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Der Verlust des Absoluten. Existenzielle Identitätssuche in der europäischen Literatur um 1900

Am Beispiel von Joris-Karl Huysmans (A rebours), Lou Andreas-Salomé (Im Kampf um Gott) und Miguel de Unamuno (Niebla)

©2009 Magisterarbeit 101 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Im Gegensatz zu vormodernen Epochen wird die europäische Gesellschaft des 21. Jahrhunderts nicht mehr in erster Linie von einer kollektiven metaphysischen Struktur, d.h. einer Religion, zusammen-gehalten. Andere Faktoren wie Nationalität, politische Gesinnung und gesellschaftlicher Stand üben einen weitaus stärkeren Einfluss auf das Selbstverständnis des postmodernen Abendländers aus. Diesem stehen zahlreiche Möglichkeiten für den Aufbau einer Identität zur Verfügung. Jean-Paul Sartre beschreibt den daraus resultierenden Zwiespalt des postmodernen Menschen in besonders treffender Weise: ‘L’homme est condamné à être libre’. Die absolute Freiheit des Menschen impliziert also den Zwang zur individuellen Entscheidung für oder gegen identitätsstiftende Faktoren.
Der Blick auf die europäische Vergangenheit und die Tradition der westlichen Metaphysik zeigt, dass die katholische Kirche zum Teil noch bis ins späte 18. Jahrhundert, in Spanien sogar weit darüber hinaus, einen wesentlichen Teil der politischen und gesellschaftlichen Strukturen beeinflusst. In jenem Gefüge hat der Mensch seinen festen Platz, den er nicht hinterfragen muss, jedoch oft auch nicht hinterfragen darf. Der gravierende Unterschied zwischen der vormodernen und der modernen Gesellschaft führt zu der Frage, wie eine solche Veränderung stattfinden konnte. Aufgrund dessen ist es sinnvoll und notwendig, nach den Ursachen dieses Wandels von einer ‘gottgegebenen’ Gesellschaftsform zu derjenigen des 21. Jahrhunderts in der Zeit zwischen Aufklärung und Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu fragen. Die Zeit um 1900 ist in diesem Zusammenhang besonders relevant, weil sie das Ende dieser Übergangszeit darstellt. Die Aufklärung hat fast ein Jahrhundert lang auf die Geisteshaltung des abendländischen Menschen gewirkt, Gesellschaftsstrukturen und Marktwirtschaft werden radikal durch Industrialisierung, Kommunikationsbeschleunigung, Nationalismus und Imperialismus verändert. Kunst und Literatur erlangen einen autonomen Status und der ‘Tod Gottes’ ist in Also sprach Zarathustra von Friedrich Nietzsche postuliert worden.
In der vorliegenden Arbeit wird der Frage nachgegangen, wie in der europäischen Literatur um 1900 der Verlust einer absoluten Instanz thematisiert und welche Form von Identität auf existenzieller Ebene neu formuliert wird. Inwieweit in diesem Zusammenhang von einer spezifisch ‘europäischen Entwicklung’ gesprochen werden kann und welche Konflikte und […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Anke Anni Ernst
Der Verlust des Absoluten. Existenzielle Identitätssuche in der europäischen Literatur
um 1900
Am Beispiel von Joris-Karl Huysmans (A rebours), Lou Andreas-Salomé (Im Kampf um
Gott) und Miguel de Unamuno (Niebla)
ISBN: 978-3-8366-3586-8
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2009
Zugl. Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Bonn, Deutschland,
Magisterarbeit, 2009
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2009

I
Gliederung
Seite
1.
Einführung in die Thematik ...
1
2.
Das moderne Subjekt im europäischen Kontext ...
5
2.1.
Der Ursprung europäischer Wertvorstellungen ...
5
2.1.1.
Sprache, Literatur, Recht: Die griechisch-römische Antike
und das Christentum ...
5
2.1.2. Gesellschaftsbildung:
Religion als Fundament kollektiver
Identität ...
6
2.1.3.
Geschichts- und Zeitverständnis ...
7
2.2.
Europa um 1900: Weltanschauliche Grundlagen ...
9
2.2.1.
Zwischen Fortschritt und Verfall: Das Zeitalter der Dekadenz
9
2.2.2.
Auswirkung der gesellschaftlichen Umbrüche auf Religion
und Philosophie ...
11
2.2.3.
La estética de la sorpresa: Die allgemeine Relativierung ...
13
3.
Eine moderne Identitätstheorie ... 15
3.1.
Möglichkeiten zur Analyse von Identität ...
15
3.2. Individuum,
Subjekt und Identität ...
16
3.3. Identitätskonstruktion
zwischen Autonomie und
Determinierung ...
17
3.3.1. Erfahrung
und Erinnerung ...
18
3.3.2.
Sprachliche Determinanten ...
19
3.3.3.
Die Freiheit des Subjekts bei Krise und Verlust ...
21
3.4. Existenzielle Identität ...
22

II
4. Joris-Karl
Huysmans
(1884):
A rebours ...
26
4.1.
Die Strömung der Décadence ... 26
4.2.
Analyse des Romans ...
28
4.2.1.
Des Esseintes' Abkehr von der Welt ...
28
4.2.2.
Aufbau eines Lebensmodells in Isolation: Die Ich-Suche ...
31
4.2.3. Individueller
Ästhetizismus: Der ,,Ichkult" ...
36
4.2.4.
Des Esseintes' Scheitern ...
40
4.3.
Putrefaction und Alterität ...
41
5.
Lou Andreas-Salomé (1885): Im Kampf um Gott ...
44
5.1.
Der Freigeist Lou Andreas-Salomé ...
44
5.2.
Philosophie und Psychologie: Nietzsche und die Umkehr ins
Innere ...
46
5.3.
Analyse des Romans ...
48
5.3.1.
Aufbau, Sprache und Inhalt ...
48
5.3.2.
Kunos Verlust des Absoluten ...
49
5.3.2.1.
Die Institution Kirche im gesellschaftlichen Kontext ...
49
5.3.2.2.
Kunos innerer Kampf ...
51
5.3.3.
Kunos Erkenntnis: Das Gedicht: ,,Es war ein Gott"... 55
5.3.4.
Die Konsequenz des neuen Lebenskonzeptes ...
57
5.4. Kunos
Lebenskampf:
,,Von
Gott zu Gott": ...
58
6. Miguel
de
Unamuno
(1914):
Niebla ...
60
6.1.
Die ,,Generación del `98" und Niebla ... 60
6.2.
Analyse des Romans ...
62
6.2.1. Die
nivola als moderne novela ... 62
6.2.1.1.
Abgrenzung zum traditionellen spanischen Roman ...
62
6.2.1.2.
Die Sprache ...
66
6.2.2.
Die Metapher des Nebels ...
67
6.2.3.
Unamunos metaphysisches Konzept ...
71
6.2.4.
Die Analogie Leben/ nivola ...
73

III
7.
Kontrastiver Vergleich der analysierten Romane ...
76
7.1.
Europäische Romane der Alterität ...
76
7.2.
Grundlagen der Identitätssuche: Gesellschaft und Religion ..
79
7.3.
Unmittelbares, subjektives Erleben ...
81
7.4. Individuelle
Interpretationen
existenzieller Identität ...
84
8. Conclusio
...
87
9.
Verwendete Literatur ...
90
10.
Anhang: ,,Es war ein Gott" ...
95

1
1. Einführung in die Thematik
Im Gegensatz zu vormodernen Epochen wird die europäische
Gesellschaft des 21. Jahrhunderts nicht mehr in erster Linie von einer
kollektiven metaphysischen Struktur, d.h. einer Religion, zusammen-
gehalten. Andere Faktoren wie Nationalität, politische Gesinnung und
gesellschaftlicher Stand üben einen weitaus stärkeren Einfluss auf das
Selbstverständnis des postmodernen Abendländers aus. Diesem stehen
zahlreiche Möglichkeiten für den Aufbau einer Identität zur Verfügung.
Jean-Paul Sartre beschreibt den daraus resultierenden Zwiespalt des
postmodernen Menschen in besonders treffender Weise: L homme est
condamné à être libre (Sartre, 1996: 39). Die absolute Freiheit des
Menschen impliziert also den Zwang zur individuellen Entscheidung für
oder gegen identitätsstiftende Faktoren.
Der Blick auf die europäische Vergangenheit und die Tradition der
westlichen Metaphysik zeigt, dass die katholische Kirche zum Teil noch
bis ins späte 18. Jahrhundert, in Spanien sogar weit darüber hinaus, einen
wesentlichen Teil der politischen und gesellschaftlichen Strukturen beein-
flusst. In jenem Gefüge hat der Mensch seinen festen Platz, den er nicht
hinterfragen muss, jedoch oft auch nicht hinterfragen darf. Der
gravierende Unterschied zwischen der vormodernen und der modernen
Gesellschaft führt zu der Frage, wie eine solche Veränderung stattfinden
konnte. Aufgrund dessen ist es sinnvoll und notwendig, nach den
Ursachen dieses Wandels von einer gottgegebenen Gesellschaftsform
zu derjenigen des 21. Jahrhunderts in der Zeit zwischen Aufklärung und
Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu fragen. Die Zeit um 1900 ist in diesem
Zusammenhang besonders relevant, weil sie das Ende dieser
Übergangszeit darstellt. Die Aufklärung hat fast ein Jahrhundert lang auf
die Geisteshaltung des abendländischen Menschen gewirkt, Gesell-
schaftsstrukturen
und
Marktwirtschaft
werden
radikal
durch
Industrialisierung, Kommunikationsbeschleunigung, Nationalismus und

2
Imperialismus verändert. Kunst und Literatur erlangen einen autonomen
Status und der Tod Gottes ist in Also sprach Zarathustra (1883-85) von
Friedrich Nietzsche postuliert worden.
In der vorliegenden Arbeit wird der Frage nachgegangen, wie in der
europäischen Literatur um 1900 der Verlust einer absoluten Instanz
thematisiert und welche Form von Identität auf existenzieller Ebene neu
formuliert wird. Inwieweit in diesem Zusammenhang von einer spezifisch
europäischen Entwicklung gesprochen werden kann und welche
Konflikte und weltanschauliche Grundlagen sich um 1900 in Europa
abzeichnen, wird in Kapitel 2 dargestellt.
Der zu behandelnde Aspekt der existenziellen Identität ist in der
einschlägigen Forschungsliteratur bisher nur unzureichend berücksichtigt
worden. So bietet P.V. Zimas Theorie des Subjekts (2007²) und die
poetologische Vorlesungsreihe des mexikanischen Dichters Octavio Paz
in Harvard, die 1974 unter dem Titel Los hijos del limo veröffentlicht wird,
eine theoretische Grundlage (Kapitel 3). Zima formuliert hierbei die
Abhängigkeiten zwischen philosophischen, soziologischen, kulturellen und
sprachlichen Identitätsmodellen und zeigt auf, dass der Mensch ein
Subjekt ist, das nicht objektiv urteilen kann, sondern immer in einen sozio-
kulturellen Kontext eingebunden ist. Paz dagegen beschreibt, wie eine
existenzielle Identität aufgebaut ist, ohne eine konkrete Definition zu
liefern: Der Mensch stellt mittels der Sprache eine Analogie zum
Universum auf, in deren Zentrum sich ein Absolutum befindet. Ausgehend
von der hohen Bedeutung, die der Sprache bei der Beschreibung dieses
Absoluten zukommt, liegt die Bearbeitung der Thematik auf literatur-
wissenschaftlicher Ebene nahe.
Auf der Grundlage drei europäischer Romane der Jahrhunder-
twende, A rebours von Joris-Karl Huysmans (1848-1907), Im Kampf um
Gott von Lou Andreas-Salomé (1861-1937) und Niebla von Miguel de
Unamuno (1864-1936), sollen in der Reihenfolge ihres Erscheinungs-
datums mögliche Auswirkungen des sozio-kulturellen und existenziellen

3
Verlustes aufgezeigt werden. Die Hauptfiguren des jeweiligen Romans
stehen hierbei stellvertretend für den modernen europäischen Menschen.
Von besonderer Bedeutung ist die Frage, wie die existenzielle Identität
neu formuliert wird, nachdem der Einfluss der Religion nachlässt. Zwar
können die Romane aufgrund ihrer unterschiedlichen Genres nicht nach
der gleichen Vorgehensweise interpretiert werden, jedoch lassen sich
durchaus Gemeinsamkeiten eines modernen Bewusstseins ausmachen
(Kapitel 7). Trotz der unterschiedlichen Hintergründe, vor denen die
Romane entstanden sind, zeichnen sich ähnliche Herangehenswei sen
und Entwicklungen bezüglich existenzieller Identitätssuche ab:
Huysmans Roman A rebours (1884, Kapitel 4) gilt als die Bibel der
Décadence , da er alle Motive dieser bedeutenden französischen
Strömung in sich vereint. Die Hauptfigur des Esseintes versucht, ein völlig
neues Lebensmodell auf der Basis des Ästhetisch-Künstlichen aufzu-
bauen und si ch selbst zum Schöpfer seiner individuellen Welt zu erheben.
Das Erstwerk Im Kampf um Gott (1885, Kapitel 5) der deutsch-
russischen Andreas-Salomé kann keiner zeitgenössischen literarischen
Strömung zugeordnet werden. Er kommt dem Genre des psychologischen
Romans am nächsten. Der Priestersohn Kuno verliert in seiner Kindheit
den Glauben an Gott und muss von diesem Zeitpunkt an sein Leben lang
um einen neuen Glauben kämpfen. Obwohl Im Kampf um Gott der erste
von Nietzsches Philosophie inspirierte Roman ist, mangelt es bislang an
einer fundierten literaturtheoretischen Analyse.
Der spanische Roman Niebla (1914, Kapitel 6) von Unamuno ist
eine phantastische Tragikomödie, in der die Hauptfigur Augusto Pérez auf
ihren Schöpfer, Unamuno selbst, trifft. Das Erscheinungsjahr des Romans
markiert nicht nur den Ausbruch des Ersten Weltkriegs, sondern auch das
Ende des 19. Jahrhunderts und ist sowohl als bezeichnender Abschluss
der Epoche als auch als repräsentativer Ausblick auf die anschließende
Postmoderne zu betrachten.

4
Die vorliegende Arbeit ist in vielerlei Hinsicht als Pionierleistung zu
betrachten, weil der Aspekt der existenziellen Identität in der vorge-
stellten Form noch keinen Eingang in die Literaturanalyse gefunden hat.
Zudem ist weder Andreas-Salomés Roman einer ausführlichen Interpre-
tation unterzogen, noch sind die interpretierten Romane unter dem Aspekt
der existenziellen Identität zu einem Vergleich herangezogen worden.
Somit leistet diese Arbeit einen wichtigen Beitrag zum vorgestellten
Forschungsdesiderat.

5
2. Das moderne Subjekt im europäischen Kontext
2.1. Der Ursp rung europäischer Wert vorstellungen
2.1.1. Sprache, Literatur, Recht: Die griechisch-römische Antike und
das Christentum
Das abendländische Wertesystem, innerhalb dessen sich auch der
europäische Mensch des 19. Jahrhunderts orientiert, basiert auf drei
Faktoren: der griechischen und der römischen Antike sowie dem
Christentum. Indem diese Grundvoraussetzungen für allgemeine Werte
und somit für Identität darstellen, schaffen sie für den Menschen zugleich
Richtlinien sowohl der Orientierung als auch der Einschränkung.
Zusammen mit der Antike hat das frühe Christentum jene Werte
entwickelt, die das Abendland als Kultur definieren (Hagenbüchle, 1998:
26). Der europäische Diskurs über den Menschen und seine Existenz
lässt sich demzufolge auf die philosophischen und rechtlichen Schriften
der griechisch-römischen Antike und auf die Bibel
1
zurückführen. Die
Sprachen dieser Texte und ebenso alle modernen europäischen
Sprachen, mit Ausnahme einiger Sprachgemeinschaften wie beispielswei-
se des Finnischen und des Baskischen, stammen vom Indogermanischen
ab.
2
Die ersten Gedanken über das Selbstverständnis des Menschen
als Individuum (ebd.: 20) haben ihren Ursprung in der griechischen
Antike, die Ausgangspunkt und Referenz für den weiteren Diskurs bildet.
Der lang anhaltende europäische Klassizismus als Rezeptionsepoche der
griechisch-römischen Antike macht deren essenziellen Einfluss im Laufe
der Jahrhunderte deutlich: Er beginnt in der italienischen Hochrenai ssance
und reicht über das klassische Frankreich unter Louis XIV bis zur Mitte
1
Für das Alte Testament sind nur Teile der Septuaginta, also der griechischen Über-
setzung der ursprünglich hebräischen Schrift, übernommen und kanonisiert worden.
2
Vgl. Kapitel 3.3.2., in dem die Sprache als wichtiges kulturelles Medium dargestellt wird.

6
des 18. Jahrhunderts (Fuhrmann, 2005: 174). J. Burckhardt bezeichnet
das griechisch-römische Altertum als Anhalt und Quelle der Kultur, als
Ziel und Ideal des Daseins (Burckhardt, 2004: 202) für die italienische
Renaissance und damit für die Ausgangsepoche der europäischen
Neuzeit.
3
Die tragende Bedeutung der klassischen Antike für die
europäische Literatur erläutert Fuhrmann am Beispiel der Poetik von
Aristoteles: Diese war die Klammer, die den europäischen Literaturen der
frühen Neuzeit den inneren Zusammenhan g verlieh (Fuhrmann, 2005:
174). Die Ausbildung des rechtlichen Personenbegriffs (ebd.: 3, Anm. 9),
welche ebenfalls in der Antike beginnt und im römischen Recht ihre
stärkste Ausprägung findet, trägt weiterhin dazu bei, den Menschen als
Individuum zu begreifen.
4
Das römische Recht mit der Analogie der Iustitia
bildet die Grundlage der meisten Rechtsor dnungen innerhalb Europas.
2.1.2. Gesellschaftsbildung: Religion als Fundament kollektiver
Identität
Religion und Gesellschaft bedingen sich gegenseitig. Indem die Religion
die Grundlage für eine existenzielle Identitätsbildung liefert, determiniert
sie das kollektive Weltbild und die Strukturen der Gesellschaft. Sie
bestimmt im Zusammenhang mit der Gesellschaft Orientierung, Tradition
und Alltag und beeinflusst auch die Poli tik.
5
R. Döbert analysiert die Entwicklung von archaischen zu modernen
Religionssystemen, welche das jeweilige Weltbild wesentlich prägen und
3
Burckhardt verweist auch in Bezug auf das europäische Mittelalter auf eine Rezeption
der römisch-griechischen Antike (Burckhardt, 2004: 202f).
4
Wieacker erläutert, wie der europäische Rechtsgedanke von drei Faktoren, dem
Imperium Romanum, dem Christentum und von germanischen, keltischen, süd- und
westslavischen Völkern, geprägt worden ist (Wieacker, 1952: 16ff). Zur Rezeption des
römischen Rechts in Europa vgl. Koschaker, 1966
4
.
5
Das Beispiel des Protestantismus zeigt weiterhin, wie eine Glaubensrichtung den
Universalanspruch einer Religion zerstören und gleichzeitig wesentlich zur Ausbildung
eines wirtschaftlichen Systems beitragen kann. Die calvinistische Überzeugung, von Gott
auserwählt zu sein und daher seine Talente nicht verfallen lassen zu dürfen, sondern im
Gegenteil, sein ganzes Leben als Gottesdienst zu führen (Abels, 2006: 104), ist ein
grundlegender Leitgedanke des Kapitalismus (weiterführend vgl. Weber, 1996.).

7
nicht nur die existenzielle Identität des Menschen formen. Ursprüngliche,
archaische Gesellschaften entwickeln mythische Weltbilder, in denen die
gesamte Weltordnung enthalten ist (Döbert, 1973: 345). Mit den poly-
theistischen Religionen beispielsweise in der Antike und die mit ihnen
aufkommende Personalisierung des Gottesbegriffs (ebd.: 353) beginnt
die Entsakralisierung der natürlichen Umwelt (ebd.), welche sich in den
monotheistischen Universalreligionen fortsetzt. Während beispielsweise
der gnädige Gott des Christentums die Ausbildung einer von allen
konkreten Rollen und Normen losgelösten
Identität (Habermas, 1974:
37f) ermöglicht, zerfällt die Welt in zwei Teile: Das irdische Leben verliert
an Bedeutung gegenüber dem Jenseits (Döbert, 1973: 355). Religion wird
institutionalisiert und ermöglicht eine rationale Systematisierung der
Geheimnisse des Universums (Mongardini, 1987: 26). Sie gewährt dem
denkenden Subjekt Ordnung und inneren Zusammenhal t (ebd.: 31) und
ist eine offizielle Version der Sinngebung, innerhalb derer sich das Subjekt
sowohl in einen gesellschaftlichen als auch in einen ontologischen
Zusammenhang setzt. Die kirchlichen Vertreter genießen mit der spiri-
tuellen Macht über das Volk auch die Politische. Ihre Lehre hält als
religiöser und politischer Gegenpol zur griechisch-römischen Antike das
Abendland zusammen (Burckhardt, 2004: 202), indem es den Menschen
in das christliche Weltbild einfügt. Der Verfall dieser Macht setzt Schritt für
Schritt ein: Das kopernikanische Weltbild trägt ebenso dazu bei wie die
Aufklärung. Mit der unwiderrufbaren Schwächung der kirchlichen Macht in
der Moderne stellt sich die Frage nach existenzieller Identität in neuer
Radikalität.
2.1.3. Geschichts- und Zeitverständnis
Bis zum Beginn der Moderne hat der europäische Mensch zwei
Zeitkonzeptionen zur Verfügung, die ihn trotz der Vergänglichkeit allen
Lebens dennoch ein System erkennen lassen, an dem er sich orientieren

8
kann. Die zyklische Zeit, deren Konzeption sich beispielsweise noch i n der
ländlichen europäischen Bevöl kerung des 19. Jahrhunderts (Dinzelbacher,
1993: 650) und außerdem im Buddhismus wiederfindet, verspricht
Wiedergeburt und Regelmäßigkeit von Jahreszeiten und Traditionen. Die
lineare, irreversible Zeit des Christentums verheißt dagegen das ewige
Leben nach dem Tod. Der Mensch lebt demzufolge im Hinblick auf ein
künftiges Leben und schafft sich ein Regelwerk, nach dem er sich
orientieren und richten kann, um nach seinem Ableben in die Gemein-
schaft des Paradieses aufgenommen zu werden. Mit dem Verschwinden
der Religion, seit der Epoche der Aufklärung, entfällt auch die Hoffnung
auf ein Leben nach dem Tod, wodurch die Zeit zwar immer noch als linear
aufgefasst, aber das Heil nicht mehr nach dem Tod, sondern im irdischen
Leben gesucht wird. Es findet eine Werteverschiebung statt: Der
Gegenwart wird eine ungleich höhere Bedeutung als früher beigemessen
und intensiver wahrgenommen.
Die Geschichtsauffassung entwickelt sich entsprechend. Während
Georg Wilhelm Friedrich Hegel als Vertreter des Deutschen Idealismus
Vertrauen in die Entwicklung des objektiven Geistes des Menschen hat
und noch von einer göttlichen Vernunft ausgeht, die den Modernen Staat
verwirklichen wird (Die Phänomenol ogie des Geistes, 1807), fokussiert der
Vater des Pessimismus Arthur Schopenhauer bereits auf den Menschen
selbst bzw. auf seine Triebe, die nur durch Mitleid oder Enthaltsamkeit
einzudämmen sind (Die Welt als Wille und Vorstellung, 1819). Karl Marx
evaluiert die Geschichte aus gesellschaftlicher Perspektive, indem er sie
als
Abfolge
von
Klassenkämpfen
beschreibt
(Manifest
der
Kommunistischen Partei, 1847; Das Kapital, 1867, 1885, 1894).
Geschichte wird in der Moderne nicht mehr von christlichen Ereignissen
geschrieben und sie wird auch nicht mehr im Hinblick auf das christliche
Weltbild festgehalten. Im Zentrum stehen nun der Mensch und die
Gesellschaft.

9
2. 2. Europa um 1900: Weltanschauliche Grund lagen
2.2.1.
Zwischen Fortschritt und Verfall: Das Zeitalter der Dekad enz
In Europa gipfelt um 1900 die Auseinandersetzung zwischen zwei
Glaubensrichtungen: dem Glauben an den Fortschritt und dem an die
Dekadenz. Auf der einen Seite stehen Geisteshaltungen, die seit der
Aufklärung von der Vernunft des Menschen und seiner stetigen
Entwicklung ausgehen, auf der anderen Seite entsteht mit der Kritik an der
Aufklärung und der Ernüchterung nach der Französischen Revolution von
1789 ein Glaube an den Verfall der bisherigen Werte. W. Drost bezeichnet
beide Sichtweisen, da sie ausschließlich aus ihrem Kontext heraus
beurteilt werden können, als perspektivisch bedingte Interpretations-
modelle (Drost, 1986: 15). So wird aus dem Fortschritt der
Fortschrittsglaube und aus der Dekadenz das Dekadenzbewusstsei n ,
zwei Geisteshaltungen, die
sich nebeneinander, wenn auch in unterschiedlicher Intensität,
entfalteten, sich gegenseitig bedingten und in einer eigentümlichen
Wechselwirkung das geistige Leben des 19. Jahrhunderts
bestimmten (ebd.: 13).
Beide Parteien stützen ihre Haltung u.a. auf die biologische Metapher
organisches Wachstum/ gesellschaftliche Entwicklung, die, wie G. Rist
beschreibt, seit der griechischen Antike mit Aristoteles im europäischen
Denken verankert ist (Rist, 2001²: 52ff.).
6
Dieser Analogie zufolge
entwickeln sich alle Gesellschaften ähnlich eines biologischen Organis-
mus in dieselbe Richtung auf linearer Ebene.
7
Rist nennt vier wesentliche
6
Allerdings war die Verwendung der biologischen Metapher überwiegend durch den
Darwinismus (Charles Darwin, 1809-1882) inspiriert. In Deutschland verbreitet sich dieser
ab 1868 mit dem Entwicklungs-Monismus Ernst Haeckels. Rist kritisiert, dass bei der
Übertragung vom biologischen auf den Sozialdarwinismus Darwins These survival of the
fittest bewusst fehlinterpretiert wurde: Darwin ne présuppose pas que les espèces les
plus récentes soient nécessairement supérieures aux anciennes. Cela dit, [ ]
l évolutionnisme social a manifestement tiré profit de sa proximité (sémantique !) avec le
darwinisme pour s attribuer une certaine caution scientifique (Rist, 2001²: 74).
7
Dem europäischen Weltbild zufolge durchlaufen alle Gesellschaften die gleichen
Stadien, wie es die europäische Gesellschaft bereits getan hat. Das zivilisierte Europa

10
tertia comparationis des biologischen Wachstums und des Fortschritts
(ebd.: 50f.):
§
La directionnalité : Die Entwicklung hat einen Sinn und ein Ziel. Sie
besteht aus festen Etappen, wobei die Tendenz des Wachstums
positiv ist.
§
La continuité : Die Veränderung ist stetig.
§
La cumulativité : Jede Etappe ist die logische Folge der
vorherigen.
§
L irréversibilité : Die Entwicklung ist nicht rückgängig zu machen.
Das Element des Fortschritts ist nach Rist in der vorgestellten Analogie
l abandon de la notion de déclin (ebd.: 76). Auf die Gesellschaft bezogen
bedeutet dies u.a., dass die (europäische) Gesellschaft sich in einem
Prozess befindet, der auf eine Mehrung der positiven Lebensumstände
(Dinzelbacher, 1993: 659) zuläuft und die Möglichkeit eines Scheiterns
oder eines Verfalls weitgehend ausschließt. Im Gegenteil : Der Glaube an
den Fortschritt erfüllte das 19. Jahrhundert mit dem Enthusiasmus einer
neuen Religion (Drost, 1986: 15). Jede Epoche ist somit legitimiert als
notwendig zum Zwecke der höchsten Entwicklung der Menschheit.
Konkret zu nennen wäre beispielsweise die in der Mitte des 18.
Jahrhunderts beginnende Industrialisierung, die materiellen Wohlstand
verheißt,
8
und die Wissenschaften, die Heilung von bisher unheilbaren
Krankheiten versprechen. Weiterhin revolutionieren die Kommunikations-
beschleunigung, die Erfindung des Pressewesens und die neue Mobilität
die gesellschaftliche Ordnung. Die Vorstellung von einer besseren Welt
lässt sich nicht mehr rückschauend in vergangenen Epochen finden,
vielmehr wird die Idylle des goldenen Zeitalters (ebd.: 13) in eine nahe,
irdische Zukunft pr ojiziert. Die Linie der Zeit steigt ins positiv Unendliche.
geht im Zuge der Kolonisation von seiner supériorité occidentale sur les autres sociétés
(Rist, 2001²: 70) aus, womit es u.a. die Kolonisierung legitimiert (ebd.: 75).
8
Der Wettstreit der Nationen (Drost, 1986: 16) wird in den ab 1851 organisierten Welt-
ausstellungen, in denen u.a. die jeweiligen neuen Entdeckungen vorgestellt werden,
ausgetragen. Erfindungen, die das Leben der Menschen grundsätzlich verändern, sind
z.B. die Dampfmaschine (1778) oder der mechanische Webstuhl (1822).

11
Auch die Vertreter der Dekadenz bedienen sich einer biologischen
Analogie des organischen Wachstums, legen jedoch den Schwerpunkt auf
den naturgegebenen Verfall. Der technische Fortschritt und die Über-
bewertung des Intellekts unterdrücken aus ihrer Sicht Vitalität, religiöses
Empfinden und moralische Kraft des Menschen (ebd.: 14). Die durch die
Industrialisierung auftretenden gesellschaftlichen und gesundheitlichen
Probleme wie beispielsweise die durch die bürgerliche Großindustrie
verschuldete Ausbeutung der Arbeiterklasse lassen den Fortschritt als
Abstieg zum Schlechteren (Dinzelbacher, 1993: 659) erscheinen.
2.2.2. Auswirkung der gesellschaftlichen Umbrüche auf Religion und
Philosophie
Während in der Frühform der Gesellschaft religiöse, metaphysische oder
wissenschaftliche Vorstellungen dazu dienten, einer Gesellschaft eine
gemeinsame metaphysische Erklärung für ihr Dasein zu liefern, zerfallen
in der Moderne alle bisherigen Werte und Einheiten. Die Konsequenz ist
ein ähnlicher Zerfall der Einheit des Ichs (Mongardini, 1987: 54) und eine
allgemeine Relativierung. Das 19. Jahrhundert wird als dasjenige bezeich-
net, in dem der Tod Gottes durch Friedrich Nietzsche als endgültig
besiegelt gilt. Radikale Wegbereiter für Nietzsches Feststellung bilden si ch
seit der Aufklärung heraus. Der Positivismus, der auf Auguste Comte
zurückzuführen ist, ersetzt zeitweise das religiöse durch ein kausal-
mechanisches Weltbild, welches die Naturwissenschaften und ihre
Methoden zur Grundlage der Künste macht. Ludwig Feuerbach erklärt in
seinem Werk Das Wesen des Christentums (1841), dass nicht Gott den
Menschen schaffe, sondern umgekehrt projiziere der Mensch seine
Idealvorstellung auf ein Gottesbild. Der Tod Gottes wird im Laufe der
Jahrzehnte vollzogen, Nietzsche versetzt ihm den Todesstoß. In Sein und
Zeit (1927) führt Martin Heidegger den Gedanken eines nicht
vorhandenen Gottes weiter. Er zerlegt die Seinsthesen des Abendlandes

12
in ihre Einzelteile und begründet auf theoretischer Ebene die Nicht-
Existenz Gottes. Der Existenzialist und Heidegger-Rezipient Jean Paul
Sartre veröffentlicht 1943 L être et le néant. Essai d ontologie
phénoméno logique. In L existentialisme est un humanisme (1946) fasst er
die Haltung des Existentialismus in Bezug auf die menschliche Existenz-
problematik wie folgt zusammen: l essence précède l existence (Sartre,
1996: 26). Er verweist so auf die vom Menschen i ndividuell zu erbringende
Leistung zur Ausbildung einer Identität.
Allerdings geht mit der neuen Freiheit des Menschen, dem
objektivierten Denken und der radikalen Zukunftsorientierung (Habermas,
1974: 48) auch eine existenzielle Unsicherheit einher:
Der Monotheismus, besonders das Christentum, war die letzte
Gedankenformation, die eine von allen Gesellschaftsmitgliedern
anerkannte einheitsstiftende Interpretation gegeben hatte (ebd.: 44).
Der Zerfall eines einheitlichen identitätsstiftenden Systems auf
transzendenter Ebene bewirkt Chaos und eine angstvolle Suche nach
einer neuen transzendenten Struktur (Paz, 1974: 72), also nach einem
ähnlichen Prinzip wie dem der Religion, das Identität verschafft und
dennoch mit dem Zeitgeist vereinbar ist. Die Einheit und die Identität der
Gesellschaft waren bislang durch eine gemeinsame moralische Basis
gegeben. Der Verlust dieser moralischen Basis bedeutet auch den Verlust
jener Einheit und der kollektiven Identität. Demzufolge werden individuelle
Interpretationen von Moral und absoluten Werten immer wichtiger für den
Einzelnen. Die Spaltung der Gesellschaft in kleinere Gruppen mit unter-
schiedlichen Auffassungen über Kunst, Religion, usw. und die Betonung
des Individuellen sind die Folge. So entstehen ab Mitte des 19.
Jahrhunderts atheistische und deistische Strömungen, innerkirchliche
Liberalisierungstendenzen, existenzphilosophische Ansätze (z.B. von
Sören Kierkegaard), revolutionäre naturwissenschaftliche Erkenntnisse
(z.B. von Charles Darwin) und ein christlicher und wissenschaftlicher
Sozialismus (Kunz, 1997: 195). Auch in der Literaturszene wird die

13
Zersplitterung deutlich. Es liegt nicht mehr eine gemeinsame Haupt-
strömung vor, sondern verschiedene literarische Gruppen versuchen, ihr
eigenes poetologisches Konzept durchzusetzen.
2.2.3. La estética de la sorpresa: Die allgemeine Relat ivierung
Die einheitliche Identität des Menschen wird durch die kritische Vernunft
zerstört. Das Hinterfragen der Existenz führt dazu, dass sich der Mensch
nach Paz otro (Savater, 1985: 184), d.h. von sich selbst fremd fühlt.
Octavio Paz beschreibt dies wie folgt: La identidad no existe o se
esconde, es oscura (ebd.: 182). Der vernunftbegabte Mensch sehnt sich
zwar nach Einheit und Identität, findet jedoch lediglich die Analogie, die
auf Andersheit und Widerspruch basiert (Paz, 1974: 48). In der Analogie
ist etwas immer wie etwas, es ist nie mit etwas anderem identisch (ebd.:
107f.). Somit gelangt der Mensch bestenfalls zu einer Illusion von Identität
(ebd.: 108). Paz nennt darauf aufbauend eine Form von Tradition, die, bis
dato noch nie dagewesen, allen modernen Strömungen gemeinsam ist:
die tradición de la ruptura (ebd.: 15). Die Sehnsucht nach Veränderung
und Neuem, die negación del pasado y [ ] afirmación de algo distinto
(ebd.: 18), ist gewissermaßen eine estética de la sorpresa (ebd.) und nur
infolge des kritischen Bewusstseins und einer sich verändernden
Zeitkonzeption, die der Gegenwart höchste Priorität verleiht und kein
Leben nach dem T od kennt, realisierbar.
Der Verlust des Absoluten wird in den unterschiedlichsten
Bereichen jener modernen Welt bemerkbar.
9
Die Sicht der Dinge
relativiert
10
sich tendenziell, und der Anspruch universalistischer
Deutungsmodell e tritt in den Hintergrund. Die Dichtung bzw. die Kunst und
9
Die Relativitätstheorie von Albert Einstein beispielsweise revolutioniert 1905 bzw. 1916
nicht nur die Physik. Die bisher als absolut aufgefassten Messungen der Zeit, des
Raumes und der Masse werden relativ (Gipper, 1972: 1f).
10
Relativ soll aufgefasst werden wie in Bezug zu oder bezüglich . Es bedeutet nicht,
dass es keine stabilen Größen gibt (Gipper, 1972: 2).

14
die Ästhetik im Allgemeinen lösen sich von der Religion, von der sie bis
dahin meist geprägt gewesen waren, und sind seit der Moderne autonome
Größen: Lo poético, lo artístico y lo bello se convirtieron en valores en sí
y sin referencia a otros valores (ebd.: 54). Andererseits entstehen auch
radikale kollektive Identitäten, die dem Subjekt neue Identifikations-
möglichkeiten bieten. Dies zeigt sich beispielsweise später auf politischer
Ebene im Nationalismus
oder im Faschismus.

15
3. Eine moderne Identitätstheorie
3.1. Möglichkeiten zur Analyse von Identität
Die unterschiedlichen Möglichkeiten, mit denen man die Identität eines
Subjektes untersuchen kann, verdeutlichen bereits, wie weit der Begriff
Identität gefasst werden kann. Zudem vervielfachen sich in der Moderne
die Möglichkeiten des Subjekts, Identitäten anzunehmen. Wie in Kapitel
2.2. gezeigt, steht das moderne Subjekt erstmals in der europäischen
Geschichte vor der Aufgabe, eine von seinen je eigenen Überzeugungen
geleitete und auf seine eigenen Bedürfnissen zugeschnittene Identitäts-
arbeit zu leisten. Durch die Spaltung des Subjekts entstehen
verschiedene, auch sich überschneidende Teilbereiche der menschlichen
Identität, welchen das Subjekt gerecht werden darf und muss. Die
neugewonnene Freiheit ist zugleich Zwang.
Um die Identität eines Subjekts zu analysieren, stellt P.V. Zima in
seiner Theorie des Subjekts (2007²) vier Perspektiven bzw.
Identitätsdiskurse vor: Philosophie, Soziologie, Psychologie sowie Sprach-
und Literaturwissenschaft. Es lässt sich außerdem zwischen individueller
und kollektiver Identität unterscheiden. Während bei der individuellen
Identitätskonstruktion die körperliche Existenz erster Bezugspunkt für
Autonomiebestreben und Selbstwahrnehmung ist, entsteht kollektive
Identität in der Gemeinschaft auf sozialer, regionaler (Landwehr/
Stockhorst, 2004: 197), idiomatischer (Kresic, 2006: 254) und
konfessionell-religiöser Ebene. Für beide Identitätsformen ist das Handel n,
der Sprechakt eingeschlossen, konstitutiv, wobei die Reflexion darüber
individuell bzw. im gemeinschaftlichen Kontext erfolgt. Die Reaktionen der
Anderen dienen als Orientierung (Landwehr/Stockhorst, 2004: 197). Das
Handeln eines einzelnen Subjekts beeinflusst kollektive Identitäts-
konstruktionen genauso wie letztere ihre einzelnen Mitglieder innerhalb
einer wechselseitigen Beziehung.

16
3.2. Individuum, Subjekt und Identität
P. V. Zima unterscheidet zwischen Individuum, Subjekt und Identität.
Während er mit Individuum die soziale[] Physis und Potentialität (Zima,
2007²: 21), also die bloße körperliche Existenz meint, definiert er das
Subjekt als soziale Psyche bzw. Verwirklichung dieser Potentialität im
Sprechen und Handeln (ebd.).
11
Das Produkt, welches innerhalb dieses
subjektiven narrativen Programms entsteht, bezeichnet Zima als
Identität . Sie ist eine aktive Konstruktion des Subjekts: Identität ist das
Objekt des fühlenden, denkenden, sprechenden und handelnden Subjekt-
Aktanten (ebd.: 24). Das Produkt Identität entsteht aus Sprache und
Handlung und weist das Subjekt als solches aus.
Das Subjekt konstituiert sich im sozio-linguistischen Diskurs, indem
es Diskurse übernimmt oder sich aktiv mit ihnen auseinandersetzt bzw.
von ihnen abgrenzt: Es entscheidet sich in diesen Kommunikations-
situationen für oder gegen bestimmte semantische Relevanzkriterien,
Klassifikationen und Definitionen (ebd.: 15), wobei dieser Ausdruck von
Alterität
12
von anderen anerkannt sein muss (Habermas, 1974: 27). Es
entsteht eine Wechselbeziehung zwischen Identität und Alterität, eine
Dialektik von Selbst- und Fremdbestimmung (Landwehr/Stockhorst,
2004: 195f.). Die Sprache ist daher die Grundlage des Ich : Die
intersubjektive Erhaltung der Ich-Identität ist die Ursprungserfahrung der
Dialektik und »Ich« der dialektische Urbegriff (Habermas, 1974: 46).
Sprache ermöglicht Selbstwahrnehmung und Selbstbewusstsein und die
Situierung des Selbst auf jeder Diskursebene, von der gesellschaftlichen
über die philosophische bis hin zur zeitlichen: Mit Hilfe der Sprache sind
Zeitsprünge zur Bewertung von Ver gangenem und zur Vorwegnahme von
Zukünftigem möglich (Schiller, 2006: 17). Sprache dient außerdem der
11
Er führt das Beispiel des noch unmündigen Kleinkindes an, welches noch keine
Möglichkeit hat, sich auszudrücken und Bedürfnisse zu äußern, und daher als Individuum
bezeichnet wird (Zima, 2007²: 20). Mit der Adaption an Kultur und dem Erlernen der
Muttersprache wird es dann zu einem bewusst handelnden Subjekt.
12
Alterität wird verstanden als das Andere , mit dem sich das Subjekt nicht identifiziert
bzw. von dem es sich abgrenzt (Landwehr/Stockhorst, 2004: 195).

17
Verbalisierung und somit dem Begreifen der Außenwelt und der
Konzeptuali sierung derselben in für das Subjekt sinnvoll erscheinende
Kategorien: Subjekte konstruieren ihre Wirklichkeitsmodelle [ ] auf der
Grundlage intersubjektiver, insbesonder e sprachlich geleisteter Koorien-
tierung selbst (Kresic, 2006: 249). Im Zusammenhang mit sozialer
Interaktion rezipiert und bewertet das Subjekt fremde Identitäten, es
demonstriert seine eigene Identität vor anderen (verbal und/ oder
handelnd) und es demonstriert, ebenfalls auf diese Weise, Zugehörigkeit
zu oder Abgrenzung von anderen Aktanten.
13
Dabei ist Sprache die
Grundlage für geteilte Lebensformen und Wirklichkeiten (ebd.: 254). Das
Subjekt verschafft sich so eine Existenzberechtigung und legt seinem
Dasein einen Sinn zugrunde. Es kann nur in diesem Kommunikations-
zusammenhang verstanden werden. Allerdings besteht die Gefahr, dass
seine Subjektivität nicht nur konstituiert, sondern auch von Aktanten
ausgelöscht wird (Zima, 2007²: 11f), wie es beispielsweise ein repressives
politisches System tut. Am Beispiel des kollektiven Aktanten Nation lässt
sich erkennen, auf wie vielen unterschiedlichen Ebenen ein einzelner, sich
unter Umständen wandelnder Aktant Identität konstituiert: geographisch,
historisch, kulturell und sprachlich (ebd.: 15). Das Subjekt ist zu Beginn
seines Lebens gesellschaftlich und sprachlich determiniert (ebd.), da es
sich nicht aussuchen kann, unt er welchen Bedingungen es aufwächst.
3.3. Identitätskonstruktion zwischen Autonomie und Determinierung
Wie in Kapitel 2.1. beschrieben wird, entsteht die Identität des Menschen
innerhalb seines kulturellen Zusammenhangs. In diesem soll nun
differenzierter dargelegt werden, welche Faktoren determinierend wirken
13
Diese können individuell, kollektiv (Nation, Gruppe, Organisation, Bewegung), abstrakt
(Staat) und mythisch (Geist, Geschichte, Schicksal, Proletariat) sein.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Erscheinungsjahr
2009
ISBN (eBook)
9783836635868
Dateigröße
879 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn – Philosophische Fakultät, Vergleichende Literaturwissenschaft
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
1,3
Schlagworte
literatur identität europa frankreich spanien
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Titel: Der Verlust des Absoluten. Existenzielle Identitätssuche in der europäischen Literatur um 1900
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