalenzbeziehungen ergeben. Das Ergebnis der Addition dieser zwei Äquivalenzbeziehungen
sollte je nach deren Art variieren, so dass sich aus den Entsprechungstypen nach Koller mögli-
cherweise eventuelle Folgen der Doppelübersetzung zeigen lassen. (Aufgrund des Fehlens von
weiterführenden theoretischen Überlegungen zu Doppelübersetzungen handelt es sich bei den
folgenden Ausführungen über die Effekte der Doppelübersetzung um eigene Überlegungen).
2.3.1 Denotative Äquivalenz
Da sich die Sprachen zueinander nicht symmetrisch verhalten, gibt es nicht immer exakt diesel-
ben Mittel, etwas zu bezeichnen. Dies verdeutlicht Koller beispielhaft an seinen Entsprechungs-
typen der denotativen Äquivalenz:
·
Eins-zu-eins-Entsprechung: In der ZS liegt eine direkte Entsprechung vor, die zum AS-
Ausdruck völlig gleichwertig, also äquivalent ist, z. B. engl. car ­ dt. Auto
·
Viele-zu-Teil-Entsprechung: In der ZS gibt es einen Ausdruck, der mehrere AS-
Ausdrücke und ihre Bedeutungselemente nur teilweise wiedergibt, weshalb hier
Verdeutlichung notwendig ist, z. B. bei engl. control, control unit, regulator ­ dt. Regler
·
Eins-zu-viele-Entsprechung: In der ZS gibt es viele Ausdrücke für einen AS-Ausdruck, z.
B. eng. control ­ dt. Regelung, Steuerung, Aufsicht, Bedienung usw.
·
Eins-zu-Null-Entsprechung: In der ZS gibt es keinen Ausdruck für den AS-Ausdruck; es
besteht eine ,,lexikalische Lücke", so dass der Ausdruck umschrieben, übernommen,
lehnübersetzt o. ä. werden muss (z. B. dt. Bundesgerichtshof - schwed. ?)
(Koller 1992: 229 f.)
8

Addiert man diese denotativen Entsprechungstypen wie bei einer Doppelübersetzung, so kann
der angenommene Effekt der ,,größer werdenden Ungenauigkeit" theoretisch sichtbar werden:
·
Liegt in beiden Übersetzungsschritten eine Eins-zu-eins-Entsprechung vor, so ist eine
Doppelübersetzung unproblematisch: Eins-zu-eins + Eins-zu-eins = Eins-zu-eins, z. B.
für dt. Baum ­ engl. tree ­ franz. arbre
·
Liegt in einem der Übersetzungsschritte eine Eins-zu-eins-Entsprechung vor, in dem
anderen aber eine Eins-zu-Teil-Entsprechung, wird der beschriebene Sachverhalt in der
Doppelübersetzung im Vergleich zum Original ungenauer:
Eins-zu-eins + Eins-zu-Teil = Eins-zu-Teil
·
Liegt jedoch in beiden Übersetzungsschritten eine Eins-zu-Teil-Entsprechung vor, so
entsteht zwischen dem Original und der Doppelübersetzung ein Bruchteil-Verhältnis:
Eins-zu-Teil zu Eins-zu-Teil = 1/Teil. Je kleiner der Bruchteil, desto geringer ist der Anteil
der ursprünglichen Bedeutung an der Entsprechung in der Doppelübersetzung.
2.3.2 Konnotative Äquivalenz
Am Beispiel der denotativen Äquivalenz zwischen AS und ZS lassen sich die unterschiedlichen
Entsprechungstypen und möglichen Effekte der Doppelübersetzung schematisch aufzeigen. Ein
Text ist aber nur in wenigen Fällen rein denotativ, sondern seine Elemente enthalten zumeist
weitere Aspekte (siehe die Bezugsrahmen nach Koller).
Von konnotativer Äquivalenz muss gesprochen werden, wenn neben dem, was denotativ ge-
meint ist (langue-Ebene), die Umstände der jeweiligen Situation, des Kontexts (parole) und des
Sprechers hinzukommen, die bedingen, wie etwas ausgedrückt wird. Ein denotativer Ausdruck,
der in einer bestimmten sprach- und textspezifischen Situation verwendet wird, trägt somit kon-
notative Werte mit sich (Greiner 2004a: 98). Diese Werte sind abhängig von der jeweiligen Kul-
tur gestaltet und können u. a. geografisch (z. B. Dialekt), sozial (sprachliches Register und Stil)
oder durch implizite Wertung (z. B. Euphemismen oder Ironie) bedingt sein. Daraus ergeben
sich mehrere synonyme oder scheinbar synonyme Ausdrücke, die in jeder Sprache individuell
geordnet sind und in einer ,,Heterogenität der Einzelsprachen" zueinander resultiert. Darum
müssen auch die zuvor unter der denotativen Äquivalenz als in einem Eins-zu-Eins-Verhältnis
stehenden Entsprechungen automatisch als Eins-zu-Teil-Entsprechungen betrachtet werden
(bei Eins-zu-Teil-Entsprechungen verstärkt sich der Teil-Charakter) (Koller 1992: 240 f.). Die
konnotative Dimension bedingt dadurch auch den Stil eines Textes, der sich aus der Frequenz,
Verteilung und Kombination von konnotativ wertigen Einheiten auf Wort- und Syntaxebene er-
gibt.
Die konnotative Äquivalenz gehört laut Koller zu den ,,meist nur annäherungsweise lösbaren
Problemen des Übersetzens" (ibid.), dem durch z. B. kommentierende Übersetzungsverfahren
entgegengewirkt werden kann. Darum ist mit dem Begriff Äquivalenz zumeist ein graduelles
Verhältnis gemeint und die verschiedenen Dimensionen werden getrennt voneinander betrach-
9

tet und bewertet. Durch diese nicht mögliche Erfüllbarkeit aller Invarianz- und Gleich-wertig-
keitsforderungen bleibt die Übersetzung dem Original grundsätzlich nachgeordnet.
Für eine Doppelübersetzung würde dies schematisch bedeuten, dass eine vollständige Über-
tragbarkeit von konnotativ wertigen Inhalten grundsätzlich nicht möglich ist, da in der Doppel-
übersetzung nur noch kleine Bruchstücke des im Original enthaltenen Ausdrucks stecken kön-
nen: Eins-zu-Teil ­ zu ­ Eins-zu-Teil-Entsprechung = 1/Teil
2.3.3 Textnormative und pragmatische Äquivalenz
Textnormen, also Vorgaben bezüglich des Aufbaus, der Terminologie usw. gelten vor allem für
Gebrauchstexte (Anleitungen, Verträge usw.). Sie stellen unter anderem sicher, dass der Text in
einer anderen Sprache in seiner Funktion eindeutig ist. Da sie in den unterschiedlichen Spra-
chen weitestgehend festgelegt (genormt) sind (Nord 2009: 24), und relativ wenig ,,Spielraum"
bieten, ist die Erhaltung der textnormativen Äquivalenz trotz einer Doppelübersetzung womög-
lich unproblematisch.
Pragmatische Äquivalenz herstellen bedeutet, die Übersetzung auf die unterschiedlichen Re-
zeptionsbedingungen der ZS-Lesergruppe anzupassen, damit sie genauso verstanden werden
kann wie von der AS-Lesergruppe. Dabei ist die Frage, wie stark der Übersetzer in den Text
,,eingreifen" darf. Einfache Eingriffe wie Erläuterungen in Form von Fußnoten gehen dabei nur
auf ein Wissensdefizit der ZS-Leser ein und könnten im zweiten Übersetzungsschritt der Dop-
pelübersetzung sinnvoll verwertet werden. Es gibt aber auch Fälle, in denen die Verstehensvo-
raussetzungen der ZS-Leser stark von denen der AS-Leser abweichen. Koller nennt als Beispiel
die ,,Verwissenschaftlichung" eines populärwissenschaftlichen Textes oder die Neuformulierung
des sprachlichen Stils und starke inhaltliche Bearbeitungen in der Übertragung von Robinson
Crusoe in ein Kinderbuch. Seiner Ansicht nach sind solch veränderte Texte aber keine ,,echten"
Übersetzungen mehr, sondern neue Texte (Koller 1992: 248 f.). Ebenso wäre die Doppelüber-
setzung keine ,,Übersetzung", sondern ebenfalls ein neuer Text und steht damit in keiner Äqui-
valenzbeziehung zum Original.
2.3.4 Formal-ästhetische Äquivalenz
Das Herstellen von formal-ästhetischer Äquivalenz nennt Koller die ,,Analogie der Gestaltung" in
der Übersetzung (1992: 252), die von Katharina Reiss wie folgt charakterisiert wird:
,,Sie (die Übersetzung) orientiert sich am Eigencharakter des Kunstwerks und nimmt den Ge-
staltungswillen des Autors zur Richtschnur. Lexik, Syntax, Stil und Aufbau werden so gehand-
habt, dass sie eine dem expressiven Individualcharakter des AS-Textes analoge ästhetische
Wirkung in der ZS erzielen können." (Reiss 1976:21, in Koller 1992: 252).
Die Mittel der sprachlichen Gestaltung sind in den verschiedenen Sprachen sehr unterschied-
10

lich. Sie hängen dabei vom jeweiligen Sprachsystem selbst ab, da ihre grafischen und phoneti-
schen Strukturen Stilmittel wie Reime, Alliterationen oder Wortspiele erst möglich machen. Wei-
tere Stilmittel wie z. B. Metaphern sind ebenfalls sprachspezifisch, da sie durch die außer-
sprachliche Wahrnehmung geprägt sind. Häufig ist die Erhaltung der Form eines Stilmittels aber
nicht möglich, wodurch auf Kompensationsstrategien zurückgegriffen werden muss, die u. U.
inhaltliche wie stilistische Eingriffe in den Text bedeuten (Koller 1992: 252 f.).
Für Levy (1969) ist die formal-ästhetische Dimension des ZT aufgrund dieser Problematik kein
Resultat von Übertragung, sondern das Ergebnis einer ,,reproduktiven Kunst":
,,Das Arbeitsverfahren [der Übersetzung] (...) besteht darin, daß ein Sprachmaterial (Code)
durch ein anderes ersetzt wird und folglich alle aus der Sprache hervorgehenden Kunstmittel
selbstständig gestaltet werden. In dem Sprachbereich (...) ist er also original schöpferisch."
(Levy 1969: 65 f., in Greiner 2004:35 f.).
Nach seinem Ansatz ist die ästhetische Form einer Übersetzung nicht nur Resultat der Übertra-
gung im eigentlichen Sinn, sondern ein Grenzfall mit einer kompletten Neuschaffung im Sinne
des Autors, ähnlich wie bei der Neuaufführung eines Theaterstücks (ibid.).
Für eine Doppelübersetzung würde dies bedeuten, dass sie aus dem ersten Translat immer nur
einen Teil der ursprünglichen ästhetischen Gestaltung (und Wirkung) reproduzieren kann, da
der andere Teil der Gestaltung neu geschaffen wurde.
2.3.5 Äquivalenzbewertung einer Doppelübersetzung
Die Bewertung der unterschiedlichen Arten von Äquivalenzbeziehung zwischen den drei betei-
ligten Texten ist im ,,echten" (heutzutage sehr hypothetischen) Fall einer Doppelübersetzung
nicht möglich, da das Original nicht mehr existiert. Dennoch wird eine Doppelübersetzung in der
Absicht angefertigt, das Original zu repräsentieren. Darum muss die Frage gestellt werden, auf
welche Weise die Doppelübersetzung auf ihre Äquivalenz zum Originaltext geprüft werden kann
oder inwiefern die Beziehung zwischen Doppelübersetzung und Original überhaupt als Äquiva-
lenzbeziehung gelten kann:
Ist das Original verloren oder zerstört, kann das Verhältnis der Doppelübersetzung zum Origi-
nal nur noch an bereits bestehenden Übersetzungen, Nebentexten und Sekundärliteratur ge-
prüft werden. Im Idealfall enthalten sowohl Direkt- als auch Doppelübersetzungen desselben
Originals parallel zueinander die gleichen Aspekte der z. B. inhaltlichen Information, und stehen
auf übergeordneter und vorerst von der Sprache gelösten Ebene zueinander in Beziehung.
Zwischen diesen Informationseinheiten sollte zumindest eine logische Äquivalenzbeziehung
bestehen, d.h. zwei zueinander parallele Aussagen in den Direktübersetzungen A und B und
Doppelübersetzung C usw. sollten denselben Wert über die außersprachliche Wirklichkeit besit-
zen und sind so miteinander vergleichbar.
Im strikt aussagenlogischen Sinne kann hier allerdings nicht argumentiert werden, da die Le-
11

serwahrnehmung der ,,Textwelt" durch Übertragung in einer andere Sprache und den damit ver-
bundenen kulturellen Transfer grundsätzlich eine andere ist. Außerdem sind Ausgangs- und
Zieltexte in Bezug auf den Gehalt ihrer Aussagen nicht grundsätzlich gleich (durch Auslassun-
gen, Kürzungen etc.). Da es viele Möglichkeiten gibt, eine Aussage zu formulieren, kann und
muss bei der Bewertung des inhaltlichen Gehalts einer Doppelübersetzung nach einem ,,salva-
veritate"-Prinzip (,,die Wahrheit erhalten") vorgegangen werden
ii
: Wird der außersprachliche
Sachverhalt durch Austauschen der in den unterschiedlichen Übersetzungen verwendeten Be-
griffe nicht signifikant verändert, so kann die Art der Verbalisierung unter Umständen zumindest
adäquat sein.
Eine Doppelübersetzung muss also im Hinblick auf ihre Beziehung zum Originaltext womöglich
nicht als eine Reproduktion, sondern als eine Rekonstruktion (eine Nachbildung nach Quellen,
die das Original selbst nur nachbilden oder beschreiben) bezeichnet werden. Diese Auffassung
lässt sich durch ein Zitat von Walter Benjamin verdeutlichen, der sagte, dass die Sprache eines
Originals dessen Gehalt (den Inhalt) so fest umgibt wie die Schale die Frucht und mit ihr eine
Einheit bildet, während die Sprache einer Übersetzung diese Frucht nur umgeben könne ,,wie
ein Königsmantel in weiten Falten" (Benjamin 1923: 15). Aufgrund dieser Entfernung der Direkt-
übersetzung zum Original kann eine Doppelübersetzung nur auf der Oberfläche des Mantels
formuliert werden, der aber so weit ist, dass er nicht die Form der Frucht repräsentieren kann
(St. André 2008: 231).
2.4 Doppelte Literaturübersetzung
Wie bereits unter Punkt 2.2. angesprochen gibt es mehrere Bereiche der Fachübersetzung, in
welchen Doppelübersetzung zur anerkannten Arbeitspraxis gehört und als unproblematisch an-
gesehen wird (Dollerup 2000: 24). Es verbleibt zu fragen, weshalb das Verfahren in der Litera-
turübersetzung und auch im Fall Murakami stark kritisiert wurde, wenn literarische Texte doch
ebenso übersetzt werden können wie z. B. Gebrauchstexte.
Ein Grund ist z. B. das Kriterium der Fiktionalität von literarischen Texten, aus dem sich viele
Folgen für die Arbeit des Übersetzers ergeben. Es bedeutet nicht, dass der Inhalt einer Ge-
schichte völlig erfunden sein muss, sondern nur, dass er der individuellen Vorstellung des Au-
tors entspringt und keine Nachbildung einer nachprüfbar realen Begebenheit sein muss (Koller
1992: 278 f.) Dies bringt eine gewisse Freiheit der Gestaltung des Textes und dessen Welt mit
sich. Natürlich haben die unterschiedlichen Literaturgattungen ihre individuellen sprachlichen
12
ii Das ,,salva-veritate"-Prinzip gilt im nicht strikten Sinn vor allem für Verstehensprozesse in
alltagssprachlichen Zusammenhang. Auch wenn zwei Aussagen einer Sprache nicht
identisch sind, können sie für uns dasselbe bedeuten und aussagen bzw. den selben
Wahrheitswert besitzen. Es wurde von Gottfried Wilhelm Leibniz in seinen Überlegungen zu
Aussagenlogik formuliert. Für die Bewertung von Doppel- gegenüber Direktübersetzung in
dieser Arbeit kann es nicht im strikten Sinn verwendet werden, sondern wird als Grundlage
für den Gedanken einer Austauschbarkeit von Aussagen in Bezug auf den
außersprachlichen Sachverhalt verwendet. Ausführungen im strikten Sinne bietet z. B.
Ishiguro (1990: 17-43).

wie inhaltlichen Merkmale, die sie voneinander abgrenzen, und ein Autor ist aus Gründen der
Verständlichkeit an die sprachlichen Konventionen (z. B. an die Grundzüge des Satzbaus) der
Sprache gebunden. Künstlerische Bedeutung bekommt der Text aber erst dadurch, dass er e-
ben ,,nicht bereits vorhandene Strukturen reproduziert, sondern originell und damit innovatorisch
ist" (Nord 2009: 21). So kann jede sprachliche Komponente eines literarischen Textes bedeu-
tungstragend sein, auch wenn sie sich objektiv jeder Logik und Wahrheit entzieht. Die Erschaf-
fung der Textwelt und des Inhalts liegt ebenso im Ermessen des Autors wie die Wahl oder Neu-
schaffung von sprachlichen Mitteln wie Wortschatz und die Nutzung grammatischer Strukturen
und Metrik etc. als Stilmittel (Greiner 2004: 15). Der literarische Stil wiederum transportiert kon-
notative Werte der Ausgangskultur bzw. der Welt, die im Text erschaffen wird und ist so schwie-
riger zu übersetzen als eine reine denotative Information. Aus diesem individuellen Charakter
des Textes und der Freiheit seiner Gestaltung (,,die Einzigartigkeit der literarischen Äußerung",
die ebenfalls eine Invarianzforderung stellt (Freunek 2007: 23)), ergibt sich, dass die Interpreta-
tion und Wirkungsabsicht von literarischen Texten nicht eindeutig ersichtlich sein muss (Weite-
meier 2004: 889). Die Übersetzung bedarf der stetigen subjektiven Interpretationsarbeit durch
den Übersetzer, wodurch das Resultat nicht voraussagbar ist. Durch eine Doppelübersetzung
multiplizieren sich die unterschiedlichen Entscheidungen der Übersetzer in Bezug auf Interpre-
tation und Gestaltung des Textes ­ was eine Einschätzung des Gesamtresultats im Vorfeld völ-
lig unmöglich macht.
Zum anderen ist der ,,persönliche Senderbezug" von Literatur zu nennen. Viele Textsorten, de-
ren Funktion die reine Übermittlung von Informationen und Instruktionen ist, haben wenig bis
keinen Senderbezug. Für den Leser von z. B. einer Anleitung einer Mikrowelle ist es unwichtig,
welche Person sie verfasst hat, denn sein Interesse liegt in der Verständlichkeit und Funktionali-
tät der Information. Bei Literatur tritt der Autor als klarer Absender seines Werks auf und der Le-
ser möchte in der Lektüre der Übersetzung eine Auffassung von der sprachlichen Gestaltung
des Ausgangstextes im Sinne des Autors bekommen (Nikula, in Kittel 2004:663). Eine Doppel-
übersetzung und die dadurch angenommene weitere Entfernung zum Original verweigert dem
Autor sein Recht, sowohl im Inhalt und der sprachlichen Gestaltung einer Übersetzung so prä-
sent zu sein wie möglich.
2.5 Das Problem der Übersetzbarkeit
Untrennbar mit der Abhandlung von Begriffen wie Äquivalenzbeziehung oder Invarianz verbun-
den ist die "grundsätzliche Frage nach der theoretischen Vorraussetzungen, der Möglichkeit
und den Grenzen dieser Beziehung" (Koller 1992: 159), also die Frage nach einer grundsätzli-
chen Übersetzbarkeit.
Die Sprachverwendung des Individuums ist von seiner individuellen Wirklichkeitswahrnehmung
abhängig, die wiederum durch die kollektive Wahrnehmung der Gesellschaft und deren Kultur
geprägt ist. Eine Sprache zu erlernen bedeutet, Kenntnis über die Formeln des jeweiligen
kommunikativen Zusammenhangs zu erwerben. Wenn Sprache von der Wirklichkeitsauffassung
13

einer Kultur geprägt ist, so bedeutet dies, dass man diese bestimmte Art der Wahrnehmung
zum Erlernen einer Sprache teilen muss. Kulturen können bekanntlich sehr verschieden sein,
was sich nicht nur in den Gewohnheiten zu Wohnen, zu Essen oder sich zu Kleiden zeigt, son-
dern auch linguistisch beschreibbar ist. In vielen Fällen lässt sich die sprachliche Formel nicht
vom kulturellen Aspekt trennen, z. B. bei Sprechakten wie Höflichkeitsformeln, Aufforderungen
oder rhetorischen Mitteln. Man braucht also ein dezidiert kultur-spezifisches Wissen, um be-
stimmte Texte wirklich verstehen zu können (Koller 1992: 163 f.). In der Übersetzung muss im-
mer gefragt werden, in welchem kulturell-kommunikativen Zusammenhang der Ausgangskultur
eine Äußerung stattfindet, und ob dieser kommunikative Zusammenhang in der Zielkultur genau
so vorhanden ist. Ist dies der Fall, so kann von einer absoluten Übersetzbarkeit gesprochen
werden. Es gibt aber auch Fälle, in denen ein kommunikativer Zusammenhang in der Zielkultur
nicht existiert und sich somit eine absolute Nichtübersetzbarkeit ergibt (es handelt sich hierbei
um Extremfälle ­ in vielen Fällen liegt eine Überschneidung der kommunikativen Zusammen-
hänge im Spektrum dazwischen vor (Koller 1992: 164 f.)). Je größer die Distanz zwischen zwei
Kulturen ist, umso größer sind die Unterschiede. Dieser Umstand fordert vom Übersetzer Ent-
scheidungen darüber, wie er seine Übersetzung gestaltet. Er kann den Zieltext ,,nah" am Aus-
gangstext selbst und den Gegebenheiten der Ausgangssprache und -Kultur verfassen, wodurch
die dargestellten kommunikativen Zusammenhänge im Text für den zielsprachigen Leser wo-
möglich streckenweise ,,fremd" erscheinen werden. Die Übersetzung bleibt also dem Ausgangs-
text ,,treu", denn sie gibt das Original so genau wie möglich wieder. Er kann sie aber auch an
der Zielsprache und ­Kultur orientiert abfassen, so dass sie dem Autor ,,entfremdet wird", aber
dem Leser kaum ihm fremde Elemente begegnen. Diese Methode wird als ,,freie" Übersetzung
bezeichnet.
3. Zur Murakami-Doppelübersetzung
Die Entscheidung zur Doppelübersetzung von Murakamis Romanen steht in einem großen Ge-
gensatz zur generellen Praxis der Direktübersetzung, die in den meisten Verlagen herrscht. Vor
Mister Aufziehvogel und Gefährliche Geliebte waren alle seine deutschen Veröffentlichungen
direkt übersetzt worden und ein Mangel an Japanisch-Übersetzern liegt in Deutschland generell
nicht vor. Es wird angenommen, dass der deutsche Verleger DuMont die Doppelübersetzung
absichtlich als ,,kostenreduzierende und zeitsparende" Maßnahme in Kauf nahm (Worm 2000a:
130 f.).
In Murakamis Fall ist interessant, dass er als Autor und alleiniger Inhaber der Übersetzungs-
rechte der Doppelübersetzung ausdrücklich zugestimmt haben soll. Murakami ist selbst Über-
setzer der Sprachrichtung Englisch-Japanisch und sehr bewandert in amerikanischer und euro-
päischer Literatur, weshalb er die Qualität der Übersetzung durchaus beurteilen kann. Im Fall
der Doppelübersetzung, in dem seine Geschichten ihre ,,weitere Reise in die Welt von dort aus
[dem Englischen] antreten" (Zitat aus Pressemitteilung des Verlags, ibid.: 129), habe er diese
engl. Übersetzungen begutachtet, für gut befunden und die Doppelübersetzung zumindest von
14

Mr. Aufziehvogel genehmigt. Die einzige Einschränkung sei die sehr vage Forderung gewesen,
dass ,,Qualität und Niveau des Originals zu wahren" seien.
DuMont dementierte mit diesen Zitaten umgehend den Verdacht, die Doppelübersetzung wäre
rein wirtschaftlich motiviert gewesen. Allerdings gibt es widersprüchliche Aussagen Murakamis
zu dem Thema. In einem Interview in der ZEIT antwortete er 2001 auf die Frage, ob er um die
Doppelübersetzung gewusst habe: ,,Auf die Idee bin ich nicht gekommen, deswegen habe ich
das nicht überprüft. Wenn der Verlag mich gefragt hätte, hätte ich darauf bestanden, dass man
einen Japanisch-Übersetzer findet" (Haak 2001: s. p.).
Arbeitsethisch ist die Doppelübersetzung schnell verurteilt worden, jedoch gibt es zu den kon-
kreten Auswirkungen auf Murakamis Romane sehr unterschiedliche Meinungen. Der Japanolo-
ge Worm untersuchte die Texte im Fall von Gefährliche Geliebte und kam zu einem scheinbar
bereits feststehenden Urteil: ,,Ich habe den deutschen Text überflogen und jedes starkdeutsche,
überdrehte, fetzige Wort markiert und mit Murakamis Text sowie der amerikanischen Überset-
zung verglichen. Beide Übersetzungen ziehen die falschen sprachlichen Register, vergreifen
sich im Ton, (...)" (Worm 2000:124).
Die deutsche Murakami-Übersetzerin Ursula Gräfe vertrat 2002 in einem Interview dagegen die
Meinung, dass die deutsche Fassung von Gefährliche Geliebte im Vergleich mit dem Original
ein zumindest ,,befriedigendes Ergebnis" sei und die Übersetzer ,,gute Arbeit geleistet hätten"
(Messmer 2002: s. p.). Murakamis Doppelübersetzung ist zumindest kein Einzelfall, denn es
sind frühere Fälle bekannt, in denen japanische Literatur sogar ,,auf Wunsch des jeweiligen Au-
tors" auf diesem Weg übersetzt wurden, um eine seines Erachtens angemessene (adäquate)
Reproduktion des Werks in die westlichen Sprachen sicherzustellen (Hijiya-Kirschnereit
1993:76).
3.1 Zur Übersetzbarkeit des Japanischen
Ein wichtiger Grund für ein solches Verfahren mag in der Natur der Sprachen selbst liegen. Das
Japanische scheint sich so grundsätzlich von Sprachen wie Deutsch oder Englisch zu unter-
scheiden, dass die Folgen bzw. die Verluste, die in der Übersetzung entstehen, ebenfalls als
größer angenommen werden als z. B. bei einer Übersetzung aus einer ,,verwandten Sprache".
Ein Verlag mag sich also eher auf eine vom Autor genehmigte (weil wenig verlustreiche) Über-
setzung verlassen, als eine weitere anfertigen zu lassen, die der Autor nicht überprüfen kann (in
dem Fall eine deutsche Direktübersetzung).
,,Das Japanische" nimmt in der westlichen Wahrnehmung eine fast mythosbehaftete Position
ein. Die Unterschiede, die zwischen der Kultur Japans und z. B. dem europäischen oder ameri-
kanischen Kulturverständnis bestehen, sind meist das erste, was an ihrer Darstellung in Roma-
nen, Filmen, historischen Dokumentationen usw. über Japan auffällt. Dieser Eindruck wird rein
oberflächlich durch das Erscheinungsbild des Japanischen als nicht-alphabetisches Schriftsys-
tem verstärkt, das für ,,Westler" wie Hieroglyphen anmutet. Durch die offensichtliche Andersar-
tigkeit der Sprache und der Kultur wird bisweilen mit einer Unübersetzbarkeit japanischer Litera-
15

tur argumentiert: ,,(...) der Gedanke der ,,Übersetzungsresistenz" wird auf anderer Ebene, näm-
lich von japanischen Muttersprachlern, auch Gelehrten (...) immer wieder bekräftigt, indem sie
verkünden, die Feinheiten, das eigentlich Wertvolle, Literarische, die Essenz des japanischen
Textes gehe unweigerlich in der Übersetzung verloren. Zuweilen wird sogar mit kotodama, der
nur dem Japanischen eigenen ,,Wortseele" argumentiert (...)" (Hijiya-Kirschnereit 1993: 72).
Die Behauptung wird auf der Leserseite noch dadurch bestärkt, dass ungleich weniger deut-
sche Leser den Vergleich mit dem Original vornehmen können als bei einem z. B. originär eng-
lischen Text. Die Tätigkeit des Japanisch-Übersetzers ist dadurch unweigerlich mit einem stär-
keren ,,Hauch Geheimnis" umgeben, aber auch mit stärkerem Misstrauen zu seinem Können
konfrontiert (ibid.).
Der ungleich höhere Schwierigkeitsgrad des Japanisch-Übersetzens wird von diversen Philolo-
gen und Übersetzern bestritten. Das Übersetzen sei lediglich ,,anders" (Rubin 2006: 342), aber
nichts ,,fundamental Besonderes" (Hijiya-Kirschnereit 2001: 18) und die japanische Kultur sei
mittlerweile so westlich beeinflusst, dass die Kulturbarrieren heutzutage weniger groß sind als
angenommen (Wienold 2004: 416). Tatsächlich aber ergeben sich linguistisch für die
Sprachenpaare Japanisch-Englisch und Japanisch-Deutsch Umstände, die den Übersetzer vor
grundsätzlich andere Probleme stellen als bei der Kombination Englisch-Deutsch. Die Philolo-
gen und Übersetzer Hijiya-Kirschnereit und Rubin nennen an unterschiedlichen Orten dieselben
Grundprobleme, deren Kenntnis u.a. auch für die Doppelübersetzung im praktischen Teil hilf-
reich sein kann:
Von der europäischen Sprachstruktur aus betrachtet, fehlen der japanischen Sprache viele be-
deutungstragende grammatische Elemente, z. B. Genus, Numerus, Artikel, Relativpronomen
und Kasusflektion. Relativ- und Attributsätze stehen vor dem Nomen, und nicht dahinter. Der dt.
Satz ,,der Mann, der gestern gekommen ist" hieße in japanischer Sprachstruktur also ,,gestern
gekommen Mann". Zudem werden Satzsubjekt und -Objekt allgemein nicht mehr weiter be-
nannt, sobald sie einmal im Kontext eingeführt sind (Hijiya-Kirschnereit 1993: 76 und Rubin
2006: 343 f.)
Ein japanischer Satz bietet also kaum Anhaltspunkte für die grammatischen Festlegungen, die
bei der Übersetzung in eine europäische Sprache notwendig sind. Der Übersetzer hat eine
Vielzahl an unterschiedlichen Realisierungsmöglichkeiten, ,,wovon die stilistische Ebene noch
nicht einmal betroffen ist: ,,Ich/er/sie/es, wir/sie (pl) gehe/gehen/gingen in ein/mehrere Buchge-
schäft/e, um ein/das/die Buch/Bücher zu kaufen." (Hijiya-Kirschnereit 1993: 76).
Weiterhin kennt das Japanische mehr als acht verschiedene Anredeformen (unter anderem
mehrere für ,,ich") und der Zwang zu einer feiner abgegrenzten gesellschaftlichen oder familiä-
ren Bestimmung (z. B. ,,ältere Schwester", ,,jüngere Schwester"). Auch hier können schon zwi-
schen einzelnen Übersetzungen unterschiedliche Interpretationen entstehen.
Gegenüber einer deutschen oder englischen Aussage ist eine japanische Aussage also mehr-
deutig. Auch wenn in den meisten Fällen ein genaueres Erschließen aus dem Kontext möglich
ist, so ist ein ,,wörtliches" Übersetzen unmöglich. Der Übersetzer ist durch die Struktur der Ziel-
16

sprache permanent gezwungen, die Aussage zu präzisieren, also in seinem Ermessen zu inter-
pretieren (ibid: 77). Für einen kompetenten Übersetzer, der permanent die Bedeutung des Tex-
tes hinterfragt, sei dies aber nicht weiter problematisch (Rubin 2006: 342). Es können sich aber
schon in den Direktübersetzungen eines japanischen Textes ins Deutsche und ins Englische
Unterschiede ergeben, ob es in der Handlung z. B. um eine oder mehrere Personen oder Ge-
genstände handelt. Solche Abweichungen müssen sich dann in der Doppelübersetzung (Japa-
nisch-Englisch-Deutsch) ,,fortpflanzen" und zu weiteren unterschiedlichen Wiedergaben führen.
Ein weiteres Problem in der Übersetzung japanischer Literatur ist die offensichtliche ,,Andersar-
tigkeit" der Kultur. Schon der Schauplatz der Handlung ist gefüllt mit Details, für die es in vielen
Fällen keine Worte in unserer Sprache gibt. Es gibt unterschiedliche Strategien, diese zu über-
tragen:
·
Übernahme von japanischen Wörtern in ihrer alphabetischen Schreibweise, die dann
teilweise ,,eingebürgert" werden (z. B. Sushi, Kimono, Karate usw.)
·
Lehnübersetzungen, also die direkte Übernahme der enthaltenen
Bedeutungselemente, wobei aus z. B. jap. amado ( dt. Sturmläden) das Wort
,,Regentüren" gebildet wird
·
Bedeutungsanpassung, d.h. es wird eine in der Zielkultur möglichst bedeutungsnahe
Entsprechung gewählt (z.B. kann die jap. Flächenmaßeinheit tatami (eigentlich:
Bodenbelag aus Reismatten) als Quadratmeter übertragen werden)
Während Übernahmen von japanischen Wörtern häufig zur Exotik des Textes beitragen können
und Bedeutungsanpassung im Gegensatz dazu eine Bewegung zum Leser hin ermöglichen,
sind Lehnübersetzungen häufig Grund für unangemessenere Wiedergaben des Originals: ,,Wer
mit dem Englischen vertraut ist, wird ,,hot potato" im übertragenen Sinne sicher nicht mit ,,heiße
Kartoffel", sondern mit ,,heißes Eisen" wiedergeben, und genauso wird man jp. oyayubi nicht als
,,Elternfinger", sondern als ,,Daumen" und kusuriyubi als ,,Ringfinger", nicht etwa als ,,Medizinfin-
ger" eindeutschen." (Hijiya-Kirschnereit 1993: 74-75).
17

4. Erstellung und Analyse einer Doppelübersetzung
Die Kontroverse um die Doppelübersetzung der Romane Murakamis vermittelte den Eindruck,
dass man einen ganz anderen Text gelesen hätte als vom Autor beabsichtigt bzw. dass der Text
eine andere Geschichte erzählen und anders wirken würde, wenn er direkt übersetzt worden
wäre. Im Falle der betreffenden Murakami-Romane existieren keine Direktübersetzungen, so
dass ein Vergleich für die Leser nicht möglich ist.
Ich nehme im praktischen Teil dieser Arbeit selbst die Rolle des Doppelübersetzers ein und
möchte herausfinden, welche Schwierigkeiten sich während der Arbeit mit einem bereits einmal
übersetzen Text ergeben. Dabei wird simuliert, dass der Originaltext nicht zur Verfügung steht
und keine Direktübersetzung ins Deutsche existiert. Dabei wird unter Zuhilfenahme von Neben-
texten (andere bereits direkt übersetzte Texte Murakamis) und Sekundärquellen ein Ergebnis
angestrebt, das sich am typischen Stil Murakamis orientiert.
Anschließend stelle ich diese Doppelübersetzung der deutschen Direktübersetzung gegenüber,
die mir zum Zeitpunkt meiner Übersetzung unbekannt war (und so auch nicht als Nebentext
konsultiert wurde). Es soll zu einer Einschätzung darüber gelangt werden, wie (und wie sehr)
sich diese Texte in Bezug auf die Wiedergabe des Textgegenstands, insbesondere Realia, und
des sprachlichen Stils voneinander unterscheiden bzw. ob es möglich ist, eine Übersetzung zu
schaffen, die gegenüber einer Direktübersetzung als zumindest adäquat betrachtet werden
könnte. Dabei gehe ich von der theoretischen Annahme aus, dass die sich entsprechenden
Stellen in beiden Texten dieselbe Aussage treffen, da sie den selben Ursprung haben.
Die Hypothese dieser Arbeit lautet in Anlehnung an das Prinzip der ,,Stillen Post", dass die Dop-
pelübersetzung zumindest stellenweise zu einer abweichenden Wiedergabe des Inhalts und der
sprachlichen Form führen muss, die zwischen direkter und doppelter Übersetzung deutlich
feststellbar ist.
4.1DerAutorHarukiMurakami
Haruki Murakami wurde 1949 in Kioto, Japan, geboren. Er wuchs in Kobe, unter anderem ein
amerikanischer Marinestützpunkt, auf und kam so früh mit westlicher Kultur, insbesondere Lite-
ratur und Musik, in Kontakt. Er studierte Theaterwissenschaften und Drehbuchschreiben in To-
kio. Mit dem Schreiben begann er 1978 und gewann mit seiner ersten Erzählung gleich seine
erste Auszeichnung. Mit seinem Bestseller Naokos Lächeln" (jap. noruwei no mori (1987), 4
Mio. verkaufte Exemplare) erfolgte der große Durchbruch in Japan. Seit 1980 hat er in Italien,
Griechenland und den USA gelebt und u. a. Gastdozenturen an der Universität Princeton und
der Tufts Universität inne gehabt. Heute lebt er in Oiso, Japan. Murakami ist zudem als Über-
setzer für amerikanische Literatur aktiv und hat Werke von Truman Capote, Raymond Carver,
Paul Theroux und J. R. R. Salinger ins Japanische übersetzt (Randomhouse 2009: s. p.). Er ist
u.a. Preisträger des Frank-Kafka-Preises der Stadt Prag (2005) und des Jerusalem-Preises für
die ,,Betonung der Individuellen Freiheit in seinem Werk" (2009).
18

Murakami gilt als stark beeinflusst von amerikanischer Literatur, insbesondere vom ,,Magischen
Realismus" von Richard Brautigan und den einzelgängerischen Hauptprotagonisten der ameri-
kanischen ,,hard-boiled" Kriminalromane der 1960er Jahre, u. a. von Raymond Carver (Stalph
1993:100). Er lässt seine Ich-Erzähler-Protagonisten an einem Punkt in ihrem recht gewöhnli-
chen Alltag fantastische oder auch schlichtweg merkwürdige Situationen erleben, um an ihren
emotionalen Reaktionen und Reflexionen den weiteren Handlungsverlauf zu konstruieren. Da-
bei vermischen sich die Realität des Hauptprotagonisten mit einer magischen Realität, so dass
eine dritte Wirklichkeit entsteht, in welcher das Wunderbare ganz natürlich in den Alltag einge-
bettet scheint, um so zu einer Metapher für eine tiefere Bedeutung werden kann. Das Thema
der Suche nach Sinn und Identität ist fast allen seiner Werke übergeordnet. Murakamis Ge-
schichten sind zumeist aus der Perspektive eines (in vielen Fällen autobiografisch geprägten)
Ich-Erzählers geschrieben, der in einem nüchternen, aber humorvollen bis zeitweilig lakoni-
schen Stil (ibid.:101) das Erlebte nacherzählt.
Die deutschen und englischen Übersetzungen seiner Kurzgeschichten verwenden eine neutra-
le, parataktische Sprache, die eine gefühlte Nähe zum Leser erzeugen. Sein Stil ist als gram-
matisch sehr reduziert, fast ,,wortarm" beschrieben worden; Murakami selbst gibt an, lediglich
die Geschichten wären ihm wichtig und er würde nie mehr [stilistisches] ,,Gewicht" in seine Sät-
ze legen als notwendig (in einem Vortrag an der Universität Berkeley 1992, in Auszügen in Ru-
bin 2006:14).
4.2 Kulturelle Referenz in seinem Werk
Auch wenn die Handlungsstätte seiner Geschichten fast ausschließlich Tokio ist und seine Pro-
tagonisten Japaner sind, ist dies in Murakamis Texten nicht grundsätzlich sichtbar. Wenn es die
japanischen Namen (der Protagonisten) und den japanischen Autor nicht gäbe, müsste man
nicht zwangsläufig wissen, dass es japanische Romane sind ist.
Dies trifft besonders auf seine Kurzgeschichten zu, in denen die Protagonisten und Orte häufig
keine Namen haben. Analog dazu erscheinen seine Geschichten insgesamt sehr von einem
klassisch japanischem Kontext gelöst. Eine japanische Mentalität oder Identität wird in seinen
Geschichten nie plakativ skizziert bzw. bewusst ausgespart. Somit bieten seine Romane Identi-
fikationsfläche auch für Leser, die nicht unbedingt an japanischer Literatur interessiert sind.
Analog dazu bindet er oft Gegenstände prominent in die Handlung ein, die heute in den meisten
Kulturen recht banal erscheinen (z. B. einen Fernseher oder Zeitschriften). Viele dieser Refe-
renzen stammen aus der europäischen und amerikanischen Kultur, wie Verweise auf westliche
Filme (z. B. mit John Wayne), Musik (u. a. The Beatles, Nat King Cole sowie klassische Stücke
von Bach und Beethoven) und auch alltägliche Dinge wie Spaghetti oder Dosenbier. Nach eige-
nen Angaben sieht Murakami sich selbst als nicht typisch japanischen Autor, aber auch nicht als
besonders westlich beeinflusst (Randomhouse 2009: s. p.). Seiner Meinung nach gibt es keine
Trennlinie zwischen östlicher und westlicher Kultur, sondern betrachtet sich selbst als Teil einer
globalen Kultur, die Elemente aus beiden Welten vereint und in deren Sinne sich das moderne
19

Japan nicht von anderen Orten auf der Welt unterscheidet (ibid.).
Das obig genannte Merkmal der Einbettung von westlichen Elementen zeigt sich auch auf der
lexikalisch-grammatischen Ebene in Murakamis japanischen Originaltexten. Seine Texte weisen
eine syntaktische Nähe zum Englischen auf, dass sie teilweise wie Übersetzungen aus dem
Englischen klingen. Dies geht so weit, dass er eine Vielzahl von englischen Lehnwörtern einbet-
tet (Rubin 2006: 344), so dass der Text für einen japanischen Leser fremdartig, aber gleichzeitig
sehr dynamisch, wenig förmlich und ,,frisch" anmutet. Dieses wahrscheinlich stärkste sprachli-
che Merkmal Murakamis geht allerdings in der Übersetzung ins Englische (und auch weitestge-
hend bei der Übersetzung ins Deutsche, Anmerkung der Übersetzerin Gräfe, in Rubin 2006:
342) verloren. Dieser Verlust der ,,Dynamik" wurde von früheren Übersetzern mit der Übertra-
gung in eine umgangssprachliche, teils ,,etwas saloppe" Sprache zu kompensieren versucht,
was bei neueren Übersetzungen aber nicht mehr der Fall ist und er in eine neutrale, leicht hu-
morvolle Sprache übertragen wird (ibid.: 345).
4.3 A 'Poor Aunt' Story von Haruki Murakami: Textexterne Faktoren
Die Kurzgeschichte A 'Poor Aunt' Story wurde als Ausgangstext gewählt, da sie sehr gut de-
monstriert, wie sich die Geschichten scheinbar aus ihrem Titel heraus entwickeln und eine Ei-
gendynamik entwickeln (Rubin 2006:69-70). Sie erschien in Japan bereits im Jahre 1980 (Ori-
ginaltitel: Binbo na obasan no hanashi). Die vorliegende englische Übersetzung von Jay Rubin
erschien erstmalig im Dezember 2001 in The New Yorker. Sie erschien überarbeitet 2006 im
Erzählband ,,Blind Willow, Sleeping Woman" (2006) und schließlich auch im Deutschen (2008).
Im folgenden wird eine britische Veröffentlichung verwendet, die sich nur in der Schreibweise
von der amerikanischen unterscheidet.
Da fiktionale Literatur gemeinhin nicht mit dem Ziel einer bestimmten Verwendung (außer der
Unterhaltung), sondern ,,aus sich selbst heraus" verfasst wird, hat sie keine klar abgegrenzte
Zielgruppe per se. Ebenfalls ,,aus sich selbst heraus" entsteht ihre Funktion als ästhetisch wir-
kender Text. Durch den erstmaligen Erscheinungsort im Feuilleton und die Neuveröffentlichung
im Erzählband kann sie aber möglicherweise auf die an moderner (japanischer) Literatur inte-
ressierte, englischsprachige ,,Allgemeinheit" eingegrenzt werden.
Als Sekundärquelle zur Interpretation der Kurzgeschichte wurde Jay Rubins Sachbuch Mura-
kami und die Melodie des Lebens (2006: 69-77) verwendet, in dem der Geschichte ein Kapitel
gewidmet ist.
4.3.1 Handlung
Die Kurzgeschichte ist autobiografisch geprägt (Rubin 2006: 69) und handelt von einem
Schriftsteller, der versucht, eine Geschichte über den Ausdruck ,,arme Tante" zu schreiben. Mu-
rakami gibt an, dass der Titel seiner Kurzgeschichten meist als erstes feststehen, und so ist A
'Poor Aunt' Story zum einen eine Geschichte über eine ,,arme Tante" (Menschen, die kein Mitge-
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fühl erfahren), zum anderen beschreibt sie, wie eine Geschichte über die arme Tante zustande
kommt. In diesem Fall fiel die Wendung ,,arme Tante" im Gespräch mit Murakamis Frau Yoko,
und er beschloss, darüber zu schreiben. Die Wendung ,,arme Tante" hat dabei im Japanischen
keine besondere Bedeutung oder Interpretation, sondern ist wörtlich zu verstehen (ibid.).
1. Kapitel: Eines Sommertages fliegt dem Ich-Erzähler spontan der Ausdruck ,,arme Tante" zu
und er beschließt daraufhin, eine Geschichte über sie zu schreiben. Er muss aber leider
feststellen, dass er keine ,,arme Tante" hat und ihm deshalb keine Worte einfallen. Seine Beglei-
tung dagegen hat eine arme Tante und weist ihn zurecht, dass sich mit einer ,,arme Tante" zu
beschäftigen auch bedeutet, eine Verantwortung zu übernehmen und ,,sie erlösen zu wollen".
2. Kapitel: Nachdem der Erzähler längere Zeit darüber nachgegrübelt hat, was eine ,,arme Tan-
te" ist und sich dabei in Gedanken über die Ignoranz, die wir empathiebedürftigen Menschen
gegenüber empfinden können, verliert, stellt er eines Tages fest, dass eine wirkliche ,,arme Tan-
te" auf seinem Rücken Gestalt angenommen hat. Während sie für ihn einfach nur das Bild der
Wendung ,,arme Tante" bleibt, nimmt sie für seine Freunde und Bekannten eine eigene Gestalt
an, in der sich deren unangenehme Erinnerungen (z. B. ein qualvoll sterbendes Haustier oder
eine im Koreakrieg entstellte Lehrerin) spiegeln. Die Freunde wenden sich daraufhin vom Er-
zähler ab, und er vereinsamt zusehends. Als er auf der Suche nach Verständnis in einer Fern-
sehshow auftritt und erklärt, dass der Begriff ,,arme Tante" nur aus Worten besteht, wird er ge-
fragt, ob er diese Worte nicht einfach wieder entfernen könnte. Er verneint und erklärt, dass der
Begriff so fest sitzt, dass er wie ein Symbol für unangenehme Erinnerungen fungiert, die wir
gerne vergessen würden.
3. Kapitel: Während der Ich-Erzähler ein paar Monate versucht, eine Erklärung für die Erschei-
nung auf seinem Rücken zu finden, entfremdet er sich auch von seiner Lebenspartnerin. Nach
drei Monaten treffen sie sich wieder und sie fragt ihn nach seinen Erlebnissen mit der armen
Tante. Der Erzähler findet heraus, dass er den ,,Prototyp" der perfekten arme Tante auf seinem
Rücken trägt, der uns dafür sensibilisieren soll, dass jeder Mensch zugrunde geht, wenn er kein
Mitgefühl erfährt.
4. Kapitel: Eines Tages verschwindet die arme Tante plötzlich vom Rücken des Erzählers. Als er
beobachtet, wie ein Mädchen von seiner Mutter ungerecht behandelt wird, empfindet er für es
das Mitgefühl, das den ,,armen Tanten" verwehrt bleibt. Dadurch wird er von seiner Unfähigkeit,
die richtigen Worte zu finden, befreit und kann nun seine Geschichte schreiben. Die Geschichte
endet mit einer Reihe von literarisch-kreativen Bildassoziationen, und der Erzähler beschließt,
über alle armen Tanten der Welt zu schreiben und sie zu erlösen. Sein Entschluss währt jedoch
nicht lang, und angesichts des nahenden Winters (der ein Symbol für emotionale Kälte ist)
wendet er sich doch, wie auch seine Freunde es taten, sich von der unangenehmen Pflicht ab
(ibid.: 76).
4.3.2 Interpretation und Wirkungsabsicht
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Murakami verwendet die real existierenden armen Tanten bzw. die kleine arme Tante auf dem
Rücken des Erzählers als ein Sinnbild für Situationen, in denen wir anderen Mitgefühl entgegen
bringen sollten, uns aber unangenehm berührt abwenden (ibid.). Die ,,arme Tante" fungiert da-
bei nicht nur als Sinnbild in der Geschichte, sondern als ein ,,transparentes Symbol, welches der
Leser mit spezifischen Inhalten aufladen kann" (Rubin 2006: 73). Indem der Ich-Erzähler immer
weiter über die ,,arme Tante" nachgrübelt und sie immer mehr mit unangenehmen Erinnerungen
assoziiert wird, provoziert er Erinnerungen im Leser, die er nie hatte ­ die ,,arme Tante" wird so
oft wiederholt, bis sie ein Idiom für das Klischee einer mitleidsbedürftigen Person wird. Durch
das plötzliche Verschwinden der armen Tante wird das Bild nie vollständig aufgelöst und soll für
den Leser als eine ,,Déjà-vu"-artige Erfahrung zurückbleiben (ibid.: 74).
4.3.3 Sprachliche Merkmale des englischen Ausgangstextes
Der Ausgangstext ist auf einer einfachen und neutralen Sprachebene (,,typical middle") verfasst.
Durch die gelegentliche direkte Ansprache des Leser ergibt sich ein persönlicher, informeller
Erzählstil mit einzelnen rhetorischen Elementen.
In der Kurzgeschichte wechseln sich die reflektierende Monologe des Erzählers mit Dialogpas-
sagen ab, die sich durch unterschiedliche sprachliche Merkmale auszeichnen.
Die narrativen Abschnitte über die subjektiven Beobachtungen des Erzählers zeichnen sich
durch einen literarischer anmutenden, aber dennoch normalsprachlichen Stil aus, während die
diegetischen Abschnitte der direkten Rede in Bezug auf Syntax und Wortschatz umgangs-
sprachlicher und ,,gesprochener" anmuten.
Der parataktische Text ist in Satzlänge und -Struktur entsprechend kurz und einfach gehalten.
An keinem Punkt in der Geschichte wird Dialekt oder Slang verwendet. Die Geschichte ist zum
größten Teil im narrativen Präteritum verfasst, stellenweise wechselt sie narratives Präsens.
Stellenweise sind Äußerungen, rhetorische Fragen oder einzelne Wörter zur Betonung kursiv
oder in Majuskeln gesetzt.
4.3.4 Textexterne und ­interne Faktoren des Zieltextes
Die externen Faktoren des Ausgangstextes treffen auch auf den in der Doppelübersetzung ent-
stehenden Zieltext zu. Die Erscheinungsorte sind für Kurzgeschichten typisch weiterhin entwe-
der die deutschsprachigen Feuilletons, Sammelbände und Monografien.
Die Zielgruppe des Originals und der ersten Übersetzung unterscheiden sich wesentlich durch
den sprachlichen und kulturellen Sprung, den der Text machen muss. Bei einer Doppelüberset-
zung aus dem Englischen bleibt die Zielgruppe zumindest im Sinne der Sprachentfernung zum
Original konstant. So ist die Zielgruppe der Doppelübersetzung ein deutschsprachiges, an mo-
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Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2009
ISBN (eBook)
9783836645782
Dateigröße
827 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Fachhochschule Flensburg – Wirtschaftswissenschaften, Internationale Fachkommunikation
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
1,3
Schlagworte
übersetzung literatur japan murakami doppelübersetzung
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Titel: Erstellung und Analyse einer Doppelübersetzung am Beispiel einer Kurzgeschichte von Haruki Murakami
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