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Du bist, was du isst - Wissen wir noch, wer wir sind?

Zur Rolle von Lebensmittelskandalen in der modernen Nahrungskultur

©2007 Magisterarbeit 107 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
„Essen hält Leib und Seele zusammen“ (Sprichwort).
Eine Auseinandersetzung mit dem Thema Essen im Rahmen einer Magisterarbeit erscheint zunächst ein wenig befremdlich, ist doch Ernährung ein Grundbedürfnis des Lebens und damit schlicht eine naturgegebene Notwendigkeit. Bereits das eingangs zitierte Sprichwort verweist aber darauf, dass die Bedeutung des Essens über die pure Lebenserhaltung hinaus geht. Essen dient nicht nur dem Leib sondern auch der Seele, beinhaltet also neben der körperlichen auch eine geistige Komponente. Diesem unkörperlichen Aspekt der Ernährung nachzuspüren und ihn in seiner soziologischen Tragweite genauer darzustellen, ist eines der ersten Anliegen dieser Arbeit.
Statistisch gesehen nimmt der Mensch im Laufe seines Lebens etwa 75.000 bis 100.000 Mahlzeiten zu sich und widmet dieser Tätigkeit 13 bis 17 Jahre seiner Lebenswachzeit – ausgehend von 16 Wachstunden pro Tag. Nicht mit einbezogen sind dabei die zahlreichen anderen Situationen, in denen der Mensch zwar nicht isst, sich aber doch mit dem Thema der Ernährung befasst. Dazu gehören unter anderem die Beschaffung von Nahrungsmitteln, in aller Regel durch Einkaufen, das Lesen von Koch- und Backbüchern oder Ernährungsratgebern, das Anschauen von derzeit äußerst beliebten Kochsendungen im Fernsehen, die Planung und Vorbereitung von festlichen Essen zu besonderen Anlässen und schließlich das Kochen und Backen selbst. Die Liste solcher Tätigkeiten ließe sich ohne weiteres verlängern. Darüber hinaus ist Essen bzw. Ernährung ein stets präsentes Problem innerhalb öffentlicher und politischer Diskussionen. Zu denken sei hierbei nur an Fragen der Ernährungs- und Gesundheitspolitik sowie des Verbraucherschutzes, die nahezu täglicher Bestandteil der Berichte von Zeitungen und Zeitschriften, Fernsehen und Internet sind. An alldem zeigt sich, dass das Thema Essen durchaus genauere Aufmerksamkeit verdient.
Ausgangspunkt und Überschrift dieser Arbeit ist das geläufige Zitat „Du bist, was du isst.“ Ein konkretes Ziel ist es, den Bedeutungsgehalt dieses Ausspruches zu ergründen und den sich daraus ableitenden Fragen nachzugehen. In welchem Zusammenhang stehen Essen und körperliches Sein? Welchen Einfluss nimmt die Ernährung auf unser Bewusstsein? Und welche Rolle spielt sie in Bezug auf unser gesellschaftliches Sein? Zur Beantwortung dieser Fragen wird auf bereits vorliegendes einschlägiges Schrifttum zurückgegriffen und eine entsprechende Analyse durchgeführt […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsübersicht

1 Einleitung

2 Soziologische Verortung der Ernährung
2.1 Die soziologische Bedeutung des Essens
2.1.1 Das natürliche Ernährungsbedürfnis
2.1.2 Die soziale Dimension des Essens
2.1.3 Essen zwischen Natur und Kultur
2.2 Theoretische Grundlagen
2.2.1 Soziologie des Körpers
2.2.2 Soziologie des Essens bzw. der Ernährung
2.2.3 Ernährung und Gesellschaft
2.3 Zusammenfassung

3 Die moderne Art zu Essen
3.1 Entfremdung von der Nahrung
3.1.1 Industrielle Produktion und Verarbeitung von Lebensmitteln
3.1.2 Nahrungsbeschaffung in der modernen Gesellschaft
3.2 Die Qual der Wahl
3.2.1 Ernährung in der Überflussgesellschaft
3.2.2 Angebot und Nachfrage von Lebensmitteln
3.2.3 Entscheidungsfaktoren und Ernährungsstile
3.3 Massenmedien, Werbung und Konsum
3.3.1 Informationsquellen und Informationskanäle
3.3.2 Virtuelle Nahrungswelten
3.3.3 Einkaufen, Essen und Existenz
3.4 Zusammenfassung: Du bist, was du isst?

4 Soziologische Verortung von Skandalen
4.1 Der Skandal im Allgemeinen
4.1.1 Definition
4.1.2 Entstehung und Ablauf
4.1.3 Beteiligte und Kommunikationsmechanismen
4.1.4 Funktionen und Bedeutung
4.2 Der besondere Fall des Lebensmittelskandals
4.2.1 Historie der Lebensmittelskandale
4.2.2 Beteiligte und Kommunikation
4.2.3 Stellenwert von Lebensmittelskandalen
4.3 Zusammenfassung

5 Lebensmittelskandale aus jeweiliger Sicht der Beteiligten
5.1 Der „Ekelfleischskandal“ als Beispiel
5.2 Perspektive der Verbraucher
5.2.1 Verunsicherung
5.2.2 Eigenverantwortlichkeit
5.3 Perspektive der Produzenten
5.3.1 Gewinnstreben vs. Verantwortungsbewusstsein
5.3.2 Konkurrenzkampf und Behauptung am Markt
5.4 Die Rolle des Staates
5.4.1 Verbraucherschutz
5.4.2 Rechtlicher Hintergrund
5.4.3 Lebensmittelkontrollen
5.4.4 Reaktionen von staatlicher Seite
5.5 Die Bedeutung der Verbraucherorganisationen
5.6 Die Rolle der Medien
5.6.1 Information und Kommunikation
5.6.2 Beobachtung und Kontrolle
5.7 Zusammenfassung

6 Auswirkungen der Lebensmittelskandale
6.1 Veränderung des Ernährungsverhaltens
6.2 Chancen und Risiken der Skandalisierung

7 Resümee

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Literaturverzeichnis

Du bist, was Du isst. - Wissen wir noch, wer wir sind?

1 Einleitung

„Essen hält Leib und Seele zusammen“.

(Sprichwort)

Eine Auseinandersetzung mit dem Thema Essen im Rahmen einer Magisterarbeit erscheint zunächst ein wenig befremdlich, ist doch Ernährung ein Grundbedürfnis des Lebens und damit schlicht eine naturgegebene Notwendigkeit. Bereits das eingangs zitierte Sprichwort verweist aber darauf, dass die Bedeutung des Essens über die pure Lebenserhaltung hinaus geht. Essen dient nicht nur dem Leib sondern auch der Seele, beinhaltet also neben der körperlichen auch eine geistige Komponente. Diesem unkörperlichen Aspekt der Ernährung nachzuspüren und ihn in seiner soziologischen Tragweite genauer darzustellen, ist eines der ersten Anliegen dieser Arbeit.

Statistisch gesehen nimmt der Mensch im Laufe seines Lebens etwa 75.000 bis 100.000 Mahlzeiten zu sich und widmet dieser Tätigkeit 13 bis 17 Jahre seiner Lebenswachzeit – ausgehend von 16 Wachstunden pro Tag.* Nicht mit einbezogen sind dabei die zahlreichen anderen Situationen, in denen der Mensch zwar nicht isst, sich aber doch mit dem Thema der Ernährung befasst. Dazu gehören unter anderem die Beschaffung von Nahrungsmitteln, in aller Regel durch Einkaufen, das Lesen von Koch- und Backbüchern oder Ernährungsratgebern, das Anschauen von derzeit äußerst beliebten Kochsendungen im Fernsehen, die Planung und Vorbereitung von festlichen Essen zu besonderen Anlässen und schließlich das Kochen und Backen selbst. Die Liste solcher Tätigkeiten ließe sich ohne weiteres verlängern. Darüber hinaus ist Essen bzw. Ernährung ein stets präsentes Problem innerhalb öffentlicher und politischer Diskussionen. Zu denken sei hierbei nur an Fragen der Ernährungs- und Gesundheitspolitik sowie des Verbraucherschutzes, die nahezu täglicher Bestandteil der Berichte von Zeitungen und Zeitschriften, Fernsehen und Internet sind. An alldem zeigt sich, dass das Thema Essen durchaus genauere Aufmerksamkeit verdient.

Ausgangspunkt und Überschrift dieser Arbeit ist das geläufige Zitat „Du bist, was du isst.“ Ein konkretes Ziel ist es, den Bedeutungsgehalt dieses Ausspruches zu ergründen und den sich daraus ableitenden Fragen nachzugehen. In welchem Zusammenhang stehen Essen und körperliches Sein? Welchen Einfluss nimmt die Ernährung auf unser Bewusstsein? Und welche Rolle spielt sie in Bezug auf unser gesellschaftliches Sein? Zur Beantwortung dieser Fragen wird auf bereits vorliegendes einschlägiges Schrifttum zurückgegriffen und eine entsprechende Analyse durchgeführt werden. Zum Zweck der Deskription moderner Ernährungsmuster und –gewohnheiten steht umfangreiches Datenmaterial aus verschiedenen Studien zur Verfügung.

Die an obiges Zitat anschließende fragende Formulierung „Wissen wir noch, wer wir sind?“ verweist auf den Interessenschwerpunkt der vorliegenden Arbeit. Denn sofern ein Zusammenhang zwischen Essen und physischer, psychischer sowie sozialer Existenz nachweisbar ist, verdient insbesondere die moderne Ernährungsweise eine genauere Betrachtung. Zu prüfen ist, inwieweit sich die moderne Art zu Essen von der früheren unterscheidet. Anlass zu dieser Fragestellung geben vor allem die zahlreichen Aufsehen erregenden und schockierenden Vorkommnisse um manipulierte, verseuchte oder sonst belastete Lebensmittel der jüngeren Vergangenheit. Die schiere Anzahl dieser so genannten Lebensmittelskandale führt nahezu zwingend zu der Frage: Wissen wir überhaupt noch, was wir alltäglich zu uns nehmen? Und wenn dem - wie aus nahe liegenden Gründen anzunehmen - nicht so ist, wie können wir dann noch wissen, wer wir sind?

Gerade die von den Medien in dicken Schlagzeilen vermeldeten Skandale rücken das Thema Essen regelmäßig ins unmittelbare gesellschaftliche Bewusstsein. Dennoch scheint eine wirklich tief greifende und nachhaltige Auseinandersetzung nicht stattzufinden. Die Berichte bleiben in aller Regel recht oberflächlich und die entsprechenden Meldungen sind wie die Zeitung von gestern am nächsten Tag schon veraltet und verhallen anscheinend folgenlos, während die betroffenen Lebensmittel unter Umständen noch im heimischen Küchenregal stehen. Aber bleiben diese Vorkommnisse tatsächlich bar jeglicher Konsequenz, wie der Schein vermuten lässt? Zu erforschen ist, welche Wirkungen Lebensmittelskandale haben und wenn solche in adäquater Form nicht feststellbar sind, welche sie haben sollten.

Zu diesem Zweck sollen die Lebensmittelskandale als allgemeines Ereignis und wo notwendig im konkreten Einzelfall näher untersucht werden – sowohl aus Sicht der Verbraucher als auch aus Sicht der Versorger. Nachzugehen ist der Frage, wie und warum es in einem Land wie Deutschland, das für seine penible Reinlichkeit und für seinen akribischen Regelungsdrang bekannt ist, ausgerechnet bezüglich der Ernährung, die jeden einzelnen Bürger betrifft, immer wieder zu derartigen Desastern kommen kann. Zu prüfen ist auch, wie die jeweiligen Geschehensabläufe kommuniziert werden und welche Rolle der Staat bzw. die Politik dabei spielen. Dabei ist vor allem der rechtliche Hintergrund von Interesse. Wie nicht anders zu erwarten, existieren auch hinsichtlich der menschlichen Ernährung zahlreiche Verordnungen und gesetzliche Regelungen. Es bestehen Vorschriften über den Umgang mit Lebensmitteln, über die Verarbeitung natürlicher Rohstoffe, über die Deklaration der Art und Herkunft von Inhalts- und Zusatzstoffen etc. Wieso aber können all diese Regelungen die Entstehung von Lebensmittelskandalen nicht verhindern? Geben diese Ereignisse Anlass zu einer Überprüfung und gegebenenfalls Verschärfung der bestehenden Regelungen? Oder fehlt es schlicht an staatlicher Aufsicht und Kontrolle? Vor allem Aspekte des Verbraucherschutzes sind hier von besonderem Belang. Zur Erhellung dieser Fragen soll der Versuch unternommen werden, die diesbezüglich einschlägigen juristischen Materialien in einen soziologischen Kontext zu stellen und hier eine gemeinsame Schnittstelle zu finden.

Der theoretische Bezug zur hier verfolgten Zielsetzung einer Analyse der Lebensmittelskandale wird je nach thematischer Schwerpunktsetzung zwischen mikro- und makrosoziologischer Ebene variieren. Der Untersuchungsgang orientiert sich dabei an dem Bestreben, über die Beschreibung von Fakten hinaus Zusammenhänge im Sinne von Ursache-Wirkungs-Beziehungen zu ergründen. Ein Hauptinteresse der vorliegenden Arbeit gilt der Suche nach einer Erklärung für die Entstehung von Lebensmittelskandalen aus den festzustellenden Besonderheiten der modernen Ernährungsweise heraus. Daneben ist beabsichtigt, aus den gefundenen Zusammenhängen Rückschlüsse auf die mögliche Vermeidbarkeit weiterer Lebensmittelskandale abzuleiten.

Mit den obigen Ausführungen wurde die gewählte Problemstellung und der anvisierte Weg zur Bearbeitung skizziert. Daneben weist das Thema Essen aber noch zahlreiche andere Facetten auf: So sind zum Beispiel im Hinblick auf das Verständnis von Esskultur völkervergleichende Studien und historische Bezüge bzw. der Wandel von Essgewohnheiten von grundlegender Bedeutung. Auch in der Kunst spielt Essen eine wichtige Rolle. Sowohl Literatur und bildende Kunst als auch Theater und Film beschäftigen sich gelegentlich mit dem menschlichen Drang nach Speis und Trank. Weltbekannte Beispiele für künstlerische Werke mit kulinarischem Hintergrund sind neben vielen anderen die Erzählung „ Ein Hungerkünstler“ von Franz Kafka, das Gemälde „Die Kartoffelesser“ von Vincent van Gogh und der Film „La grande bouffe“ („Das große Fressen“) des Regisseurs Marco Ferreri.

Nicht zu vergessen sind die religiösen Aspekte des Themas Essen. So hat etwa im Rahmen der christlichen Glaubenslehre das Heilige Abendmahl, das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern, bei denen er ihnen Brot und Wein als seinen Leib und sein Blut reichte, eine besondere Bedeutung. Ferner ist erwähnenswert, dass die Kirche Unmäßigkeit, also übermäßiges Essen und Trinken, bekannt als Völlerei und Trunksucht, zu den Sieben Todsünden zählte. Der Kontext von Essen und Religion zeigt sich auch in der Abhängigkeit individueller Ernährungsgewohnheiten von der jeweiligen spirituellen Gesinnung. Exemplarisch hierfür sind religiös motivierte Nahrungsmitteltabus und die Verpflichtung zu koscherer Kost nach dem jüdischen Speisegesetz.

Ein aktueller und höchst brisanter Gesichtspunkt zum Thema Ernährung sind die Hungersnöte, von denen insbesondere die Länder der so genannten Dritten Welt betroffen sind. Nach Schätzungen der FAO hungern etwa 852 Millionen Menschen weltweit, und täglich sterben zirka 24.000 Menschen an den Folgen von Unterernährung.* Dies stellt ein bestürzendes und drängendes Problem dar, kann hier aber nicht näher thematisiert werden.

Obige Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, demonstriert aber deutlich die Multidimensionalität des Themas Essen, die eine Einschränkung des zu bearbeitenden Bereichs unumgänglich macht. Ausgangspunkt sollen hier die Lebensmittelskandale der jüngeren Vergangenheit sein, was zu einer Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes auf die gegenwärtige westliche, insbesondere die deutsche Gesellschaft führt. Da die anderen oben angeführten Aspekte keinen direkten Zusammenhang zu der gewählten Problemstellung aufweisen, kann von einer weitergehenden Betrachtung im Rahmen dieser Arbeit Abstand genommen werden.

Das nachfolgende einführende Kapitel widmet sich einer Annäherung an das Thema Essen aus soziologischer Perspektive, wobei auch auf theoretische Grundlagen eingegangen wird. Im weiteren Verlauf gilt dann das Hauptaugenmerk den Besonderheiten der modernen Ernährungsweise.

2 Soziologische Verortung der Ernährung

Die menschliche Ernährung bildet für viele Wissenschaftszweige einen interessanten und überaus vielschichtigen Untersuchungsgegenstand. Auch die Soziologie hat ein spezifisches Interesse an der Ernährung. Aus ihrer Sicht sind insbesondere deren Bedingungen und Formen, die hintergründigen sozialen Handlungen, Institutionen und Funktionszusammenhänge relevant. Worin genau diese Relevanz begründet liegt, wird im Folgenden erläutert.

2.1 Die soziologische Bedeutung des Essens

„Jede Speise ist immer auch ein Symbol

und jede Mahlzeit eine gesellschaftliche Situation.“

(Alois Wierlacher)

Es ist eine naturgegebene Tatsache: Der Mensch muss essen, um zu leben. Gleichzeitig eröffnet diese Notwendigkeit viele Fragen: was wird als Lebensmittel angesehen, zum Verzehr zubereitet und aus welchem Anlass, in welcher Situation, wie, warum und mit wem wird gegessen? Die Antworten darauf geben die sozialen oder erlernten Aspekte des Ernährungsverhaltens. Diese Eßgewohnheiten vermitteln als Teil der kulinarischen Kultur zwischen dem Bedürfnis nach Nahrung und seiner Befriedigung. Daher geht die Bedeutung des Essens weit über die bloße Nahrungsaufnahme hinaus, worauf bereits mit dem obigem Zitat hingewiesen wurde.[1] Speisen besitzen neben ihrem Nähr-, auch einen Genuss- und Symbolwert; Mahlzeiten folgen neben dem biologischen Drang, auch den sozialen Normen vor dem Hintergrund der Esskultur. Essen ist nicht nur Aspekt einer Körperfunktion, sondern Teil umfassender gesellschaftlicher Verhaltensformen. Um die soziologische Relevanz des Essens von dessen physischer Notwendigkeit zu unterscheiden, soll im folgenden Abschnitt zunächst dem natürlichen Ernährungsbedürfnis des Menschen nachgegangen werden.

2.1.1 Das natürliche Ernährungsbedürfnis

Wie alle biologischen Wesen unterliegt auch der Mensch dem Erfordernis der Ernährung, d.h. der Aufnahme von Stoffen, die zur Erhaltung des Lebens, für Wachstum, Bewegung und Fortpflanzung notwendig sind.[2] Eine Besonderheit des menschlichen Ernährungsbedürfnisses liegt in der feinen Differenzierung zwischen » Hunger « und » Appetit «. Beide Begriffe bezeichnen allgemein das Verlangen nach Speise. Während aber Hunger in erster Linie das körperliche Gefühl beschreibt, etwas essen zu müssen, um satt zu werden, versteht man unter Appetit das lustvoll geprägte, seelische Verlangen danach, etwas – in aller Regel etwas ganz Bestimmtes – zu essen. Beim Hunger handelt es sich um eine physiologische Erscheinung, die durch Kontraktionen des leeren Magens, Unterzuckerung und Änderungen im Stoffwechsel ausgelöst wird. Demgegenüber ist das psychologische Phänomen des Appetites stark durch erinnerte und imaginierte Sinneswahrnehmungen wie Aussehen, Geruch, Geschmack, Temperatur und Konsistenz von Speisen beeinflusst. Natürlicherweise reagieren Menschen auf das Verspüren von Hunger sowie Appetit, indem sie essen. Dabei stehen Hunger und Appetit infolge der sensorischen Stimulierung miteinander in Wechselwirkung. So kann ein Angebot entsprechender Reize trotz leiblicher Sättigung Appetit entstehen lassen. Dann essen Menschen mehr, als zu ihrer Sättigung notwendig wäre. Umgekehrt kann zu starker Hunger den Appetit und damit den Genuss an einem Essen mindern.[3]

Schon hier zeigt sich, dass es bei der menschlichen Ernährung um mehr als die bloße Befriedigung eines körperlichen Bedürfnisses geht. Das Verlangen nach Nahrung ist zunächst egoistischer Natur in dem Sinne, dass Hunger zur Konzentration auf den eigenen Körper und dessen Bedürfnisse führt. Ein hungriger Mensch ist primär daran interessiert, Nahrung zu sich zu nehmen. Der Appetit aber und der Wunsch, bei der Befriedigung seines Verlangens nicht nur leibliche Sättigung sondern möglichst auch Genuss zu erzielen, erweitern die eigennützige Struktur. Hunger erweckt das Verlangen nach Nahrung und Appetit als Wunsch nach Genuss sorgt dafür, dass es dem Menschen in aller Regel nicht gleichgültig ist, was er zu sich nimmt.[4] Die Entscheidung darüber, welche Speisen konsumiert werden, ist von verschiedenen Faktoren abhängig. Dazu gehören ökonomische und gesundheitliche Erwägungen, Gewohnheiten, persönlicher Geschmack und emotionale Befindlichkeit. Auch Bezugspersonen und das soziale Umfeld spielen dabei eine wichtige Rolle.[5] Die konkreten Bedingungen der Nahrungswahl werden zu einem späteren Zeitpunkt erörtert (vgl. Punkt 3.2).

Zusammenfassend ist als eine erste Erkenntnis festzuhalten, dass der Hunger ein rein körperliches und egoistisches Bedürfnis bezeichnet, während der Appetit der Kultivierung dieses Bedürfnisses dienlich ist und damit eine soziale Komponente aufwirft.[6] Dieses soziale Element soll nachfolgend genauer herausgestellt werden.

2.1.2 Die soziale Dimension des Essens

Soweit es dabei um bloße Bedürfnisbefriedigung geht, ist Essen ein eigennütziger Vorgang. Dessen soziale Dimension eröffnet sich durch die schlichte Tatsache, dass wir alle essen müssen. Für alle Menschen, so verschieden sie sein mögen, ist Nahrung lebensnotwendig. Simmel verwies darauf, dass paradoxerweise gerade im egoistischen, unteilbaren Bedürfnis des Essens („ [...] was der einzelne isst, kann unter keinen Umständen ein anderer essen.“)[7] etwas Verbindendes liegt, da es ein „absolut allgemein Menschliches“[8] ist. Das Ernährungsbedürfnis bietet so eine Grundlage für gemeinsame Aktivitäten, die die „exklusive Selbstsucht des Essens“[9] vergessen lassen. Die Notwendigkeit zu essen vereint die Menschen in kollektiven Handlungen rund um die Nahrungsbeschaffung und Nahrungsaufnahme und trägt damit ein großes soziales Potential. Ausgehend vom Nahrungstrieb können sich zahlreiche zwischenmenschliche Beziehungen, feste Verhaltensmuster und Rituale entwickeln. Essen bedeutet nicht nur Zufuhr von Nährstoffen, sondern auch eine Möglichkeit, unmittelbare Lust am Genuss zu erleben, an Tischgemeinschaften teilzunehmen, Bekanntschaften und Freundschaften zu intensivieren, Ansehen zu gewinnen usw.[10] Zudem entstanden daraus ganze Wirtschaftszweige, zu denen neben Lebensmittelindustrie und –handel, auch das Gastronomiegewerbe zählt. Daneben tangiert die Ernährung zahlreiche andere Lebensbereiche. Zu denken ist hier unter anderem an ihre Relevanz in wissenschaftlicher, politischer, rechtlicher, kultureller oder religiöser Hinsicht. Aufgrund dieser umfassenden Bedeutung kann Essen als ein „phénomène social total“[11], also als ein soziales Totalphänomen bezeichnet werden.[12] Insofern ist Essen auch von besonderem soziologischen Interesse, auf das weiter unten im Rahmen der Darstellung der theoretischen Grundlagen noch einmal eingegangen wird.

2.1.3 Essen zwischen Natur und Kultur

Während sich der Hunger als körperliches Phänomen kognitiver Kontrolle weitgehend entzieht, obliegt die Antwort auf dieses unabdingbare Verlangen unserer bewussten Gestaltung: jeder kann entscheiden, ob und was er wann, wo, wie und mit wem essen will. Oder anders: Der Nahrungsbedarf des Menschen ist rein körperlich und ganz natürlich, die Art und Weise der Ernährung jedoch eine bewusste und kulturell geprägte Entscheidung.

Dies gilt zunächst für die Nahrungsauswahl. Das natürliche Hungergefühl signalisiert dem Menschen zwar, dass, aber nicht, was er essen soll. Zudem gilt der Mensch als Omnivore, ist also von Natur aus nicht auf bestimmte Nahrungsmittel festgelegt. Potentiell steht damit ein umfangreiches Angebot pflanzlicher und tierischer Nahrungsmittel zur Verfügung, von dem zunächst lediglich giftige und unbekömmliche Stoffe auszunehmen sind. Daraus resultiert die Notwendigkeit, in Bezug auf die individuelle Ernährung zu selektieren. Besonders bedeutsam ist dabei die kulturelle Bewertung von Nahrungsmitteln, denn abhängig vom jeweiligen Kulturkreis gelten bestimmte Substanzen als essbar oder nicht essbar.[13] Sehr deutlich zeigt sich das beim Fleisch: in Indien gelten Kühe als heilig und sind als Nahrung tabu. Islamische Völker lehnen den Verzehr von Schweinefleisch ab, und Hunde sind auf dem europäischen Speiseplan unvorstellbar, werden aber in Asien teilweise als Delikatesse verspeist.

Nicht nur die Auswahl, auch die Verarbeitung und Zubereitung von Nahrungsmitteln ist kulturell geprägt. So zeichnet sich jede Nation durch eine ihr eigene Küche aus. Manche Rohstoffe und Naturprodukte wie z.B. Kartoffeln erfordern eine bestimmte Form des Kochens oder Garens um überhaupt genießbar zu sein. Eine solche physiologische Notwendigkeit erklärt aber nicht die Vielfalt der Zubereitungsweisen. Diese sind regionaltypisch und traditionell und bilden in ihrer Charakteristik ein soziokulturelles Phänomen.[14]

Zur Esskultur gehören auch Regeln über den Ablauf von Mahlzeiten. Ob Männer, Frauen und Kinder getrennt oder gemeinsam speisen, gleichzeitig oder nacheinander essen, auf Stühlen oder dem Boden sitzen, individuelle Teller oder Schüsseln, Besteck, Essstäbchen oder ihre Hände benutzen usw. – all diese Fragen werden nicht durch natürliche Erfordernisse, sondern im Rahmen der Institutionalisierung der Mahlzeit beantwortet.[15]

Bei alldem gelten für die Ernährung als sensibler körpernaher Bereich ausgeprägte und verbindliche moralische Regelungen. Die Essmoral ist ein Aspekt von Alltagsmoral mit umfassendem Charakter. Sie umfasst zum Beispiel Grundsätze der Nahrungsverteilung mit der daraus abgeleiteten Pflicht, bedürftige Personen mit zu versorgen; Vorschriften darüber, welche Tiere gegessen werden dürfen (siehe oben) und Ermahnungen zu Mäßigung beim Essen.[16]

Das natürliche Ernährungsbedürfnis des Menschen mündet folglich über die soziale Normierung von Auswahl, Zubereitung und Verzehr der Nahrungsmittel in eine kulturell gestaltete Ernährungsweise, und umgekehrt setzt das Essen Kultur voraus.

2.2 Theoretische Grundlagen

„Gesellschaften sind so, wie sie essen.“

(Eva Barlösius)

Da die Art und Weise in der der Mensch sein natürliches Bedürfnis nach Nahrung befriedigt kulturell überformt ist, gibt sie Auskunft über grundlegende gesellschaftliche Strukturen. In Abwandlung des Spruchs „der Mensch ist, was er isst“, kann man formulieren: „Gesellschaften sind so, wie sie essen.“[17] Aus der Analyse der Nahrungskultur können wichtige Erkenntnisse darüber gewonnen werden, in welcher Form Menschen ihre ernährungsrelevanten Handlungen organisieren und koordinieren.

Wie im vorhergehenden Abschnitt deutlich gemacht wurde, lassen sich dem Vorgang des Essens drei Dimensionen abgewinnen: das rein körperliche natürliche Bedürfnis nach Nahrung, eingebettet in den sozialen Rahmen der Normierung und Institutionalisierung des Essverhaltens unter dem Dach der jeweiligen Esskultur. Zu unterscheiden sind mithin eine körperliche, eine soziale und eine kulturelle Ebene. Eine ähnliche Dreiteilung findet sich auch in der methodischen Annäherung an das Thema Essen, je nachdem, aus welcher Perspektive die Untersuchung vorgenommen wird. Besonderheiten und Auffälligkeiten der individuellen Ernährungsweise wie z.B. Essstörungen gehören zu den Forschungsfeldern der Soziologie des Körpers. Einen erweiterten Blickwinkel bietet die Soziologie des Essens, die sich mit den zahlreichen Facetten der sozialen und kulturellen Gestaltung der Ernährung befasst. Noch allgemeinere, gesamtgesellschaftliche Themen der Ernährung unter Einbeziehung wirtschaftlicher und politischer Aspekte unterfallen der Kultursoziologie und dem Kulturvergleich.

2.2.1 Soziologie des Körpers

Wie bereits dargelegt ist der Nahrungstrieb zunächst eine rein physische Notwendigkeit. Auch soziologisch kann man sich mit der menschlichen Ernährung auf der körperlichen Ebene auseinandersetzen. Einschlägig ist hier das Fachgebiet der Soziologie des Körpers, das sich mit den sozialen Einflüssen auf den Körper befasst. Ein Hauptthema bezieht sich dabei auf die Auswirkungen des sozialen Wandels auf den individuellen Körper, ein anderes beschäftigt sich mit der zunehmenden Trennung des Körpers von der so genannten Natur infolge des verstärkten Einflusses von Wissenschaft und Technologie.[18]

Die menschliche Ernährung steht mit jedem dieser beiden Hauptthemen in unmittelbarem Zusammenhang: Ein Interessenschwerpunkt der Soziologie des Körpers liegt auf der Frage, ob und wie sich der soziale Wandel auf den menschlichen Organismus, insbesondere in Hinblick auf die Ernährung, auswirkt. Unsere heutige Art zu essen unterscheidet sich von den Ernährungsgewohnheiten der letzten Jahrhunderte, insbesondere von denen vor dem Einsetzen der industriellen Revolution. Das Hauptaugenmerk der Körper-Soziologie gilt dabei allerdings weniger den Besonderheiten der modernen Ernährung an sich als vielmehr deren Folgen für den menschlichen Körper. In westlichen Gesellschaften haben viele Menschen das Bedürfnis, ihren Körper zu kultivieren, d.h., ihn zu verändern, seine natürliche Form ihren individuellen Vorstellungen anzupassen. Forschungsschwerpunkte bilden unter anderem die zunehmende Verbreitung von Essstörungen, die Untersuchung von Gesundheit und Krankheit sowie spezielle Ernährungsformen zu Unterstützung der Körperformung, wie Diäten oder Proteindrinks für den Muskelaufbau.[19]

Das andere oben erwähnte Hauptthema der Soziologie des Körpers ist der allgemeine Prozess der Sozialisierung der Natur. Giddens versteht darunter, dass viele Phänomene, die einmal „natürlich“ waren, heute von sozialen Faktoren und vom technologischen Wandel bestimmt werden.[20] Dies trifft auch auf die Ernährung zu. Die Modernisierung und Globalisierung der Nahrungsmittelproduktion hat dazu geführt, dass unzählige Lebensmittel praktisch ganzjährig erhältlich sind. Für die Gestaltung des Speiseplans ist daher das saisonale Angebot heute weniger maßgeblich als zum Beispiel neu gewonnene Informationen über den Nährwert und die Wirkung bestimmter Esswaren.[21] Ernährung ist damit wesentlich planbarer geworden, was zu neuen Möglichkeiten, aber auch neuen Risiken führt. In einer Gesellschaft, in der Nahrung im Überfluss vorhanden ist, richtet sich die Ernährung nicht mehr nach den Angeboten der Natur, sondern nach denen der Supermärkte, deren Kunden Informationen über die Herkunft der Lebensmittel oft verborgen bleiben. Man könnte dies als eine Art der Entfremdung von der Nahrung bezeichnen. In Kapitel 3, das sich mit dem Verhältnis des modernen Menschen zu seiner Nahrung befasst, wird dieser Aspekt wieder aufgegriffen werden.

Einem vermutetem Zusammenhang zwischen sozialem Leben und dem Körper lässt sich anhand der individuellen Ernährungsgewohnheiten gut nachspüren. Es existieren zahlreiche naturwissenschaftliche Studien und Experimente zu Fragen wie: Hat die Art der Ernährung Einfluss auf das physische und psychische Wohlbefinden? Bestehen Wechselwirkungen zwischen Ernährung und Krankheit? usw. Die anschließende Aufgabe der Sozialwissenschaft besteht nicht in einer Überprüfung der gewonnenen Ergebnisse, sondern vielmehr des Umgangs mit diesen. Fraglich ist, ob und wie solche naturwissenschaftliche Resultate den einzelnen Menschen erreichen und ob sie gegebenenfalls Einfluss auf sein konkretes Verhalten nehmen, das heißt sein jeweiliges Ernährungsverhalten[22] verändern können.[23] Die Beschäftigung mit Fragen dieser Art ist aber schon nicht mehr ausschließlich dem Fachgebiet der Soziologie des Körpers zuzuordnen. Die Perspektive erhebt sich über die Fokussierung auf den menschlichen Körper hinaus und eröffnet somit das breitere Feld einer Soziologie des Essens bzw. der Ernährung.

2.2.2 Soziologie des Essens bzw. der Ernährung

Legt man das Hauptaugenmerk einer wissenschaftlichen Betrachtung der Ernährung nicht auf den Körper, sondern bezieht dessen soziales Umfeld stärker mit ein, so erweitert dies den Forschungsgegenstand um zahlreiche Dimensionen. So zählen zu den Themen der Ernährungssoziologie unter anderem der Wandel von ernährungsspezifischen Verhaltensweisen, der Vergleich von Ernährungsgewohnheiten verschiedener Regionen und Gesellschaftsbereiche, die sozial integrierende Wirkung des gemeinsamen Essens oder die Auswirkungen des Wertewandels auf das Ernährungsverhalten.[24]

Bei der Soziologie des Essens bzw. der Ernährung (beide Begriffe können inhaltlich gleichgesetzt werden) handelt es sich um eine spezielle Soziologie, die einerseits spezifische, ihrem Forschungsgegenstand angemessene Systematisierungen zu entwickeln sucht. Dies geschieht auch anhand empirischer Erhebungen. Andererseits ist bezüglich der Einbettung in größere gesellschaftliche Zusammenhänge der Rückgriff auf allgemeine soziologische Theorien möglich. Die Ernährungssoziologie steht dabei in der Nähe zu anderen Fachdisziplinen wie der Konsumsoziologie oder der Ernährungswissenschaft.

Wie oben unter Punkt 2.1.2 dargestellt, weist die menschliche Ernährung neben ihrer rein biologischen Notwendigkeit deutliche soziale Komponenten auf. Das Bedürfnis zu Essen ist allen Menschen gleich und mündet in gemeinschaftlichen Aktivitäten rund um die Beschaffung und Aufnahme von Nahrung. Die Ausgestaltung und Konsequenzen dieser Handlungen im Rahmen des sozialen Zusammenlebens, ihre Wandlungen in der Vergangenheit und die Bedeutung, die ihnen zugemessen wird, all dies sind Themen der Ernährungssoziologie. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Frage, ob und wie die menschliche Ernährung durch soziale Rahmenbedingungen geprägt, beeinflusst und ausgestaltet wird.[25] Ein zentraler Untersuchungsgegenstand dabei ist die Mahlzeit, an deren Beispiel sich Zwecke jenseits des Verzehrs analysieren lassen. So besitzen Mahlzeiten die Fähigkeit, Gemeinschaften zu stiften, dienen der Stiftung und Wahrung zwischenmenschlicher Beziehungen und der Repräsentation. Mahlzeiten im Kreise der Familie spielen eine wichtige Rolle im Rahmen der Sozialisation, für die Weitergabe von Traditionen und für die Statuierung und Bekräftigung sozialer Hierarchien.[26] Bei der Untersuchung und Einordnung dieser Funktionen von gemeinsamen Mahlzeiten und ihrer Einordnung in größere soziale Zusammenhänge kann auf etablierte soziologische Theorien und Begrifflichkeiten zurückgegriffen werden. Solche Grundbegriffe, die auf den Ernährungsbereich Anwendung finden, sind zum Beispiel: Werte und Normen, Konformität und Abweichung, soziale Rollen, soziale Gruppen und Sozialisation.[27] Daneben sind zur Erforschung des Ernährungsverhaltens empirische Erhebungen und die Entwicklung neuer Systematisierungen unumgänglich. Die methodischen Ansätze reichen dabei von der Befragung über die Beobachtung und die Auswertung schriftlichen Materials (z.B. Ernährungsprotokolle) bis zu Messungen der Nahrungszufuhr und ihrer körperlichen Auswirkungen.[28] Das konkret anzuwendende Verfahren ist jeweils nach dem Zweck der Untersuchung zu bestimmen.

Die menschliche Ernährung zeichnet sich jedoch nicht nur durch die bereits beschriebenen körperlichen und sozialen Gesichtspunkte aus, sondern ist darüber hinaus stark kulturell geprägt. Daher kann der Blickwinkel einer wissenschaftlichen Analyse erneut erweitert werden, wobei ein Wechsel von der mikro- auf eine makrosoziologische Ebene stattfindet.

2.2.3 Ernährung und Gesellschaft

Während sich die bisher aufgezeigten theoretischen Ansätze mit typischen Prägungen und Mustern in Bezug auf das Essverhalten von Individuen und Gruppen beschäftigen, stehen im Rahmen einer makrosoziologischen Betrachtung gesamtgesellschaftliche Fragen und eine sozialstrukturelle Betrachtung der Ernährung im Vordergrund. In einem größeren Rahmen spielen auch kultursoziologische Erwägungen eine Rolle, zum Beispiel in Bezug auf die Entstehung, den Wandel und Vergleich von Esskulturen. Diese Themen können dabei durchaus dem Fachgebiet der Ernährungssoziologie zugeordnet werden, sollen hier aber aufgrund des Perspektivenwechsels in einem eigenen Gliederungspunkt Beachtung finden.

Auf der makrosozialen Ebene offenbart sich ein breites Spektrum ernährungsspezifischer Themen. Für die Kultursoziologie sind beispielsweise Entstehung, Wandel und Bedeutung nationaler Küchen von Interesse. Eine wichtige Rolle spielt dabei nicht nur die Erforschung der historischen Entwicklung, sondern auch die Beobachtung gegenwärtiger Trends. Als Schlagworte seien hier Globalisierung und Amerikanisierung, deren Auswirkungen auch hinsichtlich des Essverhaltens spürbar sind, genannt. Kulturelle Aspekte der Ernährung offenbaren sich auch hinsichtlich des Beitrages einer bestimmten Ernährungsweise zur Identitätsfindung und Orientierung, bei der Wechselwirkung zwischen der Ausbildung kultureller Identität und dem Nahrungsgeschehen, im Rahmen einer Gegenüberstellung von Regionalität und Internationalität sowie bezüglich der Bedeutung der Nahrungsaufnahme im System menschlicher Kommunikationsformen.[29] Die Forschungsperspektiven einer Kulturwissenschaft des Essens sind damit kaum im Ansatz erfasst, sollen hier aber im Interesse einer fokussierten Bearbeitung nicht weiter vertieft werden.

Eine gesamtgesellschaftliche Analyse der Ernährung erschöpft sich nicht in der Betrachtung des Essens als Kulturthema, sondern muss auch dessen wirtschaftliche und politische Gesichtspunkte einbeziehen. Dazu gehört unter anderem die Frage, ob ein Zusammenhang zwischen Ernährung und sozialer Ungleichheit besteht. Ein solcher kann sich in der Beziehung von Nahrungsgewohnheiten und Konsummustern zu einem bestimmten sozialen Status manifestieren oder in der Verflechtung einer schichtspezifischen Ernährung mit charakteristischen Folgeproblemen, insbesondere gesundheitlicher Art. Ein anderes Problem mit sozialstrukturellem Hintergrund sind die Auswirkungen des Wandels privater Lebensformen auf traditionelle Ernährungsmuster.[30] In der wissenschaftlichen Arbeit zu diesem Themenbereich können Grundbegriffe der Makrosoziologie wie z.B. soziale Institution, soziale Systeme, sozialer Wandel und soziale Ungleichheit Anwendung finden.[31]

Die Ergebnisse der Ernährungsforschung sind vor allem für die Politik von hoher Relevanz. Zu denken sei hier nur an das staatlich garantierte Recht auf eine genügende Ernährung, das auch zu den von den Vereinten Nationen anerkannten Menschenrechten gehört. Neben der Garantie einer Mindestversorgung zählt die Lebensmittelsicherheit, bei der es um den Schutz der Konsumenten vor Gesundheitsgefährdungen und Täuschungen geht, zum Kernbereich der Ernährungspolitik.[32]

2.3 Zusammenfassung

Ein erstes Ergebnis dieser Arbeit liegt in der Feststellung, dass essen mehr bedeutet als bloße Bedürfnisbefriedigung. Herausgestellt wurden neben der natürlichen die soziale und kulturelle Komponente der Ernährung. Die weiteren Ausführungen haben gezeigt, dass die wissenschaftliche Annäherung an das Thema Essen auf verschiedenen Ebenen erfolgen kann. Im Vordergrund stehen dabei entweder die rein körperlichen bzw. personalen, die umgebenden sozialen oder die übergeordneten kulturellen bzw. gesamtgesellschaftlichen Aspekte der menschlichen Ernährung. Die Dreiteilung in der Praxis der Ernährung korreliert dabei mit der Dreiteilung in der theoretischen Herangehensweise.

Schematisch lässt sich dies wie folgt darstellen:

Abb. 1: Schachtelung der verschiedenen Ebenen der Ernährung und des jeweiligen wissenschaftlichen Forschungsgegenstandes

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Quelle: eigene Darstellung)

Die Abbildung zeigt, dass das Thema Essen ausgehend vom natürlichen Nahrungsdrang des Individuums bei der Kanalisierung bzw. Gestaltung der Ernährung eine soziale Dimension gewinnt, die wiederum in den gesellschaftlichen Rahmen der jeweiligen Esskultur eingebettet ist. Für die hier verfolgte Analyse der heutigen Ernährungsweise ist daher eine erweiterte Perspektive, die sich über die Betrachtung des Körpers hinaus erhebt, erforderlich.

3 Die moderne Art zu Essen

Essen ist mehr als nur essen. Essen ist speisen, genießen, fressen, verzehren, schlemmen, mampfen, vertilgen, dinieren, verputzen, verschlingen, einverleiben... Die moderne deutsche Sprache hält eine Vielzahl von Synonymen für »essen« bereit, jedes davon verbunden mit einer anderen fein differenzierenden Konnotation. Es existieren also vielerlei Begriffe, um die subjektiven, emotionalen oder assoziativen Begleitvorstellungen des Essens zum Ausdruck zu bringen. Und so verschieden wie die Worte, die den jeweiligen Akt des Verzehrs charakterisieren, so verschieden sind die Ernährungsmuster der Menschen – abhängig zum Beispiel von ihren individuellen Vorlieben.

In diesem Kapitel soll anhand von einschlägiger Fachliteratur und Studien untersucht werden, inwiefern sich die moderne Art zu Essen von Ernährungsweisen der Vergangenheit unterscheidet. Wodurch zeichnet sich unsere gegenwärtige Nahrungskultur aus? Von Interesse ist der gesamte Prozess von der Produktion der Lebensmittel über ihren Weg zum Konsumenten bis zum schlussendlichen Verzehr. Dabei gilt es herauszufinden, welches Verhältnis der moderne Mensch zu seiner Nahrung hat, welche Faktoren seine Konsumentscheidungen beeinflussen und welche Bedeutung dem Essen zugemessen wird. Es soll der Versuch unternommen werden, anhand spezifischer Indikatoren eine Systematik der wesentlichen Merkmale heutigen Ernährungsverhaltens zu entwickeln.

3.1 Entfremdung von der Nahrung

„Der Konsument hat keine Ahnung mehr,

wie was funktioniert, und wie was gemacht wird.“

(Hannes Schulz, Tierzüchter)

In Kapitel 2 dieser Arbeit wurde herausgestellt, dass Essen sich nicht auf den bloßen Verzehr von Lebensmitteln reduzieren lässt. Vielmehr ist Essen eine sozial und kulturell eingebundene menschliche Handlung, die daher stets auch im Zusammenhang mit der historischen Entwicklung einer Gesellschaft zu betrachten ist. Das moderne Europa ist geprägt vom Prozess der Industrialisierung und Urbanisierung, der im ausgehenden 18. Jh. in Großbritannien begann und sich in hohem Tempo ausbreitete. Im Zuge dieser Entwicklung wandelten sich bislang agrarisch geprägte Gesellschaften innerhalb weniger Jahrzehnte zu Industriegesellschaften.[33]

Die Industrialisierung hatte fundamentale Auswirkungen auf alle Lebensbereiche – so auch auf die Ernährung der Menschen. Längst folgt die Produktion von Lebensmitteln industriellen Standards, und das Bild, das die meisten Menschen heute von der Landwirtschaft haben, ist allzu oft ohne Realitätsbezug. So stellt es auch Hannes Schulz, Inhaber der Brüterei Schulz in der Steiermark, wie eingangs zitiert fest.[34] Die Vorstellungen der Menschen sind meist durch tradierte Ideen davon, wie es früher einmal war und durch eine medial vermittelte Wahrnehmung geprägt. Hier kann das Stichwort von der »Sozialisierung der Natur« aus Kapitel 2.2.1 (vgl. S. 13) wieder aufgegriffen werden, denn Produktion und Angebot von Lebensmitteln werden in unserer heutigen Gesellschaft kaum noch von der Natur vorgegeben. Die neu entwickelten Technologien entkoppelten die landwirtschaftlichen Prozesse partiell von ihren natürlichen Beschränkungen. Damit einhergehend entstand das Paradox, dass durch Technisierung und Ökonomisierung eine permanente und sichere Nahrungsversorgung möglich wurde, parallel dazu aber die Verunsicherung der Menschen über die Bekömmlichkeit ihrer Lebensmittel stetig wuchs.[35] Das Interesse dieser Arbeit gilt vor allem der Frage, wie groß die Diskrepanz zwischen den Vorstellungen der Menschen von der Herkunft ihrer Lebensmittel und den tatsächlichen Umständen derer Erzeugung ist. Die Beantwortung dieser Frage ermöglicht dann den Rückschluss darauf, inwieweit eine Entfremdung von der Nahrung vorliegt. Dazu werden im Folgenden die Verhältnisse der modernen Nahrungsmittelproduktion, beginnend mit ihrer historischen Entwicklung, näher dargestellt.

3.1.1 Industrielle Produktion und Verarbeitung von Lebensmitteln

Die Verarbeitung und Zubereitung von Lebensmitteln erfolgte traditionell im privaten Haushalt. In den seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert rasch wachsenden Städten konnte aber meist nicht ausreichend produziert werden, weshalb hier Lebensmittelmärkte entstanden und Verarbeitungsschritte vom privaten Haushalt in die handwerkliche Produktion verlagert wurden. Aus ehemals hauswirtschaftlichen Tätigkeiten entstanden erste Berufe des Lebensmittelhandwerks wie Bäcker, Fleischer und Koch. Es kam zu wirtschaftlichen Wachstumsprozessen und einer zunehmenden Merkantilisierung der Nahrungswirtschaft. Im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung und Verstädterung wurden große Bevölkerungsgruppen abhängig davon, dass sie verarbeitete und vorgefertigte Lebensmittel erwerben konnten. Den Schritt zur Massenproduktion ermöglichte die im 19. Jahrhundert beginnende Industrialisierung der Lebensmittelproduktion durch den Einsatz zuvor unbekannter Verarbeitungstechniken. Diese bedeuteten einen Bruch mit den Traditionen der hauswirtschaftlichen und handwerklichen Herstellung. Die Mechanisierung erzwang neue Zubereitungstechniken und die Veränderung der herkömmlichen Rezepturen. Nun wurde nicht mehr die Technik an die Eigenart der Lebensmittelverarbeitung angepasst, sondern eine an wirtschaftlichen Vorteilen orientierte industrielle Lebensmitteltechnik legte die Bedingungen für die Rezepturen fest.[36]

Damit bahnte sich eine grundlegende Veränderung des quantitativen und qualitativen Lebensmittelangebots an, die schließlich gemeinsam mit weiteren Modernisierungsentwicklungen zu einem Wandel traditioneller Ernährungsmuster und -gewohnheiten führte und den allmählichen Übergang zum modernen Massenkonsum einleitete.[37]

Begleitend entwickelten sich Angebot und Nachfrage zu bestimmenden Größen in der Nahrungsmittelwirtschaft. Mit der Ökonomisierung entstand ein Interessenkonflikt zwischen Produzenten und Käufern, der beispielsweise in Lebensmittelverfälschungen oder Manipulation von Gewichten deutlich wurde.[38] Bis heute stehen sich in der Ernährungswirtschaft die wirtschaftlichen Interessen der Produzenten und der Konsumentenwunsch nach preiswerten, guten Lebensmitteln gegenüber.

Die gegensätzlichen materiellen Interessen in der Lebensmittelverarbeitung machten neue verbindliche Regelungen erforderlich. Hier liegt der Ursprung lebensmittelrechtlicher Normen. Inzwischen hat eine systematische Verrechtlichung des Lebensmittelsektors mit dem Ziel eines rechtlich abgesicherten Einverständnisses zwischen Produzenten und Konsumenten stattgefunden.[39] Normierungen und Standards wurden in Gesetzen und Verordnungen festgeschrieben und die Qualität der Nahrung zunehmend staatlicher Kontrolle unterstellt. Vor allem sollten die Verbraucher vor Täuschungen und Gesundheitsgefährdungen geschützt werden.[40] Allerdings resultiert aus der Schaffung zahlreicher gesetzlicher Regelungen und damit einhergehenden Etablierung eines Expertentums auch eine Verkomplizierung des Informationsflusses im Ernährungssektor. Für den Verbraucher bedeutet dies unter Umständen, dass ihm der Zugang zu relevanten Erkenntnissen erschwert oder diese ihm vorenthalten werden.[41]

Die Technisierung der Lebensmittelproduktion schritt in der Folge der Industrialisierung stetig weiter fort und führte zu einer sukzessiven Verdrängung des Handwerks durch die preisgünstigere industrielle Konkurrenz. Die technologische Entwicklung ergriff zunehmend auch die privaten Haushalte. Seit den 1960er Jahren hat eine umfassende Technisierung der Privatküchen stattgefunden. Kühl- und Gefriergeräte, Geschirrspüler, Elektroherde und Dunstabzüge gehören inzwischen zur modernen Standardausstattung. Des Weiteren kommen elektrische Rührgeräte, Toaster, Kaffee- und Brotbackautomaten usw. zum Einsatz. Ein Teil dieser Geräte dient in erster Linie der Erleichterung bislang manuell auszuführender Tätigkeiten, ein anderer Teil jedoch, wie zum Beispiel die Mikrowelle, eröffnet grundlegend neue Handlungsmöglichkeiten. Diese stetig fortschreitende Entwicklung stellt steigende Anforderungen an die Technikkompetenz der Küchennutzer, führt zu neuen Abhängigkeiten, da viele Geräte nur mit speziell auf sie zugeschnittenen Produkten nutzbar sind und wirkt sich nachdrücklich auf das Ernährungsverhalten der Bevölkerung aus.[42] Mit den neuen technischen Möglichkeiten wandelten sich auch die Rezepturen und Zubereitungsarten.

Ein weiteres Kennzeichen der Modernisierung der Ernährungssektors ist dessen Verwissenschaftlichung. Parallel zur Industrialisierung der Lebensmittelproduktion entwickelte sich die Ernährungswissenschaft mit der Schaffung entsprechender akademischer Institutionen, lebensmittelchemischer Untersuchungsanstalten usw. Heute existiert eine Vielzahl staatlicher und privatwirtschaftlicher Forschungseinrichtungen, die auf wissenschaftlicher Ebene verschiedene Aspekte der Ernährung analysieren. In der Folge hat mit der Schaffung und Etablierung eines Fachwissens in der Ernährung eine Verschiebung der Fähigkeiten stattgefunden. Spezialisten und Experten entscheiden darüber, was „gut“ und was „schlecht“ zu essen sei. Angebot, Erfahrung und Tradition, Appetit oder Geschmack verlieren zunehmend ihre Bedeutung als Orientierungsmaßstab bei der Nahrungsauswahl und werden von Ernährungsempfehlungen, basierend auf biochemischen Analysen und medizinischen Erkenntnissen, abgelöst..[43] Schlussendlich kann dies dazu führen, das die mangelnde Sachkenntnis des Individuums durch vielerlei Ratschläge ersetzt und damit die persönliche Entscheidungsfähigkeit in Bezug auf das alltägliche Essen und Trinken beeinflusst oder sogar beschränkt wird.

Zu Beginn der Modernisierung der Ernährung ging es noch darum, eine größere Nahrungssicherheit zu erreichen. Seither hat sich die Lebensmittelindustrie zu einem der mächtigsten Industriezweige entwickelt. Allerdings ist das Angebot industriell produzierter Lebensmittel nur die eine Seite der Medaille. Die Gegenseite der Nachfrage, also wie, wo und was sich der moderne Mensch als Nahrung beschafft, soll im folgenden Punkt besprochen werden.

3.1.2 Nahrungsbeschaffung in der modernen Gesellschaft

Die Beschaffung von Lebensmitteln orientiert sich in erster Linie an den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten. Teilweise werden zwar auch heute noch Lebensmittel für den Eigenbedarf erzeugt (zum Beispiel Obst und Gemüse aus dem eigenen Garten). Manche Menschen angeln oder jagen auch selbst, aber im Großen und Ganzen stellen diese Tätigkeiten eher ein Hobby dar, dessen Nebeneffekt ein marginaler Beitrag zur Versorgung ist.[44] Was nicht eigenständig produziert werden kann, muss also anderweitig beschafft werden. Dies geschieht heutzutage in aller Regel durch Einkaufen: 80% aller verzehrten Esswaren stammen aus dem Supermarkt.[45]

Infolge der Industrialisierung wandelte sich nicht nur die Qualität der Lebensmittel, sondern auch die ökonomische Struktur des Ernährungssektors. Die meisten dieser Veränderungen hatten unmittelbare Auswirkungen für die Verbraucher. Von grundlegender Relevanz ist die Trennung von Produktion und Handel. Während im traditionellen Lebensmittelhandwerk Produktion und Verkauf noch in einer Hand lagen, wurden als Folge der konzentrierten Herstellung in Lebensmittelfabriken großräumige Verteilungswege aufgebaut und neue Verkaufsstellen eingerichtet. Damit war die unmittelbare Beziehung zwischen Produzent und Käufer, eine wichtige Grundlage des Vertrauens in die Lebensmittelqualität, unterbrochen. Die neue Anonymität bildet heute eine Wurzel des Verbrauchermisstrauens gegenüber industriell produzierten Lebensmitteln.[46] Eine weitere diesbezüglich bedenkliche Entwicklung ist die starke Konzentration sowohl in der Nahrungsmittelindustrie als auch beim Lebensmitteleinzelhandel.

Abb.2: Die großen Konzerne der Abb.3: Die führenden Unternehmen deutschen Ernährungsindustrie im Lebensmitteleinzelhandel

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Quelle: Vollborn/Georgescu 2006, S. 17)

Die deutsche Ernährungsindustrie wird seit Jahren von nur zehn international operierenden Mischkonzernen in wechselnder Rangordnung dominiert. Noch stärker ist die Konzentration beim Lebensmitteleinzelhandel, dessen führende zehn Unternehmen mehr als 80% des Branchenumsatzes erwirtschaften.[47] Bei den Umsatzzahlen dieser Handelsunternehmen ist zu beachten, dass es sich um Mischkonzerne handelt, dass heißt, ein Teil des Umsatzes wird im Nonfood-Bereich erwirtschaftet. Dennoch ermöglicht die Übersicht der Umsatzzahlen eine ungefähre Vorstellung von der Dimension des Milliardengeschäfts Ernährung.

Am Beispiel der REWE-Gruppe kann deutlich gemacht werden, wie groß die Vernetzung verschiedenster Geschäfte ist. Zur REWE-Gruppe gehören unter anderem die Supermärkte Rewe, HL, MiniMal, der Discounter Penny, die SB-Warenhäuser Globus und toom (Baumarkt), die Fachmärkte Idea und Sconti für Drogerieartikel, Frick für Teppichboden und ProMarkt für Unterhaltungselektronik sowie die Touristikveranstalter Atlas-Reisen und ITS. Beteiligt ist die REWE-Gruppe zudem an der ProSieben Sat1 Media AG und deren Muttergesellschaft, der Kirch Media AG. Dazu kommen Auslandsaktivitäten in erheblichem Umfang.[48] Dem Verbraucher sind diese Zusammenhänge oftmals weitgehend unbekannt, was sich unter Umständen nachteilig für ihn auswirken kann. Denn mit der steigenden Präsenz eines Anbieters in der alltäglichen Einkaufswelt wachsen seine Möglichkeiten mittels durchdachter Werbung und bewusster Angebotsgestaltung Einfluss auf das Konsumverhalten zu nehmen.

Der Aufbau des überregionalen Lebensmittelhandels und die Dominanz der großen Handelsketten wirkten sich zudem drastisch für den noch vor wenigen Jahrzehnten überwiegend vorhandenen Typus des privaten Ladengeschäfts für Lebensmittel mit einer starken lokalen Kundenbindung aus. Diese „Tante-Emma-Läden“ wurden im Wettbewerb um die Massennachfrage nahezu vollständig verdrängt.[49] Die Folge ist eine zunehmende Egalisierung und Anonymisierung des Lebensmittelangebotes. Dieser Trend ist nicht auf Deutschland beschränkt, sondern setzt sich, da die großen Handelkonzerne international operieren, über die Landesgrenzen hinaus fort. Ein Produkt lässt sich am profitabelsten vermarkten, wenn es mit eventuell feinen Geschmacksvariationen in ganz Europa oder weltweit vertrieben werden kann, denn dadurch entstehen deutliche Kostenvorteile.[50]

Angestoßen und ermöglicht wurde diese Entwicklung durch den jahrzehntelangen Prozess der europäischen Einigung, der sich mit der Etablierung des Binnenmarktes und der Währungsunion zunehmend konkretisierte. Aus der Schaffung des europäischen Lebensmittelrechts und dem Grundsatz des freien Warenverkehrs erwächst jedoch das Risiko einer Vereinheitlichung der Esskulturen Europas, denn traditionell hergestellte Lebensmittel haben in Wettbewerb und Preiskampf immer geringere Chancen sich zu behaupten.[51] Die Tendenz zu Europäisierung und Internationalisierung manifestiert sich in einer weltweiten Veränderung der Produktionsbedingungen, Infrastrukturen, Märkte, Transportwege, Kapitalverhältnisse und politischen Systeme dergestalt, dass auch im Bereich der Ernährungsindustrie zunehmend globale Strategien zum Einsatz kommen.[52] Schlussendlich bedeutet dies unter Umständen einen Verlust regionaler bzw. internationaler Besonderheiten des Lebensmittelangebots und der Esskultur.

Fraglich bleibt, wie sich diese Umstände der Beschaffung von Nahrung in der heutigen Gesellschaft auf das Verhältnis zu unserer Nahrung ausgewirkt haben. Faktisch hat die Modernisierung und Globalisierung des Ernährungssektors verbunden mit der des Verkehrs- und -transportwesens zu einer Entkopplung des Lebensmittelangebotes von regionalen oder zeitlichen Beschränkungen geführt. In modernen Supermärkten ist praktisch zu jeder Zeit alles zu haben.[53] Dort liegen zum Beispiel Obst und Gemüse zahlreicher Sorten säuberlich in Plastikfolie oder Schälchen verpackt ganzjährig im Regal und lassen nur durch Etiketten erkennen, woher sie eigentlich stammen. In Bezug auf die Herstellung und Herkunft vieler Lebensmittel bleibt der Käufer oft ahnungslos. Diese anonymisierte Art der Nahrungsbeschaffung hat unerwünschte Nebenfolgen. So entstehen z.B. beträchtliche Wissenslücken, wie eine vom Europäischen Rat der Junglandwirte (CEJA) 1999 in Auftrag gegebene Studie ergab. Deren Ergebnisse sind teils erheiternd, teils erschreckend. Demnach wusste die Hälfte der befragten Kinder zwischen neun und zehn Jahren nicht, woher Zucker kommt. 28% der deutschen Schulkinder waren davon überzeugt, dass Baumwolle auf Schafen wächst. Des weiteren konnte eine beachtliche Anzahl nicht zwischen einheimischen und exotischen Produkten unterscheiden. So glaubten ein Viertel der englischen und niederländischen Kinder, dass Orangen und Oliven in ihrem eigenen Land wüchsen. Und ein Drittel der europäischen Jugend konnte kein einziges Produkt nennen, das aus Sonnenblumen hergestellt wird.[54] Diese Unkenntnis über die Herkunft bestimmter landwirtschaftlicher Erzeugnisse ist symptomatisch für das distanzierte Verhältnis des modernen Menschen zu seiner Nahrung, das durch zahlreiche Verarbeitungsschritte und lange Transportwege entsteht.

Die Versorgung des Menschen mit Nahrung findet aber nicht nur durch Einkaufen für die Zubereitung häuslicher Mahlzeiten statt, sondern wird mit dem Verzehr außerhäuslicher Mahlzeiten ergänzt. Verschiedene Phänomene der Modernisierung der Gesellschaft wie die Urbanisierung, verbunden mit der Trennung von Wohn- und Arbeitsbereich, und der allgemeine soziale Wandel, einhergehend mit einer Lockerung der traditionell festen Familienstrukturen und zunehmender Individualisierung, haben dazu geführt, dass sich Formen der Gemeinschaftsverpflegung (z.B. Großküchen, Kantinen, Mensen) und Gastronomie (z.B. Garküchen, Restaurants, Gasthäuser) rasant entwickelten.[55] Das entgeltliche Angebot von Speisen ist zwar keine moderne Erfindung,[56] doch hat erst die Industriegesellschaft mit der Rationalisierung der Zeit den Grundstein für die Expansion von Gastgewerbe und Imbisskultur geschaffen. Vor allem das Fastfood verdankt seine bahnbrechende Erfolgsgeschichte dem allgegenwärtigen Ziel der Effizienz.[57] Die Möglichkeiten der Außer-Haus-Verpflegung wachsen beständig. Heute kann man nahezu überall, zu allen Tageszeiten und in unterschiedlichsten Preiskategorien eine warme Mahlzeit einnehmen. Von diesem Angebot wird gern und zunehmend Gebrauch gemacht, weil es Zeit spart.[58] Während Mitte der 1990er Jahre noch 82% der Hauptmahlzeiten zu Hause stattfanden, nahmen Ende der 1990er Jahre schon durchschnittlich die Hälfte der Deutschen die Hauptmahlzeiten außer Haus ein. 2001 lag der Anteil bei 66%. Diese Veränderungen werden als Ablösung des privaten Essens durch das öffentliche Essen, als so genannte Enthäuslichung charakterisiert.[59] Wenn Essen seltener im familiären Kreis zubereitet und verzehrt wird, dann leistet das einem Schwund von traditionellem Ernährungswissen und -erfahrungen Vorschub. Denn für den Erwerb der grundlegenden Kochkenntnisse hat das Elternhaus eine zentrale Funktion.[60]

[...]


* Statistische Angaben entnommen aus Moulin 1989, S. 9

* FAO = Food and Agriculture Organization (UN-Sonderkommission für Ernährung, Landwirtschaft, Fischerei und Forstwesen als deren nationales Komitee die Deutsche Welthungerhilfe gegründet wurde)

[1] Wierlacher in Wierlacher/Neumann/Teuteberg 1993, S. 2

[2] Brockhaus multimedial 2006 »Ernährung«

[3] zum Ganzen: von Engelhardt in Wierlacher/Neumann/Teuteberg 1993, S. 147; http://de.wikipedia.org/wiki/Appetit ; Brockhaus multimedial 2006 »Appetit« und »Hunger«

[4] Ab einem gewissen Grad des Hungergefühls werden Appetit und Genuss allerdings sekundär.

[5] http://de.wikipedia.org/wiki/Ern%C3%A4hrungssoziologie

[6] vgl. dazu auch Wierlacher in Wierlacher/Neumann/Teuteberg 1993, S. 2ff.

[7] Simmel, S. 140

[8] ebd.

[9] ebd.

[10] vgl. Karmasin in Hayn/Empacher 2004, S. 136

[11] Begriff zurückgehend auf Marcel Mauss, der soziale Tatsachen mit umfänglicher Bedeutung als solche Totalphänomene auffasste (Hillmann 1994, S. 535)

[12] vgl. Bayer/Kutsch/Ohly 1999, S. 19; Wirz in Neumann/Wierlacher/Wild 2001, S. 275

[13] Barlösius in Wierlacher/Neumann/Teuteberg 1993, S. 85; auch Barlösius 1999, S. 92

[14] Barlösius 1999, S. 36ff., 40

[15] vgl. Barlösius 1999, S. 175ff.

[16] vgl. Barlösius in Teuteberg 2004, S. 39f.

[17] vgl. Barlösius 1999, S. 9

[18] vgl. Giddens 1999, S. 129ff.

[19] Giddens 1999, S. 129; Prahl/Setzwein 1999, S. 102ff.

[20] Giddens 1999, S. 147

[21] a.a.O., S. 129, 130; Prahl/Setzwein 1999, S. 103

[22] Ernährungsverhalten meint die Gesamtheit geplanter, spontaner oder gewohnheitsmäßiger Handlungen, mit denen Nahrung beschafft, zubereitet und verzehrt wird. Dazu gehören beobachtbare Elemente (Handlungsformen) und intern wirkende Elemente (Gründe). (BFE, Nahrungsmittelnachfrage 2003, S. 6)

[23] vgl. Bayer/Kutsch/Ohly 1999, S. 43, 44

[24] vgl. Hillmann 1994, S. 192, 193

[25] Bayer/Kutsch/Ohly 1999, S. 120

[26] vgl. zum Ganzen: Prahl/Setzwein 1999, S. 95f und 127ff; Barlösius 1999, S. 165ff.

[27] Bayer/Kutsch/Ohly 1999, S. 117

[28] a.a.O., S. 93

[29] vgl. Teuteberg/Neumann/Wierlacher 1997, S. 13-23

[30] vgl. Bayer/Kutsch/Ohly 1999, S. 131 und 135

[31] Bayer/Kutsch/Ohly 1999, S. 117f.

[32] vgl. Barlösius 1999, S. 201ff.

[33] vgl. Hillmann 1994, S. 364; Brockhaus multimedial 2006 »industrielle Revolution«

[34] Wagenhofer/Annas 2006, S. 67

[35] Barlösius 1999, S. 228

[36] zum Ganzen: Barlösius 1999, S. 234f.; vgl. Ellerbrock in Teuteberg 2004, S. 73ff.

[37] Ellerbrock in Teuteberg 2004, S. 74

[38] zum Ganzen: Barlösius 1999, S. 234f.; Ellerbrock in Teuteberg 2004, S. 73ff.

[39] Barlösius in Teuteberg/Neumann/Wierlacher 1997, S. 117

[40] Prahl/Setzwein 1999, S. 182, vgl. auch Grüne in Teuteberg 2004, S. 249ff. (252)

[41] vgl. Barlösius 1999, S. 242; Angres/Hutter/Ribbe 2002, S. 235; Vollborn/Georgescu 2006, S. 219

[42] Prahl/Setzwein 1999, S. 185f.

[43] vgl. Prahl/Setzwein 1999, S. 182f.; Barlösius 1999, S. 224

[44] So geht beispielsweise der allgemeine Trend privater Kleingartennutzung von der Versorgungsfunktion weg hin zu stärkerer Erholungsnutzung. (vgl. Ernährungswende, Materialienband Nr. 2, S. 41)

[45] Fichtner 2004, S. 35

[46] Barlösius 1999, S. 238

[47] Vollborn/Georgescu 2006, S. 16 und 19

[48] Angres/Hutter/Ribbe 2002, S. 88-90

[49] Prahl/Setzwein 1999, S. 224; Barlösius 1999, S. 238

[50] vgl. Prahl/Setzwein 1999, S. 212

[51] Barlösius in Teuteberg/Neumann/Wierlacher 1997, S. 127; vgl. auch Prahl/Setzwein 1999, S. 209ff.

[52] Prahl/Setzwein 1999, S. 244

[53] a.a.O., S. 181 und 246

[54] Angres/Hutter/Ribbe 2002, S. 101; www.verbrauchernews.de/umwelt/politik/0000004225.html

[55] dazu ausführlich dazu Barlösius 1999, S. 186ff.

[56] Erste Varianten des Gasthauswesens entwickelten sich bereits im antiken Rom. (vgl. Brockhaus multimedial 2006 »Gastronomie«)

[57] vgl. Prahl/Setzwein 1999, S. 197ff. und 252f.

[58] Schlegel-Matthies in Teuteberg 2004, S. 159

[59] Ernährungwende, Materialienband Nr. 2, S. 30

[60] Im Jahr 2005 gaben 60% der Befragten an, die Grundlagen des Kochens von den Eltern oder Großeltern gelernt zu haben. Knapp die Hälfte hat sich das Kochen m. H. von Kochbüchern selbst beigebracht. Etwa 12% haben das Kochen in der Schule gelernt, etwa ebenso viele vom Partner/Partnerin. (ausführlich: Ernährungswende Diskussionspapier Nr. 5, S. 75)

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2007
ISBN (eBook)
9783836613927
DOI
10.3239/9783836613927
Dateigröße
1.3 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Bayreuth – Kulturwissenschaftliche Fakultät, Soziologie, Rechtswissenschaften, Pädagogik
Erscheinungsdatum
2008 (Juni)
Note
1,0
Schlagworte
lebensmittelskandal nahrungskultur ernährungsverhalten ernährungssoziologie skandalsoziologie
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Titel: Du bist, was du isst - Wissen wir noch, wer wir sind?
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