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Handlungsorientiertes Erschließen der Größen Gramm und Kilogramm im dritten Schuljahr

©2003 Examensarbeit 83 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Als Begründung für die Auswahl des Themas ‘Handlungsorientiertes Erschließen der Größen Gramm und Kilogramm im dritten Schuljahr’ möchte ich zu allererst die Beobachtung anführen, dass sich meine Schüler besonders in Unterrichtsphasen, die durch Handlungsorientierung geprägt sind, sehr motiviert zeigen und das Unterrichtsgeschehen aktiv mitgestalten. Außerdem stelle ich immer wieder ein erhöhtes Maß an Selbständigkeit fest, wenn bei der Gruppenarbeit als eine mögliche Organisationsform der handlungsorientierten Arbeit nach richtigen Antworten bzw. nach Lösungen und Lösungswegen gesucht wird. Besonders das Nachfragen, das Diskutieren, das Hinweisen auf Fehler und das Klären von Missverständnissen läuft oft eigenständig und ungezwungen zwischen den Gruppenmitgliedern ab. Eindrucksvoll ließ sich dieses Verhalten in meiner Klasse bisher vor allem bei den Themen Längen und Geldwerte sowie bei geometrischen Themen beobachten. Ich möchte mich im Rahmen dieser Hausarbeit mit einem Thema befassen, das sich der Handlungsorientierung als Unterrichtsprinzip annimmt.
Die vorgesehene Erschließung der Größen Gramm und Kilogramm lässt die Rufe nach einer handlungsorientierten Aufbereitung laut werden. Denn Kinder müssen Gewichte aktiv erfahren, um eine Größenvorstellung aufbauen zu können, bevor sie dann auf der abstrakten, symbolischen Ebene mit Gewichtsgrößen rechnen. Die Schüler müssen die Begriffe ‘Gramm’ und ‘Kilogramm’ mit konkreten Inhalten verbinden können. So können sie im Vorfeld zu einer Aufgabe ein Ergebnis grob abschätzen bzw. im Nachhinein den Sinn oder Unsinn eines berechneten Ergebnisses besser einschätzen. Ich verspreche mir vom ausgewählten Gewichtsgrößenbereich vielfältige Ansatzpunkte für ein handlungsorientiertes Arbeiten.
Mein Interesse gilt dabei der Leitfrage, wie ein handlungsorientiertes Erschließen des oben genannten Größenbereiches im Unterricht verwirklicht werden kann.
Für die Beantwortung dieser Leitfrage stellt sich mir zunächst die Aufgabe, die Legitimation für eine Handlungsorientierung im Unterricht näher zu erläutern und auf das Verhältnis zwischen Handlungsorientierung und Lerneffizienz einzugehen.
Um die Leitfrage ausreichend beantworten zu können, beschäftige ich mich im theoretischen Teil mit grundlegenden Aspekten der Handlungsorientierung und gehe nach dem Versuch einer Begriffsdefinition der Frage nach, warum eine Handlungsorientierung des Unterrichts für Kinder im Grundschulalter wichtig […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


G. Stäbe
Handlungsorientiertes Erschließen der Größen Gramm und Kilogramm im dritten
Schuljahr
ISBN: 978-3-8366-1952-3
Druck Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2008
Zugl. Hochschule Vechta, Vechta, Deutschland, Staatsexamensarbeit, 2003
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2008
Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Handlungsorientiertes Lernen im Grundschulalter
2.1 Handlungsorientierung ­ Eine Begriffsbestimmung
2.2 Begründungen für eine Handlungsorientierung im Unterricht unter ent-
wicklungspsychologischen Aspekten
2.2.1 Das Stadienmodell von Jean Piaget
2.2.2 Die Modifikation der Stadientheorie durch Aebli
2.2.3 Die Modifikation der Stadientheorie durch Bruner
2.3 Lernpsychologische, lernbiologische und motivationspsychologische Be-
funde in Bezug auf eine Handlungsorientierung
2.3.1 Lernen mit vielen Sinnen innerhalb einer Handlungsorientierung
2.3.2 Handlungsorientierung und ihre Auswirkung auf das Gedächtnis
2.3.3 Motivation durch Handlungsmöglichkeiten
2.4 Sozialisationstheoretische Begründungen für eine Handlungsorientie-
rung im Unterricht unter dem Aspekt einer ,,veränderten Kindheit"
2.4.1 Demographische und gesellschaftliche Beobachtungen
2.4.2 Handlungsarmut in der heutigen ,,Medienkindheit"
2.5 Die Rolle des Lehrers im handlungsorientierten Unterricht
2.6
Schlussfolgerungen für einen handlungsorientierten Mathematikunterricht
3. Unterrichtspraktischer Teil
3.1 Überblick zur Unterrichtseinheit (7 h) mit Angabe der Groblernziele
3.2 Lernvoraussetzungen
3.3 Sachanalyse
3.4 Didaktische Begründung
3.5 Darstellung ausgewählter Stunden der Unterrichtseinheit
3.5.1 Wir wiegen mit Gewichtsstücken und fertigen ein Gewichtsplakat an
3.5.1.1 Lernziele
3.5.1.2 Medien und Arbeitsmittel
3.5.1.3 Methodische Begründung
3.5.1.4 Verlaufsplanung
3.5.1.5 Reflexion
3.5.2 Wir wiegen Zutaten mit Küchenwaagen und stellen einen Keksteig
her
3.5.2.1 Lernziele
3.5.2.2 Medien und Arbeitsmittel
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3.5.2.3 Hinweis zur Organisation
3.5.2.4 Methodische Begründung
3.5.2.5 Verlaufsplanung
3.5.2.6 Reflexion
3.5.3 ,,Wer darf den Fahrstuhl benutzen?" - Wir ermitteln Gewichte in Kilo-
gramm
3.5.3.1 Lernziele
3.5.3.2 Medien und Arbeitsmittel
3.5.3.3 Stundenrelevante didaktische Ergänzungen
3.5.3.4 Methodische Begründung
3.5.3.5 Verlaufsplanung
3.5.3.6 Reflexion
3.5.4 Wir lernen an Stationen (1. von 2 Stunden)
3.5.4.1 Lernziele
3.5.4.2 Medien und Arbeitsmittel
3.5.4.3 Stundenrelevante didaktische Ergänzungen
3.5.4.4 Methodische Begründung
3.5.4.5 Verlaufsplanung
3.5.4.6 Übersicht zum Stationenangebot: Inhaltliche und methodisch-
didaktische Darstellung unter fachspezifischen Gesichtspunkten
3.5.4.7 Reflexion
4. Gesamtreflexion
5. Verwendete Literatur
6. Anhangsverzeichnis und Anhang
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3
1. Einleitung
Als Begründung für die Auswahl des Themas ,,Handlungsorientiertes Erschließen
der Größen Gramm und Kilogramm im dritten Schuljahr" möchte ich zu allererst die
Beobachtung anführen, dass sich meine Schüler
1
besonders in Unterrichtsphasen,
die durch Handlungsorientierung geprägt sind, sehr motiviert zeigen und das Un-
terrichtsgeschehen aktiv mitgestalten. Außerdem stelle ich immer wieder ein er-
höhtes Maß an Selbständigkeit fest, wenn bei der Gruppenarbeit als eine mögliche
Organisationsform der handlungsorientierten Arbeit nach richtigen Antworten bzw.
nach Lösungen und Lösungswegen gesucht wird. Besonders das Nachfragen, das
Diskutieren, das Hinweisen auf Fehler und das Klären von Missverständnissen
läuft oft eigenständig und ungezwungen zwischen den Gruppenmitgliedern ab.
Eindrucksvoll ließ sich dieses Verhalten in meiner Klasse bisher vor allem bei den
Themen Längen und Geldwerte sowie bei geometrischen Themen beobachten. Ich
möchte mich im Rahmen dieser Hausarbeit mit einem Thema befassen, das sich
der Handlungsorientierung als Unterrichtsprinzip annimmt.
Die vorgesehene Erschließung der Größen
2
Gramm und Kilogramm lässt die Rufe
nach einer handlungsorientierten Aufbereitung laut werden. Denn Kinder müssen
Gewichte aktiv erfahren, um eine Größenvorstellung aufbauen zu können, bevor
sie dann auf der abstrakten, symbolischen Ebene mit Gewichtsgrößen rechnen.
Die Schüler müssen die Begriffe ,,Gramm" und ,,Kilogramm" mit konkreten Inhalten
verbinden können. So können sie im Vorfeld zu einer Aufgabe ein Ergebnis grob
abschätzen bzw. im Nachhinein den Sinn oder Unsinn eines berechneten Er-
gebnisses besser einschätzen. Ich verspreche mir vom ausgewählten Gewichts-
größenbereich vielfältige Ansatzpunkte für ein handlungsorientiertes Arbeiten.
Mein Interesse gilt dabei der Leitfrage, wie ein handlungsorientiertes Erschließen
des oben genannten Größenbereiches im Unterricht verwirklicht werden kann.
Für die Beantwortung dieser Leitfrage stellt sich mir zunächst die Aufgabe, die
Legitimation für eine Handlungsorientierung im Unterricht näher zu erläutern und
auf das Verhältnis zwischen Handlungsorientierung und Lerneffizienz einzugehen.
Um die Leitfrage ausreichend beantworten zu können, beschäftige ich mich im
theoretischen Teil mit grundlegenden Aspekten der Handlungsorientierung und
gehe nach dem Versuch einer Begriffsdefinition der Frage nach, warum eine Hand-
lungsorientierung des Unterrichts für Kinder im Grundschulalter wichtig ist. Insbe-
sondere gehe ich dabei auf psychologische, lernbiologische sowie auf demogra-
phische Erkenntnisse ein.
1
Im Hinblick auf einen besseren Redefluss verwende ich hier und im Folgenden zumeist maskuline
Formen als Oberbegriff.
2
besser: Maßeinheiten

4
Den inhaltlichen Schwerpunkt dieser Hausarbeit sehe ich in der Bewältigung der
Aufgabe, von den im theoretischen Teil gewonnenen Erkenntnissen zu einer prak-
tischen Umsetzung zu gelangen. Im praktischen Teil der Hausarbeit berichte ich
von einer Realisierung der theoretischen Überlegungen und der Durchführung ei-
ner Unterrichtseinheit.
Vier ausgewählte Unterrichtsstunden der Einheit werden ausführlich dokumentiert
und reflektiert. In einer dieser Stunden versuche ich der Forderung von Hilbert
MEYER nachzukommen und die Herstellung eines Handlungsproduktes ,,mit ei-
nem sinnvollen Gebrauchswert"
3
anzustreben.
Den Abschluss dieser Arbeit bildet die Gesamtreflexion. Hier werde ich zur Leit-
frage und ihren untergeordneten Teilfragen Stellung beziehen und meine gewon-
nenen Einsichten darlegen.
Die Diskussion um die Ergebnisse der PISA-Studie soll bei der Konzeption der
Unterrichtseinheit nicht unberücksichtigt bleiben. Wie die Gesellschaft für Didaktik
der Mathematik (GDM) in ihrer Pressemitteilung vom 05.12.2001 postuliert, sollte
als Konsequenz auf das durchschnittliche Abschneiden der 15-jährigen Schüler im
Fach Mathematik stärker als zuvor darauf geachtet werden, dass Kinder ,,selb-
ständig und selbsttätig [...] lernen, sich aktiv mit Problemen auseinander [...]
setzen und Lösungen selbst [...] finden". Dabei muss an das Vorwissen der Schü-
ler angeknüpft werden.
4
Handlungsorientierter Unterricht kann diesem Anspruch
der GDM Rechnung tragen, denke ich.
Der Zeitpunkt, den ich für die Erschließung des Größenbereiches nutze, steht so-
wohl im Einklang mit den niedersächsischen Rahmenrichtlinien als auch mit dem
eingeführten Schulbuch und dem schuleigenen Lehrplan.
Zum formalen Aufbau dieser Arbeit sei gesagt, dass Seitenanzahl, Seitenforma-
tierung, Zeilenabstand und Schriftgröße den Vorgaben des Studienseminars ent-
sprechen.
3
Meyer (1996), S. 344
4
vgl. Gesellschaft für Didaktik der Mathematik (online)

5
2. Handlungsorientiertes Lernen im Grundschulalter
2.1 Handlungsorientierung - Eine Begriffsbestimmung
,,Handlungsorientierung als Unterrichtsmerkmal meint das Bemühen, den Schülern
einen handelnden Umgang mit den Lerngegenständen und -inhalten des Unter-
richts zu ermöglichen".
5
Dabei kann der Begriff der Handlung nach AEBLI definiert
werden als ,,zielgerichteter, in seinem inneren Aufbau verstandener Vollzug."
6
Aus-
gangspunkt einer handlungsorientierten Erschließung ist somit immer ein prakti-
scher, handelnder Umgang mit konkretem Material, um Einsichten und Erkenntnis-
se gewinnen zu können. Bestrebungen nach einem handlungsorientierten Lernen
sieht GUDJONS bereits an den Industrieschulen des 18. Jahrhunderts gegeben
und verweist unter anderem auf die von J. H. PESTALOZZI formulierte Forderung
nach einem Lernen mit ,,Kopf, Herz und Hand".
7
POLLAK verbindet mit dem Begriff der Handlungsorientierung vor allem Einflüsse
der Reformpädagogen DEWEY, KERSCHENSTEINER und MONTESSORI. ,,Ge-
genwärtig wird die Handlungsorientierung im Zusammenhang mit freien und offe-
nen Unterrichtsformen und vor allem [...] (mit) dem Projektunterricht gefordert."
8
Eine Klärung des Begriffes ,,handlungsorientierter Unterricht" nehme ich gesondert
vor, weil dieser Ausdruck in der Literatur auf sehr unterschiedliche Weise benutzt
wird und je nach Autor stets eine Begriffsklärung aus dem jeweiligen Kontext her-
aus erfolgen muss.
9
Hilbert MEYER macht handlungsorientierten Unterricht von drei sehr anspruchs-
vollen Kriterien abhängig, die zumindest ansatzweise erfüllt sein müssen. Als ers-
tes Kriterium führt er das aktive Tun mit allen Sinnen auf, bei dem Handlungspro-
dukte mit einem ,,sinnvollen Gebrauchswert" entstehen können. Zweitens muss
eine Mitbeteiligung der Schüler an der Gestaltung des Handlungsprozesses vorlie-
gen. Und drittens sollten außerschulische Lernorte aufgesucht werden ,,um mit den
Handlungsergebnissen in reale gesellschaftliche Entwicklungen einzugreifen".
10
MEYER selbst weist jedoch auf die Schwierigkeit einer Umsetzung hin, denn mit
einer Verwirklichung aller drei Kriterien sei die ,,Quadratur des Kreises" erreicht.
11
GUDJONS fasst handlungsorientierten Unterricht zunächst als Sammelnamen für
verschiedene Unterrichtsmethoden auf, wie sie z. B. auch im Offenen Unterricht
5
Reinhold u.a. (Hrsg., 1999), S. 225
6
Aebli, Hans (1983): Zwölf Grundformen des Lehrens. Stuttgart: Klett-Cotta. S. 182. Zitiert aus:
Gudjons (1997), S. 45.
7
vgl. Gudjons (1997), S. 22
8
Reinhold u.a. (Hrsg., 1999), S. 225
9
Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass auch der Begriff ,,Handlung" vielfach auslegbar ist
(vgl. z. B. Wöll [1998], S. 63 f.).
10
Meyer (1993), S. 211
11
vgl. Meyer (1993), S. 212

6
oder beim entdeckenden Lernen zu finden sind. Der gemeinsame Kern dieser Me-
thoden sei ,,die eigentätige, viele Sinne umfassende Auseinandersetzung und akti-
ve Aneignung eines Lerngegenstandes."
12
In dieser Hausarbeit wird mit dem Begriff ,,Handlungsorientierung" allgemein die
Absicht verstanden, den Kindern ein (lern-)zielgerichtetes Handeln mit konkretem
Material zu ermöglichen. Ein ,,handelndes Lernen" soll stattfinden.
Darauf bezugnehmend ist mit ,,handlungsorientierter Unterricht" ein Unterricht ge-
meint, in dessen Rahmen die Handlungsorientierung realisiert werden soll.
2.2 Begründungen für eine Handlungsorientierung im Unterricht unter ent-
wicklungspsychologischen Aspekten
2.2.1 Das Stadienmodell von Jean Piaget
Der Stadientheorie PIAGETs zufolge durchlaufen Kinder im Laufe ihrer kognitiven
Entwicklung verschiedene Stadien (auch: Stufen), die durch ,,ganz spezifische For-
men der inneren Organisation charakterisiert"
13
sind.
Die Stadien werden sequentiell, also in einer festen Reihenfolge durchlaufen. Der
Übergang in ein höheres Stadium ist immer mit der Umorganisation von alten
Schemata verbunden,
14
wobei ein Schema nach WITTMANN als ein ,,Operations-,
Denk- oder Erklärungsmuster, das in die kognitive Gesamtorganisation des Indivi-
duums integriert ist und die Aktivitäten [...] steuert"
15
verstanden werden kann.
Kinder im Vorschulalter (ca. 2 - 6 Jahre) befinden sich PIAGETs Theorie zufolge im
,,präoperatorischen Stadium",
16
auf der Stufe des ,,voroperatorischen Denkens".
17
Innerhalb dieses Stadiums sind Kinder ,,stark an konkrete Handlungen und unmit-
telbare Anschauungen gebunden".
18
Sie können drei unterschiedlich große Puppen
handelnd, d. h. durch konkretes Ausprobieren verschiedener Anordnungen, der
Größe nach sortieren, haben aber Schwierigkeiten damit, rein gedanklich unter-
schiedlich lange Streifen zu ordnen.
19
Für das darauf folgende Stadium der ,,konkreten Operation" gibt PIAGET als grobe
Alterseinteilung das siebente bis elfte Lebensjahr an, so dass dieses Stadium für
den Grundschulbereich von besonderer Bedeutung ist. Die Kinder in diesem Stadi-
12
Gudjons (1997), S. 10
13
Lauter (1997), S. 15
14
vgl. Lauter (1997), S. 15
15
Wittmann, Erich (1974): Grundfragen des Mathematikunterrichts. Braunschweig: Vieweg. S. 52.
Zitiert aus: Lauter (1997), S. 14.
16
Zech (1998), S. 89
17
Flammer (1999), S. 127. Hier wird die Stufe des voroperatorischen Denkens in die Stufe des
symbolischen Denkens (2.-4. Jahr) und anschaulichen Denkens (4.-7. Jahr) aufgeteilt.
18
Zech, (1998), S. 89
19
vgl. Zech (1998), S. 90

7
um erkennen Massen-, Mengen- und Volumeninvarianzen
20
und können Denk-
handlungen umkehren.
21
Auch das gedankliche Ordnen unterschiedlich langer Stri-
che ist ihnen möglich, da sie nun eine Kompositionsfähigkeit besitzen. Solch rever-
sible und kompositionsfähige Denkhandlungen definiert PIAGET als mathemati-
sche Operationen.
22
Doch obgleich sich die kindliche Denkleistung innerhalb dieses Stadium durch eine
größere Beweglichkeit auszeichnet, ist das Denken trotzdem ,,immer noch an die
konkrete Vorstellung gebunden (d. h. an die unmittelbare Anschauung oder zuvor
gemachte Erfahrungen) [...]".
23
Erst mit ca. 11 Jahren ist Piaget zufolge davon auszugehen, dass das Kind mit
dem Durchlaufen des Stadiums der formalen Operationen beginnt. Rein formale
Schlussfolgrungen können allmählich gezogen werden.
24
Eine Aufgabe vom Typ
,,Hans ist größer als Heinz, Hans ist kleiner als Horst. Wer ist der kleinste?"
25
ist
aus der gedanklichen Vorstellung heraus lösbar.
26
ZECH weist aber darauf hin,
dass dieselbe Aufgabe auch schon von Siebenjährigen gelöst werden könne.
Bedingung dafür ist das Vorhandensein von ,,konkretem Material", mit dem die Kin-
der handelnd umgehen können.
27
Eine erste, wichtige Begründung für eine Handlungsorientierung im Unterricht lässt
sich mit Hilfe von PIAGETs Phasentheorie demnach leicht finden: Kinder im
Grundschulalter sind noch an die konkrete Anschauung gebunden. Über den han-
delnden, zielgerichteten Umgang mit Material können sie konkrete Anschauungen
gewinnen.
2.2.2 Die Modifikation der Stadientheorie durch Aebli
AEBLI knüpft mit seinen Theorien an die von Piaget an. Auch er geht davon aus,
dass das abstrakte Denken aus dem konkreten Handeln hervorgeht.
28
Doch wäh-
rend Piaget das Erreichen der verschiedenen Stadien durch weitgehend konstante,
unveränderliche Faktoren wie die biologische Reifung bestimmt sieht, vertritt
AEBLI die Überzeugung, dass Erziehungsbedingungen maßgeblich Einfluss auf
den zeitlichen Eintritt in ein Stadium haben. Demnach ist weniger das Lebensalter,
20
vgl. Flammer (1999), S. 127 f.
21
vgl. Zech (1998), S. 91
22
vgl. Zech (1998), S. 91
23
Zech (1998), S. 91
24
vgl. Zech (1998), S. 91 f.
25
Zech (1998), S. 91
26
vgl. Zech (1998), S. 91
27
vgl. Zech (1998), S. 91
28
vgl. Gudjons (1997), S. 45 f.

8
sondern Faktoren wie Anschaulichkeit, Motivation und handelndes Lernen aus-
schlaggebend für den Prozess der Denkentwicklung.
29
Am Anfang des ,,Aufbaus einer Operation im Unterricht"
30
steht bei AEBLI immer
der ,,effektive Vollzug am konkreten Gegenstand".
31
Die zweite Stufe besteht in der
bildlichen Darstellung, bevor als drittes ein symbolisches Operieren stattfindet.
Wichtig ist, dass der Schüler immer wieder zum Nachdenken über sein Handeln
gebracht wird, da sich dies unterstützend für die ,,Verinnerlichung einer Operation"
auswirkt.
32
Daher ist auf den Unterricht bezogen eine vorausgehende und eine
nachträgliche ,,Verbalisierung der Handlungen"
33
durch den Schüler zu empfehlen.
2.2.3 Die Modifikation der Stadientheorie durch Bruner
Auch BRUNER beruft sich auf PIAGET und geht von sequentiell angeordneten
Phasen aus. Wie AEBLI sieht auch er in der Handlung eine wichtige Voraus-
setzung für die Denkentwicklung gegeben.
34
Noch stärker als AEBLI schreibt
BRUNER ebenso dem Einfluss der Sprache eine zentrale Rolle zu.
35
BRUNER unterscheidet drei Repräsentationsebenen, die ,,in starker Wechselbe-
ziehung"
36
zueinander stehen. Wird ein Sachverhalt durch eigene Handlungen mit
konkretem Material aufgenommen, so findet eine Erschließung auf der enaktiven
Ebene statt. Das Erfassen von Sachverhalten über bildliche Darstellungen be-
zeichnet er als ikonisch, die Aufnahme über verbale Mitteilungen oder über Zei-
chen des Zeichensystems als symbolisch.
Im Laufe der Entwicklung stehen immer
alle drei Ebenen für eine Erschließung der Umwelt zur Verfügung, dominierend ist
zunächst jedoch die enaktive Ebene, im weiteren Verlauf dann die ikonische und
zuletzt die symbolische Ebene.
37
Für die Denkentwicklung von zentraler Bedeutung ist nach BRUNER die
Herstellung von Übergängen zwischen den Ebenen. Daher ist es für die Denk-
entwicklung förderlich, eine Handlung nicht isoliert vollziehen zu lassen, sondern
sie mit den anderen Ebenen zu verknüpfen, indem beispielsweise auf eine ver-
sprachlichte Anweisung hin eine Handlung ausgeführt oder indem eine Handlung
vom Handelnden retrospektiv verbalisiert oder ikonisiert wird.
38
29
vgl. Zech (1998), S. 93 (Hervorhebungen im Original nicht vorhanden)
30
Zech (1998), S. 93
31
Aebli, Hans (1961): Grundformen des Lehrens. Stuttgart: Klett. S. 102. Zitiert aus: Zech (1998),
S. 95.
32
vgl. Zech (1998), S. 95
33
Zech (1998), S. 95
34
vgl. Lauter (1997), S. 21
35
vgl. Lauter (1997), S. 21
36
Zech (1998), S. 104
37
vgl. Zech (1998), S. 104
38
vgl. Zech (1998), S. 105 f.

9
2.3 Lernpsychologische, lernbiologische und motivationspsychologische Be-
funde in Bezug auf eine Handlungsorientierung
2.3.1 Lernen mit vielen Sinnen innerhalb einer Handlungsorientierung
Maria MONTESSORIs Forderung nach einem ,,Lernen mit allen Sinnen" kann zwar
nicht immer entsprochen werden, aber dennoch sollte Unterricht im Allgemeinen
und der handlungsorientierte Unterricht im Speziellen ein Lernen über möglichst
viele Sinne ermöglichen.
Es kann durch die Deprivationsforschung als erwiesen betrachtet werden, dass
reizarme Situationen ,,zur Herabsetzung der psychischen Aktivität, zu Antriebs-
mangel, Konzentrationsausfällen und Ermüdung führen".
39
Andererseits wurde
nachweislich festgestellt, dass eine Stimulierung der Gehirnregion ,,Formatio reti-
culares" durch z. B. ,,Tast-, Geruchs-, Geschmacks-, Gehör- und Sichtreize ganz
entscheidend die Aktivierungslage auch des Großhirns und die freigestellte
Energie"
40
bestimmt. Ermüdungserscheinungen können somit auf Reizarmut, aber
ebenso auf Reizüberflutung zurückgeführt werden. Daher zieht GUDJONS die
pädagogische Konsequenz, mehrkanaliges Lernen zu ermöglichen, Handlungs-
orientierung jedoch nicht mit permanenter Aktion und Reizüberflutung zu verwech-
seln.
Als zweite Begründung für das Ansprechen vieler Sinne im handlungsorientierten
Unterricht sei angeführt, dass die Reizaufnahme über verschiedene Sinneskanäle
bzw. die Reizverarbeitung durch Gehirn und Nervensystem ,,trainiert" werden
muss. Aus Untersuchungen zieht MÖLLER den Schluss, dass: ,, [...] während des
gesamten Lebens bestimmte Strukturen im Gehirn sich bei Nichtgebrauch
zurückbilden, bei Stimulation dagegen regenerieren."
41
,,Sensorische und moto-
rische Aktivierungen" müssen daher im Unterricht ermöglicht werden."
42
Als dritter Punkt darf nicht vergessen werden, dass das System der Sinneskanäle
von Mensch zu Mensch verschieden ausgeprägt ist. VESTER spricht von unter-
schiedlichen Lerntypen. Der ,,visuelle Sehtyp" in der Modellvorstellung lernt am
besten über seinen visuellen Einganskanal, während beim ,,haptischen Fühltyp"
Tätigkeiten wie Anfassen, Tasten, Greifen und Hantieren zum optimalen Lernerfolg
führen. In der Realität sollte davon ausgegangen werden, dass Lerntypen stets als
Mischformen auftreten.
43
39
Gudjons (1997), S. 54
40
Gudjons (1997), S. 54
41
Möller, Kornelia (1987): Lernen durch Tun. F. a. M.: Lang. S. 126. Zitiert aus: Gudjons (1997),
S. 55.
42
vgl. Gudjons (1997), S. 55
43
vgl. Vester (1998), S. 120 f.

10
2.3.2 Handlungsorientierung und ihre Auswirkung auf das Gedächtnis
Für BESUDEN kann die Bedeutung des aktiven Handelns offensichtlich gar nicht
deutlich
genug herausgestellt werden. Sowohl das Vorwort als auch das Inhaltsver-
aus: Besuden (1996)
44
zeichnis seiner praxisbezogenen ,,Ar-
beitsmappe" für den grundschuli-
schen Unterricht wurden von Seite 1
durch nebenstehende Übersicht ver-
drängt.
Im Wesentlichen decken sich die hier
prozentual angegebenen Werte mit
den Ergebnissen einer Untersuchung
der ,,American Audiovisuell Society".
,,Danach behalten wir 20% von dem,
was wir hören, 30% von dem, was
wir sehen, 80% von dem, was wir
selber formulieren können und 90%
von dem, was wir selber tun.
45
Die Erklärung für diese Erkenntnis
steht in engem Zusammenhang zum
vorangegangenen Gliederungspunkt
und ergänzt selbigen sogar noch.
,,Handlungsintensives Lernen" ist för-
derlich für eine ,,multidimensionale Kodierung von Informationen" im Gehirn. Weil
mehrere Sinnesorgane an der Erschließung beteiligt sind, entsteht ein
,,Mitschwingen" verschiedener Gehirnregionen, und ein ,,Netz bedeutungshaltiger
Assoziationen" bildet sich, wodurch die Speicherung und das spätere Abrufen der
gewonnen Information im Gehirn begünstigt wird.
46
Die Erklärung könnte darin zu finden sein, dass die Information in beiden Gehirn-
hälften abgespeichert wird - bildhaft in der rechten, ,,verbalbedeutungsgemäß" in
der linken Hälfte.
47
Auch die beim Handeln eher beiläufig gewonnenen, aber als subjektiv bedeutsam
empfundenen Eindrücke können als Erklärung herangezogen werden: ,,Je mehr
Nebeninformationen als ,Hinweisreize' (z. B. in Form von lebendigen Vorstellungen
44
Die Seitenzahlen in Besudens Arbeitsmappe beginnen erst auf der darauf folgenden Seite.
45
Gudjons (1997), S. 55. Hervorhebungen nicht im Original vorhanden.
46
vgl. Gudjons (1997), S. 55. Siehe hierzu auch Vester (1998), S. 191, Überschrift ,,10. Viele Ein-
gangskanäle".
47
vgl. Gudjons (1997), S. 56

11
und persönlichen Erlebnissen) fungieren können, desto eher die Wahrscheinlich-
keit, dass etwas erinnert wird."
48
Die Gedächtnisleistung kann erhöht werden, wenn in Sinnzusammenhängen ge-
lernt wird. Neues Wissen muss sich an bereits erworbene ,,Bedeutungsstrukturen"
im Gehirn anlagern können. Sollen isolierte Wörter auswendig gelernt werden, bie-
tet sich die Einbettung in eine Geschichte an. Ein stupides Auswendiglernen würde
weniger Erfolg versprechend enden.
49
Auch die Handlung sollte deswegen in einem für den Schüler einsichtigen Kontext
stattfinden. Wie im Projektunterricht, so sollte auch im handlungsorientierten Re-
gelunterricht dem Schüler das Ziel seiner Handlung einsichtig und die Absicht sei-
ner Aktivität von persönlichem Interesse sein.
50
2.3.3 Motivation durch Handlungsmöglichkeiten
Meine im Vorwort geäußerte Beobachtung, dass sich Kinder in handlungsorien-
tierten Phasen besonders motiviert zeigen, wird niemanden überrascht haben.
Auch GUDJONS hält fest: ,,Wo Schüler etwas demontieren, herstellen, unter-
suchen (und) ausprobieren [...] können, wo sie unter Einbeziehung möglichst vieler
Sinne ,hantieren', wächst das Interesse, entsteht manchmal sogar Faszination."
51
Unterricht sollte den Kindern Spaß bereiten, aber natürlich kann der Spaßfaktor
allein nicht als Begründung für einen handlungsorientierten Unterricht herhalten.
Gewichtiger ist das Argument, dass die dabei entstehende Motivation zu einem
,,langfristigen Behalten" der Erkenntnisse führt und somit förderlich für den Lern-
prozess ist.
52
Der Umgang, das Hantieren und Anfassen mit konkreten Gegenständen reicht je-
doch nicht unbedingt aus, um Informationen sicher im Gedächtnis zu speichern.
Wichtig ist auch eine ,,innere Anteilnahme" am Geschehen, eine emotionale Beteili-
gung, welche aus Interesse hervorgeht oder diese erzeugt. Dafür ursächlich ist der
,,inzwischen gut erforschte Zusammenhang von Emotion und Kognition". Erachten
die Schüler eine Tätigkeit als sinnvoll und bedeutsam, erfahren die dabei stattfin-
denden Denkprozesse durch das so genannte ,,Limbische System" eine ,,emoti-
onale Tönung", und Informationen werden besser behalten.
53
48
Gudjons (1997), S. 56. Mathematisch korrekt müsste der Ausdruck ,,eher" durch ,,höher" ersetzt
werden.
49
vgl. Gudjons (1997), S. 56
50
vgl. Gudjons (1997), S. 56
51
Gudjons (1997), S. 58
52
vgl. Gudjons (1997), S. 58
53
vgl. Gudjons (1997), S. 58

12
,,Sinnhaftigkeit und Bedeutsamkeit sind [...] stark motivierende Kräfte".
54
Deshalb
wird im handlungsorientierten Unterricht oft die Herstellung eines konkreten,
brauchbaren Produktes (z. B. die Herstellung eines Filmes, den man später
vorführt) anvisiert. Nach AEBLI motiviert die ,,herstellende Anwendung" am stärks-
ten.
55
MEYER verdeutlicht, dass die Herstellung von Handlungsprodukten nicht den
Schulalltag bestimmen kann, denn ,,würde in der Schule nur noch Unterricht
gemacht, bei dem [...] handfeste Handlungsprodukte erstellt werden, so würde der
Schulbetrieb ganz schön turbulent", und ,,würde Unterricht gemacht, in dem nur die
subjektiven Schülerinteressen berücksichtigt werden, so bräche der Schulbetrieb
zusammen".
56
Der Lehrer habe die Aufgabe, bei der Planung seines Unterrichts
einen Kompromiss zwischen fachlichen und pädagogischen Interessen einerseits
und subjektiven Schülerinteressen anderseits zu finden.
57
Dieses Bemühen um ein Anknüpfen an die Interessen und Vorerfahrungen der
Schüler lässt sich auch unter dem Stichwort ,,Kompetenzmotivation" begründen.
Aktuelle Theorien besagen, dass es ein intrinsisches, ,,grundlegendes Motiv des
Menschen ist, seine Kompetenz zu steigern"
58
und bereits vorhandene Fähig- und
Fertigkeiten auf neue Situationen zu beziehen.
Um schon in der Anfangsphase des handlungsorientierten Unterrichts Motivation
zu erzeugen, sollte Neugierde beim Schüler erzeugt werden, z. B. durch Über-
raschung, Verblüffung, Zweifel oder durch einen Widerspruch,
59
denn handlungs-
orientierter Unterricht und problemorientierte Einstiegsphasen schließen sich nicht
aus, und Neugierde ist der Grundtrieb des Lernens.
60
2.4 Sozialisationstheoretische Begründungen für eine Handlungsorientie-
rung im Unterricht unter dem Aspekt einer ,,veränderten
Kindheit"
2.4.1 Demographische und gesellschaftliche Beobachtungen
Handlungsorientierter Unterricht sollte aus pädagogischer Sicht nicht nur als eine
,,Alternative zum einseitig kognitiven Lernen und zur symbolisch-abstrakten Ver-
mittlung"
61
von Unterrichtsinhalten gesehen werden. Er ist vor allem als Kompensa-
54
Gudjons (1997), S. 58
55
vgl. Gudjons (1997), S. 58
56
Meyer (1993), S. 345. Die kursive Hervorhebung ist aus der Literaturquelle übernommen.
57
vgl. Meyer (1993), S. 345
58
Gudjons (1997), S. 58
59
vgl. Gudjons (1997), S. 59
60
vgl. Vester (1998), S. 145
61
Wöll (1997), S. 2

13
tion der immer stärker schrumpfenden Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten
zu verstehen.
Mit dem Trend zur Kleinfamilie, der Technisierung der Haushalte und der wach-
senden Konsumorientierung geht leider auch vielfach eine Reduktion der Erfah-
rungsmöglichkeiten einher. Anstatt selber Brot zu backen, werden heutzutage ,,Auf-
backbrötchen" gekauft, um nur eines von vielen Beispielen zu nennen.
62
,,Vor-
fabriziertes Spielzeug"
63
mit immer weniger kreativen Möglichkeiten überschwemmt
die Kinderzimmer.
64
Auch der viel benutzte Begriff der ,,Verinselung" ist im Kontext von schwindenden
Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten zu nennen. Das räumliche Umfeld der
Kinder wird immer stärker funktionalisiert, die Straße kann immer seltener zu
Spielzwecken genutzt werden. Besonders die Siedlungen in Großstädten bieten
,,nur ein verarmtes kognitives, wenig stimulierendes Anregungspotenzial" für
Kinder.
65
Den Kindergarten, die Schule oder die Freizeiteinrichtung erreichen die Kinder
häufig mit dem Auto. Dabei wird der Weg dorthin nicht aktiv erkundet, eine Raum-
erschließung findet allenfalls visuell und im Zeitraffer statt. Anstelle eines aktiven
,,Erfahrens" des Raumes wird die Umgebung passiv und hektisch durchquert.
66
Nicht zuletzt sollte auf den Medienkonsum der Kinder hingewiesen werden. Kinder
erleben die Welt immer weniger als aktiv Handelnde, sondern im Zuge der Medi-
alisierung immer öfter als passive Konsumenten audio-visueller Medien. Der ,,Be-
reich des unmittelbaren Erlebens"
67
verkümmert, Primärerfahrungen bleiben immer
öfter aus.
2.4.2 Handlungsarmut in der heutigen ,,Medienkindheit"
Betrachtet man die Ausstattung der deutschen Haushalte mit audio-visuellen Me-
dien, ist hier in den letzten Jahren ein starker Zuwachs zu beobachten. Der 1999
veröffentlichten Studie ,,Kinder und Medien" zufolge findet sich in 100% aller
Haushalte mit Kindern ein Radiogerät, dicht gefolgt vom Fernseher mit 99%. Ein
Videorecorder ist in 92% aller Fälle vorhanden, während der PC immerhin mit ei-
nem Wert von 47% und Videospielgeräte mit 44% in die Statistik eingehen.
68
Als ,,stärkste" Mediennutzer in unserer Gesellschaft erweisen sich Kinder und Ju-
gendliche, denn sie sind ,,offenbar kompetenter als andere Altersgruppen, sich situ-
62
vgl. Gudjons (1997), S. 14 und Morawietz (1995), S. 165
63
Gudjons (1997), S. 15
64
vgl. Morawietz (1995), S. 165
65
vgl. Gudjons (1995), S. 15
66
vgl. Gudjons (1995), S. 16
67
Wöll (1997), S. 5
68
vgl. Feierabend / Klingler (1999), S. 610 f.

14
ations- und bedürfnisspezifisch ihren funktional bestimmten 'Medienmix' zu kom-
binieren."
69
Dabei wird vor allem der Fernseher intensiv genutzt. Nach GLOGAUER sitzen be-
reits 35% der sechs- bis achtjährigen Kinder innerhalb einer Woche mehr als 30
Stunden vor dem Fernseher (Stand: 1995)
70
, so dass HURRELMANN treffend vom
,,Fernseher als Familienmitglied" spricht.
71
Fernsehen ist grundsätzlich nichts Verwerfliches. Im Gegenteil, denn es ,,weitet
den Horizont der Kinder",
72
die heutzutage viel mehr über fremde Länder, das
Weltall und ,,die Tiefen des Ozeans" wissen als die Kinder vergangener Gene-
rationen. Doch sind dies leider alles nur ,,Erfahrungen aus zweiter Hand".
73
Mit
seinem Buchtitel ,,Das allmähliche Verschwinden der Wirklichkeit" bringt Hartmut
von HENTIG die oben beschriebene Entwicklung auf den Punkt.
74
,,Fernsehen frisst einen erheblichen Teil der freien Zeit der Kinder", und so wird der
Trend verstärkt, ,,sich der Welt (fast ausschließlich) mit dem Auge zu bemäch-
tigen".
75
WÖLL ist daher beizupflichten, wenn er eine Korrelation zwischen der
,,Medialisierung der Kindheit" und der ,,Verdrängung unmittelbarer Erfahrungen"
herstellt.
76
Ein Unterricht, der auf ein handlungsorientiertes Arbeiten mit konkretem Material
ausgerichtet ist, ermöglicht den Kindern Primärerfahrung. So können sie sich Ge-
gebenheiten ihrer Umwelt als aktiv Handelnde erschließen.
2.5 Die Rolle des Lehrers im handlungsorientierten Unterricht
Ein auf Handlungsorientierung ausgerichteter Unterricht stellt bereits im Vorfeld
erhöhte Anforderungen an den Lehrer. Konkretes Arbeitsmaterial muss in aus-
reichender Menge zu Verfügung stehen und den Kindern ein zielgerichtetes Arbei-
ten mit einem möglichst hohen Anteil an Selbstständigkeit ermöglicht werden.
Wenn die Schüler - wie von MEYER vorgeschlagen - an der Gestaltung des Hand-
lungsprozesses beteiligt werden sollen
77
, ergibt sich für mich unter anderem die
Konsequenz, die Kinder ebenfalls in die Materialbeschaffung einzubeziehen,
sofern dies möglich ist. Erfahrungsgemäß können Grundschüler solch eine
69
Schön (2000), S. 921
70
vgl. Wöll (1998), S. 5
71
vgl. Hurrelmann (1996), S. 11 f.
72
Knörzer / Grass (1998), S. 116
73
vgl. Knörzer / Grass (1998), S. 116
74
vgl. Gudjons (1997), S. 13
75
Knörzer / Grass (1998), S. 118
76
vgl. Wöll (1998), S. 5 f.
77
vgl. Meyer (1993), S. 211

15
Organisation aber nicht alleine oder nur mir sehr viel Zeitaufwand bewerkstelligen,
so dass hier eine weitere Hilfe durch den Lehrer erforderlich wird.
Eine rechtzeitige und aufwendigere Planung seitens der Lehrkraft ist geboten, und
darauf weist auch Hilbert MEYER ausdrücklich hin: ,,Ein solcher Unterricht ist an-
strengender, risikoreicher, arbeitsintensiver; er erfordert mehr und gründlichere
Vorbereitung; er ist aber auch spannender, lebendiger, lehrreicher für den Lehrer
und befriedigender für die Schüler!"
78
Während der handlungsorientierten Phasen innerhalb einer Schulstunde sehe ich
den Lehrer vorzugsweise in der Rolle des Beobachters. Wie generell bei offenen
Unterrichtsformen, steht er bei auftretenden Problemen den Schülern beratend zur
Seite.
79
Außerdem bietet sich dem Lehrer die Möglichkeit, leistungsschwache
Schüler besonders intensiv zu fördern, indem er ihre Arbeit besonders aufmerksam
verfolgt oder die schwachen Kinder als Kleingruppe ,,herausnimmt", um sich ihnen
konzentriert widmen zu können.
2
.
6
Sch
l
ussfo
l
gerungen
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e
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i
erten Mathemat
i
kunterricht
Mit handlungsorientiertem Mathematikunterricht darf nicht gemeint sein, die Kinder
so viel wie möglich praktisch hantieren zu lassen. AEBLI weist ausdrücklich auf die
,,Gefahr eines übertriebenen Hantierens" hin, da durch eine Überflutung mit
Material und Aktionen eine Erkenntnisgewinnung leicht untergehen kann. Eine
praktische Handlung sollte immer mit einer Reflexion verbunden sein.
80
Handlungsorientierter Mathematikunterricht ist unter vielen Gesichtpunkten be-
gründbar. Zum einen muss die Schule auf gesellschaftliche Veränderungen reagie-
ren und neben der Vermittlung von Wissen auch ihrem Erziehungsauftrag nach-
kommen. Die Schule sollte bemüht sein, der ,,Übermacht der Medienwelt etwas
entgegen zu setzen"
81
und den Kindern verstärkt Primärerfahrungen ermöglichen.
Von der Erfüllung dieses Auftrages bleibt das Fach Mathematik nicht ausgespart.
Handlungsorientierter Mathematikunterricht kann fehlende Primärerfahrungen des
Alltags nicht vollständig ersetzen, aber zumindest in Ansätzen ausgleichen.
Zum anderen lässt sich feststellen, dass durch einen zielgerichteten, handlungs-
orientierten Unterricht die Motivation der Kinder erheblich gesteigert werden kann.
Dies führt zu verbesserten Lernbedingungen, weil sich Informationen leichter im
Gehirn ,,verankern" lassen, insbesondere dann, wenn beim Lernen verschiedene
Sinne miteinbezogen werden.
78
Meyer (1993), S. 219
79
vgl. Knörzer / Grass (1998), S. 190
80
vgl. Zech (1998), S. 117
81
Wöll (1998), S. 7

16
Die Suche nach Begründungen für einen handlungsorientierten Mathematikunter-
richt endete im Erkennen seiner zwingenden Notwendigkeit, denn ,,Erkenntnis
beruht auf Handlung, und Denken ist verinnerlichtes Tun, das heißt ein Operieren
im Geiste entsprechend zuvor wirklich gemachter Handlungen."
82
Das Konkrete
muss vor dem Abstrakten erfolgen. In den oben aufgeführten Theorien zur Denk-
entwicklung wird der Handlung nicht immer dieselbe Funktion, aber generell eine
fundamentale Rolle zugeschrieben. Als ,,praktische Folgerungen für den Mathema-
tikunterricht"
83
lassen sich auf Basis der Stadientheorie PIAGETs und unter Be-
rücksichtigung der Modifikationen durch AEBLI und BRUNER, im Übrigen auch
durch LOMPSCHER und GALPERIN,
84
so genannte ,,operative Prinzipien"
85
auf-
stellen, die im Mathematikunterricht allgemein Berücksichtigung finden sollten und
ebenso Gültigkeit für den handlungsorientierten Unterricht besitzen:
a) Das Prinzip der Stufengemäßheit
Das Prinzip der Stufengemäßheit ist nach ZECH eine direkte Folgerung aus der
Psychologie PIAGETS und begründet sich über das kognitive Entwicklungsstadium
der Kinder: ,,Im Grundschulunterricht ist darauf zu achten, dass eine konkrete
Erfahrungsbasis [...] gewährleistet ist. [...] Verfrühungen im Sinne rein verbaler
Vermittlungsversuche ohne reale Erfahrungsgrundlage sollte man vermeiden."
86
,,Jüngere Kinder sollten Gelegenheit bekommen, mathematische Konzepte
konkret-handelnd aufzubauen (,Aufbauprinzip')"
87
, fordert DIENES. Der Lehrer kön-
ne durch die Bereitstellung von ,,strukturiertem Material" eine ,,mathematische Um-
gebung" anbieten, in der die Schüler ,,spielend-konstruktiv durch eigene Aktivität
und Erfahrung lernen (,Dynamisches Prinzip')."
88
Inhaltlich dem Prinzip der Stufengemäßheit sehr ähnlich und ebenfalls mit dem
Verweis auf die Psychologie PIAGETs formuliert LAUTER das ,,Prinzip der Schü-
lerorientierung"
89
und betont in diesem Zusammenhang: ,,Die direkte Konsequenz
[...] ist die Verwendung von Arbeitsmaterial für die Hand des Schülers."
90
Mehr als
deutlich lässt sich bei LAUTER die Forderung nach einer Handlungsorientierung
erkennen, denn er beklagt, ,,dass im konkreten Unterricht diese Notwendigkeit oft
vernachlässigt wird. Hier dürfen keine Mühen und Aufwendungen gescheut
82
Henning (Hrsg., 1999), S. 7 (Hervorhebungen im Original nicht vorhanden)
83
Zech (1998
), S. 114
84
vgl. Zech (1998), S. 110 f.
85
Zech (1998), S. 115
86
Zech (1998),S. 116
87
Zech, (1998), S. 116
88
Zech, (1998), S. 116
89
Lauter (1997), S. 57
90
Lauter (1997), S. 57

17
werden, wenn es darum geht, dem Schüler optimal konkrete Erfahrungsmöglich-
keiten zu verschaffen."
91
b) Das Prinzip der Verinnerlichung und Verzahnung der Darstellungsebenen
Das Prinzip der ,,Verinnerlichung" besagt, dass auf einen allmählichen Übergang
von der ,,konkret-anschaulichen Darstellung (konkret handelnd; zeichnerisch-iko-
nisch; Beispiele, mit denen man anschauliche Vorstellungen verbinden kann)"
92
zu
einer abstrakt-symbolischen Darstellung hingearbeitet werden sollte. Die Schüler
müssen im Verlaufe dieses Abstraktionsprozesses immer in der Lage sein, das
Abstrakte auf konkrete Erfahrungen zurückzuführen. Die konkret-anschauliche
Ebene darf im Unterricht nicht zu schnell verlassen werden. Besitzen die Schüler
allerdings schon entsprechende Vorerfahrungen, muss nach AEBLI ein ,,übertrie-
benes Hantieren mit konkretem Material"
93
vermieden werden. Generell sind
,,sprachliche Verknüpfungen" herzustellen.
94
Untrennbar mit dem Verinnerlichungsprinzip muss das ,,Verzahnungsprinzip"
berücksichtigt werden: ,,Die Verinnerlichungsstufen sind nicht isoliert voneinander
zu durchlaufen, sondern müssen eng miteinander verzahnt sein."
95
Es darf nicht
passieren, dass die Schüler ,,verständnislos mit mathematischen Zeichen"
96
ope-
rieren.
97
Dies gilt auch und gerade für den Aufbau von Größenvorstellungen.
c) Verfeinerung des Verinnerlichungsprinzip
Um die Denkentwicklung und die Verinnerlichung einer Erkenntnis positiv zu beein-
flussen, kann ein Vorgehen in mehreren Stufen, das heißt auf verschiedenen Re-
präsentationsebenen (enaktiv, symbolisch, ikonisch) sinnvoll sein. Doch nicht jeder
Schüler verinnerlicht im gleichen Tempo. Hilfreich ist hier das ,,Rückschaltprinzip",
welches besagt, dass der Lehrer auf eine anschaulichere Ebene zurückgehen
kann, wenn ein Schüler Schwierigkeiten auf einer abstrakteren Ebene zeigt.
98
Nicht
immer muss solch ein ,,Zurückgehen" in Form einer Schülerhandlung realisiert
werden. Auch die Veranschaulichung auf einer ,,Zwischenstufe"
99
mittels der De-
monstration oder einer Zeichnung durch den Lehrer kann gegebenenfalls aus-
91
Lauter (1997), S. 57
92
Zech (1998), S. 116
93
Aebli, Hans (1983): Die Zwölf Grundformen des Lehrens. Stuttgart: Klett-Cotta. S. 233. Zitiert
aus: Zech (1998), S. 117.
94
vgl. Zech (1998), S. 117
95
Zech (1998), S. 117
96
Zech (1998), S. 117
97
vgl. Grassmann (2001), S. 20
98
vgl. Zech (1998), S. 117
99
Zech (1998), S. 117

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2003
ISBN (eBook)
9783836619523
Dateigröße
1.7 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Vechta; früher Hochschule Vechta – Lehramt an Grund-, Haupt- und Realschulen, Mathematik, Studienseminar Vechta (2. Staatsexamen)
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
1,0
Schlagworte
handlungsorientierung mathematik grundschule lernen gewicht
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Titel: Handlungsorientiertes Erschließen der Größen Gramm und Kilogramm im dritten Schuljahr
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