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Zum Wandel des Hooliganismus im Sport

©2007 Examensarbeit 106 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung
Die Fußballweltmeisterschaft 2006 wurde zu einem allseits gelobten ‘rauschenden Fußballfest’, einem ‘Partymonat’. In Organisation und Durchführung mustergültig, übertraf sie sämtliche Erwartungen. Lediglich hinter einer Erwartung blieb die WM zurück und zumindest mancher Journalist wird insgeheim etwas enttäuscht gewesen sein: Die befürchteten ‘Hooliganhorden und -schlachten’ waren ausgeblieben. Dabei hatte es in ganz Europa im Vorfeld Ausschreitungen gegeben. Nicht nur im berüchtigten England und in Italien kam es zu Auseinandersetzungen, auch in Griechenland und sogar in Zypern sorgten gewalttätige Fußballfans für hohen Sach- und leider auch Personenschaden. Die Dresdner Morgenpost warnte gar vor dem Einmarsch von 20.000 polnischen Hools. Und auch die deutschen Hooligans waren doch noch kurz vorher so medienwirksam präsent: ‘BFC-Hools drehen durch’ und boten ‘genau die Bilder, die wir vor der WM nicht gebrauchen konnten.’ Ja, sie hatten sogar schon international ‘geübt’; am 27. 11. 2005 trafen sich rund 100 deutsche und polnische Hooligans in einem Waldstück unweit der Grenze. Auch in anderen Ländern sind sie als beliebtes Medienthema allgegenwärtig und das nicht nur im sensationslüsternen Privatfernsehen. Eine englische Reportage nahm sich 2004 sogar der deutschen Hooligans an, zeigte Videoaufnahmen und warnte vor der Gefahr für die WM 2006.
Es geht also wieder ein Gespenst um in Europa, das Gespenst des Hooliganismus.
Doch wovon wird da eigentlich geredet? Es scheint in der öffentlichen Wahrnehmung ein diffuses Allgemeinverständnis von dem Begriff des ‘Hooligans’ (im folgenden auch als Hools bezeichnet) zu geben. Ähnlich wie bei ‘den Skinheads’ weiß jeder sofort, wer oder besser: was gemeint ist, die Dämonen und Bestien, die ‘Feinde des Fußballs’ (Berti Vogts). Die massive Polizeipräsenz vor Stadien und auf den An- und Abfahrtswegen, die immer neuen Beschwörungen einer internationalen Gefahr von sicherheitspolitischen Sprechern und Innenministern sowie die regelmäßige Berichterstattung (inwiefern diese schon den Charakter einer Inszenierung annehmen, wird später dargelegt) in den Medien erinnern den ‘Normalbürger’ ständig daran, dass schon sein nächster Stadionbesuch sein letzter sein könnte. ‘The ‘hooligan’ qua symbol has become a routine target of global demonology’, resümieren denn auch zwei Koryphäen der Forschung.
Dafür werden alle Register der Klischeebildung gezogen. Hooligans sind nicht nur hirnlose Schläger, […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Max Maihorn
Zum Wandel des Hooliganismus im Sport
ISBN: 978-3-8366-1805-2
Druck Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2008
Zugl. Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland, Staatsexamensarbeit, 2007
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2008
Printed in Germany

1
Inhaltsverzeichnis:
Seite:
Einleitung...2
I. Kapitel: Theorie und Geschichte...7
1. Begriffsgeschichte und ­definition... ........................................................7
2. Zum Forschungsstand...8
3. Theorien zur Erklärung von Zuschauergewalt...12
4. Geschichte der Zuschauergewalt bis 1965...18
II. Kapitel: Phasen und Erklärungen des Hooliganismus in Großbri-
tannien...20
1. Phase 1: Die Anfänge des modernen Hooliganismus...20
2. Phase 2: Hooliganismus und Skinheads...27
3. Phase 3: Von 1980 bis heute...33
III. Kapitel: Phasen und Erklärungen des Hooliganismus in Deutsch-
land...45
1. Phase 1: Die Geschichte der Fußballgewalt in der BRD...45
2. Phase 2: Die Geschichte der Fußballgewalt in der DDR...56
3. Phase 3: Hooliganismus in Deutschland bis heute...67
Fazit...87
Literaturverzeichnis...92
Anhang...99
1. Anhang (Interviewabschrift)...99

2
Einleitung
Die Fußballweltmeisterschaft 2006 wurde zu einem allseits gelobten ,,rauschenden Fuß-
ballfest", einem ,,Partymonat". In Organisation und Durchführung mustergültig, übertraf
sie sämtliche Erwartungen. Lediglich hinter einer Erwartung blieb die WM zurück und
zumindest mancher Journalist wird insgeheim etwas enttäuscht gewesen sein: Die be-
fürchteten ,,Hooliganhorden und -schlachten" waren ausgeblieben. Dabei hatte es in ganz
Europa im Vorfeld Ausschreitungen gegeben. Nicht nur im berüchtigten England und in
Italien kam es zu Auseinandersetzungen, auch in Griechenland und sogar in Zypern
sorgten gewalttätige Fußballfans für hohen Sach- und leider auch Personenschaden.
1
Die
Dresdner Morgenpost warnte gar vor dem Einmarsch von 20.000 polnischen Hools.
2
Und
auch die deutschen Hooligans waren doch noch kurz vorher so medienwirksam präsent:
,,BFC-Hools drehen durch"
3
und boten ,,genau die Bilder, die wir vor der WM nicht ge-
brauchen konnten."
4
Ja, sie hatten sogar schon international ,,geübt"; am 27. 11. 2005
trafen sich rund 100 deutsche und polnische Hooligans in einem Waldstück unweit der
Grenze.
5
Auch in anderen Ländern sind sie als beliebtes Medienthema allgegenwärtig
und das nicht nur im sensationslüsternen Privatfernsehen.
6
Eine englische Reportage
nahm sich 2004 sogar der deutschen Hooligans an, zeigte Videoaufnahmen und warnte
vor der Gefahr für die WM 2006.
7
Es geht also wieder ein Gespenst um in Europa, das Gespenst des Hooliganismus.
Doch wovon wird da eigentlich geredet? Es scheint in der öffentlichen Wahrnehmung ein
diffuses Allgemeinverständnis von dem Begriff des ,,Hooligans" (im folgenden auch als
Hools bezeichnet) zu geben. Ähnlich wie bei ,,den Skinheads" weiß jeder sofort, wer
oder besser: was gemeint ist, die Dämonen und Bestien, die ,,Feinde des Fußballs" (Berti
Vogts). Die massive Polizeipräsenz vor Stadien und auf den An- und Abfahrtswegen, die
immer neuen Beschwörungen einer internationalen Gefahr von sicherheitspolitischen
Sprechern und Innenministern sowie die regelmäßige Berichterstattung (inwiefern diese
schon den Charakter einer Inszenierung annehmen, wird später dargelegt) in den Medien
1
Vgl.: http://community.kicker.de/community/foren/Fusball/F350/msg202653.php am 29. 11. 2005.
2
http://www.heise.de/tp/r4/html/result.xhtml?url=%2Ftp%2Fr4%2Fartikel%2F22%2F22628%2F1.html&w
ords=Hooligan (Zugriff am 01. 11. 2006).
3
Schulz, Jürgen: BFC- Hools drehen durch, in: BZ vom 14. 05. 2006.
4
Union- Teammanager Christian Beeck, zit. nach ebd.
5
Bischoff, Katrin/Schnedelbach, Lutz: Hooligans üben Prügeln für die WM ­ Polizei holt Hilfe aus dem
Ausland, in: Berliner Zeitung vom 29. 11. 2005.
6
So z.B. die Reportage ,,zoom-Europa" auf ARTE am 17. 01. 2006.
7
Peter Kupelian: Hools and Thugs ­ The German Part, United Kingdom 2004.

3
erinnern den ,,Normalbürger" ständig daran, dass schon sein nächster Stadionbesuch sein
letzter sein könnte. ,,The ,,hooligan" qua symbol has become a routine target of global
demonology", resümieren denn auch zwei Koryphäen der Forschung.
8
Dafür werden alle Register der Klischeebildung gezogen. Hooligans sind nicht nur hirn-
lose Schläger, sondern werden auch immer brutaler, rechtsradikaler, organisierter und
sind außerdem zugleich in der Skinhead-, der Rocker-, der Türsteher-, Dealer-, Hehler-
und Zuhälterszene. Ein Hooligan ist also mit Glatze und Springerstiefeln auf einem Mo-
torrad unterwegs, die Taschen voller Drogen und Diebesgut und schlägt wahllos auf alles
und jeden, aber besonders auf Ausländer ein. Würde dieses Bild stimmen, wären sie re-
lativ leicht zu erkennen und so bald kein Problem mehr.
Obwohl vermutlich nur die allerwenigsten Bürger ­ selbst diejenigen, die regelmäßig ins
Stadion gehen ­ jemals mit Hooligans in Berührung gekommen sind, bringt es Lord
Aberdare, Chairman des Football Trust in England, auf den Punkt: ,,Football hooligan-
ism is, like education, one of those subjects on which most people consider themselves
experts."
9
Dabei ist schon auf den ersten genaueren Blick offensichtlich, dass das Pro-
blem vielschichtiger ist und sich in mehrere, höchst unterschiedliche Erscheinungsfor-
men aufgliedert. Ein Vergleich der Szenen in den verschiedenen Ländern offenbart
schnell, dass Hooligan nicht gleich Hooligan ist.
Jeder, der sich noch eingehender dem Thema widmet, muss leider feststellen, dass das
Phänomen bisher weder eindeutig beschrieben geschweige denn erklärt wurde und ver-
mutlich auch nicht werden kann. Für Hooligans gilt also der Leitspruch des Archivs der
Jugendkulturen in Berlin: ,,Wer sich auf die Realität einlässt, muss die beruhigende Ein-
deutigkeit aufgeben."
Es geht mir nicht darum, eine Apologetik des Hooliganismus zu schreiben, vielmehr ist
es mein Ziel, die Szene wissenschaftlich objektiv zu betrachten und erst abschließend ein
Urteil zu fällen. Ich möchte in dieser Arbeit die Entwicklung des Hooliganismus bis zum
heutigen Stand aufzeigen und folgende Fragestellung beantworten: Was war und ist
Hooliganismus, eine jugendliche Protestform gegen eine zunehmend normierte Ge-
sellschaft und einen professionalisierten Sport, das Ausleben einer psycho-sozialen
Gewaltdisposition, die radikalisierte Anpassung an die moderne Ellenbogengesell-
schaft oder einfach nur ein illegaler Extremsport?
8
Armstrong/Giulianotti, in: dies.: Entering the field ­ New perspectives on world football, Oxford 1997,
S. 8.
9 Zit. nach: Dunning, Eric/Murphy, Patrick/Williams, John: The Roots of Football Hooliganism ­ An Hi-
storical and Sociological Study, London 1988.

4
Dafür werde ich nach der Darlegung und kritischen Betrachtung der Forschungsge-
schichte und des Forschungsstandes zunächst die gängigsten Theorien zur Erklärung von
gewalttätigem Verhalten umreißen und anschließend die verschiedenen Phasen des Hoo-
liganismus beleuchten und ihnen die meines Erachtens passenden Theorien zuordnen.
Darüber hinaus geht es mir um die Analyse der vielschichtigen Wechselwirkungen aller
beteiligten Instanzen, als da wären die Szene in ihrer später dargelegten Vielfalt, die Le-
gislative und Exekutive der jeweiligen Staaten und lokalen Behörden, der Fußballvereine
und -verbände, der Medien und der Öffentlichkeit und nicht zuletzt der Forschung.
Desweiteren werde ich erläutern, welche grundlegenden Eigenschaften dem Phänomen
Hooliganismus eigen sind. Denn trotz all der qualitativen und quantitativen Veränderun-
gen haben meines Erachtens einige Aspekte den Wandel überdauert.
Obwohl diese Arbeit in den Bereich der Sportsoziologie fällt, werde ich nicht umhin
können, den gesamtgesellschaftlichen Rahmen mit zu beleuchten. Ich stimme mit Elias
überein, wenn er bezüglich des Sports feststellt, dass es ,,höchstens eine relative Auto-
nomie, bezogen auf andere gesellschaftliche Bereiche" gibt.
10
An einigen Stellen der Ar-
beit könnte man die Frage aufwerfen, inwiefern das Hooliganproblem überhaupt noch ein
sportbezogenes Phänomen ist. Ich werde meine Sicht hierauf am Schluss der Arbeit äu-
ßern.
Ich werde mich bei meinen Ausführungen, von einer Einführung in die Geschichte der
Gewalt rund um den Sport abgesehen, auf den Zeitraum zwischen 1960 ­ da sich dort
wie später näher erläutert ein deutlicher qualitativer und quantitativer Wandel vollzieht ­
und heute beziehen. Desweiteren werde ich mich auch räumlich beschränken und ledig-
lich auf Großbritannien (als Ursprungsland und auch für spätere Entwicklungen wegwei-
send) und auf Deutschland eingehen. Da sich die Szene in den beiden deutschen Staaten
teilweise unterschiedlich entwickelt hat und dies bis heute nachwirkt, zeichne ich die
Entwicklungen auch getrennt nach.
Desweiteren werde ich einige wissenschaftliche Erklärungsmuster und Präventionsvor-
schläge erörtern.
Abschließend geht es mir darum, eine eigene Definition für den Begriff des aktuellen
Hooliganismus zu finden, die nicht nur ein Minimalkonsens dessen ist, was ich der Lite-
ratur entnommen habe, sondern vielmehr meine persönliche, aber fundierte Sichtweise
auf ein schwer greifbares Phänomen. Angelehnt an diese Definition, werde ich meine
10
Elias, Norbert: Die Genese des Sports, in: Dunning, Eric/Elias, Norbert: Sport im Zivilisationsprozess,
Münster o. J., S. 43.

5
Überlegungen hinsichtlich der Präventionsmöglichkeiten und der Verhältnismäßigkeit
von derzeitig praktizierten Präventivmaßnahmen vorstellen.
Ich möchte voranstellen, dass dies keine empirische Arbeit ist. Eine solche ist bei der
Themenstellung im gegebenen Zeitrahmen unmöglich, da es sich bei den Hooligans um
eine sehr verschlossene, kaum zugängliche und auch recht kleine Szene handelt. Auch
umfangreicher angelegte Forschungsprojekte hatten Schwierigkeiten, eine nach statisti-
schen Maßgaben ausreichende Anzahl von Hooligans direkt untersuchen und befragen zu
können, und bemerken, dass Untersuchungen der Gewalttäter selbst gegenüber Exper-
tenbefragungen wesentlich seltener sind.
11
Die Arbeit basiert also vorwiegend auf der Auswertung von Literatur. Diese unterteilt
sich in Forschungsliteratur und etliche Veröffentlichungen von Hooligans selbst und ih-
rem näheren Umfeld. Bei diesen handelt es sich sowohl um Romane und Erzählungen als
auch um eine Befragung einiger führender Hooligans aus ganz Großbritannien (s. Ab-
schnitt zum Forschungsstand).
Zudem benutzte ich eine Anzahl von Reportagen, die teils unter Mitwirkung von hier
ebenfalls zitierten Soziologen entstanden,
12
Filmen und original Filmmaterial von den
sogenannten ,,fights" bzw. ,,matches" und von Ausschreitungen. Besonders das Origi-
nalmaterial war hierbei sehr aufschlussreich bei der Analyse der Hooliganaktivitäten.
Die Auswertung etlicher Zeitungsartikel half bei der Beschreibung der aktiven Rolle der
Medien und der Verstärkungsmechanismen wie auch bei dem kritischen Hinterfragen
politischer und polizeilicher Maßnahmen.
Schließlich war es mir möglich, zumindest drei Hooligans persönlich zu treffen und mit
einem vorbereiteten Fragebogen (siehe Anhang) und einem Interview viele aufschluss-
reiche Stellungnahmen zu erhalten. Ihre richtigen Namen sind mir bekannt, jedoch ver-
sprach ich, für die vorliegende Arbeit Pseudonyme zu verwenden, die sich die Drei ge-
genseitig gaben (,,Butch", ,,Pate" und ,,IQ"). Bei den Hools handelt es sich um langjähri-
ge Vertreter des harten Kerns der Berliner Szene, die über eine umfangreiche Szene-
kenntnis und ,,Kampferfahrung" verfügen und nach eigener Auskunft stellvertretend für
ihre Gruppierung sprechen können. Ich bin mir darüber im Klaren, dass die meisten ihrer
Aussagen für mich nicht nachweisbar und eventuell Übertreibungen oder eher Gerüchte
und Legenden sind. Dessen ungeachtet habe ich begründeten Anlass, den Hools zu glau-
11
Vgl. Bliesener, Thomas/Fischer, Thomas/Lösel, Friedrich/Pabst, Markus A.: Forschungsprojekt ,,Hooli-
ganismus in Deutschland ­ Ursachen, Entwicklung, Prävention und Intervention", Schweinfurt 2001, S.
12, 96f.
12
Die Gruppe der Leicester University um Eric Dunning wirkte bei Stuttard, Ian: Hooligan ­ A documen-
tary about the Inter City Firm from Westham, United Kingdom 1985.

6
ben, da sie auch Schwächen, Fehler und Niederlagen eingestanden. Ich halte ihr Insider-
wissen für äußerst relevant, um das Phänomen wirklichkeitsnahe zu analysieren und ei-
nige Thesen aus der Forschung zu bestätigen oder in Frage zu stellen.
Ich stimme mit Griese überein, wenn er moniert, dass es bei der Forschungsliteratur das
Problem gibt, dass die Biographie der Forscher hinsichtlich ihrer eigenen Erfahrungen
zum Thema Jugend und Gewalt meist im Unklaren bleibt.
13
Ihre Ansätze sind daher nur
ungenau einzuordnen, da ihre eigenen Standpunkte und Prinzipien nicht erkenntlich sind.
Deshalb möchte ich an dieser Stelle eine kurze Biographie mit den Erfahrungen schrei-
ben, die für die Einschätzung der Materie meines Erachtens von Belang sind.
Ich wurde 1980 in Ostberlin geboren und bin in den Plattenbauten des Heinrich-Heine-
Viertels in Berlin-Mitte aufgewachsen. Ich komme aus einem Akademiker-Haushalt und
habe weder in Familie, Schule noch Freizeit Gewalterfahrungen gemacht. Ich habe früh
mit dem Fußballspielen angefangen, war später in verschiedenen Vereinen und Mitte der
90er Jahre mehrfach im Fanblock von Hertha BSC. Ohne dort jemals mit Gewalt kon-
frontiert worden zu sein, habe ich dennoch die Atmosphäre und den Einfluss des Spiel-
verlaufs auf die Emotionen der Fans erlebt und wurde darüber hinaus mehrfach Zeuge
von antisemitischen, ausländerfeindlichen und sexistischen Ausschweifungen einiger
Fans. Im Jahr 1998 habe ich mit dem Rugbysport begonnen und spiele nach wie vor in
Berlin. Besonders hier habe ich erfahren, wie groß der Zusammenhalt einer Gruppe und
wie hoch der Adrenalinspiegel in Erwartung einer teils unvorhersehbaren, stark körper-
betonten Konfrontation sein können, in der auch die persönliche und mannschaftliche
Unversehrtheit gefährdet ist. Darüber hinaus gehe ich seit einiger Zeit klettern, auch in
der freien Natur und in großer Höhe, jedoch immer gesichert. Diese Erfahrungen mit der
eigenen Biochemie haben mir gezeigt, dass es an wahrscheinlich jedem Menschen Seiten
gibt, die einem ohne das Erleben von ,,Extremsituationen" verborgen bleiben. Bekannt-
schaften vor allem über die Mannschaftssportarten haben mir einen Einblick in viele
Formen des Gewaltverständnisses gewährt, ich jedoch lehne weiterhin Gewalt in jeder
nichtsportlichen Form ab.
Ich bin ein Gegner unverhältnismäßiger Polizeimaßnahmen und skeptischer Betrachter
staatlicher Überwachungsbemühungen. Darüber hinaus bin ich äußerst kritisch gegen-
über den Mechanismen der Medienlandschaft und der heutigen Konsumgesellschaft. Na-
tionalismus und rechtes Gedankengut sind mir in allen Formen zuwider.
13
Griese Hartmut: Jugend(Sub)kulturen und Gewalt ­ Analysen, Materialien, Kritik ­ Soziologische und
pädagogikkritische Beiträge, in: Pilz, G.: Sport ­ Gewalt - Gesellschaft, Band 2, Münster 2000, S. 126f.

7
I. Kapitel: Theorie und Geschichte der Zuschauergewalt
Begriffsgeschichte und -definition
Der Begriff ,,Hooliganismus" (engl.: Hooliganism) leitet sich als künstliche Form vom
Ursprungswort ,,Hooligans" ab, beschreibt also eigentlich nur das Verhalten dieser.
Der Begriff ,,Hooligan" ist relativ jung und taucht nachgewiesen zuerst in der Zeitung
,,The Times" vom 30. 10. 1890
14
und dann wieder in einer britischen Tageszeitung von
1898 auf, nachdem sich nach einem Augustwochenende hunderte Jugendliche und Män-
ner vor dem Gericht für Trunkenheit, Erregung öffentlichen Ärgernisses und ähnlichem
verantworten mussten. Der Wortstamm ist umstritten. Es kann sich um eine Abwandlung
von ,,Hooley´s gang" handeln, wobei ,,Hooley" ein irisches Wort für eine Sauforgie ist,
oder aber auch um eine angepasste Variante des Familiennamens ,,Houlihan". Hierbei
handelt es sich um eine in Süd-London ansässige irische Sippe, deren männliche Vertre-
ter für Trunkenheit, Ausschweifungen und wüste Schlägereien berühmt-berüchtigt wur-
den.
15
Eine Übertragung eines Familiennamens auf eine bestimmte Verhaltensweise ähn-
lich der deutschen ,,Hempels" ist möglich. Doch auch im slawischen Sprachbereich
taucht der Begriff spätestens 1900 auf. Auch hier gibt es zwei Erklärungen. Zum einen
wird Hooligan schon 1904 als Lehnwort aus dem Englischen (interessanterweise wird ein
Umweg über das Deutsche in Betracht gezogen) beschrieben, zum anderen gibt es aber
auch im slawischen den sehr alten Wortstamm ,,chula" (Nomen für eine bösartige Belei-
digung) und das dazugehörige Verb ,,chulitch"
16
.
Ich halte einen Ursprung im englischen Sprachgebrauch jedoch für wahrscheinlicher.
Obwohl es schon weit früher Ausschreitungen beim Fußball gab (s. u.), wurde der Be-
griff erst in den Siebzigern in England für die Fußballrowdies benutzt und taucht 1987 im
deutschen Sprachgebrauch auf.
17
In den folgenden zwanzig Jahren blieb er weitestgehend den Gewalttätern beim Fußball
vorbehalten.
14
Buford, Bill, Geil auf Gewalt ­ Unter Hooligans, München 1992, S 24.
15
Vgl. Ek, Ralf: Hooligans ­ Fakten, Hintergründe, Analysen, Worms 1996, S. 11; Stuttard (1985).
16
Zu beiden Angaben: Cernykh, Pavel Y.: Historisch-etymologisches Wörterbuch der russischen Gegen-
wartssprache (russ.), Moskau 1994.
17
Weis, Kurt /Alt, Christian Gingeleit, Frank: Probleme der Fanausschreitungen und ihrer Eindämmung,
in: Schwind, Hans-Dieter/Baumann, Jürgen (Leitung): Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt
­ Analysen und Vorschläge der Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämp-
fung von Gewalt, Band 3, Berlin 1990, S. 58

8
Heute wird der Begriff wieder im weiteren Sinne verwendet. Laut Duden ist Hooliga-
nismus gleichbedeutend mit ,,Rowdytum" und ,,ungesetzlichem Verhalten"
18
, der Sport-
bezug ist lediglich noch beim Wort ,,Hooligan" zu finden, welches mit ,,gewaltbereiter
Eishockey-, Fußballfan" erklärt wird.
Im Alltagssprachgebrauch haben die Hooligans ebenfalls ihren Platz gefunden, Men-
schen aus mehreren Branchen entlehnen den Begriff, um den Eindruck von Radikalität
zu erzeugen
19
; es wird also mit dem Gefühl von Angst-Faszination gespielt, der Schein
des Verbotenen verleiht dem Bezeichnungsträger eine gewisse Aura und einen elitären
Status.
Eine genauere eigene Definition des Begriffes ist eines der Ziele der Arbeit und wird
daher erst am Ende der Arbeit vorgestellt. Es herrscht allgemein ,,nur mäßiger Konsens
der Experten über eine Definition".
20
So benennt eine Expertengruppe aus Stuttgart auch
Störer von Volksfesten und anderen Großveranstaltungen verallgemeinernd ,,Hooli-
gans".
21
Im Laufe der Arbeit werde ich den Begriff vorerst für alle Personen verwenden,
die sich selbst Hooligans nennen und von den Behörden und Medien als solche eingeteilt
werden, und jegliche (Selbst- oder Fremd-) Bezeichnung hinterfragen. Eine genauere
Erläuterung der polizeilichen Einteilungskategorien in A- (sportorientiert, friedlich), B-
(vor allem unter Alkoholeinfluss gewaltgeneigt) und C- (gewaltsuchend) Kategorie-Fans
halte ich nicht für nötig. Es reicht der Hinweis, dass Hools als B- oder öfter noch C-Fans
verzeichnet, viele jedoch der Polizei gar nicht bekannt sind.
22
Zum Forschungsstand
Das Phänomen Hooliganismus beschäftigt ForscherInnen (im folgenden genderunspezi-
fisch als Forscher bezeichnet) aus verschiedenen Bereichen, neben den Sportsoziologen
sind es Jugend- und Gewaltforscher, Soziologen, Kriminologen, Rechts- und Medienwis-
senschaftler. Diese Vielfalt an Perspektiven und die jeweiligen Erklärungsmuster haben
sich im Laufe der Zeit wie auch der Hooliganismus selbst gewandelt, wobei fraglich ist,
18
Bertelsmann Lexikon Verlag (Hrsg.): Die neue deutsche Rechtschreibung, München 1996.
19
So hörte ich schon von Schriftstellern, die sich als ,,Literaturhooligans" bezeichneten und von Moderato-
ren, die ,,Radiohooligans" sein wollten.
20
Bliesener u.a. (2001), S. 146
21
Ebd. , S. 56.
22
Zu den verschiedenen Einteilungsvarianten in Soziologie und Kriminologie vgl.: Pilz, Gunter: Fußball-
fankulturen und Gewalt ­ Wandlungen des Zuschauerverhaltens: Vom Kuttenfan und Hooligan zum
postmodernen Ultra und Hooltra, auf: http://www.sportwiss.uni-hannover.de/Forschung/Online-
Publikation (Zugriff am 01. 11. 2006); zu der kritischen Auseinandersetzung mit dieser Einteilung vgl.
Bliesener u.a. (2001), S. 11-69.

9
inwiefern die Forschung jemals auf dem aktuellen Stand der Entwicklung ihres Objektes
war. Dieses ist als solches ­ wie im folgenden gezeigt werden wird ­ schwer greifbar, da
das Phänomen ständigen Veränderungen unterworfen und zudem vor allem in Deutsch-
land noch relativ jung ist.
In Großbritannien ist es vor allen anderen die Forschungsgruppe der Universität
Leicester um Eric Dunning, die sich unter soziologischem Blickwinkel historisch und
aktuell mit dem Thema ausgiebig befasst hat. Ihre Forschungserfahrung hat einen zeitli-
chen Vorsprung, da das Phänomen in England deutlich älter ist und die Veränderungen
der Szene meist von den englischen ,,Vorbildern" übernommen werden. Ihre Vorgänger
gingen immer von einem ,,neuen Problem" aus und das beeinflußte die Analyse und die
Erklärungen (vorwiegend bei Internationalisierung und Professionalisierung und bei Ver-
änderung der Arbeiterklasse gesucht).
23
In Deutschland hat sich Sportsoziologe Gunter A. Pilz von der Universität Hannover als
einer der ersten mit der Materie beschäftigt und auch die meisten Publikationen zum
Thema hervorgebracht. Ein größeres Forschungsinteresse entstand allerdings erst, nach-
dem die medialen Berichterstattungen besonders nach der Katastrophe von Heysel zu-
nahmen.
24
Desweiteren haben sich Bliesener und Lösel der Erforschung des Hooliganis-
mus gewidmet und haben im Auftrag des Bundesministeriums des Innern 2001 eine fun-
dierte Studie vorgelegt. Es ist dem Umstand der schwierigen Datenbeschaffung geschul-
det, dass zu Ungunsten einer Weiterentwicklung des Forschungsstandes viel wechselsei-
tig zitiert und umgeschrieben wird, ohne neue Ansätze und Aspekte in die Debatte einzu-
führen.
25
In der Gewaltforschung spielen Hooligans nur eine geringe Rolle, vermutlich, weil das
Hauptaugenmerk der Forschung auf Gewaltakte gerichtet ist, welche die demokratische
Grundordnung und das alltägliche Zusammenleben in Frage stellen, also politisch moti-
vierte Gewalt, Bandenkriminalität oder organisiertes Verbrechen. Dabei wären Hooligans
23
Dunning: Zuschauerausschreitungen, in: Dunning, Eric/Elias, Norbert: Sport im Zivilisationsprozess,
Münster o. J., S 123.
24
Bei der Katastrophe 1985 im Brüsseler Heyselstadien gab es 39 Tote und über 400 Verletzte, nachdem
Liverpooler Fans die gegnerische Tribüne gestürmt hatten und in der folgenden Panik eine einstürzende
Mauer viele Fans von Juventus Turin unter sich begrub. Im gleichen Jahr kamen 57 Menschen beim
Brand der Holztribüne im englischen Bradfort um. (Stein, Holger: Haftungsrechtliche Folgen von Zu-
schauerausschreitungen bei Massensportveranstaltungen, Inaugural-Dissertation zur Erlangung der
Doktorwürde einer Hohen Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln, o. O. 1993, S.
383).
25
Teilweise wird sogar absatzweise ohne Angabe der Quelle abgeschrieben, so besonders bei König
(2002), S. 96ff. von Ek (1996), S. 152ff. Auch Pilz zitierte bis heute mehrfach einen Hooligan aus dem
Jahre 1978, obwohl er die Veränderung der Szene längst erkannt hat; andere zitieren diesen nach Pilz,
z. B. in: Wagner, Hauke: Fußballfans und Hooligans ­ Warum Gewalt, Gelnhausen 2002, S. 30f.

10
das Paradebeispiel für eine Forschung, die sich dem Gewaltakt selbst widmet. Nedel-
mann schreibt 1995: ,,Bislang hat es die konventionelle soziologische Erforschung der
Ursachen oder Folgen von Gewalt vermieden, die gewaltsame Handlung selbst in die
Analyse einzubeziehen."
26
Um aber den Reiz des gewalttätigen Exzesses als Handlung an
sich zu analysieren, gibt es wohl keine bessere Versuchsgruppe als die Hools. Befassen
sich Jugend- und Gewaltforscher mit der Materie, spielen aber weiterhin nur allzu oft
andere Themen die dominante Rolle in den Projekten, wenn es zum Beispiel um Rassis-
mus, Sexismus und Skinheads geht. Griese bemerkt dazu, dass es unmöglich zu sein
scheint, das Thema ,,Jugend und Gewalt" weder zu tabuisieren noch zu dramatisieren.
27
Zudem ist es fraglich, inwiefern Hools heute noch in den Forschungsbereich der Jugend-
forscher fallen. Von 33 untersuchten Hooligans in der Studie von Bliesener u. a. sind nur
drei 21 oder jünger, dafür aber 16 30 oder älter.
28
Ein weiteres Problem der Forschung besteht darin, dass die gewalttätigen Auseinander-
setzungen in ihrem Selbstzweck ,,einem zweckrationalen Verstehen, einer Analyse in
einem zweckrationalen Handlungsmodell nicht zugänglich"
29
sind; dass heißt, Forschung
ergibt nur dann einen Sinn, wenn sie zugesteht, dass Gewalt zumindest für andere nicht
immer an ein übergeordnetes Ziel gekoppelt sein muss, sondern an sich einen Reiz hat.
Kritisch zu verwenden sind auch jeweils die kriminologischen Quellen, wie zum Beispiel
Delikt- oder Verhaftungsstatistiken. Zum einen verraten sie mehr über die Arbeitsweise
der Polizei als über tatsächliche Straftaten
30
, zum anderen stellt sich gerade bei der so-
ziologischen Auswertung der Verhaftetenbiographien die Frage, ob nicht etwa ,,nur die
Dummen" geschnappt werden.
31
Desweiteren erfolgt die kriminologische Forschung oft
unter einem Legitimationsdruck der zuständigen Instanzen und bedient sich daher frag-
würdiger Methoden.
,,Polizeiaustausch und Dienstfahrten zur rechtzeitigen Aufklärung und Koor-
dination in die Nachbarländer sowie der Einsatz von (para)militärischen Spe-
zialgruppen charakterisieren ein Planstellen- und Mittelbeschaffungspro-
26
Zit. nach: Sutterlüty, Ferdinand: Gewaltkarrieren ­ Jugendliche im Kreislauf von Gewalt und Missach-
tung, 2. durchgesehene Auflage, Frankfurt am Main 2003, S. 14.
27
Griese (2000), S. 7.
28
Bliesener u.a. (2001), S. 96. Es muss allerdings in Betracht gezogen werden, dass der Einstieg meistens
in das Jugendalter fällt.
29
Bohnsack, Ralf/Loos, Peter/Schäffer, Burkhard/Städtler, Klaus/Wild, Bodo: Die Suche nach Gemein-
samkeit und die Gewalt der Gruppe ­ Hooligans, Musikgruppen und andere Jugendcliquen, Opladen
1995, S. 28,.
30
Vgl.: ebd., S. 13.
31
Vgl.: Bott, Dieter/Chlada, Marvin/Dembrowski, Gerd: Ball & Birne ­ Zur Kritik der herrschenden Fuß-
ballkultur, Hamburg 1998, S. 115.

11
gramm, das durch die Mystifikation der Hooligans als europaweit vernetzte
und generalstabsmäßig vorbereitete Verschwörung keine Legitimationspro-
bleme hat, weder bei den Politikern noch bei der durch die Berichte der Mas-
senmedien entsetzten Öffentlichkeit."
32
So übernahmen die Polizeipraktiker im Zuge der vom Bundeskabinett in Auftrag gege-
benen Studie von 1987 für ihr Gutachten Ergebnisse einer 1986 veröffentlichten Studie
von Herbertz und Salewski. Diese hatten ihre Veröffentlichung aber schon zurückgezo-
gen, weil Fanprojekte inhaltliche und methodische Fehler nachgewiesen hatten und selbst
polizeiinterne (!) Kritik wegen starker Vereinfachung geübt wurde.
33
Auch die politischen Instanzen, die sich seit dem Drama im Brüsseler Heysel-Stadion
1985 besonders vor größeren Wettkämpfen ebenfalls mit dem Thema befassen, müssen
sich den Vorwurf gefallen lassen, Hooligans zu instrumentalisieren. In der oben genann-
ten Studie gab es Mängel, die an einer wissenschaftlich-objektiven Betrachtungsweise
des Phänomens zweifeln lassen. So wurde hinsichtlich der Sozialbiographie der gewalt-
tätigen Fans auf eine belgische Studie zurückgegriffen, obwohl erstens bekannt ist, dass
sich die Szenen international unterscheiden, und zweitens es schon Studien zur bundes-
deutschen Szene gab, welche die belgischen Ergebnisse für Deutschland widerlegen.
34
Dies lässt vermuten, dass die Vertreter von ,,law and order", die sogenannten Hardliner,
ein großes Interesse daran haben, die Gefahr übermächtig erscheinen zu lassen, um frag-
würdige Maßnahmen (Stichwort ,,gläserner Mensch") zu rechtfertigen.
35
Heitmeyer for-
muliert es in Bezug auf Skinheads wie folgt, und ich denke, dies lässt sich problemlos
auf die Hooliganproblematik übertragen:
,,... man will es nicht wissen. [...] Je weniger man über solche Phänomene weiß,
desto einfacher ist es mit den Klischees, desto leichter kann man sich Klischee lei-
sten. Und für die politische Ebene ist es besonders attraktiv, weil gerade Skinhead-
gruppen sich dann zur Distanzfolie eignen, während die Befragung der eigenen
Politik dann völlig außen vor steht, es geht weiter wie bisher."
36
32
Ebd., S. 115.
33
Vgl.: Pilz, Gunter: Fußballfans zwischen Verständnis und Verachtung ­ Kritische Anmerkungen zum
Gewaltgutachten der Bundesregierung, in: Weis, Kurt/Winkler, Joachim: Soziologie des Sports ­ Theo-
rieansätze, Forschungsergebnisse und Forschungsperspektiven, Opladen 1995a, S 117.
34
Vgl.: ebd., S. 112.
35
Vgl: Griese Hartmut: Jugend(Sub)kulturen und Gewalt ­ Analysen, Materialien, Kritik ­ Soziologische
und pädagogikkritische Beiträge, in: Pilz, G.: Sport- Gewalt- Gesellschaft, Band 2, Münster 2000, S.
126.
36
Heitmeyer, Wilhelm: Jugend und Rechtsextremismus ­ Von ökonomisch-sozialen Alltagserfahrungen
zur rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten, in: WIS Materialien, Folge 11, Bremen 1992, S. 9.

12
Auch nach den Ausschreitungen in Leipzig am 3. November 1990, bei denen der Ju-
gendliche Mike Polley von der Polizei erschossen und etliche andere durch Schüsse ver-
wundet wurden
37
, wurden weder Jugend- und Gewaltforscher noch Faninitiativen zu den
Beratungen ins Kanzleramt eingeladen, bei denen letztlich lediglich Kartei- und Polizei-
maßnahmen beschlossen wurden.
38
Die Ausführlichkeit, mit der die Probleme dargelegt wurden, soll erklären, warum ich
mich im Folgenden neben der Forschungsliteratur auch auf Veröffentlichungen berufe,
die keinen wissenschaftlichen Anspruch erheben. Vor allem in England haben sich einige
führende Hooligans anschließend an ihre ,,Karriere" zu dem Thema geäußert und ihre
Geschichten erzählt. Schon zuvor hatte der vielfach zitierte Bill Buford, amerikanischer
Professor und Herausgeber der englischen Literaturzeitschrift Grata, in seinem Buch
,,Geil auf Gewalt ­ Unter Hooligans" von seinen ,,Erlebnissen" während seiner Feldfor-
schung berichtet.
39
Seine Darstellungen werden dadurch relativiert, dass die Hooligans in
ihren Büchern seine Anwesenheit bei den Ereignissen in Abrede stellen.
40
Diese Veröf-
fentlichungen aus der Szene oder aus deren näherem Umfeld offenbaren zwar nur die
persönlichen Blickwinkel der Verfasser und ihres Umfeldes, sind aber als Kontrast zu
den wie oben beschrieben teils verzerrenden wissenschaftlichen Darstellungen hilfreich
und beleuchten besonders aufschlussreich die vielfältigen Motivationen der Hools, ihre
Wertekataloge und ihre Einstellung zur Gesellschaft. Daher sind auch die Ausführungen
von Farin sehr hilfreich, der in seinen Veröffentlichungen ebenfalls den eigentlichen Ex-
perten, den Hooligans, das Wort erteilte und sie für sich sprechen läßt.
41
Theorien zur Zuschauergewalt
Die Theorien werden im folgenden stark vereinfacht und ohne Hinweis auf die For-
schungsgeschichte dargelegt.
42
Zumeist werden mehrere Theorien zugleich für die Erklä-
rung gewalttätigen Verhaltens bemüht, z.B. die Subkulturtheorie in Verbindung mit der
37
Näheres zum Ablauf an diesem Tag und den Folgen: Farin, Klaus/Seidel-Pielen, Eberhard: Krieg in den
Städten ­ Jugendgangs in Deutschland, 4. Auflage, Berlin 1992, S. 92ff.
38
Bott u. a. (1998), S. 116.
39
Buford, Bill: Geil auf Gewalt ­ Unter Hooligans, München 1992. Der Originaltitel ,,Among the thugs"
(,,Unter Schlägern", Übersetzung d. V.) war offenbar nicht reißerisch genug.
40
King, Martin/Knight, Martin: Hoolifan ­ 30 Years of Hurt, Hamburg 2003, S. 222.
41
Farin, Klaus/Hauswald, Harald: Die dritte Halbzeit ­ Hooligans in Berlin-Ost, Bad Tölz 1998.
42
Die folgenden Darlegungen folgen sofern nicht extra gekennzeichnet Ek (1996), S. 153ff. und König,
Thomas: Fankultur ­ Eine soziologische Studie am Beispiel des Fußballs, Münster 2002, S. 96ff. Für
eine ausführliche Diskussion der Theorien im Bezug auf Zuschauergewalt vgl. Schulz, Hans-Joachim:
Aggressive Handlungen von Fußballfans, Schorndorf 1986.

13
Lerntheorie. Um später unterschiedliche Kombinationen für die einzelnen Phasen der
Hooliganentwicklung anbieten zu können, ist es trotzdem sinnvoll, sich die Theorien
einzeln vor Augen zu führen.
1.
Aggressionstheorien
Es wird allgemein davon ausgegangen, dass Zuschauergewalt eine Folge von Aggressio-
nen ist. Aggressionen sind Verhaltensweisen mit dem Ziel der Schädigung oder Verlet-
zung und lassen sich unterschiedlich erklären.
So geht Freud in seinem Triebkonzept davon aus, dass der Mensch zwei Instinkte besitzt,
einen Wunsch nach Selbsterhaltung und einen nach Selbstzerstörung. Sie äußern sich
zum einen im Sexualtrieb, zum anderen im Destruktionstrieb. Durch Aggressionen wer-
den destruktive Energien verbraucht, d. h. Spannung abgebaut, so dass sie einen katharti-
schen Effekt auf den Ausübenden haben, also eine Reinigung der Seele von aggressivem
Potential.
Lorenz deutet den angeborenen Aggressionstrieb sogar positiv, nämlich als für das
Überleben der Spezies im Zuge von Evolution und Selektion unerlässlich. Seiner Theorie
zufolge stauen sich Aggressionen unvermeidbar auf und kommen je nach angesammel-
tem Potential durch einen äußeren Schlüsselreiz oder im Extremfall sogar spontan zum
Ausbruch. Um dies zu vermeiden, müssen nach Lorenz Möglichkeiten geschaffen wer-
den, diese Spannungen abzubauen, z.B. durch Sport oder aber durch ein aktives Zu-
schauen. Auch hier entsteht ein Katharsiseffekt, den Theweleit so beschreibt:
,,Entladung. Gewaltabbau. Der Schrei. [...] Man schreit, man weiß, dass es nicht
vergolten wird; dass sogar der beschimpfte Spieler es hinnimmt, weil er weiß, es
gilt nicht seiner Person, [...] . Und man merkt, mit all denen, die auch geschrien
haben, dass der Schrei tatsächlich erleichtert; dass mehr mit hinausgeht [...] .
Das Stadion organisiert eine gemeinschaftliche Entladung, die auskommt ohne
ein reales Opfer."
43
Neben diesen Trieb- und Instinktheorien hat sich die Frustrations-Aggressions-Theorie
etabliert, die davon ausgeht, dass frustrierende Erfahrungen bei Menschen zu aggressi-
vem Verhalten führen, vor allem wenn ein aggressiver Hinweisreiz, also ein Auslöser,
vorhanden ist. Auf den Sport bezogen heißt das, die Zuschauer bringen entweder Alltags-
frustrationen mit in das Stadion oder werden vom Spielverlauf frustriert und handeln bei
gegebenem Anlass aggressiv und gewalttätig.
43
Theweleit, Klaus: Sieg und Frieden, in: Freitag, vom 31. 03. 2006.

14
Nach der behavioristischen Lerntheorie kann Aggression erlernt werden, ist also nicht
angeboren, und ist abhängig von Auslösern. Das Erlernen erfolgt auf dem Weg des Ler-
nens am Erfolg (Bekräftigungslernen) und durch Lernen am Modell (Beobachtungsler-
nen). Erfolg ist hierbei abhängig von den Erwartungen des Handelnden, kann also so-
wohl eine Erwähnung in den Medien sein als auch die Anerkennung durch Freunde oder
Gegner als auch finanzieller Gewinn. Bemerkenswert ist dabei, dass die Bedeutung der
Erfolge höher eingeschätzt wird als die der Misserfolge mit eventuellen negativen Folgen
(Strafen, Verletzungen). Das Modelllernen erfolgt durch Beobachtung anderer Personen,
wobei die Handlungsweise eher übernommen wird, wenn die Person einen gewissen
Status und Vorbildcharakter hat. Der Zuschauer imitiert also z. B. sein Vorbild Zinedine
Zidane, der seinen Konflikt ebenfalls mit Gewalt gelöst hat. Zudem wird ein bestimmtes
Maß von verbaler Aggressivität von den Fans gefordert, um die Stimmung im Stadion für
die gegnerische Mannschaft nachteilig zu gestalten, so etwa bei den ,,Teufeln vom Bet-
zenberg", d. h. Aggressivität wird belohnt.
2.
Massenpsychologische Ansätze
Da bei allen Zuschauerausschreitungen große Personenzahlen eine Rolle spielen, haben
Forscher versucht, massenpsychologische Theorien in ihre Erklärungsmuster einzubezie-
hen. Bei diesen wird davon ausgegangen, dass eine Masse mehr ist als die Ansammlung
vieler Individuen, dass nämlich die Masse eine gemeinsame Ausrichtung von Gefühlen
und als Resultat auch Handlungen bewirkt. Buford beschreibt, was dabei geschieht:
,,In einer Masse zeigt sich unser darwinsches Selbst: Die Urhorde wird plötzlich
befreit unter dem Einfluß des Rudelinstinkts. In einer Masse zeigt sich unser freud-
sches Selbst: durch Regression in einen Zustand urtümlicher, primitiver Triebhaf-
tigkeit."
44
Das kollektive Erleben setzt dabei Triebe und Leidenschaften unkontrolliert frei. Wie
wenig die Gesellschaft auf solche Vorkommnisse vorbereitet ist, indiziert Buford anhand
der Tatsache, dass es im englischen kein Wort gibt, welches das Gegenteil von ,,zivilisie-
ren" ausdrückt.
Der Entschluss, Teil einer Masse zu werden, erfolgt zwar meist überlegt, die resultieren-
den Handlungen unterliegen ab einem gewissen Punkt aber einer Eigendynamik, die
noch nicht einmal unbedingt eine Führerfigur benötigt. Dies liegt zum einem an dem
berauschenden Gefühl der Macht, dass durch die Masse entsteht, zum anderen an der
Tatsache, dass die verübten Straftaten aller Voraussicht nach ungeahndet bleiben, weil
44
Buford (1992), S. 207ff.

15
,,jeder, auch die Polizei, ist machtlos gegen eine große Zahl Menschen, die beschlossen
haben, keinerlei Regeln zu befolgen."
45
Das Wissen darum begünstigt den Prozess der
Deindiviiduation und Gewaltausbrüche werden wahrscheinlicher. Im Stadionumfeld
bietet sich dieser Erklärungsansatz an, da die Fans hier schon durch die gemeinsamen,
spielverlaufsabhängigen Gefühle eine gleichgerichtete Masse bilden und ein kleiner An-
lass ausreicht, um sie vereint die Schwelle zur Straftat übertreten zu lassen.
3.
Schichtbezogene Erklärungsansätze
Aus England kam der Gedanke, die Zuschauergewalt aus einer Perspektive zu betrachten,
welche die sozialen Schichten, die vorrangig eine Rolle im Fußball spielen, ins Kalkül
zieht. Dabei konzentrierten sich die Forscher auf die gesellschaftlichen Veränderungen in
Großbritannien nach dem zweiten Weltkrieg und mögliche Gründe für das Eskalieren
von Fußballspielen wie etwa einen Verfall der Werte und der Solidarität innerhalb der
Arbeiterschicht. Sie gehen davon aus, dass die sich professionalisierenden Vereine und
Spieler den Bezug zu ihrer Geschichte als überwiegend von Arbeitern gegründeten und
vor allem bejubelten Mannschaften verloren. Die Jugendlichen, so die These, reagierten
durch Absonderung von den anderen Fans und erschufen eine Kultur der konservativ
männlichen Werte Härte, Stärke und Zusammenhalt. Hooliganismus ist also demnach ein
Männlichkeitsaufstand, man idealisiert Maskulinität durch die Zuschreibung positiver
Attribute.
46
4.
Subkulturtheorien
Ich werde nicht näher auf die Debatte über Kultur- und Subkulturdefinitionen eingehen,
sondern vereinfacht die bürgerliche, westeuropäische Gesellschaft mit den Eigenschaften
eines staatlichen Gewaltmonopols und eines umfangreichen Regelkatalogs als Hegemo-
nialkultur bezeichnen. Subkulturen sind hingegen eine ,,Vielzahl von Minderheiten, die
ihren Widerstand gegen eine angepaßte, profitsüchtige, bürokratisch erstarrte Gesell-
schaft"
47
artikulieren, und in zwei Typen zerfallen. Teilkulturen führen innerhalb der
Hegemonialkultur ein relatives Eigenleben und Gegenkulturen verstehen sich als Oppo-
sition zum herrschenden System. Beide Varianten können progressiv oder regressiv aus-
gerichtet sein. Zu einer Subkultur gehört allerdings auch eine gewisse Homogenität hin-
sichtlich der Musikpräferenzen, des Kleidungsstils und eventuell einer eigenen Jugend-
sprache. Unter diesen Subkulturen finden sich dann delinquente Varianten, die unter
45
Ebd., S. 69.
46
Dazu auch: Findeisen, HansVolkmar/Joachim Kersten: Der Kick und die Ehre ­ Vom Sinn jugendlicher
Gewalt, München 1999, S. 133ff. und Bliesener u. a. (2001), S. 9.
47
Schwendter, zit. nach: Griese (2000), S. 18.

16
Missachtung der Mittelschichtswerte ihre eigenen Normsysteme ausprägen und Strafta-
ten und Gewalthandlungen positiv umdeuten.
Im Fußballumfeld könnte man also von einer delinquenten Subkultur sprechen, deren
Vertreter sich durch Gewalttätigkeiten zu ihrer Gruppe bekennen, die Zugehörigkeit der
Gruppe suchen und zugleich ihrer Ablehnung der Hegemonialkultur Ausdruck verleihen.
5.
Sozialisationstheorien
Hier geht die Forschung davon aus, dass Jugendgewalt eine Folge der Individualisierung
aller Lebenslagen in unserer Gesellschaft ist. Der hohe Lebensstandard, die vielfältigen
sozialen Absicherungen, aber auch die Auflösung traditioneller Sozialmilieus mit einer
angenommenen höheren sozialen Mobilität bewirken demnach eine Vereinsamung des
modernen Menschen. Der Erfolgs- und Konkurrenzdruck führt zu Versagensangst und
Stress und einem Bedeutungsgewinn der sogenannten ,,peer-groups", der Gleichaltrigen-
gruppe, die sozialen Halt und Schutz bietet. In diesen Gruppen entwickelt sich dann eine
Gewalttoleranz, die irgendwann Gewalt als Ausdrucksmittel attraktiv findet, da diese die
alltägliche Unterlegenheitserfahrung durch die Steigerung des Selbstwert- und Machtge-
fühls ausgleicht. Heitmeyer beschreibt es so:
,,Da die Ohnmachtserfahrungen diese angebotenen Handlungsalternativen, die ja
immer größer werden, zu werden scheinen, aber dann an vielen Stellen einzuengen
drohen, kann [...] Gewalt als ein subjektives Verarbeitungsergebnis sehr schnell
sinnhaft werden. Das heißt, Gewalt wird dann attraktiv, weil sie Eindeutigkeit
schafft in unklaren, unübersichtlichen Situationen."
48
Er sieht es als konsequent an, dass Jugendliche nicht auf Gewalt verzichten, wenn ihnen
die Gesellschaft keine Bereiche bietet, in denen sie analoge Anerkennung erreichen kön-
nen wie in den Momenten, in denen sie eine Machtposition gegenüber einer verängstig-
ten Gesellschaft innehaben.
49
Gewalttätigkeiten bei Fußballspielen sind demzufolge Ergebnisse von Verarbeitungspro-
zessen einer individuellen Desintegrationserfahrung von Jugendlichen.
6.
Zivilisationstheoretischer Ansatz
Elias hat die These aufgestellt, dass im Laufe der Zivilisierung unserer Gesellschaft
Menschen ihre Gefühle und Emotionen immer stärker kontrollieren müssen. Konfliktsi-
tuationen werden heute in höchstem Maße reguliert beigelegt. Blieb es einem Menschen
früher überlassen, seine Auseinandersetzungen selber zu regeln, wurden diese zunächst
48
Heitmeyer (1992), S. 20f.
49
Ebd. S. 11.

17
in die strenge Form des Duells gepresst, bis das Gewaltmonopol schließlich vollends auf
den Staat überging. Heute bleiben selbst Verbalinjurien oft nicht ohne rechtliche Konse-
quenzen, die Einzelperson muss seinen Affekthaushalt disziplinieren. Die Theorie geht
aber von einem Bedürfnis des Menschen nach Spannung und Affektivität aus und hält
Gewalthandlungen für eine Möglichkeit gerade Jugendlicher, ihre Erlebnisarmut zu
durchbrechen. Andere Varianten stellen Extremsportarten oder kriminelle, teils lebensge-
fährliche Handlungen wie Bahnsurfen oder Crashfahrten dar. Es geht also um Grenzer-
fahrungen jenseits der Norm. Gewalt ist dabei der Gegenbegriff zur Zivilisation, Inbe-
griff von Chaos, und ruft bei ihrem Auftreten deshalb eine so starke Reaktion hervor,
weil die selbsternannte ,,Zivilisation" unter Legitimationsdruck steht, da sie sich unter
anderem durch ein staatliches Gewaltmonopol von den ,,Barbaren" unterscheidet.
50
Die Gewalttätigkeiten im Fußballumfeld lassen sich also als ein Ausleben eines Aben-
teuerbedürfnisses erklären, das durch die besonderen Gegebenheiten des Fußballumfel-
des (Stichwort Masse) begünstigt wird.
Diesen Theorien möchte ich in Bezug auf meine zentrale Fragestellung noch zwei Ansät-
ze hinzufügen.
Zum einen kann Gewalt auch durchaus zielorientiert und vollkommen bewusst im Sinne
eines politischen Protestes oder im Dienste einer politischen Überzeugung verübt wer-
den. Sie wäre dann unter Umständen gar nicht ,,gewollt" und Ausdruck von wie auch
immer entstandenen Aggressionen, sondern könnte als ,,notwendig" erachtet werden. Im
Hinblick auf die rechtsradikalen Tendenzen, die den Hooligans öfter unterstellt werden,
51
ist dies zu untersuchen.
Zum anderen hat körperliche Gewalt in unserer Gesellschaft in einer letzten Enklave ih-
ren Platz behaupten können, im Bereich des Sports. Neben dem traditionellen Boxen, das
nach wie vor Millionen vor die Fernseher bringt, sind es besonders auf den Sportsendern
Extreme wie ,,Ultimate Fighting" und Varianten asiatischer Kampfsportarten, die sich
großer Beliebtheit erfreuen. Was diese Auseinandersetzungen von einer ,,Prügelei" zu
einer Sportart macht, sind nach Güldenpfennig folgende Komponenten:
52
a)
Sport ist leistungsbezogen;
50
Borschert, Bernhard: Technische Zivilisation und moderne Gesellschaft ­ Eine Problemskizze am Bei-
spiel des Sports, in: König, Eugen/Lutz, Ronald (Hrsg.): Bewegungskulturen ­ Ansätze einer kritischen
Anthropologie des Körpers, Sankt Augustin 1995.
51
So nach den Länderspielen in Polen 1996 und der Slowakei 2005, als antisemitische und rechtsradikale
Schlachtrufe ertönten.
52
Güldenpfennig, Sven: Freizeitsport ­ der unpolitische Freiraum?, in: Franke, Elk (Hrsg.): Sport und
Freizeit, Reinbek bei Hamburg 1983, S. 141.

18
b)
Sport ist sozialen Regeln unterworfen, er unterliegt Regeln, die eigens für diesen
künstlichen Konflikt konstruiert wurden;
c)
Sport ist in dem Sinne unproduktiv, dass er kein materielles Produkt erzeugt.
Es ist also zu untersuchen, inwiefern Hooligans auch nur Vertreter einer neuen und ille-
galen Sportart darstellen, welche ,,lediglich" die Anzahl der Personen in der Kampfarena
erhöht.
Geschichte der Zuschauergewalt
In der öffentlichen Wahrnehmung sind Zuschauerausschreitungen ein jüngeres Phäno-
men.
53
Dieser Eindruck beruht vermutlich auf der Tatsache, dass sich die Medien erst seit
den 70er Jahren ausführlicher mit dem Thema beschäftigen. Sportveranstaltungen wer-
den aber schon seit ihren Anfängen immer wieder von Krawallen heimgesucht.
Die Dionysien in Chios in der griechischen Antike wurden so gesichert, dass die Analy-
sen und Ratschläge des Tacitus zu den Maßnahmen sich wie die heutigen Polizeieinsatz-
pläne bei Großveranstaltungen lesen. Bei Olympia sorgten sogenannte ,,Stock- und Peit-
schenträger" mit dem ausdrücklichen Recht auf körperliche Bestrafung für Ruhe und
Ordnung. Nachdem wiederholt betrunkene Zuschauer bei Wettkämpfen randalierten, sah
sich um 450 v. Chr. die Heiligtumverwaltung des Stadions von Delphi veranlasst, die
Mitnahme von Wein in den inneren Bereich des Stadions zu untersagen. Denunzianten
wurde die Hälfte des Strafgeldes in Aussicht gestellt, um dieser Maßnahme zum Erfolg
zu verhelfen.
Im Römischen Reich kam es 59 n. Chr. zu etlichen Toten und Verletzten nach einem
Gladiatorenkampf, weil rivalisierende Zuschauer sich mit Messern und Steinen angrif-
fen.
54
Auch aus dem Mittelalter sind uns gewalttätige Auseinandersetzungen im Umfeld von
Sportwettkämpfen überliefert und hier beginnt auch, was Dunning wie folgt beschreibt:
,,Die Geschichte des Fußballs, dies ist nur den wenigsten bewusst, ist bei genaue-
rer Betrachtung eine Geschichte des Aufruhrs, der Ausschreitungen, der ,,Unord-
nung", kurz: des ,,abweichenden Verhaltens"."
55
Im Jahre 1314 verkündete der Bürgermeister Londons, Nicholas Farnden:
53
Vgl. dazu und zu den folgenden Ausführungen sofern nicht anders gekennzeichnet: Pilz (2006a).
54
Stein (1993), S. 387.
55
Dunning (o. J.), S. 124.

19
,,While the king is engaged in war in Scotland and has bid us to keep peace, large
scale riots take place during ball games in the city. Therefore, in the name of His
Majesty, we forbid the playing of such games within the town. Those who violate
the ban will be imprisoned."
56
Ende des 19. Jahrhunderts wuchs in England bei Adel und Bürgertum die Furcht, dass
durch Massenveranstaltungen wie große Fußballspiele die öffentliche Ordnung bedroht
sei, und bald traute sich die Oberschicht, der das Spiel noch bis wenige Jahre zuvor vor-
behalten war, gar nicht mehr in die Stadien. Fehlverhalten und Straftaten von Zuschauern
waren an der Tagesordnung, wie die Forschungsgruppe aus Leicester beweist. Spielfel-
dinvasionen und das Auseinandernehmen der Sitzplatzreihen waren häufig, ebenso der
exzessive Alkoholgenuss, Angriffe auf Spieler, Schiedsrichter und vor allem gegnerische
Fans.
57
Auch in Deutschland hatte sich die Situation verschärft. Im Jahre 1908 wendet sich der
Fußballverein SV Werder Bremen an die Polizeidirektion Bremen zur Bereitstellung von
zwei Beamten, um vor herumpöbelnden Zuschauern geschützt zu werden.
Das Jahr 1909 brachte mit der ersten Massenausschreitung den vorläufigen Höhepunkt
von Fußballkrawallen. Beim schottischen Pokalendspiel der Glasgow Rangers mit vor-
wiegend protestantischem Anhang gegen Celtic Glasgow mit zumeist katholischen Fans
kam es nach dem Abpfiff zu einer Spielfeldinvasion, bei der zunächst die Torpfosten
zerlegt wurden, anschließend die berittene Polizei in ein Handgemenge verwickelt wur-
de, bei dem über 50 Personen verletzt wurden und man schließlich Barrikaden baute und
anzündete. Die Feuerwehr wurde durch das Zerstechen der Schläuche am Löschen ge-
hindert, so dass die Sitzreihen Feuer fingen, und vier Polizisten wurden zum Teil durch
Messerstiche verletzt, als man einen festgenommenen Fan befreite.
58
Die Behörden versuchten, das Problem in den Griff zu bekommen, indem man Soldaten
und Matrosen umsonst ins Stadion ließ, damit sie bei der Kontrolle der Massen helfen
könnten.
59
Zwischen den Weltkriegen blieb das Problem in Schottland ungelöst, in England ließen
die Unruhen etwas nach, fanden allerdings einen erneuten Höhepunkt 1923 beim Poka-
lendspiel Westham gegen Bolton in Wembley. Tausende Zuschauer verschafften sich
56
Kupelian (2005), und für die Übersetzung Harnischmacher, Robert: Hooligans und ihre Gewalt, in: Hur-
relmann, Klaus (Hrsg.): Anti-Gewalt-Report ­ Handeln gegen Aggressionen in Familie, Schule und
Freizeit, Weinheim 1995, S. 135.
57
Statistiken und ausführliche Berichte zu einzelnen Begegnungen in Dunning u.a. (1988).
58
Buford (1992), S. 95f.
59
Kupelian (2005).

20
ohne zu bezahlen Eintritt in das Wembleystadion, zerstörten sogar die Königliche Tribü-
ne und mussten von berittener Polizei auseinandergetrieben werden.
60
Das Phänomen der
Zuschauerausschreitungen beschränkte sich dabei weitestgehend auf sogenannt Derbys,
also Spiele zwischen Mannschaften, deren Heimplätze geographisch unweit voneinander
entfernt lagen.
61
In London ergaben sich dafür viele Möglichkeiten und an Derbyspielta-
gen brach die Gewalt teilweise schon am Morgen aus und zog sich bis in die Nacht nach
dem Spiel.
62
In Italien kam es 1920 ebenfalls zu einem Krawall, bei dem zunächst der Schiedsrichter
erschossen wurde, die Fans anschließend die Polizisten entwaffneten und in der Stadt
randalierten. In Argentinien starben 1936 der Schiedsrichter und ein Polizist bei Krawal-
len und auch nach dem Zweiten Weltkrieg trat keine Beruhigung ein. Bei einem Pokal-
spiel in England kommt es 1946 zu 33 Toten und über 500 Verletzten. 1955 berichteten
englische Zeitungen von Vorfällen in Schweden, Jugoslawien, Portugal, Kenia und der
Schweiz.
63
Den traurigen Höhepunkt bietet die Katastrophe von 1964 in Lima, wo bei
einem Olympia- Qualifikationsspiel zwischen Peru und Argentinien nach einem nicht
anerkannten Tor bei Tumulten 350 Menschen getötet und über 500 verletzt werden.
64
II. Kapitel: Phasen und Erklärungen des Hooliganismus in
Großbritannien
Phase 1: Die Anfänge des modernen Hooliganismus
Die Tatsache, dass Fußballzuschauer über die Stränge schlagen, war also in den 60er
Jahren hinreichend bekannt. Trotzdem machte sich nach dem Krieg schleichend eine
Veränderung bemerkbar. Die Eisenbahnverbindungen wurden preiswerter und ermög-
lichten es den Fans, ihre Mannschaften auch auswärts zu unterstützen. Besonders die
Fans aus Liverpool und London machten davon Gebrauch und ließen ihren meist ju-
gendlichen Übermut oder den Frust nach einem verlorenen Spiel an den Waggons aus.
60
Ebd.
61
Dunning, Eric (o. J.), S. 126.
62
King, John, in: King u. a. (2003), S. 13.
63
Murphy, Patrick/Williams, John/Dunning, Eric: Football on trial ­ Spectator violence and development
in the football world, London 1990, S. 80.
64
Alle Angaben dieses Absatzes und einen umfangreichen Überblick zu historischen Ausschreitungen in
Stein (1993), S. 381f.

21
So berichtet die ,,Times" am 5. März 1956 von Fans aus Everton, die nahezu sämtliche
Züge, die sonnabends nach Liverpool zurückkamen, beschädigten, und benannte diese
ein Jahr später auch schon als ,,Hooligans"
65
, ein Begriff, der sich im folgenden immer
mehr auf Gewalt im Fußballumfeld beschränkte. Zu diesem Zeitpunkt war es auch schon
mehrfach zu Angriffen auf die gegnerischen Spieler und ihre Busse gekommen.
66
Auf
das Zerstören von öffentlichem Eigentum blieb das Augenmerk der Bevölkerung bis in
die Anfänge der 60er Jahre hinein gerichtet. Doch auch im Umfeld der Stadien kam es zu
Auseinandersetzungen in Form von Wurfgeschossangriffen auf gegnerische Fans und
Spieler. Wiederum tat sich Everton dermaßen negativ hervor, dass die Football Associa-
tion den Verein im November 1963 zwang, als erster Drahtzäune hinter den Toren zu
errichten, während Manchester United die Wirkung von sechsmonatigen Stadionverboten
testete.
67
Der Anteil junger Fans am Publikum wuchs beständig und obwohl Indizien
dafür sprachen, dass die Übeltäter häufig älter waren, richtete sich die erste Präventiv-
maßnahme gegen den Nachwuchs. British Railways stoppte den Verkauf der Tickets für
,,football specials" aus Liverpool, die zuvor zum halben Preis erhältlich waren, eine
Maßnahme, welche die nichtverdienenden Jugendlichen am härtesten traf. Außerdem
wurde darüber nachgedacht, Jugendliche unter 14 Jahren nur in Begleitung Erwachsener
in die Stadien zu lassen und die eingelassenen etwas älteren an bestimmten Punkten im
Stadion zu sammeln.
68
Damit wurde vermutlich der Prozess in Gang gesetzt, der bis zum
Ende der 60er Jahre zur Herausbildung von Fanblocks und -kurven führte. Diese Kon-
zentration vereinfachte das gemeinsame Anfeuern der Mannschaft durch ein weiteres
neues Element: aggressive, teils vulgäre Fangesänge und Sprechchöre, die in den neuen
,,Fanblocks" mit bemerkenswerter Kreativität dargeboten wurden und den Stadionbesuch
für den Nachwuchs noch interessanter und aufregender machten.
69
Das Phänomen des ,,soccer rowdyism", das es 1964 schon an die Spitze der laut Football
Association wichtigsten Probleme des Fußballs geschafft hatte, gewann internationale
Brisanz, als es 1965 bei einem Gastspiel des Londoner Vereins Chelsea FC in Rom zu
Gewalttätigkeiten seitens der Italiener kam. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Zeitungen
schon wiederholt vor Ausschreitungen bei der Weltmeisterschaft 1966 in England ge-
warnt und gefordert, dass ,,complete discipline and control" hergestellt werden müsse.
70
65
Dunning u. a. (1988), S. 142.
66
Murphy u. a. (1990), S. 80.
67
Ebd. S. 144f.
68
Dunning u. a. (1988), S. 145.
69
Ek, (1996), S. 34.
70
Zit. nach Dunning u. a. (1988), S. 148. Die folgenden Darlegungen sind ebenfalls hier entnommen, so-
fern nicht anders gekennzeichnet.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2007
ISBN (eBook)
9783836618052
Dateigröße
678 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin – Philosophische Fakultät IV, Sportwissenschaft
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
1,0
Schlagworte
hooligan fangewalt fussball hools hooliganismus
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Titel: Zum Wandel des Hooliganismus im Sport
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