Lade Inhalt...

Ist ein unveränderliches Selbst nur bloße Illusion?

Von der Lehre und Bedeutung des 'Nicht-Selbst' im Buddhismus

©2009 Magisterarbeit 76 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Obwohl bereits in der Antike erste Informationen über den Buddhismus in die westliche Welt vordrangen, begann eine ernsthafte philosophische Auseinandersetzung mit diesem im Westen erst in der Neuzeit, was insbesondere den im 17. und 18. Jahrhundert in Asien tätigen christlichen bzw. jesuitischen Missionaren zu verdanken ist, die damals eine recht genaue Kenntnis vom japanischen und chinesischen Buddhismus erworben hatten und dieses Wissen mit nach Europa brachten. Doch erst der Philosoph Arthur Schopenhauer (1788-1860) sollte eine breitere europäische Öffentlichkeit näher mit dem Buddhismus vertraut machen. So gilt er zu Recht als bedeutender Wegbereiter buddhistischen Denkens in Europa, vor allem jedoch im deutschen Sprachraum. Als erster deutschsprachiger Philosoph beschäftigte er sich mit den neuen wissenschaftlichen Quellen zum Buddhismus. Trotzdem sein vermeintliches Wissen über die indische Philosophie im Allgemeinen und den Buddhismus im Speziellen rückblickend betrachtet noch relativ spärlich war und er sich vielerlei Fehlurteile zu letzterem leistete, gewann er andererseits aber auch ein gutes Verständnis wesentlicher buddhistischer Lehren, das in der Folgezeit einen erheblichen Einfluss auf die Verbreitung des Buddhismus in Deutschland ausübte.
Seine Begeisterung für den Buddhismus trieb ihn einst zu dem Bekenntnis: ‘Wollte ich die Resultate meiner Philosophie zum Maaßstabe der Wahrheit nehmen, so müßte ich dem Buddhaismus den Vorzug vor den andern [Religionen] zugestehn.’ Hatte Schopenhauer es vermocht, dazu beizutragen, den Buddhismus ‘aus einem bloßen Studienobjekt zu einer Welt- und Lebensanschauung werden zu lassen, mit der sich auch Europäer identifizieren konnten’, so war es das vom Indologen Hermann Oldenberg im Jahre 1881 herausgegebene Buch ‘Buddha. Sein Leben, Seine Lehre, Seine Gemeinde’ gewesen, das den ‘Anfang der modernen, ganz auf die ältesten Quellen gestützten Buddhismusforschung [bezeichnet] und […] bis heute das klassische Werk über diesen Gegenstand geblieben’ ist. Darin geht er auch auf einen bedeutenden Aspekt der Lehre Buddhas ein, der bis in die heutige Zeit hinein die Forschung beschäftigt: die Verneinung eines unveränderlichen Selbst bzw. einer ewigen Seele. Die Rede ist von der Lehre des anatta (= Pali; Sanskrit: anatman), ohne deren Kenntnis und Verständnis einem der richtige Zugang zur gesamten Buddha-Lehre verschlossen bleibt und mit der ich mich in dieser Magisterarbeit […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltverzeichnis

1 Einleitung

2 Hauptteil
2.1 Die Problematik der Überlieferung der Lehre Buddhas
2.2 Siddhartha Gautama – Der historische Buddha
2.3 Anattā – die Lehre vom Nicht-Selbst
2.3.1 Der anattā-Begriff
2.3.2 Die anattā-Lehre
2.3.3 Die fünf Daseinsgruppen
2.3.3.1 Die Daseinsgruppe der Körperlichkeit
2.3.3.2 Die Daseinsgruppe der Empfindungen bzw. Gefühle
2.3.3.3 Die Daseinsgruppe der Wahrnehmung
2.3.3.4 Die Daseinsgruppe der Geistesformationen
2.3.3.5 Die Daseinsgruppe des Bewusstseins
2.3.4 Die falsche Vorstellung eines unveränderlichen Selbst
2.3.5 Mit der anattā-Lehre eng verknüpfte Begrifflichkeiten
2.3.5.1 Der Dharma-Begriff
2.3.5.2 Der Begriff der Leere
2.3.5.3 Karma, Wiedergeburt & Nirwana
2.3.6 Die philosophische Bedeutung der anattā-Lehre

3 Schlussbemerkung

4 Quellen- und Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Obwohl bereits in der Antike erste Informationen über den Buddhismus in die westliche Welt vordrangen, begann eine ernsthafte philosophische Auseinandersetzung mit diesem im Westen erst in der Neuzeit, was insbesondere den im 17. und 18. Jahrhundert in Asien tätigen christlichen bzw. jesuitischen Missionaren zu verdanken ist, die damals eine recht genaue Kenntnis vom japanischen und chinesischen Buddhismus erworben hatten und dieses Wissen mit nach Europa brachten. Doch erst der Philosoph Arthur Schopenhauer (1788-1860) sollte eine breitere europäische Öffentlichkeit näher mit dem Buddhismus vertraut machen. So gilt er zu Recht als bedeutender Wegbereiter buddhistischen Denkens in Europa, vor allem jedoch im deutschen Sprachraum. Als erster deutschsprachiger Philosoph beschäftigte er sich mit den neuen wissenschaftlichen Quellen zum Buddhismus. Trotzdem sein vermeintliches Wissen[1] über die indische Philosophie im Allgemeinen und den Buddhismus im Speziellen rückblickend betrachtet noch relativ spärlich war und er sich vielerlei Fehlurteile zu letzterem leistete, gewann er andererseits aber auch ein gutes Verständnis wesentlicher buddhistischer Lehren, das in der Folgezeit einen erheblichen Einfluss auf die Verbreitung des Buddhismus in Deutschland ausübte. Seine Begeisterung für den Buddhismus trieb ihn einst zu dem Bekenntnis: „Wollte ich die Resultate meiner Philosophie zum Maaßstabe der Wahrheit nehmen, so müßte ich dem Buddhaismus den Vorzug vor den andern [Religionen] zugestehn.“[2] Hatte Schopenhauer es vermocht, dazu beizutragen, den Buddhismus „aus einem bloßen Studienobjekt zu einer Welt- und Lebensanschauung werden zu lassen, mit der sich auch Europäer identifizieren konnten“[3], so war es das vom Indologen Hermann Oldenberg im Jahre 1881 herausgegebene Buch „Buddha. Sein Leben, Seine Lehre, Seine Gemeinde“ gewesen, das den „Anfang der modernen, ganz auf die ältesten Quellen gestützten Buddhismusforschung [bezeichnet] und […] bis heute das klassische Werk über diesen Gegenstand geblieben“[4] ist. Darin geht er auch auf einen bedeutenden Aspekt der Lehre Buddhas ein, der bis in die heutige Zeit hinein die Forschung beschäftigt: die Verneinung eines unveränderlichen Selbst bzw. einer ewigen Seele. Die Rede ist von der Lehre des anattā (= Pāli; Sanskrit: anātman), ohne deren Kenntnis und Verständnis einem der richtige Zugang zur gesamten Buddha-Lehre verschlossen bleibt und mit der ich mich in dieser Magisterarbeit auseinanderzusetzen gedenke, und zwar ausgehend von den ursprünglichen Überlegungen des Buddha. Hierbei ist anzumerken, dass es sich um der Person des Buddha zugeschriebene Lehren handelt. Quellen aus erster Hand, also schriftliche Überlieferungen aus der Feder des Buddha, gibt es de facto nicht. Seine angeblichen Lehren wurden erst im Nachhinein, lange Zeit nach seinem Tode, auf Basis mündlicher Überlieferungen rekonstruiert und niedergeschrieben. Auf diese – mehr historische, als philosophische – Problematik werde ich am Anfang der Arbeit noch näher eingehen. Doch nun zur Hauptfragestellung: Ist ein unveränderliches Selbst nur bloße Illusion? Laut den Buddha zugeschriebenen Überlegungen aus dem Pāli-Kanon des Theravāda-Buddhismus hieße die Antwort darauf: Ja! Der Schlüssel zum Verständnis dieser Auffassung liegt in der Auseinandersetzung mit der Lehre bzw. dem Begriff des anattā begründet, der in der westlichen Literatur häufig mit Nicht-Ich oder Nicht-Selbst übersetzt wird und zusammen mit dukkha (= Pāli; Sanskrit: duḥkha) und anicca (= Pāli; Sanskrit: anitya) eines der drei Daseinsmerkmale im Buddhismus bildet. Bei der Interpretation des anattā kam es immer wieder zu kontroversen Ansichten zwischen den verschiedenen buddhistischen Schulen. Zwar vertreten sie grundsätzlich alle die Lehre vom Nicht-Selbst, jedoch teilweise in unterschiedlicher Form, mit jeweils anderen Termini sowie mit unterschiedlicher Zielsetzung. Ich verfolge mit dieser Magisterarbeit jedoch nicht die Absicht, die verschiedenen Auslegungsformen der Lehre des Nicht-Selbst innerhalb des Buddhismus miteinander zu vergleichen und genauer zu untersuchen. Vielmehr will ich auf Basis der maßgeblichen Quellen zur Lehre des Buddha sowie einschlägiger Forschungsliteratur zu beantworten versuchen, was das Wesen der frühbuddhistischen Lehre des Nicht-Selbst ist. Als eine wichtige Quelle wird mir eine bis in die heutige Zeit hinein die buddhistische Forschung bestimmende Übersetzung dienen: Dabei handelt es sich um das Werk „Die Reden des Buddha – Lehre, Verse, Erzählungen“ von Hermann Oldenberg (1854-1920), der nicht nur zu den bedeutendsten deutschen Indienforschern gezählt wird, sondern auch als Begründer der modernen Buddhismusforschung gilt. Diese wichtige Quelle und Text-Grundlage für meine philosophische Auseinandersetzung mit der Lehre des Nicht-Selbst basiert auf dem Pāli-Kanon des Theravāda-Buddhismus, also dem Kanon von Texten, auf dem hauptsächlich unsere heutigen Kenntnisse des frühen Buddhismus fußen. Dabei ist zu beachten, dass es sich bei dieser Lehre um keine reine Philosophie oder Theorie handelt, sondern, wie die ganze Buddha zugeschriebene Lehre, um aufs praktische Leben ausgerichtete Überlegungen, die auf meditativen Erfahrungen beruhen, die dann mittels verstandesgemäßem Denken kritisch hinterfragt wurden. Mit der Lehre des Nicht-Selbst knüpfte der frühe Buddhismus an philosophische Überlegungen früherer als auch zeitgenössischer Schulen indischen Denkens an. Buddha war wohl sehr gut mit den Upanishaden vertraut, eine Sammlung philosophischer Schriften des Hinduismus, die u.a. aussagen, dass der Mensch der Wiedergeburt unterliegt und eine ewige Seele (Sanskrit: ātman; Pāli: attā) existiert. Während jedoch die Upanishaden „eine den Tod überdauernde, sich immer wieder verkörpernde Seele (ātman) annehmen, bestritt er, daß eine solche ewige Seele existiert. Ihm zufolge vollzieht sich die Wiedergeburt ohne Seelenwanderung, und zwar als Konditionales Entstehen.“[5] Doch wie begründet Buddha, dass es kein unveränderliches Selbst gibt? Dazu gibt u.a. die frühbuddhistische Lehre von den fünf Daseinsgruppen (Sanskrit: skandhas; Pāli: khandhas) eine Auskunft, wo hinterfragt wird, welche Phänomene uns glauben machen, wir würden ein dauerhaftes Selbst besitzen. Erst wenn wir uns von der Vorstellung bzw. der Illusion eines unveränderlichen Selbst bzw. Ich befreien würden, die nach Buddha die Hauptursache allen Leidens ist, wäre für uns der Weg zur vollkommenen Befreiung, also der Austritt aus dem Samsara (Sanskrit: saṃsāra), dem Kreislauf des Leidens bzw. des Werdens und Vergehens (= der Wiedergeburt), eröffnet. Im Zuge meiner Untersuchungen zum Wesen der Lehre des Nicht-Selbst werde ich vor allem zu beantworten versuchen: Wie lässt sich das Wort anattā definieren? Welche zentralen Begriffe beinhaltet die Lehre? Was genau zeichnet gemäß der Lehre Buddhas das Nichtvorhandensein eines unveränderlichen Selbst bzw. Ich aus? Abschließend versuche ich auf Basis meiner Vorüberlegungen eine Schlussfolgerung darzulegen, worin die philosophische Bedeutung der Lehre vom Nicht-Selbst liegen könnte. Dabei soll – im Sinne eines interdisziplinären Ansatzes – auch auf neueste neurowissenschaftliche Erkenntnisse eingegangen werden, die bestimmte buddhistische Einsichten aus der über 2000 Jahre alten anattā –Lehre bestätigen. Zunächst gehe ich jedoch auf die Problematik der Überlieferung der Lehre Buddhas ein und stelle die historische Persönlichkeit, die hinter der Bezeichnung „Buddha“ steht, kurz vor. Ich möchte – zwecks richtiger Einordnung meiner Ausführungen – abschließend darauf hinweisen, dass ich überall dort, wo ich davon sprechen werde, dass Buddha dieses oder jenes aussagte, hauptsächlich auf den im Pāli-Kanon des Theravāda-Buddhismus beschriebenen Buddha referiere. Die Motivation, eine buddhistische Thematik zu behandeln, lag vor allem darin begründet, dass ich den großen Reiz verspürte, philosophisches Neuland zu betreten, nachdem ich in der Studienzeit fast ausschließlich mit europäischer bzw. abendländischer Philosophie (Stichwort: Eurozentrismus) in Berührung kam. Zudem reifte in mir seit längerer Zeit ein großes Interesse am Buddhismus, vor allem auf die seinen Kern bildenden Vier edlen Wahrheiten bezogen.

2 Hauptteil

2.1 Die Problematik der Überlieferung der Lehre Buddhas

Bevor ich mich mit der eigentlichen Thematik dieser Arbeit beschäftige, gedenke ich auf einen Aspekt einzugehen, der vor allem aus historischer Sicht sehr bedeutend ist. Denn zunächst einmal stellt sich ja die Frage: Auf welche Quellen stützt sich unser Wissen über Buddha und seine Lehre überhaupt? Da Buddha selbst nichts Schriftliches hinterlassen hat und das, was er lehrte, zu seinen Lebzeiten von niemandem niedergeschrieben wurde, ergibt sich eine gewisse Problematik im Hinblick auf die Überlieferung. Erst nach seinem Tode nahmen sich mehrere buddhistische Konzile der Aufgabe an, von dem, was über die Lehren Buddhas durch Auswendiglernen, Wiederholen und Aufsagen von Generation zu Generation weitergegeben wurde, einen buddhistischen Kanon zu erstellen. Denn zu damaligen Zeiten war es in Indien nicht üblich, religiöse Texte schriftlich festzuhalten. Vielmehr gab man diese in der eben beschriebenen mündlichen Form weiter. Gerade für Historiker stellt diese Tatsache ein echtes Problem dar. So kam der bedeutende Buddhologe Edward Conze (1904–1979), der den Versuch unternahm, den Buddhismus in mehrere historische Perioden zu unterteilen (1. Periode = 500 – 0 v. Chr.; 2. Periode = 0 – 500 n. Chr.; 3. Periode = 500 – 1000 n. Chr.; 4. Periode = 1000 n. Chr. – heute), zu dem Schluss, dass das „Fehlen eindeutiger Fakten […] für die erste Periode besonders bezeichnend [ist]. Ein Datum – und nur eines – steht wirklich fest, und das ist die Regierungszeit von Kaiser Asoka (274–236 v. Chr.), dessen Protektion den Buddhismus von einer kleinen Asketensekte in eine gesamtindische Religion umformte.“[6] Unser heutiges Wissen über den frühen Buddhismus fußt vor allem auf dem Kanon an Texten, der von den ersten drei buddhistischen Konzilen in Pāli verfasst wurde. Das erste Konzil trat laut der Forschung „kurz nach dem Tode des Buddha […] in Rājagaha zusammen, das zweite angeblich hundert, vermutlich aber wenige Jahre später in Vesāli, das dritte im Jahre 252 v. Chr. in Pātaliputta (Patna).“[7] Das während der Regentschaft und auf Veranlassung von Kaiser Ashoka stattgefundene dritte buddhistische Konzil überprüfte „in neunmonatiger Arbeit […] die Theravāda-Texte aufs neue und ergänzte die beiden alten Sammlungen Vinaya- und Suttapitaka durch ein scholastisches Werk (das Kathāvatthu), in dem 218 irrige Ansichten (darunter nur drei philosophische) widerlegt werden. Im Laufe der nächsten zwei Jahrhunderte wuchs die Zahl der scholastischen Bücher weiter an, bis schließlich das Abhidhammapitaka entstanden war.“[8] Diese drei buddhistischen Kompendien[9] (Vinayapitaka, Suttapitaka, Abhidhammapitaka), die jeweils als „Korb“[10] (= pitaka) bezeichnet werden, bilden den Pāli-Kanon. Durch das Entsenden von buddhistischen Missionaren in andere Länder, wie z. B. Ägypten und Syrien, wollte Kaiser Ashoka Buddhas Lehre auch über Indiens Grenzen hinaus verbreiten, was vorläufig jedoch nur in Ceylon (heute: Sri Lanka) von nachhaltigem Erfolg gekrönt sein sollte. Laut der buddhistischen Forschung wurde in „den Klöstern der Insel […] der vom Dritten Konzil endredigierte theravādische Kanon mündlich bewahrt, bis er (laut Dv 20, 20 f.) im 1. Jahrhundert v. Chr. auf Geheiß des Königs Vattagāmani Abhaya in Pāli-Sprache niedergeschrieben wurde. Dieser Kanon ist der einzige, der vollständig erhalten ist, von anderen Kanons besitzen wir, wenn überhaupt etwas, nur Bruchstücke. Der Vergleich von Pāli-Texten mit solchen Fragmenten hat erwiesen, daß die sachlichen Abweichungen keine zentralen Lehren betreffen und daß Pāli-Vinaya- und Suttapitaka echte Aussprüche des Buddha enthalten.“[11] Nicht unbedeutende Meinungsverschiedenheiten bei der Auslegung der Lehre Buddhas führten bereits zu Zeiten der Abhaltung des zweiten Konzils zur ersten Spaltung innerhalb der buddhistischen Mönchsgemeinschaft (Sanskrit: Samgha; Pāli: Sangha). Es kam zu einer Trennung der Mahasanghika-Schule, auf die historisch der spätere Mahāyāna-Buddhismus zurückgeht, von den Traditionalisten (Theravāda = Lehre der Ältesten). Die Differenzen fanden ihren vorläufigen Höhepunkt darin, dass die auf dem dritten Konzil eingeführten philosophischen Systematisierungen in Form des Abhidhammapitaka, also des 3. Korbes, in der Folgezeit von einigen der frühen Schulen und später dem Mahāyāna (= „Großes Fahrzeug“) nicht übernommen sowie durch eigene in Sanskrit verfasste Werke bzw. Abhandlungen ersetzt wurden, die sich nicht unerheblich von der Pāli-Fassung unterscheiden. All dies legte bereits den Grundstein für die zwei großen Hauptrichtungen[12] des Buddhismus: Theravāda (= Pāli-Kanon) und Mahāyāna (= Sanskrit-Kanon).[13] Einen Abschluss sollte die Redaktion des Pāli-Kanons schließlich etwa um das 4. bis 5. Jahrhundert unserer Zeitrechnung finden, „zu einer Zeit also, in der die Trennung und Ausdifferenzierung der einzelnen Schulen bereits weit fortgeschritten ist.“[14] Das bedeutet aber auch, dass die Sammlung der Lehrreden Buddhas im Pāli-Kanon „im Lehrzusammenhang der Theravada-Tradition überliefert worden sind“[15], weshalb „entsprechende Zusätze und Veränderungen durch jene Schule angenommen werden“[16] müssen. Dennoch spricht viel dafür, dass der Pāli-Kanon das beste Zeugnis der ursprünglichen Lehre Buddhas ist. Warum es empfehlenswert ist, sich vor allem auf die vom Theravāda-Buddhismus bereitgestellten Quellen zu stützen, hat der Soziologe Werner Vogd in drei Punkten sehr gut zusammengefasst:

1. Die Lehrreden des Pāli Kanons stellen die ursprünglichsten schriftlich fixierten Quellen buddhistischen Denkens dar und werden von den meisten späteren Schulen als authentisches Buddhawort anerkannt.
2. Die Kernlehren des Theravāda-Systems wie die vier edlen Wahrheiten, die Lehre vom Nicht-Selbst (anattā) und die Lehre von den Aggregaten des Geistes (khanda) werden in den meisten anderen buddhistischen Schulen ebenfalls gelehrt. Die großen Erneuerungen des Buddhismus, der Mahāyāna und der Vajrayāna, beziehen sich in ihrer Symbolik auf die frühbuddhistischen Lehren.
3. Die Lehrsysteme des Theravāda liegen in systematischer Form vor und sind gegenüber einigen Geheimlehren des Mahāyāna und Tantrayāna öffentlich zugänglich.[17]

Meine Überlegungen zur Lehre vom Nicht-Selbst werden daher primär unter Rückgriff auf den Pāli-Kanon sowie darauf fußender (und vornehmlich westlicher) Forschungsliteratur erfolgen. Wie bereits deutlich wurde, ist der Pāli-Kanon zwar kein Garant dafür, eine unverfälschte Überlieferung aller Buddha zugeschriebenen Lehrreden zu sein, im Vergleich zu anderen Überlieferungen ist jedoch bei ihm die Wahrscheinlichkeit am größten, viele ursprüngliche Gedanken Buddhas anzutreffen. Abschließend sei noch auf eine weitere Problematik bei der Überlieferung verwiesen: Die Rede ist vom Problem der korrekten Interpretation und Wiedergabe buddhistischer Texte in europäischen Sprachen: Denn transportiert „schon der Stil Wertungen und Urteile, die fern vom Ausgangsmaterial sein können, bestehen darüber hinaus grundlegende Differenzen zwischen den Sprachen der Quellen und der westlichen Übersetzungen.“[18] Damit verbunden besteht die Gefahr, dass die philosophische Auseinandersetzung mit einer außereuropäischen bzw. aus einem anderen Kulturkreis stammenden Thematik durch eine allzu dominante eurozentrische bzw. westliche Sicht- und Denkweise geprägt ist, was zu falschen Schlüssen bzw. einseitigen Konklusionen zu führen vermag. Dazu merkte der Philosoph Franz Wimmer an, dass in „professionell-philosophischer Diskussion meist stillschweigend geleugnet wird“, ob „die Geschichte außereuropäischer Philosophie überhaupt als etwas Wissenswürdiges oder Bedenkenswertes anzusehen ist […], und mit dieser Leugnung verbindet sich nicht nur, sondern dadurch rechtfertigt sich auch Ignoranz.“[19] Obwohl der im antiken Griechenland gereifte Begriff der Philosophie in der abendländischen Tradition verwurzelt und von dieser geprägt worden ist sowie von einigen Vertretern westlicher Philosophie (z. B. aus ideologischen Gründen) als von anderen Kulturräumen abgegrenzt, diesen überlegen oder diesen gegenüber zumindest als etwas Besonderes angesehen werden sein mag, bedeutet dies nicht, dass es in anderen Kulturräumen nicht auch Methoden der Erkenntnisgewinnung gibt, die jedoch auf andere Art und Weise erfolgen können. Andererseits muss die abendländische Herkunft des Philosophiebegriffes nicht per se ein Hindernis dafür sein, außereuropäische Phänomene angemessen zu erfassen und zu verstehen, wenn Philosophie wissenschaftlich betrieben wird. Denn wie jeder Wissenschaft geht es ihr in erster Linie und grundsätzlich um die hinterfragende Behandlung von Problemen und Sachverhalten in der Welt, wobei „Qualität und Tauglichkeit eines Beitrags [entscheiden], nicht jedoch die Herkunft dessen, der ein Argument vorbringt. Schließt man chinesische, indische oder afrikanische Antworten auf die Frage nach dem Menschen, nach der Erkenntnis oder nach dem Sinn der Existenz deshalb vom Erwägen aus, weil ihre Urheber nicht in der Sukzession abendländischen Denkens stehen und andere Medien und Methoden der Vermittlung verwenden, ist ein Philosophieren nicht problemorientiert. Es geht ihm nicht wirklich um das Bedenken und Klären von Fragen, wenn dem Bewahren des vertrauten Hintergrunds Priorität vor dem Hören anderer Lösungen zukommt.“[20] Dazu gehört zugleich die Einsicht, sich keine Illusion darüber zu machen, die in einem anderen Kulturkreis und einer anderen Sprache gewonnenen Erkenntnisse stets richtig zu interpretieren. Insofern ist, bezogen auf diese Arbeit, auch Vorsicht bei der Absicht geboten, frühbuddhistische Ansichten über die Welt in Beziehung zu Erkenntnissen westlicher Wissenschaft und Forschung zu setzen. Dennoch wird dieser Versuch von mir in der Arbeit, unter dem Vorbehalt möglicher Fehlinterpretation, unternommen.

2.2 Siddhartha Gautama – Der historische Buddha

Als relativ unumstritten gilt in der Buddhismus-Forschung das Lebensalter, das der historische Buddha[21] erreichte: Er soll 80 Jahre alt geworden sein. Dagegen herrscht große Uneinigkeit über die historische Einordnung seiner Lebenszeit. Die traditionelle Datierung, die auf zwei Chronologien der alten Schriften basiert, setzt sein Geburtsdatum bei 623 v. Chr. oder 566 v. Chr. an, während die klassische Datierung seitens der (westlichen) Forschung bei 563 oder 560 Chr. liegt. Jedoch sind all diese Berechnungen durch die vorliegenden Quellen nicht hinreichend gesichert. Und auch die heutige Forschung vermag keine endgültige Aussage über Geburts- und Todesdatum des historischen Buddha zu treffen.[22] Grundsätzliche Einigkeit besteht nur in der Annahme, dass die Lebenszeit des Buddha bisher zu früh angesetzt worden ist und er erst um das 5. Jahrhundert v. Chr. herum das Licht der Welt erblickte. Ein derzeit dominierender Datierungsvorschlag der neueren (westlichen) Forschung für den Lebenszeitraum Buddhas ist 450 v. Chr. bis 370 v. Chr. Über seine Kindheit und Jugend ist wenig bekannt, umso mehr jedoch über seine späteren Lebensjahre – doch auch hier ist Vorsicht geboten. Schließlich wird Buddha bereits in den frühen Schriften zum Übermenschen hochstilisiert und eine Legende um seine Person herum gesponnen: „Den geschichtlichen Kern solcher Erzählungen vom Legendengeranke freizuschälen ist nicht schwer, doch ist Behutsamkeit geboten. Manche Legenden sind Bildhaftmachungen innerer Erlebnisse und illustrieren Gotamas geistigen Entwicklungsgang. Sie sind subjektiv wahr, aber nicht historisch.“[23] Und überhaupt ist für Buddhisten – egal welcher Richtung oder Schule sie auch angehören mögen – die Frage nach dem historischen Buddha zumeist weniger wichtig. Von zentraler Bedeutung ist stets das, was Buddha vermeintlich lehrte. Dennoch spielt der Lebensweg des historischen Buddha, der Siddhārtha Gautama (= Sanskrit-Sprache) bzw. Siddhattha Gotama (= Pāli-Sprache) geheißen haben soll, was übersetzt so viel bedeutet wie „der sein Ziel erreicht hat“, gerade im Hinblick auf die exemplarische Veranschaulichung des praktischen Weges zur Erlangung des „Erwachens“, der „Erlösung“ bzw. der „Erleuchtung“ eine nicht unerhebliche Rolle. Siddhārtha wurde als Sohn von Shuddhodana, des Königs von Kapilavastu (= Sanskrit; Pāli: Kapilavatthu / im heutigen Terai in Nepal gelegen), der wohl der Kshatriya-Kaste angehörte, in Lumbini geboren. Aufgewachsen mit den einem Prinzen der damaligen Zeit zukommenden Privilegien und in der fürstlichen Atmosphäre des Kriegeradels, wurde er wohl schon früh in soldatischen Fertigkeiten wie dem Bogenschießen, Ringen, Reiten und im Umgang mit Elefanten ausgebildet. Schließlich gehörte es zu den wichtigsten Aufgaben des Kriegeradels, wenn nötig, zu den Waffen zu greifen. Im Alter von 16 Jahren soll er seine Cousine Yasodhara geheiratet haben, die ihnen den gemeinsamen Sohn Rahula gebar. Nachdem er bereits viele Jahre am königlichen Hofe verbracht hatte, erkannte er eines Tages die Sinnlosigkeit seines bisherigen Daseins. Laut der Legende soll er bei „vier Ausfahrten einen Alten, einen Kranken, einen Toten und einen Mönch erblickt und dadurch erkannt [haben], daß man nur als anhangloser Asket die Erlösung verwirklichen könne. Tatsache ist jedenfalls, daß er als Neunundzwanzigjähriger Familie und Freunde, Haus und Heimatstadt verließ, um sich religiöser Suche zu widmen.“[24] Siddhārtha führte fortan das Leben eines Bettel- bzw. Wanderasketen. Er wanderte „barfuß nach Südosten, um sich der religiösen Freiheitsbewegung anzuschließen, die einige Jahrzehnte zuvor eingesetzt hatte und mächtig angeschwollen war. Denn lange genug war das Gangesland in geistigen Dingen von den Brahmanen bevorzugt worden.“[25] Nachdem sich Siddhārtha der sogenannten Samana-Bewegung[26] angeschlossen hatte, wurde er laut Überlieferung zunächst Schüler des Lehrers Ālāra Kālāma. Zwar gelang es ihm alsbald, sich mit dessen Lehren gut vertraut zu machen. Doch da ihm diese nicht die erhoffte Erleuchtung brachten, wandte er sich enttäuscht von Ālāra ab und dem Upanishaden-Lehrer Uddaka Rāmaputta zu, der „das damals noch junge Wissen von der unzerstörbaren, vom Karman an die Wiedergeburt gebundenen Seele (ātman) darlegte.“[27] Doch auch dessen Lehre vermochte den nach Erleuchtung suchenden Siddhārtha nicht zu erfüllen, so dass er schließlich beschloss, seinen eigenen Weg zu gehen, um die Erleuchtung zu finden. Dabei soll er über mehrere Jahre hinweg alle erdenklichen Methoden der Askese praktiziert haben, um sein Ziel zu erreichen: Von Atemübungen bis hin zum extremen Fasten, das ihn fast verhungern ließ, probierte er vieles aus. In dieser Zeit schlossen sich ihm einige Gleichgesinnte an, die sein hingebungsvolles und ausdauerndes asketisches Handeln bewunderten. Aber auch diese Selbstkasteiung befriedigte ihn nicht und er entlarvte sie als einen Fanatismus, der ihn kein Stück näher an die gewünschte Erleuchtung heranführte. Erst die folgende Jugenderinnerung brachte ihn auf den rechten Pfad:

„Ich entsinne mich, wie ich bei den Feldarbeiten meines Vaters, des Sakya, im kühlen Schatten eines Rosenapfelbaumes gesessen habe, und wie ich da, von Lüsten mich abscheidend, von allen unreinen Wesenheiten mich abscheidend, in die mit Überlegung und Erwägung verbundene, aus Abgeschiedenheit geborene, von Befriedigung und Freude erfüllte erste Versenkung eingetreten bin und darin verharrt habe.“[28]

Dieses Ereignis markiert den Beginn seiner intensiven Meditationspraxis, die es ihm ermöglichte, seinen Geist von Begierden und Gefühlsregungen zu befreien sowie so sehr zu beruhigen, dass er sich auf das Wesentliche konzentrieren konnte. Und so „erinnerte sich [Siddhārtha] seiner vergangenen Existenzformen, durchschaute das Gesetz der Wiedergeburt als Folge der Taten (kamma) und erkannte: Dies sind die Einflüsse (āsava, die Wiedergeburt und Leiden verursachen), dies ihr Ursprung, dies ihre Aufhebung, dies der Weg zu ihrer Aufhebung. Beim heutigen Bodh Gayā unter einem [Bodhi-]Baum sitzend, kam ihm die Einsicht:“[29]

„Der ich selbst, ihr Mönche, der Geburt unterworfen war, erkannte ich das Elend, das dem Gesetz der Geburt innewohnt, und nach dem von Geburt freien höchsten Gewinn und Wohlsein, dem Nirvana suchend, erreichte ich den von Geburt freien höchsten Gewinn und Wohlsein, das Nirvana. Der ich selbst dem Altern unterworfen war … Der ich selbst der Krankheit unterworfen war … Der ich selbst dem Tode unterworfen war … Der ich selbst dem Schmerz unterworfen war … Der ich selbst der Verderbtheit unterworfen war, erkannte ich das Elend, das dem Gesetz der Verderbtheit innewohnt […] Und Erkenntnis ging mir auf und Schauen ging mir auf: unverlierbare Erlösung des Geistes ist mein; dies ist die letzte Geburt; nicht gibt es hinfort Wiedergeburt.“[30]

Das zentrale Element und Mittel, das Siddhārtha zur Erleuchtung und damit auch zu seiner zukünftigen Bezeichnung „Buddha“ führte, war demnach die Durchführung einer speziellen Form der Meditation, die er aus der Praxis des Yoga entwickelte. Sie bildete die Voraussetzung dafür, dass er eine tiefe Einsicht in die Natur des Daseins erlangte. Denn erst die Meditation verschaffte ihm eine weitestgehende Ausschaltung von äußeren und inneren Einflüssen, die den Geist abzulenken und zu beunruhigen vermögen, und damit die Versenkung in einen besonderen Bewusstseinszustand. Mit der nun gewonnenen Klarheit im Denken vermochte er es, vermutlich im Alter von 35 Jahren, die Erleuchtung zu finden. Dieses sein Leben maßgeblich prägende Ereignis war sowohl aus intellektueller als auch psychologischer Sicht bedeutend: „Intellektuell war sie ein direktes Erschauen des Kreislaufs von Werden und Vergehen, […] ein Aha!-Erlebnis, in dem übernommene Denkelemente und eigene Überzeugungen zu einem harmonischen System zusammenschossen. Psychologisch war sie eine glückhafte Befreiungserfahrung. Die Gewißheit, die Leidensursache erkannt und damit vernichtet zu haben, machte aus dem Sucher einen Wegweiser, […] eine reife, in sich selbst ruhende Persönlichkeit.“[31] Ausgestattet mit diesem Rüstzeug begegnete Buddha von nun an seinen Mitmenschen und hinterließ dabei einen nachhaltigen Eindruck auf viele von ihnen. Dabei war es ihm egal, welcher gesellschaftlichen Schicht diese angehörten. Ob Könige oder Bettler – der „Erleuchtete“ pflegte einen unvoreingenommenen Umgang mit jedem Interessierten. Er sprach und lehrte die nächsten 45 Jahre also vor einem höchst unterschiedlichen Publikum. Um ihn herum entstand eine immer größer werdende buddhistische Gemeinde, die sich aus allen Volksschichten zusammensetzte. Die hinduistische Kastenordnung, an deren Spitze die Brahmanen (= Mitglieder der Priesterkaste, die als höchste Kaste im System des Hinduismus gilt) standen, kritisierte er vor allem dahingehend, dass die Kaste, der ein Mensch aufgrund seines sozialen Standes zugeordnet wurde, nichts über seinen Wert aussagen könne. Ein gewichtiger Grund für die aufkommende Popularität der Erlösungslehre (Sanskrit: Dharma; Pāli: Dhamma) des Buddha in breiten Teilen der Bevölkerung war – neben seiner charismatischen Persönlichkeit sowie seinem freundlichen und respektvollen Umgang den Mitmenschen gegenüber – sicherlich die Tatsache, dass das Erlösungsziel nicht einem erlesenen Kreis von Personen bzw. Mönchen vorbehalten war, sondern auch dem Laien offenstand und „daß der Meister seinen Mönchen erlaubte, die Lehre in der lokalen Umgangssprache darzulegen.“[32] Als Eckpfeiler bzw. Kern dieser Lehre Buddhas, der praktisch von allen Schulen akzeptiert wird, gelten die „Vier edlen Wahrheiten“ (Sanskrit: catvāri āryasatyāni; Pāli: cattāri ariyasāccan), die er unmittelbar nach seiner Erleuchtung im Gazellenhain Ishipathana in Sarnath bei Benares verkündet haben soll und mit denen er das Rad der Lehre in Gang setzte. Die „Vier edlen Wahrheiten“ geben Antwort auf folgende grundsätzliche Fragen:

1. Was ist Leiden?
2. Was ist die Entstehung des Leidens?
3. Was ist die Aufhebung des Leidens?
4. Welches ist der zur Aufhebung des Leidens führende Weg?

Der Eingang ins Nirwana (Sanskrit: nirvāṇa) bzw. Nibbana (Pāli: nibbāna), also der Austritt aus dem Samsara, dem Kreislauf des Leidens bzw. der Wiedergeburten, ist als Hauptziel der Lehre Buddhas anzusehen. Die Ursachen des Leidens lagen für ihn vor allem in der falschen Vorstellung des Menschen von einem unveränderlichen Selbst bzw. Ich sowie eines Anhaftens an dieses und einer damit verbundenen Gier und Unwissenheit (= Nichtkenntnis der Vier edlen Wahrheiten) begründet, wovon man sich befreien müsse, wenn man dem Kreislauf von Tod und Geburt, also der Wiedergeburt, entrinnen und so die Erlösung erlangen wolle. Im Rahmen der Vier edlen Wahrheiten sind auch die Grundlagen der buddhistischen Ethik anzutreffen. Dort nimmt insbesondere der heilige achtteilige Pfad (rechtes Glauben, rechtes Entschließen, rechtes Wort, rechte Tat, rechtes Leben, rechtes Streben, rechtes Gedenken, rechtes Sichversenken), der Teil der vierten edlen Wahrheit ist, eine zentrale Rolle ein. Zu den wesentlichen sittlichen Regeln zählen die „Fünf Silas“, die zur bewussten Enthaltung von falschem Verhalten auffordern. Diese lauten sinngemäß wie folgt:

1. Keine Lebewesen aus Absicht töten oder verletzen.
2. Kein Diebstahl.
3. Keine sexuellen Ausschweifungen.
4. Keine Lüge, Verleumdung, barsche oder unnütze Rede.
5. Keine Trübung des Bewusstseins durch berauschende Mittel.

Buddhas gesamte Lehre ist durchzogen vom Streben nach dem mittleren Weg. Damit ist gemeint, dass er extremen Anschauungen und Praktiken eine klare Absage erteilte: Er sah sowohl weltliche Ausschweifungen als auch strenge Askese als unnütz und unwürdig an. Die zuvor genannten und stark umrissenen wesentlichen Einsichten soll er während seiner 45jährigen Lehrtätigkeit seinen Zuhörern vermittelt haben, bevor er im Alter von 80 Jahren verstarb. Dieser kurze Abriss über den historischen Buddha berücksichtigt natürlich nicht alle Facetten des Lebens und der Lehre Buddhas und diente einzig dem Zwecke, den historisch-biographischen Hintergrund zu umreißen, in dessen Rahmen Buddhas Lehre vom Nicht-Selbst entstand, auf die ich nun eingehe.

2.3 Anattā – die Lehre vom Nicht-Selbst

2.3.1 Der anattā-Begriff

Die Lehre vom anattā (= Pāli; Sanskrit: anātman), was zumeist mit Nicht-Selbst oder Nicht-Ich übersetzt wird, soll Buddha bereits in seinen ersten Reden verkündet haben. Diese frühe Erwähnung entspricht auch der herausragenden Stellung des anattā innerhalb der Lehre Buddhas, dessen inneren Kern sie bildet. Ohne das Wissen und richtige Verständnis vom anattā ist eine angemessene Erschließung des Dhamma (= Pāli; Sanskrit: Dharma / übersetzt: Lehre Buddhas) geradezu unmöglich. Insofern gilt es zunächst einmal, das Wort anattā zu definieren, bevor der Versuch unternommen wird, die dahinter stehende Lehre zu erarbeiten. Zur terminologischen Bedeutung von anattā lässt sich grundsätzlich sagen, dass sich dieser Begriff von dem kulturhistorischen Kontext ableitet, innerhalb dessen Buddha seine Lehre vom Nicht-Selbst darzustellen versuchte. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass sich das philosophische und religiöse Umfeld des frühen Buddhismus im ganz wesentlichen Maße über das attā- bzw. ātman -Konzept definierte (Sanskrit: ātman; Pāli: attā), das nachhaltig vom in dieser Zeit in Indien vorherrschenden orthodoxen brahmanischen Gedankengut geprägt war. Dabei kommt den Upanishaden, einer Sammlung von philosophischen Schriften des Hinduismus, die Bestandteil der Veden (Sanskrit: veda / übersetzt: Wissen), der heiligen Schriften des Hinduismus, sind, eine Schlüsselrolle bei der Auseinandersetzung mit dem ātman zu. Ā tman bedeutet im ursprünglichen Sinne so viel wie Lebenshauch bzw. Atem. Wie ich bereits im vorhergehenden Kapitel erläuterte, kam Buddha, nachdem er im Alter von 29 Jahren Haus und Familie verlassen hatte, als Wanderbettler auf der Suche nach Erlösung verstärkt mit den Upanishaden in Berührung. Einen nicht unerheblichen Einfluss auf die spätere Ausprägung seines eigenen buddhistischen Lehrsystems hatte wohl vor allem auch der Upanishaden-Lehrer Uddaka Rāmaputta, dessen Schüler der junge Siddhārtha einst war und von dem er in den beiden ältesten Upanishaden unterwiesen wurde: „die Große Wald-Upanishad (Brhadāranyaka-) und die Chāndogya-Upanishad. Fast alle Motive, die später in der Lehre des Buddha erscheinen, sind in diesen beiden Texten bereits angeschnitten: (1) Die Lehre von der Wiedergeburt, (2) die Lehre von der Steuerung der Wiedergeburt durch das Tun (kamma) und (3) die Lehre vom Antrieb der Wiedergeburtenrotation durch das Begehren. Ein weiteres Element der Upanishaden, den (4) Glauben an eine die Kette der Wiedergeburten durchwandernde Seele (Skt. ā tman), lehnte Siddhattha ab“.[33] Das ātman –Konzept basiert auf der Vorstellung, dass der Mensch über einen unveränderlichen Wesenskern, eine ewige Seele, ein unwandelbares und autonomes Selbst verfügt, das auch den Tod überdauert. Zugleich galt ātman als eine unveränderliche Substanz, die „der Persönlichkeit zu Grunde lag. Sie erschien als eine vom Bewußtsein und vom Körper getrennte Wirklichkeit, wobei die Person als Benutzer oder Genießer und das Bewußtsein und der Körper als das, was benutzt wird, galt.“[34] Dagegen war für Buddha die mit dem ātman verbundene Vorstellung, dass ein fester Persönlichkeitskern (= Ewigkeitsglaube) über den Tod des Menschen hinaus fortbestände, nichts weiter als eine Täuschung, die mittels empirischer Erfahrungen bzw. Meditationspraxis, worauf basierend er seine Lehre entwickelte, nicht bestätigt werden könne. Genauso hielt er die Vorstellung, dass dieser Persönlichkeitskern nach dem Tode vernichtet werden würde (= Vernichtungsglaube), für falsch. Diesen beiden Extremen erteilte Buddha eine deutliche Absage. Seine Antwort: Die Lehre vom anattā. Die im Jahre 1950 in Berlin geborene deutsche Buddhismusforscherin Marianne Wachs hat sehr gut herausgearbeitet, wie der Begriff anattā am treffendsten zu fassen ist:

„Das Wort 'anattā ' (Skr.: 'anā tman') kann ein Adjektiv oder ein Nomen sein. Es setzt sich zusammen aus dem Negativpräfix 'an-' und 'atta'. Neben der Form 'attā' (Instrumental: 'attanā') ist im Pāli-Kanon 'atta' (Instrumental: 'attena') zu finden. 'Atta' wird in der Forschung mehr als 'attā' verwendet. Wenn das Wort mit dem Negativpräfix 'an-' zitiert wird, ist allerdings die 'attā'-Form üblicher. […] In den Pāli-Schriften kommt außerdem noch die Nebenform 'atumo' und 'tumo' vor. Grammatikalisch gesehen wird 'atta' oft als reguläres Reflexivpronomen eingesetzt. Die maskuline Form im Singular steht für Singular und Plural und für alle Geschlechter. […] 'Attā' und 'atta' werden auf fünf verschiedene Arten verwendet:

1) umgangssprachlich für 'ich (du…) selbst' (Reflexivpronomen);
2) für 'die eigene Person', einschließlich des physischen Körpers und des Bewußtseins;
3) für 'das Selbst', verstanden als eine subtile metaphysische Entität, die immer abgelehnt wird, da sie nicht identifizierbar und in der Realität nicht zu entdecken ist;
4) enklitisch im Sinne von '-heit';
5) als Partizip Perfekt von ‚ādādati‘ und ‚niratta‘.

Wenn mit 'atta' eine subtile metaphysische Entität bezeichnet wird, stehen dafür in Übersetzungen Ausdrücke wie 'Ich', 'Ego', 'Seele', besonders häufig aber 'Selbst'. In entsprechender Weise wird 'anattā' als Nomen übersetzt mit 'Nicht-Ich', 'Nicht-Seele', 'Nicht-Selbst', 'Selbstlosigkeit', 'Unpersönlichkeit' und als Adjektiv mit 'seelenlos', 'egolos', 'unpersönlich', 'ohne beharrendes, selbständiges Sein'. Doch welche Übersetzung auch gewählt wird, an ihr muß zum Ausdruck kommen, daß mit 'anattā' die Permanenz abgelehnt wird.“[35]

Der Vollständigkeit halber ist hinzuzufügen, dass es zu oberflächlich wäre, den Begriff anattā als reine Negation des Wortes atta anzusehen. Es ist anzunehmen, dass es nicht das Anliegen von Buddha war, das bereits weiter oben angesprochene ātman -Konzept vollkommen zu verneinen. Seine Herangehensweise bei der Auseinandersetzung mit dem Selbst bzw. Ich war schlichtweg eine andere. Seinem Selbstverständnis entsprach es, den Menschen und die Welt aus dem eigenen empirischen Erfahrungshorizont heraus zu verstehen und zu erklären versuchen, während in den Upanishaden ein festes Selbst bzw. Ich oder eine ewige Seele bereits metaphysisch vorausgesetzt wird, ohne dies empirisch belegen zu wollen. Die Methodik im Umgang mit der Auseinandersetzung der Existenz des Menschen ist also eine andere. Da Buddha keine empirischen Belege für ein unveränderliches Selbst bzw. Ich fand, stellte sich für ihn überhaupt nicht die Frage, irgendeine permanente Substanz in der Welt anzunehmen. Da Buddha also die upanishade Seelenlehre bzw. die Theorie von einer ewigen, den Tod überdauernden Seele, die er durch seinen Lehrer Uddaka Rāmaputta kennengelernt hatte, in der Wirklichkeit nicht bestätigt fand, lehnte er diese ab. Das bedeutet jedoch nicht, dass er per se ausschloss, dass es so etwas wie ein unveränderliches Selbst bzw. Ich tatsächlich gebe – jedoch vermochte er dieses nicht mittels empirischer Beobachtung zu erkennen, weshalb jegliche Gedanken daran für ihn bloße Spekulation und Theorie blieben. Dieser Hinweis ist sehr bedeutend, da Buddha mit dem Begriff anattā gewiss kein Dogma aufstellen wollte, wonach es vollkommen ausgeschlossen sei, dass ein unveränderliches Selbst oder eine Seele in der Welt existieren könne. Nur: Eine solche feste Entität entziehe sich dem Erfahrungshorizont und sei daher reine Spekulation und metaphysische Konstruktion. Solche theoretischen Überlegungen über ein festes Selbst waren für Buddhas praxisbezogene Lehre irrelevant. Er lehnte sie ab.

[...]


[1] Anm.: Dazu schrieb der britische Indologe und Buddhismusforscher Edward Conze: „Ohne Kenntnis der buddhistischen Schriften, nur geleitet durch die Philosophie Kants, die lateinische Übersetzung einer persischen Übertragung der Upanishaden und die Enttäuschungen, die er in seinem eigenen Leben erfahren hatte, entwickelte Schopenhauer in den Jahren vor 1819 ein philosophisches System, das in seiner Verneinung des Lebenswillens und in der Betonung des Mitleids als der einzigen zur Erlösung führenden Tugend dem Geiste der buddhistischen Lehre erstaunlich nahe kam.“ (siehe: Conze, Edward: Der Buddhismus – Wesen und Entwicklung, Stuttgart / Berlin / Köln 1995, S. 200-201.)

[2] Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung, in: Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Bd. 3, Zürich 1977, S. 197.

[3] Bechert, Heinz; Gombrich, Richard: Der Buddhismus – Geschichte und Gegenwart, München 1995, S. 339.

[4] Ebd. S. 340.

[5] Schumann, Hans W.: Buddhismus – Stifter, Schulen und Systeme, München 2005, S. 232.

[6] Conze, Edward: Eine kurze Geschichte des Buddhismus, übers., hrsg. und mit einem Nachw. vers. von Friedrich Wilhelm, Frankfurt a. M. 2005, S. 18.

[7] Schumann, Buddhismus – Stifter, Schulen und Systeme, S. 55.

[8] Ebd. S. 57-58.

[9] Anm.: 1. Vinayapitaka = Ordensregeln; 2. Suttapitaka = Sammlung von Lehrreden Buddhas;
3. Abhidhammapitaka = eine (wissenschaftliche) Systematisierung der Lehren Buddhas, die sich nicht, wie bei den anderen beiden Kompendien, einer konventionellen, sondern überwiegend einer philosophischen bzw. psychologischen Sprache bedient.

[10] Anm.: Der Ausdruck „Korb“ wird gebraucht, da „die auf getrocknete Palmblätter geritzten oder geschriebenen Texte in Körben aufbewahrt wurden, welche die zusammengehörigen Bücher in sich vereinigten.“ (Schumann, Buddhismus – Stifter, Schulen und Systeme, S. 59.)

[11] Schumann, Buddhismus – Stifter, Schulen und Systeme, S. 58.

[12] Anm.: Als eine weitere bedeutende Hauptrichtung des Buddhismus gilt das Vajrayāna (= Diamantfahrzeug), in dem sich Lehren des Mahāyāna mit dem hinduistischen Tantra verbinden.

[13] Anm.: Nicht unterschlagen werden darf hier der Begriff des Hīnayāna („Kleines Fahrzeug“), der ältere Buddhismus, aus dessen Tradition auch der Theravāda-Buddhismus entspringt. Der Begriff entstand im Mahāyāna und bezeichnet eher abwertend alle vor-mahāyānischen Schulen, weshalb er von diesen auch abgelehnt wird. Im Mahāyāna-Buddhismus wird die Haltung vertreten, dass das Hīnayāna nur einen Bruchteil der Lehre und Verkündigung Buddhas enthalte.

[14] Schlieter, Jens: Buddhismus zur Einführung, 2. Aufl., Hamburg 2001, S. 26.

[15] Ebd. S. 26.

[16] Ebd. S. 26.

[17] Vogd, Werner: Radikaler Konstruktivismus und Theravāda Buddhismus, Ein systematischer Vergleich in Erkenntnistheorie und Ethik, Ulm 1996, S. 19-20.

[18] Zotz, Volker: Geschichte der buddhistischen Philosophie, Reinbek bei Hamburg 1996, S. 21.

[19] Wimmer, Franz: Interkulturelle Philosophie. Geschichte und Theorie, Bd. 1, Wien 1990, S. 19.

[20] Zotz, S. 13.

[21] Anm.: Aus dem Sanskrit übersetzt bedeutet dies „der Erwachte“ oder auch „der Erleuchtete“.

[22] Anm.: Eine gute Übersicht zur Forschungsdiskussion bezüglich der Datierung lässt sich in der Veröffentlichung von „Bechert, Heinz.: The dating of the historical Buddha / Die Datierung des historischen Buddha, Parts 1-3, Göttingen 1991-1997“ finden, die im Zusammenhang mit vier internationalen Symposien zur Buddhismusforschung entstand, die zwischen 1976 – 1988 von der Akademie der Wissenschaften veranstaltet wurden.

[23] Schumann, Buddhismus – Stifter, Schulen und Systeme, S. 14.

[24] Schumann, Buddhismus – Stifter, Schulen und Systeme, S. 17.

[25] Ebd. S. 17.

[26] Anm.: Als Samanas werden Bettelmönche bzw. Asketen in Indien bezeichnet, die besitzlos sind und von Almosen leben. Sie widmen sich primär der Askese und Meditation.

[27] Schumann, Buddhismus – Stifter, Schulen und Systeme, S. 19.

[28] Oldenberg, Hermann: Reden des Buddha – Lehre, Verse, Erzählungen, mit einer Einf. hrsg. von Heinz Bechert, Freiburg im Breisgau 2000, S. 73.

[29] Schumann, Buddhismus – Stifter, Schulen und Systeme, S. 20.

[30] Oldenberg, S. 81.

[31] Schumann, Buddhismus – Stifter, Schulen und Systeme, S. 21.

[32] Ebd. S. 28.

[33] Schumann, Hans Wolfgang: Der Buddha erklärt sein System – Pāli-Buddhismus für Fortgeschrittene, Stammbach-Herrnschrot 2005, S. 6.

[34] Wachs, Marianne: Seele oder Nicht-Ich – Von der frühvedischen Auseinandersetzung mit Tod und Unsterblichkeit zur Nicht-Ich-Lehre des Theravāda-Buddhismus, Frankfurt a. M. 1998, S. 137.

[35] Wachs, S. 135-136.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2009
ISBN (eBook)
9783836640787
Dateigröße
1.3 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin – Philosophische Fakultät I, Philosophie und Geschichte
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Schlagworte
buddha anatta wahrnehmung geistesformation bewusstsein
Zurück

Titel: Ist ein unveränderliches Selbst nur bloße Illusion?
Cookie-Einstellungen