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Schneller, näher, persönlicher: die Veränderung dokumentarischer Formate durch die DV-Technologie

©2008 Diplomarbeit 176 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Bei einem Videojournalismus-Seminar kam uns die Idee, ein Thema, das wir bereits in Radio- und Printbeiträgen aufbereitet hatten, als Dokumentarfilm umzusetzen: Wir nahmen uns vor, rumänische Staatsbürger bei ihrer illegalen Arbeit im Ausland zu begleiten. Eine Sendezusage oder eine andere Finanzierungsmöglichkeit für den Film hatten wir nicht. Dennoch ermöglichte es uns die kleine DV-Kamera, die wir uns kostenlos leihen konnten, das Projekt durchzuführen. Trotz diverser Probleme – Protagonisten sprangen ab und das Drehen an illegalen Arbeitsstellen war entgegen der Zusagen kaum möglich: am Ende stand ein 60-minütiger Dokumentarfilm, der zwar nicht im Fernsehen gezeigt wurde, aber beim Dok Leipzig Markt (Bestandteil des Dokumentarfilmfestivals Leipzig) und beim internationalen VJ-Award lief.
Bis vor einigen Jahren wäre dergleichen nicht so leicht möglich gewesen. Mit einer Kamera- und Schnittausrüstung im Wert von weniger als 4.000 Euro kann man heute ohne weiteres hochwertiges Material drehen und schneiden – die technische Qualität günstiger Geräte entspricht der des weitaus teureren Equipments in den Sendeanstalten zunehmend. Wesentliche Ursache dieses Phänomens ist die Digitalisierung, konkret die Entwicklung des ursprünglich lediglich für Consumer-Kameras konzipierten Aufnahmeformates Digital Video (DV), das auch den technischen Ansprüchen vieler Sendeanstalten genügt. Durch die Entwicklung der digitalen Formate DV und für hochauflösendes Fernsehen HDV verwischen die technischen Möglichkeiten von so genannten professionellen, teuren und den weitaus kostengünstigeren semiprofessionellen Kameras immer weiter.
Da die Eigenschaften der kleinen DV-Kameras – sie sind schnell und flexibel einsetzbar – vor allem bei dokumentarischen Formaten von Vorteil sind, kündigen viele Filmemacher bereits eine Revolution innerhalb des Dokumentarfilmgenres an. So schreibt etwa Filmautor Christian Bauer: „Dokumentarfilmer sind […] immer die ersten gewesen, die neue technische Möglichkeiten nutzten – und sie haben inhaltlich und ökonomisch profitiert. Selbst alte Fahrensleute, die einst schworen, nie eine Videokamera in die Hand zu nehmen, schwärmen heute von Sony und HDV und meinen damit auch einen anderen Blick auf die Realität. Aber was wir seit dem Beginn des digitalen Zeitalters erleben, ist viel mehr als ein technologischer Sprung.“
Das gesamte Berufsbild und auch das Genre selbst scheinen sich vollkommen zu wandeln: Durch DV und […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1. Einleitung

Bei einem Videojournalismus-Seminar kam uns die Idee, ein Thema, das wir bereits in Radio- und Printbeiträgen aufbereitet hatten, als Dokumentarfilm umzusetzen: Wir nahmen uns vor, rumänische Staatsbürger bei ihrer illegalen Arbeit im Ausland zu begleiten. Eine Sendezusage oder eine andere Finanzierungsmöglichkeit für den Film hatten wir nicht. Dennoch ermöglichte es uns die kleine DV-Kamera, die wir uns kostenlos leihen konnten, das Projekt durchzuführen. Trotz diverser Probleme – Protagonisten sprangen ab und das Drehen an illegalen Arbeitsstellen war entgegen der Zusagen kaum möglich: am Ende stand ein 60-minütiger Dokumentarfilm, der zwar nicht im Fernsehen gezeigt wurde, aber beim Dok Leipzig Markt (Bestandteil des Dokumentarfilmfestivals Leipzig) und beim internationalen VJ-Award lief.

Bis vor einigen Jahren wäre dergleichen nicht so leicht möglich gewesen. Mit einer Kamera- und Schnittausrüstung im Wert von weniger als 4.000 Euro kann man heute ohne weiteres hochwertiges Material drehen und schneiden – die technische Qualität günstiger Geräte entspricht der des weitaus teureren Equipments in den Sendeanstalten zunehmend. Wesentliche Ursache dieses Phänomens ist die Digitalisierung, konkret die Entwicklung des ursprünglich lediglich für Consumer-Kameras konzipierten Aufnahmeformates Digital Video (DV), das auch den technischen Ansprüchen vieler Sendeanstalten genügt. Durch die Entwicklung der digitalen Formate DV und für hochauflösendes Fernsehen HDV verwischen die technischen Möglichkeiten von so genannten professionellen, teuren und den weitaus kostengünstigeren semiprofessionellen Kameras immer weiter.

Da die Eigenschaften der kleinen DV-Kameras – sie sind schnell und flexibel einsetzbar – vor allem bei dokumentarischen Formaten von Vorteil sind, kündigen viele Filmemacher bereits eine Revolution innerhalb des Dokumentarfilmgenres an. So schreibt etwa Filmautor Christian Bauer: „Dokumentarfilmer sind […] immer die ersten gewesen, die neue technische Möglichkeiten nutzten – und sie haben inhaltlich und ökonomisch profitiert. Selbst alte Fahrensleute, die einst schworen, nie eine Videokamera in die Hand zu nehmen, schwärmen heute von Sony und HDV und meinen damit auch einen anderen Blick auf die Realität. Aber was wir seit dem Beginn des digitalen Zeitalters erleben, ist viel mehr als ein technologischer Sprung.“[1]

Das gesamte Berufsbild und auch das Genre selbst scheinen sich vollkommen zu wandeln: Durch DV und HDV finden Dokumentarfilme mit einer anderen Filmsprache ins Fernsehen, die auf andere Weise hergestellt wurden. Die Filme werden zunehmend auch von Filmemachern produziert, die zuvor nicht der exklusiven Gilde der Dokumentarfilmer angehörten, die sich nicht in langen Jahren als Fernsehautoren oder aufgrund eines Film-Studiums etablieren konnten. „Jetzt haben auch Leute mit einer natürlichen Begabung fürs Filmemachen ihre Chance: Drehen und Schneiden kann jeder zu Hause lernen, und die Grammatik des visuellen Erzählens ist für die MTV-Generation keine Geheimwissenschaft mehr, sondern kulturelle Grundausstattung geworden.“[2]

Inwieweit DV sich mittlerweile im dokumentarischen Fernsehen durchgesetzt hat, soll Inhalt dieser Arbeit sein. Außerdem wollen wir die Auswirkungen der DV-Technologie auf den Dokumentarfilmmarkt, die DV-spezifische Arbeitsweise und Ästhetik untersuchen. Des weiteren sollen Vor- und Nachteile der neuen Entwicklung für das dokumentarische Format herausgearbeitet werden.

Dazu soll zunächst ein Überblick über die Geschichte des Dokumentarfilms und verschiedene Definitionsversuche (Kapitel 2) gegeben und die Entwicklung der Videoformate, insbesondere der DV-Technik, aufgezeigt werden (Kapitel 3). Im Kapitel 5.1. werden die im Fernsehen vorhandenen Sendeplätze für dokumentarische Formate vorgestellt. Dieser Abschnitt soll eine Einordnung in den Gesamtkontext ermöglichen und ist Basis für die weitere Untersuchung. Im ersten Schritt des empirischen Teils dieser Arbeit untersuchen wir – weitgehend quantitativ – den Einsatz von DV-Kameras in den Dokumentarfilmredaktionen im deutschen Fernsehen (Kapitel 5.2.).

Im zweiten Untersuchungsschritt (Kapitel 6) gehen wir auf die Vor- und Nachteile der DV-Technologie in Bezug auf den Dokumentarfilmmarkt, die Inhalte, die Produktion, Arbeitsweise und Ästhetik ein. Hierzu greifen wir zum einem auf Literatur zum anderen auf Befragungen von Dokumentarfilmern zurück.

Letztendlich soll die Arbeit ein erster Schritt bei dem Versuch sein, das Phänomen DV in seinen verschiedensten Facetten und Auswirkung zu fassen und Prognosen für die Zukunft des dokumentarischen Formates aufzuzeigen.

2. Der Dokumentarfilm: Qualitätsmerkmal oder Genrebezeichnung – Versuch einer Definition

Eine genaue Definition des Begriffs Dokumentarfilm kann schwer gegeben werden. Es ist noch nicht einmal geklärt, ob es sich hierbei um ein bestimmtes Genre, einen Sammelbegriff für verschiedenste Genreformen, oder möglicherweise um ein Qualitätsmerkmal handelt, mit dem viele Filmemacher – selbstverständlich auch ihre eigenen – Filme etikettieren. Einheitliche Kennzeichen sind jedenfalls schwer auszumachen, so auch Witzke und Rothaus: „Kaum eine Filmform hat so unterschiedliche Produkte hervorgebracht, wie der Dokumentarfilm. Es gibt Filme, die weitgehend dem Verständnis von authentischer Reportage entsprechen; es gibt Dokumentarfilme, in denen ein Schauspieler einen Text vorliest und sonst nichts passiert; es gibt Dokumentarfilme, die aus Spielfilmszenen und Bildern von Überwachungskameras kompiliert sind.“[3] Ein Blick ins Fernsehprogramm verwirrt noch weiter: Dort wird unter dem Begriff „Doku“ ein Potpourri aus Reportagen, Features, Porträts, Dokudramen und Doku-Soaps angeboten.

Mit einer hieb- und stichfesten, formelhaften Genredefinition konnte jedenfalls bisher noch niemand aufwarten, und dies, obgleich sich an die Fragen, was Dokumentarfilm überhaupt sei und welche Bedingungen er zu erfüllen habe, bereits lange Diskussionen knüpften. Eine Grundlage bleibt jedoch fast allen Definitionsversuchen gemeinsam – der Bezug zur vermeintlichen Realität und ihres Beleges, den der Begriff documentum (Beweis, Beglaubigung) in sich trägt.[4] Hieraus leitet Benedikt Berg-Walz ab: „Als dokumentarisch sind […] all jene Filme zu bezeichnen, die sich auf eine nichtfilmische Realität beziehen.“[5] Dokumentarfilm ist folglich ein „auf der Realität beruhender Filmtyp“[6], wie ihn das Handbuch der Massenkommunikation und Medienforschung definiert. Von dieser gemeinsamen Grundlage ausgehend können zwei „miteinander verbundene methodische Vorgehensweisen, […] traditionelle Versuche, den Dokumentarfilm zu definieren“[7] unterschieden werden. „Die eine besteht darin, ihn in Relation zum Spielfilm zu betrachten, d.h. Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen beiden Formen auszuloten. Die andere versucht das besondere Verhältnis des Dokumentarfilms zur äußeren Wirklichkeit zu charakterisieren."[8] Je nach Zeitgeist und subjektiver Einstellung wandeln sich hierbei die Ansichten.

Abgrenzung des Dokumentarfilms vom Spielfilm

Um den Dokumentar- vom Spielfilm abzugrenzen, können Kriterien wie erstens „nicht inszenieren“ und zweitens „keine Schauspieler einsetzen“ herangezogen werden. Dies birgt allerdings in Grenzfällen immer wieder Probleme. So könnte anhand dieser Kriterien nicht entschieden werden, ob Filme, in denen Schauspieler einen authentischen Text vorlesen oder Filme, die sowohl mit inszenierten Szenen, als auch Original-Material arbeiten (wie es etwa Heinrich Breloer umsetzt) zur Gattung des Dokumentar- oder Spielfilms gehören. Die Unterschiede verwischen heute umso mehr, als Spielfilme gerne mit den stilistischen und dramaturgischen Mitteln des dokumentarischen Films („Muxxmäuschenstil“, „Blairwitch Project“) und Dokumentarfilme mit den dramaturgischen Mitteln des Spielfilms (insbesondere in Bezug auf Sound-Design, Animationstechnik, aber auch Re-enactment) arbeiten. Hierzu Kay Hoffmann:

„Immer häufiger inszenieren Dokumentationen bestimmte Situationen oder casten ihre Protagonisten wie Schauspieler. Der vermeintliche Gegensatz von Dokumentar- und Spielfilm ist obsolet geworden. [….] Betrachtet man die Filmgeschichte insgesamt, muss man jedoch feststellen, dass dieser Gegensatz immer schon ein eher akademischer war. Vor der Einführung mobiler 16mm-Kameras mit Synchronton, die maßgeblich für die Durchsetzung neuer Dokumentarfilmstile ob nun Direct Cinema oder Cinéma Vérité verantwortlich waren, wurden Kultur- und Dokumentarfilme allein schon wegen der technischen Drehbedingungen vor der Kamera in gesetzten Lichtsituationen inszeniert oder es werden hybride Formen gewählt.“[9]

Als Beleg für die Ununterscheidbarkeit von Spiel- und Dokumentarfilm werden zudem gerne die Filme Flahertys herangezogen: Als erste mit dem Begriff der Dokumentation bezeichnet, wurde bei seinen bekanntesten Filmen, Moana und Nanook of the North, trotz allem mit Inszenierungen gearbeitet und das Rohmaterial nach dem dramaturgischen Konzept des Spielfilms montiert.

„Mit (im landläufigen Sinne) dokumentarischen Streifen hat die Filmgeschichte ja überhaupt begonnen. Aber schon bald hatte sich das Publikum zu langweilen begonnen – angesichts von Babys, die gefüttert wurden, von Zügen, die in den Bahnhof einfuhren, von Arbeitern, die die Fabrik verließen. Was das Publikum schon in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts vom jungen Medium Film verlangte, waren Sensationen und Eindrücke, die ihm zuvor ältere Medien vermittelt hatten: Geschichten und Dramen, eingespannt zwischen expositorischem Anfang, Verwicklung, Höhepunkt und einem lösenden Ende. Und es war der Spielfilm, der diesen Bedürfnissen Rechnung trug. Erst als Flaherty sein Rohmaterial (die Bilder des polynesischen Jungen) solchen bereits prä-existenten ästhetischen Strukturen, genauer: diegetischen Erzählstrukturen, anpaßte und unterwarf, konnten Grierson und andere eine neue Form ausmachen, die sich dokumentarisch nannte.“[10]

Dramaturgisches Konzept und bis zu einem gewissen Grad auch Inszenierung seien folglich sogar Bestandteil des Dokumentarfilms, so die Schlussfolgerung Hellers. Sie können also schwer als Abgrenzungskriterium dienen. Vielmehr seien dramaturgische Struktur und authentische Elemente zwei Pole, die beide dazu dienen, Spannung und Interesse zu wecken. „Daher bewegt sich der Dokumentarfilmer zwischen den zwei Polen. Mal Entscheidungen zugunsten der Struktur, mal zugunsten des Geschehens vor Ort zu treffen.“[11] Eine ähnliche Ansicht vertreten Filmemacher wie Klaus Kreimeier und Alexander Kluge; die Dokumentarfilmer des Direct Cinema wie Klaus Wildenhahn würden hingegen eher widersprechen.[12] Letztendlich besteht zwischen den beiden Gattungen Spiel- und Dokumentarfilm wohl eher ein fließender Übergang, wobei der Dokumentarfilm immer auf das Reale reflektiert, während der Spielfilm auch allein auf das Imaginäre Bezug nehmen darf.[13]

Definitionsversuch des Begriffs Dokumentarfilm mittels Wirklichkeitsbezug

Wie stark der Bezug des Dokumentarfilms zur Realität zu sein hat, darüber herrscht Uneinigkeit unter den Dokumentarfilmern und Medienwissenschaftlern. Während die Vertreter des Direct Cinema durch bestimmte Vorgaben, wie beispielsweise am Drehort nichts zu verändern, kein zusätzliches Filmlicht zu nutzen, nicht einzugreifen und bei der Montage weder Geräusche noch Musik zu verwenden, die am Drehort nicht vorgefunden wurden, sich der Realität und ihrer Abbildung stark verpflichtet fühlten, wandten andere ein, diese Vorgehensweise würde nur verdecken, dass es „nichtfilmische Realität nicht mehr [gibt], sobald die Kamera eingeschaltet wird“.[14] Spätestens bei der Montage, werde dem Wunsch, Realität darzustellen, eine Absage erteilt, da „Film […] in den meisten Fällen einen Ausschnitt aus einer in ihrer Ganzheit nie darstellbaren Wirklichkeit repräsentieren [muss und will] – in den filmischen Diskurs einschreibt und als solche von den Rezipienten decodiert werden soll.“[15] Das Kunstwerk ersetzt und kopiert nicht die Realität, es stellt selbst eine ästhetische Realität her, die nach eigenen Gesetzen konstruiert ist und gleichzeitig beansprucht, eine Wahrheit darzustellen, die letztendlich nur ästhetisch mitteilbar ist, die aber nicht über eine außerliterarische Faktizität informiert.[16] Dokumentarfilm ist kein Abbild der Realität, ihm „liegt vielmehr das Motiv zugrunde, in konkreten historischen Zusammenhängen Ausschnitte der Realität dem tatsächlichen oder imaginierten Zuschauer in einem für ihn bedeutungsvollen Licht erscheinen zu lassen“, schlussfolgert Heller und rückt so bei den Definitionsversuchen das Verhältnis zwischen Dokumentarfilm und Zuschauer in den Vordergrund.[17]

Die Wahrnehmung des Zuschauers als Grundlage der Definition

Führt man diesen Gedanken fort, so rückt anstelle des Realitäts- oder Wirklichkeitsanspruchs das Ziel, der Film möge für den Referenzbezug – in diesem Fall den gezeigten Wirklichkeitsausschnitt – bürgen, also dem Zuschauer zuverlässig und glaubwürdig, d.h. authentisch erscheinen (authentisch = verbürgt, zuverlässig, eigenhändig, glaubwürdig)[18]: „Authentisch sind Bilder dann, wenn ihr Referenzbezug auf das, was sie abbilden, verbürgt ist – entweder durch ihren Urheber oder durch ihre ästhetische Strategie. Und dokumentarische Bilder sind dann authentisch, wenn die Referenz auf den Wirklichkeitsausschnitt, den sie zeigen, verbürgt ist […]“[19], schreibt Kreimeier.

Die Grundsätze des Direct Cinema würden so in einem anderen Licht erscheinen: Die selbst auferlegte Nichtinszeniertheit und Nichtintervention sind nun nicht Grundlage für die Darstellung von Realität sondern lediglich Basis für einen Authentizitätsanspruch, für den Versuch, beim Zuschauer das Gefühl des „being there as it happens“ hervorzurufen.[20] Bußmann spricht in diesem Zusammenhang von einem Fiktionalitätskriterium, das auf einem Kontrakt zwischen Autor und Rezipienten besteht und Teil der jeweiligen Gattungskonvention ist.[21] Ob ein Dokumentarfilm seine authentische Wirkung entfalten kann, hängt somit von dem Zustandekommen eines „Wahrnehmungsvertrags“ mit den Zuschauern ab. Um Authentizität zu verbürgen, hat sich eine spezifische, jedoch beständig ändernde Kamerasprache wie beispielsweise die entfesselte Kamera (Kameraruckler), O-Töne, aber auch der Hinweis auf das Aufnahmedatum oder den Aufnahmeort zu Beginn des Films entwickelt. Keitz und Hoffmann greifen diesen Gedankengang auf und stellen einen Zusammenhang zum ehemaligen Ausgangspunkt der Definitionsfindung – dem Bezug des Dokumentarfilms zur Wirklichkeit – her:

„Mit dokumentarischen Filmen verbindet sich wesensmäßig die Darstellungs- und Wahrnehmungskonvention, dass im Unterschied zum Fiktionsfilm Wirklichkeit selbstevident zur Anschauung komme; zwar nicht frei von perspektivischen, interpretativen Zurichtungen und auch oft nicht unberührt von manipulativen in das ‚Rohmaterial’ (Kracauer) der Wirklichkeit, doch der Glaube an eine prinzipielle Authentizität der dokumentarischen Filmbilder schwingt selbst noch in der Kritik an deren Verzerrungen oder Verfälschungen mit.“[22]

Für den Zuschauer ergebe sich daraus nach Hohenberg eine andere Art der Wahrnehmung: „Was der Zuschauer im fiktionalen Film trotz allem weiß, daß er 'nur' einen Film sieht, muß er im Dokumentarischen unterdrücken. Sein 'filmischer Zustand' ist anders, seine Regression weniger stark, seine Wahrnehmung eher sekundärprozeßhaft bestimmt, sein Voyeurismus ist von vornherein mit schlechtem Gewissen beladen, da er dem Dargestellten nicht jenen freiwilligen Exhibitionismus zuschreiben kann wie im fiktionalen Film."[23]

Abgrenzung gegenüber anderen non-fiktionalen Genres

Doch die Abgrenzung von Fiktion und Realität würde allein nicht ausreichen, um den Begriff Dokumentarfilm zu definieren. Die Feststellung, dass es sich bei diesem um ein nicht fiktionales Genre handelt, grenzt den Dokumentarfilm noch nicht gegenüber anderen nicht fiktionalen Genres wie den Nachrichten, dem Feature, der Reportage oder den Magazinbeiträgen ab. Da dies bisweilen schwer fällt – feste Kriterien gibt es hierfür kaum – wird der Begriff Dokumentarfilm oder auch der Begriff der Dokumentation gerne als Über- und Sammelbegriff für längere, non-fiktionale Film- und Fernsehformate genutzt, die „der Hintergrundberichterstattung, nicht an Aktualität gebunden, der Darstellung komplexer Sachverhalte“[24] dienen. Jedoch gibt es auch die einschränkende Verwendungsweise der Begriffe, wobei die einzelnen journalistischen Spezifika – zumeist Feature, Reportage, Dokumentation und Dokumentarfilm – besonders hervorgehoben werden, um diese gegeneinander abzugrenzen:

„Der Tendenz nach geht das Feature […] von der These zu den als Beweisstücke zitierten Fakten, der Dokumentarfilm hingegen […] [gelangt] von der Beobachtung dessen, was ist, […] zu gewissen Schlüssen, dies brauchen oft nicht einmal ausgesprochen zu sein."[25] Mittels dieser Kriterien, dem deduktiven und induktiven Vorgehen, wird jedoch nicht nur zwischen Feature und Dokumentarfilm, sondern ebenfalls zwischen Feature und Reportage unterschieden – wie der Dokumentarfilm gelange auch die Reportage vom Einzelschicksal, vom konkreten Stoff zu übergeordneten Zusammenhängen.[26]

Witzke arbeitet hingegen die Gemeinsamkeiten von Dokumentation (nicht Dokumentarfilm!) und Feature in Abgrenzung zur Reportage heraus: „Die Dokumentation ist eine reduzierte Form des Features (im engeren Sinne). Anders als das Feature präsentiert die Dokumentation – wie es der Name sagt – schwerpunktmäßig Bild- und Tondokumente, keine inszenierten Aufnahmen. Die Freiheit, beliebige Materialien zusammen zu montieren, wenn es nur der eigenen Aussage dient, ist vergleichsweise eingeschränkt. Die Dokumentation ist insgesamt weniger essayistisch als das Feature, hat aber auch meist allgemeinere und abstraktere Themen zu bewältigen. […] Im Gegensatz zur Reportage, die versucht auf einen speziellen Aspekt ihres Themas zu fokussieren, zeigt die Dokumentation eine umfassende Ansicht eines Themas. Die Dokumentation hat den Anspruch, so objektiv wie möglich zu sein, die Reportage hat mehr subjektive Freiheiten. Die Dokumentation erklärt, die Reportage erzählt. Reportage und Dokumentation können als einander entgegengesetzte Formen journalistischer Dokumentararbeit gesehen werden.“[27]

Witzke spricht in diesem Abgrenzungsfall bewusst von Dokumentation, nicht von Dokumentarfilm, bei dem er gar nicht erst versucht, das Genre gegenüber Feature und Reportage abzugrenzen. Zimmermann nimmt diesen Versuch vor und sieht im Dokumentarfilm ein Genre, welches der Reportage sehr viel näher steht als dem Feature. Schaut man sich Filme des Direct Cinema an, so würde man diesem sicher zustimmen.[28] Getrennt würden diese beiden vermeintlich so verwandten Genres, Reportage und Dokumentarfilm, vor allem durch inhaltliche Gesichtspunkte, so auch Hügler: „Die Reportage ist eher das Veräußerlichte eines Themas, und ein Dokumentarfilm versucht eher an den inneren Kern heranzukommen. Ein Thema wird also auf zwei verschiedene Art und Weisen aufgerollt.“[29]

Kombiniert man die Abgrenzungsversuche von Witzke, Hügler und Zimmermann, ergibt sich folgendes Bild:

1. Es muss zwischen Dokumentarfilm und Dokumentation unterschieden werden.

2. Während die Dokumentation dem Feature nahe steht, einen Sachverhalt jedoch objektiver und umfassender darstellen muss, steht der Dokumentarfilm der Reportage nahe, legt den Schwerpunkt hierbei jedoch nicht auf äußere Themen wie etwa einen Handlungsablauf, sondern versucht, an den inneren Kern, der Befindlichkeit der jeweiligen Personen oder der Bedeutung des Geschehens für die Gesellschaft heranzukommen.

Doch sind diese Unterschiede so fließend, so schwer greifbar, dass sie selten helfen werden, die artverwandten Gattungen zu unterscheiden. Ganz davon abgesehen herrscht noch nicht einmal Einigkeit darüber, ob zwischen den Begriffen Dokumentation und Dokumentarfilm ein Unterschied besteht. Allzu häufig werden sie als Synonyme genutzt. Auch Zimmermann kommt zu dem Schluss, dass eine Abgrenzung des Genres Dokumentarfilm zu verwandten Form kaum möglich ist:

„Die Übergänge sind fließend. Es zeichnen sich aber in jenen Filmen, die sich mit kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen auseinandersetzen und als Dokumentarfilme konzipiert und begriffen worden sind, bereits früh – und verstärkt dann seit Mitte der 60er Jahre unter dem Einfluß des Direct Cinema und der Studentenbewegung – Tendenzen ab, die sich in Hinblick auf Zielsetzung, Arbeitsmethode, Form, Thematik und Rezipientenbezug vom Gros des Fernseh-Dokumentarismus unterscheiden.“[30]

Für Zimmermann dienen daher – statt formaler Kriterien – die Inhalte und Absichten des Filmemachers als Definitions-Kriterium für den Dokumentarfilm. Dies wird auch von andern Filmemachern und Medienwissenschaftlern aufgegriffen. Hierbei werden folgende Merkmale des Dokumentarfilms herausgearbeitet:

- 1. Zum einen ein pädagogischer Anspruch: "Denn wesentliches Charakteristikum der dokumentarischen Methode ist die Vermittlung von Einsichten in Zusammenhänge, auch mit pädagogischem Anspruch, dem Anspruch der Aufklärung; dies ist nur begrenzt von den tagesaktuellen journalistischen Fernsehformaten leistbar."[31]

- 2. Des weiteren die Art und Weise der Vermittlung: „Die Kompetenz des tagesaktuellen Journalismus gilt sachlicher Information, die gilt der Analyse und der Kritik des politischen Alltags und des gesellschaftlichen Kontextes. Der Dokumentarfilm ist zwar auch Information, aber nicht nur. Seine Kompetenz ist umfassender: Sie gilt der Kultur des Menschen, seinen Lebensgefühlen, Lebensweisen und Widersprüchen, seinen Weltbildern, den psychischen Schicksalen; sie gilt dem 'Alltagsdrama Leben', in dem die 'Trauerarbeit' durch Film möglich wird. So verstanden gilt für den Dokumentarfilm der Satz: Der Inhalt gewinnt erst durch die Emotion an Bedeutung und schafft Einsicht."[32]

Jedoch sind diese Kriterien – Zusammenhänge und Einsichten zu vermitteln und die Emotionen der Zuschauer anzusprechen – eher Qualitätsmerkmale, an denen sich alle Fernseh- und Filmgenres wohl mehr oder minder messen lassen müssen. Als Abgrenzungsmerkmale erscheinen sie daher eher ungeeignet. So diente der Begriff Dokumentarfilm denn auch in jahrelangem Streit Filmemachern, um sich mit ihren Produkten von vermeintlich „journalistischen“ Formen abzugrenzen. Doch weist dieser Definitionsversuch zumindest darauf hin, in welcher Art und Weise der Begriff Dokumentarfilm häufig gebraucht wird: als Qualitätsmerkmal, nicht aber als Genre- oder Gattungsbezeichnung. So schlussfolgert Witzke: „Im Selbstverständnis der Dokumentarfilmer sind ihre Werke künstlerische Versuche des Umgangs mit der Wirklichkeit, die nicht über einen Kamm zu scheren sind und die sich der Kategorisierung weitgehend widersetzen.“[33] Und Keitz zweifelt, „ob es überhaupt gerechtfertigt erscheint, vom Dokumentarfilm als einem Genre zu sprechen. Denn unter Genre, insbesondere einem Filmgenre, verstehen wir gemeinhin ein Ensemble von Werken, das im Hinblick auf Sujet, Dramaturgie und Ästhetik von einer relativ konstanten Regelhaftigkeit ist, wobei die ständige Variation des erkennbar Vertrauten für die Lebendigkeit und historische Beständigkeit eines Genremusters sorgt.“[34]

Anstelle einer eindeutigen Genredefinition sollen daher folgende Kriterien helfen, den Begriff Dokumentarfilm näher einzugrenzen:

1. Der Dokumentarfilm als Genre stellt einen Bezug zur Realität her.

2. Der Dokumentarfilm als Genre ist eine mit dem Fernsehfeature, der Dokumentation und der Reportage nah verwandte Form.

3. Der Dokumentarfilm stellt insofern ein Qualitätsmerkmal dar, als dass von ihm verlangt wird, nicht nur aktuelles Geschehen und äußerliche Abläufe, sondern Hintergründe, Zusammenhänge und Emotionen zu vermitteln.

In unserer Arbeit betrachten wir aufgrund der schweren Unterscheidbarkeit als Untersuchungsgegenstand Feature, Reportage, Dokumentation und Dokumentarfilm. Diese fassen wir unter dem Oberbegriff „dokumentarische Formen“ oder „dokumentarische Genres“ zusammen.

Zwischenfazit: Der Begriff Dokumentarfilm wird sowohl als Genrebezeichung als auch als Qualitätsauszeichnung verwendet. Eine klare Definition gibt es daher nicht. Grundsätzlich stellt der Dokumentarfilm jedoch immer einen Bezug zur Realität her. Er ist mit dem Feature, der Dokumentation und der Reportage verwandt. Der Dokumentarfilm soll sich vor allem dadurch auszeichnen, dass er nicht nur aktuelles Geschehen und äußerliche Abläufe, sondern Hintergründe, Zusammenhänge und Emotionen vermittelt.

2.1. Die Geschichte des Dokumentarfilms

Die Anfänge des Dokumentarfilms

Die ersten öffentlich gezeigten Filme – die der Gebrüder Lumière (1895) – sind bereits Vorläufer des Dokumentarfilms. Als „lebendige Fotografie“ bezeichnet, zeigen sie, wie Arbeiter eine Fabrik verlassen („La Sortie des usines“), ein Baby gefüttert wird („Le Déjeuner de bébe“) oder ein Zug einfährt („L’arrivée d’un train en gare de La Ciotat“).[35] Doch der Begriff des Dokumentarfilms wird letztendlich erst durch Robert Flaherty und seinen Film Moana (über einen polynesischen Jungen) geprägt. In einer Rezension des Films in der New York Sun verwendet John Grierson zum ersten Mal das Wort „Documentary“, welches er später als „schöpferische Behandlung von Aktualität“ definiert.[36] So begründen Grierson und Flaherty ein neues Genre, das zunächst mit Filmen wie Moana oder Nanook of the North in der Tradition des Entdeckers als Dokumentarist steht. Menschen verschiedenster Kulturen, ihre Art zu leben, ihre Weise, in der Natur zu existieren und ihr täglicher Kampf ums Überleben sind zentrale Themen dieser Filme. Hierbei versucht Flaherty mittels der Aufnahmen, eigene Erfahrungen aus Expeditionen zu bestätigen und zu präsentieren.[37] Für seine Filme inszeniert er bereits Erlebtes, lässt Eskimos für den Film kurzerhand eine bereits tote Robbe jagen, oder köpft das Dach des Iglus, um filmen zu können, wie sich die Eskimo-Familie abends Schlafen legt. So gelingt es Flaherty, sein Rohmaterial diegetischen Erzählstrukturen anzupassen, die bisher bei den Filmen der Gebrüder Lumière kaum vorhanden waren.[38] Bei aktuellen Debatten über Gebote und Verbote des Dokumentarfilms, Inszenierung und Authentizität wird Flahertys Vorgehensweise bei Aufnahmen immer wieder aufgegriffen und diskutiert. Für Flaherty selbst waren Aufgabe und Bedeutung seiner Filme – trotz oder gerade aufgrund der Inszenierung – „die wahre Widerspiegelung des Lebens".[39]

Das Potenzial des Dokumentarfilms, zu beeinflussen und gewünschte Meinungen in Anspruchnahme der Wahrheit zu propagieren, wurde schnell erkannt. John Grierson, der als Leiter der Filmabteilung „Empire Marketing Boards“(EMB) zur treibenden Kraft des britischen Dokumentarfilms wurde, sah im Dokumentarfilm „ein zeitgemäßes Mittel der modernen Industriegesellschaft, die Staatsbürger aufzuklären und zu erziehen.“[40] Mit Filmen wie „Drifteers“ (1929, über die Arbeit der Heringsfischer in der Nordsee) erschloss die Filmabteilung des EMB die Alltagswelt der Arbeiter zum ersten Mal auch außerhalb der Sowjetunion, warb aber auch beispielsweise mit Filmen wie „Song of Ceylon“ für das aus den Kolonien importierte Getränk Tee. Neben Großbritannien galten Filmemacher der Sowjetunion gerade zu Beginn des Dokumentarfilms als führend: Nach der Oktober-Revolution 1917 herrschte in dem Land einige Jahre lang ein kulturell fruchtbares Klima. Insbesondere das neue Medium Film und seine Montagemöglichkeiten erweckte das Interesse der Künstler. Bedeutenden Einfluss auf den dokumentarischen Film nahm Dziga Vertov, der die Monatsfilmschau Kino-Prawda (Kino-Wahrheit) und die Filmgruppe Kino-Glas (Kino-Auge) gründete.[41] Vertov wandte sich, anders als Flaherty, gegen jegliche Inszenierung: „Mit versteckter Kamera sollte das Leben überrumpelt werden, so forderte es Vertov. Szenen zu erfinden oder auch nur nachzustellen, war geradezu verboten.“[42] Vertov nutzte als erster das synchron aufgenommene Ton-Bildinterview, ohne das der gesamte heutige Dokumentarfilm nicht denkbar wäre. „Eine Betonarbeiterin, eine Kolchosebäuerin und eine Bäuerin in ‚Drei Lieder über Lenin’ (1934) und ein Fallschirmspringerin in ‚Wiegenlied’ (1937) sind die ersten spontan redenden alltäglichen Helden im Dokumentarfilm.“[43] Doch während Vertov bei der Aufnahme jegliche Inszenierung vermied, nutzte er in der Montage alle Möglichkeiten, die gewünschte Botschaft zu vermitteln: „Von einem nehme ich die stärksten und geschicktesten Hände, von einem anderen die schlankesten und schnellsten Beine, von einem dritten den schönsten und ausdrucksvollsten Kopf und schaffe durch die Montage einen neuen, vollkommenen Menschen.“[44]

In Deutschland wurden Dokumentarfilme in der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts hauptsächlich in Form von Wochenschau und Kulturfilm, den deutschen Spielarten des Dokumentarfilms, gezeigt. Sie liefen als Vorprogramm oder bei Live-Darbietungen in Umbaupausen in den Kinos. Eine Ausnahme bildet der noch heute bekannte Film „Berlin. Sinfonie einer Großstadt“ (1927) von Walter Ruttmann.

Mit Übernahme der Macht durch die Nationalsozialisten wurde die Tradition des Kulturfilms für die faschistische Weltanschauung instrumentalisiert. Die Kulturfilme griffen Themen über das deutsche Reich („Vom Marschenland zum Friesenstrand“, 1936; „Deutschland kreuz und quer“, 1936) und die NSDAP („Jugend am Werk“, über die HJ, 1936) auf, später kamen Tierfilme (Darwinistisches Prinzip), Sportfilme und mit Anfang des Krieges militärische Lehrfilme hinzu.[45] Leni Riefenstahl („Sieg des Glaubens“, „Triumph des Willens“, „Fest der Völker“), Walter Ruttmann und andere Filmemacher stellten sich mit dokumentarischen Propagandafilmen in den Dienst der Nationalsozialisten.

Stuttgarter Schule und die Hamburger Filmwerkstatt

Nach 1945 führte der Dokumentarfilm in westdeutschen Kinos über Jahrzehnte ein Schattendasein. Als Kulturfilm fand er sich weiterhin, jedoch mit schwindender Bedeutung, im Vorprogramm der Kinos. Dort bediente er den Wunsch nach unpolitischen Filmen über Natur und die kleinen Dinge des Alltags (Beispiele: Vogelkunde/1951, Ebbe und Flut/1951, Vom Tabak zur Zigarette/1952).[46] Ein neues Medium, welches in Zukunft starken Einfluss auf den Dokumentarfilm nehmen sollte, wuchs heran: das Fernsehen. Die hier entstehenden, neuen dokumentarischen Filme wurden durch zwei Faktoren entscheidend geprägt, zum einem durch die Tradition des Kulturfilms, zum anderen durch die britischen und amerikanischen Programme und den dort entwickelten investigativen Journalismus. Die deutschen Filme wurden so „journalistischer, informierender, On- und Off-Kommentar wurden häufiger eingesetzt.“[47] Der USA-Korrespondent des Nord-Westdeutschen Rundfunk (NWDR), Peter von Zahn, entwickelte hieraus in den Fünfziger- und den frühen Sechzigerjahren einen eigenen markanten Stil, der auf das neue Medium zugeschnitten war:

„Er war […] einer der ersten Fernsehjournalisten, die die Konsequenzen daraus zogen, dass der Medienwechsel vom Kino zum Fernsehen und die damit veränderte Rezeptionsweise auch neue fernsehspezifische Präsentationsformen der Filmberichterstattung erforderten. Denn das Fernsehen hat es nicht mehr mit einem in abgedunkelten Sälen versammelten Kinopublikum zu tun, sondern kam mit seinen Sendungen wie der Hörfunk in die Wohnzimmer der Zuschauer. Folgerichtig wandte er sich vom deklamatorischen Wochenschaustil ebenso ab wie vom anonymen Off-Kommentar vieler Kultur- und Dokumentarfilme und inszenierte in Tonfall, Wort und Bild Individualität und Privatheit“[48], so Zimmermann.

In seinen Reihen „Bilder aus der neuen Welt“ (1955-1962), „Bilder aus der farbigen Welt“ (1957-1959) und „Die Reporter der Windrose“ (1961-1963) bringen die filmischen Berichte die „weite Welt“ ins Wohnzimmer. Gleichzeitig entwickelt Zahn bei Aufnahmen im Studio, mit einer direkten Ansprache des Zuschauers eine private, persönliche Atmosphäre. Häufig setzen die Dokumentarfilmer auf die Kombination von elektronischer Produktion und Live-Elementen: Gäste wurden ins Studio eingeladen, erzählten von ihren Erlebnissen (Weltreisen und Expeditionen) und zeigten hierin integriert Filmausschnitte. Daraus entwickelte der NWDR die Sendereihe „Mit der Kamera auf Reisen“.

Neben dem NWDR, der vor allem die Auslandsberichterstattung vorantrieb, entwickelte die Dokumentarfilmabteilung des Süddeutschen Rundfunks (SDR) eine neue filmische Sprache. Die so genannte „Stuttgarter Schule“ „übernahm in der Fernsehlandschaft der Fünfziger- und der frühen Sechzigerjahre eine Rolle, die mit der des Spiegels bei der geschriebenen Presse zu vergleichen war“.[49] Mit ehemaligen Spiegel-Journalisten als Autoren wie Dieter Ertel, Peter Dreesen und Wilhelm Bittorf galt die Abteilung als kritisch und politisch links. In der Sendereihe „Zeichen der Zeit“ (1953-1973) richten die Dokumentarfilmer ihre Aufmerksamkeit auf innerdeutsche Zustände, wobei nicht aktuelle, außergewöhnliche Vorgänge, sondern die Beobachtung alltäglicher, gesellschaftlicher Rituale und Moden im Zentrum ihrer Berichterstattung stand. So versuchte die Stuttgarter Schule den Blick gegen die Glitzer-Begeisterung des Wirtschaftswunders und die Wiederbewaffnung zu richten.[50] Die Filme setzten auf eine kommentarhaft gesteigerte Montage der Bilder, wobei die Kamera noch weitgehend stativgebunden und nicht entfesselt blieb, jedoch schon, dem Medium Fernsehen entsprechend, Großaufnahmen und nahe Einstellungen vorherrschten. Original-Töne und Interviews fanden noch wenig Verwendung, stattdessen herrschte der Kommentar vor – meist zynisch, pointiert fast satirisch.[51] Allerdings lässt „die Dominanz des Off-Kommentars […] etliche Filme aus heutiger Sicht wortlastig erscheinen“.[52]

Direct Cinema

Dies änderte sich mit der Entwicklung des Direkt Cinema. Die technischen Vorraussetzungen für diese neue Strömung des Dokumentarfilms, welche eine überzeugende Illusion der Wirklichkeit anstrebte, bildete die Entwicklung von leichten 16mm-Kameras mit kabelloser Synchrontonvorrichtung (Pilot-Ton) in den Fünfziger Jahren. Hierdurch wurde es möglich, ein Geschehen an Ort und Stelle ohne großen technischen Aufwand und störende Eingriffe in Bild und Ton aufzuzeichnen. Der Brite Richard Leacock entwickelte als einer der ersten dieses Verfahren und nannte es uncontrolled cinema, später wurde es auch living- oder direct cinema genannt, mittels welchem das Aufnahme-Team sich nun relativ schnell und frei bewegen und so auf das aufzuzeichnende Geschehen reagieren konnte. Welche Bedeutung diese technische Entwicklung hatte, lässt sich leichter abschätzen, wenn einem bewusst ist, dass zuvor Ton im Dokumentarfilm überwiegend synthetisch hergestellt wurde. Originalton gab es nur im Rahmen von Interviews und öffentlichen Reden, die man auf Schallplatte aufnahm. „Diegetische Kontinuität wurde daher zumeist mit Hilfe eines Off-Kommentars erzielt, der die Zuschauer direkt adressierte, ihnen die Bilder erklärte und sie dadurch in einer gewissen rationalen Distanz zum Gezeigten hielt."[53] Nun gab es andere Möglichkeiten, sich dem Geschehen bei der Aufnahme zu nähern, eine neue Möglichkeit, Dramaturgie und Erzählstruktur herzustellen.

Die Vertreter des direct cinema nutzten dies, indem sie anstrebten, authentische Situationen in ihrem realen und unkontrollierten Verlauf zu erfassen. Jegliche Eingriffe in die Situation sollten unterlassen werden, der Filmemacher ausschließlich die Rolle des Beobachters einnehmen. Dieses Prinzip war nicht nur auf die Aufnahme der Situation anzuwenden, sondern wurde auf die ästhetische Gestaltung insgesamt übertragen. So sollte bei der Montage die natürliche Chronologie der Ereignisse möglichst erhalten bleiben, auf Kommentar und extradiegetische Musik verzichtet werden.[54] Anstelle des Kommentars kamen nun die im Film agierenden Personen selbst zu Wort. Parallel mit der neuen Technik entstand inhaltlich eine Neuausrichtung des Dokumentarfilms. Die neue Generation von Filmemachern war bestrebt, die Tabus ihrer Elterngeneration zu brechen, und solidarisierte sich in fast allen Ländern mit der politischen Opposition. Beispiele hierfür sind die Filme Leacocks, etwa „The Children Were Watching (1960), der beschreibt, wie weiße Eltern sich weigern, in die Schule ihrer Kinder auch schwarze Schüler aufzunehmen, oder „The Chair“ (1963), in dem ein Anwalt um das Leben seines zu Tode verurteilten Mandanten kämpft. „Der Dokumentarfilm soll eine politische, gesellschaftlich-aufklärerische Funktion übernehmen.“[55] In Deutschland wird Klaus Wildenhahn, der seine Laufbahn beim Fernsehmagazin Panorama begann, zu einem der bekanntesten Vertreter des direct cinema. Im Gegensatz zu Leacock, der für eine relativ kurze Zeit ein Geschehen mit der Kamera begleitete, baute die Methode Wildenhahns auf langen Recherchen auf. Oft begleitete er die Protagonisten des Films über Wochen und Monate und schilderte so das Leben in deutschen Provinzen und Institutionen. So zeigt Wildenhahn für den Film „In der Fremde“ (1967) zehn Wochen lang den Bau eines Silos in Norddeutschland, beschreibt in „Der Tagesspiegel“ (1970/71) die Auseinandersetzungen einer Redaktion mit ihrem Verleger und thematisiert in „Die Liebe zum Land“ (1973/74) die alltäglichen Schwierigkeiten eines Bauern und der Landarbeiter.

Die Dokumentarfilm-Krise

Erst in den achtziger Jahren setzte ein Umschwung ein, das Publikum interessierte sich immer weniger für die politisch engagierten Dokumentarfilme. „Der Dokumentarfilm wird aus dem Fernsehen verschwinden – zur allgemeinen Erleichterung des Publikums“, schrieb Peter Krieg damals. Denn er sei das „einzige Schlafmittel, das man durch die Augen einnehmen kann“.[56] Die Programmmacher ersetzten Dokumentarfilme durch andere Genre-Formen. Die Begriffe der „Ver-featerung“, „Magazinisierung“ und Formatierung gingen unter Dokumentarfilmern um, die das Aussterben des dokumentarischen Autorenfilms befürchteten: „Meine Damen und Herren bei ARD und ZDF, es gilt, eine Gefahr zu bannen: die Vertreibung des (langen) Dokumentarfilms aus dem deutschen Fernsehen, dem einzigen Ort, wo er überhaupt existieren kann. Es geht um eine Gattung, die, obwohl sie wenig gehegt und gepflegt wurde, einen wichtigen Teil zum Renommee des deutschen Fernsehens im In- und Ausland beigetragen hat“, mahnt der Dokumentarfilmer Rolf Schübel 1976.[57]

Die Stagnation des politischen Films löste bei den Dokumentarfilmern inhaltlich eine Gegenbewegung aus: Anstelle der gesellschaftlichen und politischen Inhalte rückt das Private ins Zentrum der Dokumentarfilme, denen ein „eigentümlich defensiver, mitunter melancholischer oder gar nostalgischer Gestus" anhaftet.[58] Autobiografische Filme wie etwa „Erfolgsbericht“ von Stephan Koester oder „Identity Kid“ von Ed Cantu werden übliche Spielformen, können sich aber letztendlich nicht in einer Bewegung, die mit der Strömung des direct cinema zu vergleichen ist, durchsetzen. Die inhaltlichen Probleme der Filmgattung, vor allem aber die Kürzung und Streichung der Sendeplätze zugunsten von Unterhaltungs-Formaten im Fernsehen stürzen den Dokumentarfilm in eine Krise.[59] Aufgrund des zunehmenden Konkurrenzdrucks durch die neuen kommerziellen Sender wurden die dokumentarischen Sendeplätze weiter reduziert. Das kommerzielle Fernsehen „begrenzte seine Nonfiction-Programme von vornherein auf Nachrichten, Sport, Tiere, Sensationen. Mitte der neunziger Jahre war zwischen 17 und 23 Uhr auf den nationalen Fernsehsendern kaum noch ein dokumentarisches Format zu finden.“[60]

Der Niedergang im Fernsehen wurde umso deutlicher, da der Dokumentarfilm in deutschen Kinos kaum mehr zu finden war: Nachdem das Genre nach 1945 noch als Kulturfilm ein paar Jahre ein Schattendasein fristete, verschwand es in den 70ern fast gänzlich von der Leinwand. Nur einige Dokumentarfilme – zumeist Tier- und Naturfilme wie „The Living Desert“ (USA, 1953) oder „Kein Platz für wilde Tiere“ (Deutschland, 1956) und „Serengeti darf nicht sterben“ (Deutschland, 1959) – wurden in deutschen Kinos zum Erfolg.[61] Die technischen Entwicklungen, die zu Beginn der achtziger Jahre stattfanden, vor allem die Entwicklung der Videotechnologie, wirkte sich angesichts der Krise des Genres nicht unmittelbar auf den Dokumentarfilm aus. Dabei ermöglichte die neu entwickelte Videotechnik eine sehr viel kostengünstigere Arbeit, durch die andere Drehverhältnisse und Drehmethoden möglich wurden. „Schnelligkeit, Lichtempfindlichkeit oder Trickbearbeitung“ waren Aspekte, welche „die Entwicklung des elektronischen Mediums und eine revolutionäre Umwälzung der Dreharbeiten kennzeichnen“.[62]

Das Neuerwachen des Dokumentarfilms

Ende der 90er – gerne nennen Medienwissenschaftler den Kino-Erfolg des Films „Black Box BRD“ (Andreas Veiel, 2001) als Wendepunkt – wird der Dokumentarfilm sowohl im Kino als auch im Fernsehen wieder attraktiv. Zum einen mag diese Neuentdeckung des Dokumentarischen daran liegen – wie ZDF-Intendant Markus Schächter vermutet – „dass man den Overkill im bestimmten Bereich von trivialen Sendungen satt hat und wieder mehr von der Wirklichkeit hören und sehen möchte“,[63] zum anderen öffnen sich die Dokumentarfilmer neuen Formen und Darstellungsmöglichkeiten. Sie werden vor allem durch Innovationen aus England geprägt: „Angesichts der weltweiten Überfrachtung des Fernsehens mit Fictionserien, Soaps und Sitcoms ging die BBC in die Offensive und entwickelte Dokumentarserien, die die Geschichten ihrer Hauptfiguren auf mehrere Folgen verteilen. Die Dramaturgie ähnelt dabei durchaus fiktionalen Serien, deshalb die augenzwinkernde Genrebezeichnung ‚Doku-Soap’.“[64] Neben Doku-Soaps, Doku-Serien („Der wahre Kir Royal“, 1998, „Die Fussbroichs“, ab 1991 im WDR) und Living-History-Formaten („Schwarzwaldhaus 1902“, ARD) kamen animierte und inszenierte Dokumentationen mit geschichtlichen und naturwissenschaftlichen Themen wie Dinosaurier, Die Ägypter oder Pompeji, die jedoch meist auf dem internationalen Markt (vor allem von dem Produzenten BBC) eingekauft wurden, ins deutsche Fernsehen.

Während einige Medienwissenschaftler und Dokumentarfilmer begeistert von einem Dokumentarfilm-Boom sprechen, beklagen andere, dass der ursprüngliche Autorenfilm durch neue dokumentarische Formate noch weiter verdrängt wird. Eine Abgrenzung des Genres gegenüber anderen Darstellungsformen wird angesichts der Entwicklung jedenfalls zunehmend schwer. Der mindestens 90 Minuten lange, von der Handschrift eines Autors geprägte Dokumentarfilm ist im Fernsehen noch immer selten zu finden. Doch im Kino gelingt es ihm – nicht zuletzt auch wegen neuer Beamer-Technik und daher günstigeren Vertriebsmöglichkeiten – seine Zuschauer zu finden. Politisch engagierte Filme wie „We feed the World“, „Workingman’s Death“ oder „Darwins Alptraum“ erleben hier zurzeit eine Renaissance.

2.2. Blick in die Zukunft: Trends bei dokumentarischen Formaten

Aufspaltung in high-budget und low-budget Produkte

Der Fernsehmarkt ist durch eine enorme Steigerung der Programmangebote geprägt. Seit 2000 stieg die Zahl der privaten Programmangebote um das Doppelte. Dies führte auch zu einer Beschleunigung auf dem Produktionsmarkt, der sich erst mit dem Start der Privaten Sender richtig ausbilden konnte. Diesen beiden Entwicklungen steht jedoch eine weitgehend konstante Sehdauer gegenüber, die nur geringfügig ansteigt.[65] Dieser zunehmenden Konkurrenz begegnen die Programm durch zwei Strategien: zum einen versuchen sie mit einigen, aufwändig produzierten Programminhalten wie teuren Event-Dokus oder Doku-Fiktions ihr Image zu stärken, auf der anderen Seite müssen sie mit günstigen Produktionen die beständig wachsende Sendefläche bestücken. Hier bieten sich nichtfiktionale Inhalte an, da sie unter Umständen sehr günstiger produziert werden können. Hieraus und aus den Veränderungen bei der Produktionsweise von nichtfiktionalen Inhalten lässt sich für den Dokumentarfilm und verwandte Formen eine zunehmende Aufspaltung zwischen low-budget und high-budget Produktionen prognostizieren, so Bauer:

„Auf der einen Seite wird es sehr viel billiger werden, Dokumentarfilme zu machen. Es gibt Leute, die quasi Produzenten, Kameramann, Autor, Regisseur und Vermarkter in einer Person sind. Heutzutage kann man sich schon ein Equipment zusammenstellen, das sendefähige Filme herstellen kann – sowohl Kamera als auch Schnitt –, die unter 10 tausend DM liegen. Das bedeutet, dass sich der Markt hier ganz entscheidend verändert und es sehr viele billige Produkte geben wird, sehr individuelle Filme. Manchmal wird so etwas auch ein Medium für einen investigativen Film sein, wie das bei Spiegel-TV im Ansatz schon der Fall ist. Auf der anderen Seite wird es die wirklich großen und sehr teuren Dokumentarfilme geben, geben müssen, die das Publikum einfach interessieren. Da passiert etwas, von dem ich glaube, dass es den Umgang mit der Realität ganz entscheidend verändern wird. Wir Dokumentarfilmer werden für die Realität, die wir abfilmen, für diese teuren Produktionen, erheblich mehr Geld aufwenden müssen – und hinter uns natürlich die Sender – als das bislang der Fall gewesen ist.“[66]

Die klassischen Reportagen, Features und Dokumentarfilme mit einem mittleren Budget, deren Domäne noch immer das öffentlich-rechtliche Fernsehen ist, werden es angesichts dieser Prognosen zunehmend schwer haben. Lingemann prognostiziert den „Collaps of the Middle“, da „es für Produzenten vielfach einfacher [ist], Finanzierungen für große (intern ist es für Produzenten vielfach einfacher, Fianzierungen für große (interational koproduzierteochgalnz-Dokumentationen zu inveational koproduzierte) Event-Programme zu bekommen als angemessene Budgets für Standard-Formate mit nationalen Themen-Fokus.“[67] Diese Entwicklung, einer Spaltung high-Budget und low-budget Produkte, spiegelt sich bereits heute auf dem Produktionsmarkt wider: Viele Dokumentarfilmer arbeiteten bereits – bevor mit aufkommender Professionalisierung der DV-Kameras der Begriff des „Video-Journalisten“ neue Losung wurde – als Ein-Mann-Unternehmen. Dementsprechend ist der deutsche Nonfiction-Produktionsmarkt durch eine „große Anzahl kleiner bzw. Kleinstproduzenten [geprägt], den sogenannten Rucksack- und Küchenproduzenten“, billanziert Lingemann in einem 2006 veröffentlichten Aufsatz über den deutschen Markt für dokumentarische Filme. „Etwa drei Viertel (76%) der Unternehmen erwirtschaften jeweils weniger als 500.000 € Umsatz im Jahr, die meisten deutlich weniger. Das bedeutet, dass die meisten Anbieter im Markt höchstens ein bis drei Produktionen im Jahr realisieren.“[68] Umfangreiche und finanziell aufwändige Produktionen können dagegen nur von einigen wenigen mittelständischen sowie großen Produktionshäusern wie Spiegel TV, Janus TV, TV21 oder Studio Hamburg umgesetzt werden, die gemeinsam nur 8% des Marktes ausmachen.

Formatierung und Entwicklung neuer Formate

Klassische Dokumentationen und Reportagen werden aufgrund des „Collaps of the middle“ unterfinanziert, die Sendeplätze reduziert. Andere Trends treten an ihre Stelle: „Neben der weiteren Formatierung der Programme infolge einer konsequenten Durchstrukturierung der Angebotsflächen (s.o.) ist das die weitere Hybridisierung von tradierten Formen hin zur Auflösung etablierter Genre-Begriffe sowie eine starke Fiktionalisierung dokumentarischer Programme. […] Das dominante Motiv hinter der Vermischung von Genre-Formen ist jedoch, den Unterhaltungswert der Programme zu steigern, so dass zunehmend Spielanweisungen, Inszenierungstechniken und besondere dramaturgische Arrangements in dokumentarische Formen integriert werden.“[69] Die Annährung an die Arbeitsweise im Fiction-Bereich, ihre Dramaturgie und klare Konzepte garantieren dem Sender eher Quotenerfolge und somit eine leichtere Kalkulation des Produktionsrisikos und der -kosten. Daher wird versucht, durch intensive Auswahl der Protagonisten, szenische Inszenierungen und Computeranimationen den Zufall, der dieses Konzept durchbrechen könnte, möglichst auszuschalten.

Die neuen dokumentarischen Formate werden bereits am Schreibtisch möglichst vollständig konzipiert und einem strengen Format des Sendeplatzes angepasst. Dies bedeutet aber auch eine Verdrängung des Authentischen aus den neu entwickelten dokumentarischen Formen wie Doku-Soap, Doku-Fiction und Living-History. „Formatfernsehen zielt auf Darstellung, nicht auf Beobachtung. Formatfernsehen kann den Zufall nicht gebrauchen und kann mit dem Unerwarteten nichts anfangen. Dokumentarische Haltungen, die mehr aufs Beobachten aus sind, die Geduld brauchen und in denen nicht alles ohne Rest aufgeht wie in der berühmten Milchmädchenrechnung, geraten ins Hintertreffen. Auch Protagonisten, die im Bild nichts hermachen, und seien ihre Erfahrungen noch so erzählenswert, haben es schwer. Und Stoffe, die sich nicht so simpel durcherzählen lassen, Geschichten mit Brüchen, mit unbeantworteten Fragen und komplexen Zusammenhängen, taugen kaum fürs Format.“[70]

Diese unterschiedlichen Trends – zum einen wächst die Zahl der Sendeplätze auf denen dokumentarische Formen ausgestrahlt werden, auf der anderen Seite sinkt die Zahl der Sendeplätze für klassische Dokumentarfilme – bewirkt eine sehr unterschiedliche Einschätzung, was die Zukunft des Dokumentarfilms angeht. Die Anhänger des klassischen Autorenfilms sprechen vom Aussterben des Dokumentarfilms, andere dagegen vom Dokumentarfilmboom, der neue, kreative Entwicklungen ermöglicht: „Die Vielfalt aller Filme, die sich die vorfindbare Realität zum Gegenstand wählen und sich auch an ihr messen, war niemals so groß wie heute. Betrachtete man die Bandbreite der Themen und Ausdrucksformen aus der Perspektive des Programmplaners eines Fernsehsenders, so sind Dokumentarfilme mittlerweile an nahezu allen Stellen des Sendeplans denkbar“[71], konstatiert Patrick Hörl.

Hochglanz-Dokumentationen

Die high-budget Produktionen im nonfictionalen Bereich orientieren sich am internationalen Markt, da entsprechend „aufwändige, groß angelegte Dokumentarfilme […] sich zunehmend nur noch mit ausländischen Partnern realisieren“ lassen.[72] Hierbei machten deutsche Produktionen 2003 allerdings noch einen verschwindend geringen Anteil von einem Prozent der Weltexporte aus. Führend ist dagegen Großbritannien mit internationalen BBC-Produktionen wie „Blue Planet“ oder „Walking with the Dinosaurs“ (20% der Weltexporte).[73] Sie setzten daher bisher auch ästhetische Standards für die neuen Hochglanz-Formate: „Sendeplatz und Thema sind mit vielen Spielfilmprojekten vergleichbar. Dramaturgische und visuelle Ansprüche gleichen sich dem Spielfilm an. Letztlich ist es nur die Selbstverpflichtung zur wissenschaftlichen Authentizität, die eine Abgrenzung zum Fiktionalen definiert. An diesem fictionnahen Ende des dokumentarischen Spektrums haben filmische Techniken Einzug in den Dokumentarfilm gehalten, die diesem Genre früher nicht zur Verfügung standen“[74], wie Animationen und aufwändiges Sound-Design.

Low-Budget Produktionen

Ebenso wie die Digitalisierung in der Form von Animationstechnik Einfluss auf die teuren Hochglanzdokumentationen nimmt, wirkt sich die technische Entwicklung auf Möglichkeiten und Formate im low-budget Bereich aus. Kostengünstige DV-Kameras und kleine Teams bieten Sparmöglichkeiten: So wird beispielsweise die Doku-Soap „Giraffe, Erdmännchen und Co.“ vom Hessischen Rundfunk bereits mit kleiner Kamera, im Ein- oder bisweilen im Zwei-Mann-Team hergestellt.[75]

Abwanderung des Autorenfilms in die Kinos

Da im Fernsehen kaum mehr längere Autorenfilme Platz finden, eroberten diese Produktionen sich die Kinos zurück und bewiesen hier ihre Attraktivität: „Die Reise der Pinguine“ (Frankreich 2005), „Buena Vista Social Club“ (Deutschland 1999) oder „Bowling for Columbine“ (USA 2002) erreichten ein deutsches Millionenpublikum. Da Kino- und Fernsehproduktionen immer seltener gegeneinander abgegrenzt, sondern als ergänzende Verwertungsformen gesehen werden, bietet dies – gemeinsam mit zusätzlichen Verwertungswegen wie DVD-Verkauf – dem langen Dokumentarfilm neue Chancen. Hybride Dokumentarfilmformen, wie sie im Fernsehen entwickelt werden, finden im Kino dagegen keinen Platz: „Die Gesamtbetrachtung der Gestaltungsmittel aller 55 Filme, die seit 1980 im deutschen Dokumentarkino nennenswerte Zuschauerzahlen erreichten, führt zum Eindruck, dass vor allem die Individualität jedes einzelnen Films gefragt ist. Statt einem typischen Muster, statt eines regelhaften Erfolgsrezeptes oder einer ‚Formatierung’ zählt für den Kinobesucher die Besonderheit der einzelnen Filme, die ungewöhnliche Herangehensweise, die überraschende Form.“[76] Diese Entwicklung könnte sich nach Umfragen der Produktionsfirma Boomtownmedia unter Dokumentarfilm-Kinogängern noch verstärken: „So wollen 77% der Befragten mehr Dokumentarfilme im Kino sehen. Für Kinobetreiber sicher spannend ist die Tatsache, dass Dokumentarfilmzuschauer sehr loyale Kinogänger sind, die zu gut zwei Dritteln den Kinobesuch der DVD vorziehen. […] Das Dokumentarfilmpublikum fordert stärker emotional involvierende Filme mit soziokulturellem Themenschwerpunkt.“[77]

Aus der Abwanderung des Autorenfilms in die Kinos, dem Rückgang der konventionellen Dokumentarfilme und der Entwicklung neuer Formate im High-Budget- und Low-Budget-Segment im Fernsehen lassen sich zwei Tendenzen für den Dokumentarfilmer und seine Arbeitsweise ableiten: „Die eine Tendenz ist eine radikale Individualisierung: Der Dokumentarfilm, das Feature oder die Reportage werden zu einer echten One-man-Show: gedreht, geschnitten, produziert von einem Einzelgänger, der seinen Film vielleicht auch erst als fertiges oder fast fertiges Produkt anbieten wird – und nicht wie bisher zuerst auf dem Papier erklärt. Die andere Tendenz ist eine konsequente Professionalisierung, bei der die Rollen neu definiert werden: Wie in der Spielfilmproduktion wird es auch beim Dokumentarfilm – wenn er auch auf dem internationalen Markt reüssieren will – die Trennung der Funktionen von Autor und Dramaturg, Regisseur und Produzent geben müssen. Beide Perspektiven – die Individualisierung wie die Professionalisierung – sind durch technologische und ökonomische Entwicklungen vorgegeben. Die neuen Produktionsweisen könnten in den nächsten Jahren die Bedingungen, unter denen bislang in Deutschland dokumentarisch gearbeitet wurde, neu definieren und damit auch Inhalt und Form des dokumentarischen Erzählens verändern.“[78]

Alternative Übertragunsgwege

Da mit dem Internet eine alternative Verbreitungsform zu den klassischen Medien geschaffen wurde, können sich nun viele Interessenvertreter direkt an ihr Zielpublikum wenden. Auf Foren wie „Hub“ können Videos zu Themen wie Menschenrechte, Folter, Migration und Flüchtlingsproblematik eingestellt werden. Auch verdeckt gedrehte Video aus Regionen ohne Pressefreiheit (jüngstes Beispiel stellt der Konflikt in Burma dar) können auf den Internetseiten gefunden werden. Mittlerweile haben sich zahlreiche NGOs gebildet, die DV-Kameras bewusst als politisches Mittel einsetzen, so beispielsweise die Organisation „Witness“, „break through“ oder „EngageMedia.org“. Bei den im Internet gezeigten Videos handelt es sich oft um kurzes, meist ungeschnittenes Material – also Dokumentation im originären Sinne. Sie dienen vor allem als Beweismaterial.

„Menschenrechtsaktivisten, Ermittler bei internationalen Tribunalen gegen Kriegsverbrechen, politisch engagierte Video-Amateure und Globalisierungsgegner bewaffnen sich mit den Werkzeugen dieser neuen visuellen Revolution. Mutige Video-Vérité-Aktionen auf der ganzen Welt dienen dem Kampf für Wahrheit und Menschenrechte. Hier konvergieren Technologien mit dem globalen Geist kreativer Veränderung. Es ist eine grundlegende technologische Umwälzung, die sich nicht nur darauf auswirkt, wie wir arbeiten und kommunizieren, sondern auch wofür wir arbeiten und was wir kommunizieren“,[79] so Katerina Cizek von der Organisation Witness. Die Einführung der Handycam und die daraus resultierenden Auswirkung auf die Gesellschaften dieser Welt seien mit den Auswirkungen der Industriellen Revolution vergleichbar. „Nicht nur wegen der Technologie an sich, sondern aufgrund der Möglichkeiten, die sich fortschrittlichen Organisationen, Bewegungen und Individuen auf der ganzen Welt eröffnet haben. Die Medienmacht verlagert sich zurzeit rasant von den Händen einiger weniger hin zu den Massen“[80], so Cizek.

Zwischenfazit: Der Dokumentarfilmmarkt spaltet sich zunehmend in hochwertige, international ausgewertete Hochglanzdokumentationen und Low-Budget-Produktionen auf. Klassische Dokumentarfilme und Reportagen im mittleren Preissegment haben es dagegen zunehmend schwer. Insgesamt nimmt die Formatierung im Fernsehen zu. Die Sendungen folgen zunehmend starren dramaturgischen Konzepten. Autorenfilme und aufwändige Einzelproduktionen werden zunehmend wieder im Kino gezeigt.

3. Die Entwicklung von Video und die Auswirkungen auf den Dokumentarfilm

Der Dokumentarfilm war – wie im vorigen Kapitel bereits verdeutlicht – stets von technologischen Neuerungen geprägt und verändert worden. Um die Entwicklungspotenziale der jüngsten Innovationsstufe, der neuen Technologie DV für den Dokumentarfilm besser ausloten zu können und Arbeitshypothesen herauszuarbeiten, sollen in diesem Kapitel zunächst die Entwicklungsgeschichte der Videotechnologie und deren Auswirkungen auf das Medium Dokumentarfilm nachvollzogen werden. Im Vordergrund steht dabei das Wechselspiel zwischen den technischen Innovationen auf dem Amateurmarkt und dem Broadcast-Markt, der durch die DV-Kameras noch verstärkt wurde. Diese wechselseitige Beeinflussung besteht jedoch nicht erst seit der Entwicklung von Digital Video, sondern schon Jahrzehnte zuvor: Durch günstige 8-mm-Filmkameras und später, in den 70er Jahren, der Videotechnologie entstanden neue Dokumentarfilm-Initiativen, welche zum Teil ihren Weg heraus aus einem kleinen Kreis speziell Interessierter zu einer breiteren Öffentlichkeit fanden. Am Ende des Kapitels soll gesondert auf das Format DV eingegangen werden

3.1. Die Entwicklung der Videotechnik zum professionellen Sendestandard

Entwicklung der professionellen Videotechnik

Triebfeder der Entwicklung der Videotechnologie war das Fernsehen – denn schon zu Beginn der Ausstrahlung erster Fernsehsendungen in den 30er Jahren stellte sich das Problem einer schnellen und unkomplizierten Speicherung der Datenflut des Bildmaterials.[81] Wesentlicher Unterschied der Fernsehtechnologie zum Film ist ihre Flüchtigkeit: Zu Beginn des Fernsehens war zwar eine elektronische Übertragung möglich, doch gab es lange Zeit kein entsprechendes elektronisches Speichermedium, so Ulrich Schmidt: „Aus diesem Grunde spielte die Filmtechnik als Speichermedium bis zur Einführung von Videorecordern auch im Bereich der Fernsehproduktion eine entscheidende Rolle.“[82] Aufgenommen wurde daher für das Fernsehen lange Zeit auf Filmkameras, das Filmmaterial wurde abgetastet, das elektrische Signal gesendet. Zwar bietet der (35-mm-)Film bis heute eine einzigartige Bildqualität, er eignet sich aber nicht besonders gut für aktuelle Fernseharbeit, da Schnitt und Filmentwicklung weit mehr Zeit in Anspruch nehmen als die Videotechnologie.[83] Bei hochwertigen Fernsehproduktionen wird heute jedoch nach wie vor häufig auf 35-mm- oder 16-mm-Film aufgezeichnet.

Erst 1956 konnte mit dem Quadruplex-Format das erste studiotaugliche Magnetaufzeichnungsgerät (MAZ) vorgestellt werden, das in veränderter Form bis in die 80er Jahre benutzt wurde. Ein großes Manko dieses Formats und seiner Nachfolgegeneration bestand in den hohen Materialkosten. Die Magnetbänder waren mit einer Stärke von 2,5 Zentimetern zudem sehr groß und unhandlich, weshalb die Videotechnologie bis zum Ende der 70er Jahre fast ausschließlich im Studio eingesetzt wurde.[84]

Ein Meilenstein in der Entwicklung der professionellen Videotechnologie ist die Einführung des U-Matic-Verfahrens von Sony in den 70er Jahren. Das Format ist nicht nur wesentlich preiswerter, es handelt sich zudem um das erste Kassettensystem, das in Bezug auf technische Qualität für Außendrehs, die sogenannte elektronische Berichterstattung (EB), geeignet war. Bis zur Einführung des Nachfolge-Formats Betacam sowie Betacam-SP war U-Matic das einzige geeignete Format in diesem Sektor.[85] Erst mit den U-Matic- und wenig später den Beta-Kameras wird die Videotechnik für Dokumentarfilmer, die für das Fernsehen arbeiten, folglich überhaupt erst zur Alternative zum 35-mm- oder 16-mm-Film. Das Betacam-Format und die entsprechenden Kameras werden bis heute eingesetzt – das weiterentwickelte analoge Beta-SP war auf dem professionellen Sektor lange Zeit nahezu konkurrenzlos.[86]

3.2. Die Auswirkungen der Videotechnologie auf den Dokumentarfilm

Gegenüber dem Medium Film hatte die Videotechnologie einige entscheidende Vorteile, wie Kay Hoffmann schreibt: „Die Videokameras veränderten die Drehbedingungen nachhaltig, da sie eine sofortige Kontrollierbarkeit des Materials ermöglichten. Die Teams konnten erheblich reduziert werden bis in Extremsituationen auf das Ein-Mann-Team, was den Dokumentarfilmern entgegen kam. Plötzlich war es möglich, wesentlich länger am Stück zu drehen, da man nicht mehr auf ein Filmmagazin mit max. 10 Minuten Material angewiesen war.“[87]

Die Entstehung von Videoinitiativen

Noch bevor mobile Videokameras bei Fernsehsendern eingesetzt wurden, waren bereits in den 70ern Video-Geräte für Amateur-Filmer auf dem Markt, die eine Vorlage für die später weiterentwickelten professionellen Kameras boten. Das erste Videokassettensystem U-Matic von Sony etwa wurde zunächst für den Consumer-Markt entwickelt und bald darauf als qualitativ hochwertigeres Format für den professionellen Sektor adaptiert.

Parallel zu der Entwicklung der Videokameras für Amateure kam der 8-mm-Film auf den Markt, der für Hobby-Filmer eine günstige Alternative bot: Beide Entwicklungen – Video und 8-mm – machten private Filmaufnahmen für eine breite Bevölkerungsschicht überhaupt erst möglich. Zehn Jahre nach der technischen und inhaltlichen Erneuerung durch die Entwicklung des Synchron-Tons und der handlicheren 16-mm-Kameras beginnt, wie es Roth formuliert, „eine weitere Revolutionierung des Dokumentarfilms“.[88] Eine Revolution außerhalb der Sendeanstalten: 8-mm-Film und Video werden von Filmemachern genutzt, die sich bewusst von den etablierten Dokumentarfilmern absetzen wollen, die nach wie vor auf 16-mm- oder 35-mm-Film drehen. Die auf 8-mm-Film und Video entstehenden Filme werden vor kleinem, meist speziellem, politisch engagiertem Publikum gezeigt. Vorführungen werden oft mit Diskussionen verknüpft, es entstehen eigene Publikationen und Initiativen. Das erste Festival, das auch Videobänder zeigt, ist das „Internationale Forum des Jungen Films“ 1973.[89]

Doch die Entstehung der Filminitiativen ist nicht nur auf die Entwicklung von Video zurückzuführen, konstitutiv ist zudem das politische Engagement der Filmemacher. Viele junge Amateurfilmer – zum Teil organisiert im „Bund deutscher Filmamateure“ (BDFA) – entstammen der Studentenbewegung[90]. Als Mitte der 70er im Zuge der RAF-Fahndung Notstandsgesetze erlassen und linke Intellektuelle in klassischen Medien pauschal als RAF-Sympathisanten beschimpft werden, starten sie Initiativen für eine „Gegenöffentlichkeit“. Ein Ergebnis dieser Strömungen ist die Gründung der Berliner taz 1978, ein anderes sind die Video- und Filminitiativen, die sich eher bestimmten politischen Gruppierungen zuordnen als der Dokumentarfilm-Szene. Bei diesen politischen Gruppen handelt es sich häufig um Bürgerinitiativen mit meist lokalen und regionalen Bezügen, welche die Filmemacher häufig auch seit ihrem Bestehen begleitet, dokumentiert und erforscht haben, so der Medienwissenschaftler Robert Schändlinger. „Oft verstanden sie sich als Teil regional oder lokal ausgetragener sozialer und politischer Konflikte um die Implementierung von Großtechnologie wie Flughäfen, Kraftwerken oder die kapitalintensive Stadtsanierung im Interesse von Banken, Versicherungen und Immobilienspekulation. Die Gruppen nutzen die hohe Operativität und Mobilität der Videotechnik, die Aufnahmen in fast jeder Situation erlaubt – vor allem die sofortige Verfügbarkeit der Bilder zur gezielten Distribution der Bänder in Kooperation mit Bürgerprotest- und Alternativbewegungen. Nicht selten haben sie die Geschichte ihrer Region mit dem Video erforscht.“[91]

Exemplarisch für die Entwicklung einer alternativen Videoszene in Deutschland kann auf die Medienwerkstatt Freiburg verwiesen werden, die seit 1978 besteht. Mittlerweile in Kino und Fernsehen etablierte Dokumentarfilmer wie Pepe Danquart machten dort ihre ersten Erfahrungen als Filmemacher.[92]

Die Videogruppen verstanden sich als Teil politischer Initiativen. Im Gegensatz zur ausgewogenen Berichterstattung von Journalisten und Filmemachern, wollten sie sich – weiterhin als Amateure und Hobbyfilmer – für ihre politischen Ziele einsetzen: „Viele derer, die eine der einfach zu bedienenden Kameras in die Hand nehmen, sind tatsächlich Amateure, wollen auch gar nicht Profis werden (manche natürlich schon); trotzdem haben ihre Filme mit dem üblichen Amateur-Hobbyfilm nichts mehr gemeinsam.“[93] Einige Medienwissenschaftler sprechen aufgrund solcher Beispiele bereits von einer Demokratisierung des Dokumentarfilms.[94] Zurückzuführen ist diese vor allem auf die geringen Kosten der neuen Videotechnologie: Eine tragbare Videoanlage mit Kamera und eingebauten Mikrofon, Recorder, Netzgerät und Akku kostete nicht mehr als 5.000 DM. Eine Stunde Drehmaterial kostete etwa 60 DM, während für eine Stunde Super-8 Filmmaterial einschließlich der Entwicklung etwa das Vierfache aufzuwenden war. Zudem entfielen durch Video die hohen Kosten für Filmkopien, die selbst beim 8-mm-Film bei etwa 1000 DM pro Kopie lagen.[95]

Dies wirkt sich auf das Drehverhältnis und somit auch auf die Gesamtgestaltung und die Bildsprache von Dokumentarfilmen aus. Zudem herrschen in den Filminitiativen auch andere Organisationsprinzipien, die Filme entstanden im Kollektiv. Auch die klassische Arbeitsteilung und Hierarchie beim Drehen und Schneiden des Films wurden aufgehoben.[96]

[...]


[1] Bauer, Christian (2006): Dokudämmerung. In: Zimmermann, Peter/ Hoffmann, Peter (Hrsg.): Dokumentarfilm im Umbruch. Kino – Fernsehen – Neue Medien. Konstanz, S.249-252. S.250.

[2] Bauer 2006: S.250.

[3] Witzke, Bodo/ Rothaus, Ulli (2003): Die Fernsehreportage. Konstanz. S.76.

[4] Hattendorf, Manfred (1999): Dokumentarfilm und Authentizität. Ästhetik und Pragmatik einer Gattung. Close up. Schriften aus dem Haus des Dokumentarfilms. Band 4. Konstanz. S.44.

[5] Berg-Walz, Benedikt (1995): Vom Dokumentarfilm zur Fernsehreportage. Berlin. S.18.

[6] Silbermann, Alphons (1982): Handwörterbuch der Massenkommunikation und Medienforschung. Band 1. Berlin. S.69. zitiert nach: Hattendorf 1999: S.44

[7] Beyerle, Monika (1997): Authentisierungsstrategien im Dokumentarfilm. Das amerikanische Direct Cinema der 60er Jahre. Trier. S.20.

[8] Beyerle, Monika (1997): Authentisierungsstrategien im Dokumentarfilm. Das amerikanische Direct Cinema der 60er Jahre. Trier. S.20.

[9] Hoffmann, Kay (2006): Digitalisierung – technische und ästhetische Innovation. in: Zimmermann/ Hoffmann 2006: S.65-74. S.66f.

[10] Heller, Heinz-B. (1990): Dokumentarfilm und Fernsehen. Probleme aus medienwissenschaftlicher Sicht und blinde Flecken. In: Heller/ Zimmermann 1990: S.15-22. S.19f.

[11] Beyerle 1997: S.38.

[12] vgl.: Witzke/ Rothaus 2003: S.61.

[13] Hohenberg, Eva (1988): Die Wirklichkeit des Films. Dokumentarfilm. Ethnografischer Film. Zürich/ New York. S.114.

[14] Hattendorf 1999: S.47.

[15] Hattendorf 1999: S.46.

[16] vgl.: Martini, Fritz (1990): Realismus. In: Kohlschmidt, Werner/ Mohr, Wolfgang (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Band 3. Berlin/ New York. S.344. Zitiert nach Hattendorf 1999: S.51.

[17] Heller 1990: S.21.

[18] vgl.: Kluge, Friedrich (1989): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin/ New York. Zitiert nach: Hattendorf 1999: S.63.

[19] Kreimeier, Klaus (1997): Fingierter Dokumentarfilm und Strategien des Authentischen. In: Hoffmann, Kay (1997): Trau-Schau-Wem. Digitalisierung und dokumentarische Form. Konstanz. S.29-46. S.30.

[20] vgl.: Beyerle 1997: S.83 ff.

[21] Bußmann, Hadumod (1999): Lexikon der Sprachwissenschaft. Stuttgart. S.194. zitiert nach: Hattendorf 1999: S.54.

[22] Keitz, Ursula von (2001): Vorwort. In: Keitz, Ursula von/ Hoffmann, Kay: Die Einübung des dokumentarischen Blicks. Fiction Film und Non Fiction Film zwischen Wahrheitsanspruch und expressiver Sachlichkeit 1895-1945. Marburg. S.15.

[23] Hohenberg 1988: S.57.

[24] Zimmermann, Peter (1990): Dokumentarfilm, Reportage, Feature. Zur Stellung des Dokumentarfilms im Rahmen des Fernseh-Dokumentarismus. In: Heller/ Zimmermann 1990: S.99-113. S.100.

[25] Holl, Oskar (1990): Erblindet das Kinoauge? In: Medium 7/1981. Zitiert nach: Heller/ Zimmermann 1990: S.101.

[26] vgl.: Witzke/ Rothaus 2003: S.79.

[27] Witzke/ Rothaus 2003: S.81f.

[28] Zimmermann 1990: S.103.

[29] Dokumentarfilm oder Reportage: Wird die dokumentarische Haltung im Fernsehen abgetrieben? Tonprotokoll einer Diskussion zwischen Regisseuren und Redakteuren. In: Steinmetz, Rüdiger/ Spitra, Helfried (1989): Dokumentarfilm als "Zeichen der Zeit". Vom Ansehen der Wirklichkeit im Fernsehen. München. S.55-80.

[30] Zimmermann 1990: S.105.

[31] Berg-Walz 1995: S.18.

[32] Berg-Walz 1995: S.45.

[33] Witzke/ Rothaus 2003: S.77.

[34] Keitz 2001: S.15.

[35] vgl.: Witzke/ Rothaus 2003: S.45ff. Sowie: Voigt, Jürgen (2003): Dokumentarfilm im Fernsehen. Überlegungen zu einem facettenreichen Genre. Hamburger Heft zur Medienkultur. Nr. 4. Hamburg. S.32.

[36] Voigt 2003: S.33.

[37] vgl.: Witzke/ Rothaus 2003: S.45ff.

[38] vgl.: Heller 1990: 19f.

[39] Voigt 2003: S.34.

[40] Witzke/ Rothaus 2003: S.54.

[41] Witzke/ Rothaus 2003: S.50.

[42] Witzke/ Rothaus 2003: S.51.

[43] Wildenhahn, Klaus (1975): Über synthetischen und dokumentarischen Film. Zwölf Lesestunden. Frankfurt am Main/ Berlin. S.58. Zitiert nach: Witzke/ Rothaus 2003: S.51f.

[44] Vertov, Dziga (1975): Schriften zum Film. München. S.7. Zitiert nach: Witzke/ Rothaus 2003: S.53.

[45] vgl.: Hickethier, Knut (1990): Die Welt ferngesehen. Dokumentarische Sendungen im frühen Fernsehen. In: Heller/ Zimmermann 1990: S.15-48. 36f.

[46] vgl.: Hickethier 1990: S.36.

[47] Witzke/ Rothaus 2003: S.63.

[48] Zimmermann, Peter (1994): Geschichten von Dokumentarfilm und Reportage von der Adenauer-Ära bis zur Gegenwart. In: Ludes, Peter/ Schumacher, Heidemarie/ Zimmermann, Peter (1994): Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland, Bd.3. Informations- und Dokumentarfilmsendungen. München. S.66.

[49] Witzke/ Rothaus 2003: S.66.

[50] vgl.: Steinmetz, Rüdiger (1990): Nicht nur eine Gartenlaube zum Feierabend. Zur Entwicklung sozial- und kulturkritischer Programme in den ersten Fernsehjahren. In: Heller/ Zimmermann 1990: S.56-67. S.59.

[51] vgl.: Steinmetz 1990: S.65.

[52] Witzke/ Rothaus 2003: S.68.

[53] Vgl. unter anderem: Beyerle 1997: S.11.

[54] vgl.: Beyerle 1997: S.12.

[55] Witzke/ Rothaus 2003: S.60.

[56] zitiert nach: Heller 1990: S.16.

[57] Schübel, Rolf (1990): Probleme des politisch engagierten Dokumentarfilms im Fernsehen der späten sechziger und frühen siebziger Jahre. In: Heller/ Zimmermann (1990): S.68-75. S.73f.

[58] Heller 1990: S.16.

[59] Berg-Walz 1995: S.85.

[60] Rettinger, Carl-Ludwig (2003): Wir stehen erst am Anfang… In: Feil, Georg (2003): Dokumentarisches Fernsehen. Eine aktuelle Bestandsaufnahme. Konstanz. S.64-73. S.68f.

[61] Spaich, Herbert (2006): Wie der Dokumentarfilm ins Kino kommt… Eine Spurensuche. In: Zimmermann/ Hoffmann 2006: S.181-193. S.185.

[62] Berg-Walz 1995: S.86.

[63] Der Preis der Wirklichkeit. Was ist uns der Dokumentarfilm wert? Kölner Mediengespräche, Dezember 2000. In: Feil 2003: S.155-194. S.157.

[64] Rettinger 2003: S.68f.

[65] Lingemann, Jan (2006): Abenteuer Realität. Der deutsche Markt für dokumentarische Filme. In: Zimmermann/ Hoffmann 2006: S.35-56. S.42.

[66] Der Preis der Wirklichkeit. Was ist uns der Dokumentarfilm wert? Kölner Mediengespräche, Dezember 2000. In: Feil 2003: S.155-194. S.166.

[67] Lingemann 2006: S.44.

[68] Lingemann 2006: S.37.

[69] Lingemann 2006: S.45f.

[70] Wolf, Fritz (2006): Zunehmende Formatierung. Über den Umgang mit dokumentarischen Sendeplätzen im Fernsehen. In: Zimmermann/ Hoffmann (2006): S.105-115. S.113.

[71] Hörl, Patrick (2003): Internationale Verflechtungen, Perspektiven und Zukunftschancen. In: Feil 2003: S.42-53. S.47.

[72] Danielsen, Claas (2003): Crossing Borders. Mit dokumentarischen Filmen auf den internationalen Markt. In: Feil 2003: S.260-268. S.261.

[73] Rettinger 2003: S.70f.

[74] Hörl 2003: S.48.

[75] Vgl: Foraci, Franco (2007): VeeJays überall. In: Cut. Sommer 2007. S.14-18. S.14.

[76] Stanjek, Klaus (2006): Dokumentarkino. Eine kleine Geschichte der Zuschauervorlieben. In: Zimmermann/ Hoffmann 2006: S.165-180. S.176.

[77] Hoffmann 2006: S.65-74. S.72.

[78] Bauer, Christian (2003): Das Gold am Ende des Regenbogens. Über die unentdeckten Möglichkeiten des Dokumentarfilms. In: Feil 2003: S.73-92. S.73f.

[79] Cizek, Katerina (2006): Die Handicam-Revolution. In: Zimmermann/ Hoffmann 2006: S.213-233. S.214.

[80] Cizek 2006: S.214.

[81] vgl.: Schmidt, Ulrich (2005): Professionelle Videotechnik. Berlin. S.3f.

[82] Ulrich 2005: S.3.

[83] vgl.: Schmidt 2005: S.4f.

[84] vgl.: Ziemer, Albrecht (2003): Digitales Fernsehen. Eine neue Dimension der Medienvielfalt. Heidelberg. S.46f.

[85] vgl.: Schmidt 2005: S.476f.

[86] vgl.: Ziemer 2003: S. 48f.

[87] Hoffmann 2006: S.68.

[88] Roth, Wilhelm (1982): Der Dokumentarfilm seit 1960. München. S.199.

[89] Roth 1982: S.199.

[90] Roth 1982: S.199.

[91] Schändlinger, Robert (1998): Erfahrungsbilder. Visuelle Soziologie und dokumentarischer Film. Konstanz. S.230.

[92] vgl.: Roth 1982: S.205.

[93] Roth 1982: S.200.

[94] Cizek 2006: S.214.

[95] vgl.: Roth 1982: S.200.

[96] vgl.: Roth 1982: S.199.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2008
ISBN (eBook)
9783836616157
DOI
10.3239/9783836616157
Dateigröße
867 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Technische Universität Dortmund – Fakultät Kulturwissenschaften, Journalistik
Erscheinungsdatum
2008 (Juli)
Note
2,0
Schlagworte
digitales video dokumentarfilm videojournalismus reportage fernsehen
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