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Dialog der Kulturen am Beispiel des "West-Östlichen Divan"

Goethe und der Orient

©1989 Magisterarbeit 97 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Das Kulturerbe der Menschheit zeigt uns, dass die menschlichen Aktivitäten in vielen Bereichen des Lebens wie etwa Kunst und Literatur dazu beigetragen haben, Brücken zwischen verschiedenen Völkern zu schlagen.
Eine unübersehbare Errungenschaft ist in diesem Zusammenhang die Übersetzung, die über Jahrtausende hinweg Verbindungen zu anderen Zivilisationen hergestellt und es nachfolgenden Generationen ermöglicht hat, Texte aus anderen Kulturkreisen kennenzulernen und zu verstehen.
Offenheit gegenüber anderen und der respektvolle Kontakt miteinander sind nicht nur Komponenten von Kreativität und Inspiration – sie bereichern auch und führen häufig zu innovativer Veränderung.
Eines der schönsten Beispiele dafür ist der Gedichtzyklus „West-östlicher Divan“ von Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832). Mit diesem Werk hat Goethe das Kulturerbe der Menschheit um einen poetischen Schatz bereichert. Goethes Gedichtzyklus markiert den Versuch, „Ost“ und „West“ in einer überaus kultivierten Weise zusammenzuführen. Die einzelnen Gedichte verströmen Optimismus und Hoffnung und fordern auf zu Brüderlichkeit zwischen den Nationen und Völkern.
Dies ist insofern nicht verwunderlich, als Goethe bereits zu seiner Zeit die Idee einer Weltliteratur gefördert hat. Er glaubte an die Literatur als an eine Botschaft, die alle Menschen in Brüderlichkeit und Frieden vereinen kann: Große literarische Werke wirken über Landesgrenzen hinweg und werden insofern zum Eigentum der gesamten Menschheit.
Den ersten Anstoß zu dieser Arbeit gab ein besonderes Erlebnis bei der Lektüre des Divan: Goethes Umgang mit allem Orientalischen wirkt auf ganz selbstverständliche Weise sicher, nahezu souverän. Nie entsteht der Eindruck einer gewaltsamen oder verkünstelten Verbindung. Nie wirkt das Orientalische wie Effekthascherei. Dieser Eindruck bleibt auch bestehen, wenn man parallel zum Divan die Originalwerke der orientalischen Literatur liest, auf die sich Goethe in seinen Gedichten bezieht. Der Divan hält einen Vergleich aus und wirkt weiterhin „echt“. Aus diesem subjektiven Leseerlebnis entstand der Wunsch, das Phänomen „Orient“ in Goethes West-östlichem Divan genauer zu untersuchen.
Gang der Untersuchung:
Im Anfangskapitel versuche ich, das „Orientalische“ in Goethes Biographie aufzuzeigen. Der Divan ist ein Alterswerk. Welchen Einflüssen mit direkter oder indirekter Beziehung zum Orient war Goethe schon vorher in seinem Leben ausgesetzt? Inwieweit […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


INHALT

A. Einleitung

B. I. Goethe und der Orient vor dem „Divan“
1. Orientalische Literatur
2. Literatur der Zeit zum Orient
3. Eigene Werke mit Beziehung zum Orient
II. Die Entstehung des „Divans“
1. Historische Situation
2. Probleme des Alterns und die Liebe zu Marianne von Willemer 25 3. Die Begegnung mit dem Werk des persischen Dichters Hafis
III. Liebe und Orient im „West-östlichen Divan“
1. Der Orient als Ort und Zeit der Liebe
2. Der Orient als Sinnbild der Fülle und Erfüllung
3. Trennung und Wiederfinden im Orient
4. Ewigkeit als sinnliche Erfahrung im Orient

C. Schluss

D. Anmerkungen

E. Literaturverzeichnis

A. Einleitung

Das Kulturerbe der Menschheit zeigt uns, dass die menschlichen Aktivitäten in vielen Bereichen des Lebens wie etwa Kunst und Literatur dazu bei­ge­tra­gen haben, Brücken zwischen verschiedenen Völkern zu schlagen.

Eine unübersehbare Errungenschaft ist in diesem Zusammenhang die Über­setzung, die über Jahrtausende hinweg Verbindungen zu anderen Zivilisatio­nen hergestellt und es nachfolgenden Generationen ermöglicht hat, Texte aus anderen Kulturkreisen kennenzulernen und zu verstehen.

Offenheit gegenüber anderen und der respektvolle Kontakt miteinander sind nicht nur Komponenten von Kreativität und Inspiration – sie bereichern auch und führen häufig zu innovativer Veränderung.

Eines der schönsten Beispiele dafür ist der Gedichtzyklus „West-östlicher Divan“ von Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832). Mit diesem Werk hat Goethe das Kulturerbe der Menschheit um einen poetischen Schatz berei­chert. Goethes Gedichtzyklus markiert den Versuch, „Ost“ und „West“ in einer überaus kultivierten Weise zusammenzuführen. Die einzelnen Gedichte ver­strömen Optimismus und Hoffnung und fordern auf zu Brüderlichkeit zwischen den Nationen und Völkern.

Dies ist insofern nicht verwunderlich, als Goethe bereits zu seiner Zeit die Idee einer Weltliteratur gefördert hat. Er glaubte an die Literatur als an eine Botschaft, die alle Menschen in Brüderlichkeit und Frieden vereinen kann: Große literarische Werke wirken über Landesgrenzen hinweg und werden insofern zum Eigentum der gesamten Menschheit.

Den ersten Anstoß zu dieser Arbeit gab ein besonderes Erlebnis bei der Lek­türe des Divan: Goethes Umgang mit allem Orientalischen wirkt auf ganz selbst­verständliche Weise sicher, nahezu souverän. Nie entsteht der Eindruck einer gewaltsamen oder verkünstelten Verbindung. Nie wirkt das Orien­ta­li­sche wie Effekthascherei. Dieser Eindruck bleibt auch bestehen, wenn man parallel zum Divan die Originalwerke der orientalischen Literatur liest, auf die sich Goethe in seinen Gedichten bezieht. Der Divan hält einen Vergleich aus und wirkt weiterhin „echt“. Aus diesem subjektiven Leseerlebnis entstand der Wunsch, das Phänomen „Orient“ in Goethes West-östlichem Divan ge­nauer zu untersuchen.

Im Anfangskapitel versuche ich, das „Orientalische“ in Goethes Biographie aufzuzeigen. Der Divan ist ein Alterswerk. Welchen Einflüssen mit direkter oder indirekter Beziehung zum Orient war Goethe schon vorher in seinem Leben ausgesetzt? Inwieweit schlagen sich diese Beziehungen zum Orient schon vor dem Divan in seinem Werk nieder? Gibt es eine kontinuierliche Ent­wicklung zum Divan hin oder findet im Divan ein quantitativer und qualitativer Sprung statt?

Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der unmittelbaren Entstehungszeit des Divan. Der Ausgangspunkt sind wieder Überlegungen zur Biographie. Wie lässt sich Goethes Lebenssituation in dieser Zeit charakterisieren? Welchen besonderen Wirkkräften war er ausgesetzt? Was konnte Auslöser zum Di­van gewesen sein oder gewann zumindest direkten Einfluss auf die Nieder­schrift seiner Gedichte? Ich versuche, drei Einwirkungsbereiche – die histo­ri­sche Situation, die Beziehung zu Marianne von Willemer und die Hafis-Lek­türe – genauer zu beschreiben, und gehe dabei von den biographischen Aspek­ten auf inhaltliche Fragen des Divan über.

In einem dritten Teil nähere ich mich dem Divan dann mit einer besonderen inhaltlichen Fragestellung, die sich für mich sowohl aus der Biographie als auch aus dem Werk ergibt. Ich untersuche das Verhältnis von „Liebe“ und „Orient“ im Divan. Dabei möchte ich aufzeigen, wie eng diese Inhalts­be­rei­che miteinander verbunden sind und wie sie sich wechselseitig beeinflussen und in ihrer Wirkung verstärken. Auf diese Weise will ich auch das Besondere von Goethes Orient-Bild, das seine anhaltende Wirksamkeit auf Leser aus­macht, eingrenzen und verdeutlichen.

In einem Schlussteil versuche ich die Ergebnisse des dritten Teils noch einmal auf die Biographie des Autors zu beziehen und einen Eindruck von der Bedeutung des Divan für Goethes Leben zu geben.

B. I. Goethe und der Orient vor dem „Divan“

1. Orientalische Literatur

Goethe begegnete wichtigen Werken der orientalischen Literatur schon in seiner Kindheit. Die Märchen-Erzählungen aus 1001 Nacht, die ihm seine Mutter und seine Großmutter am Abend vorlasen, prägten die Phantasie des Kindes. Ende des 18.Jahrhunderts war diese Märchensammlung in bürger­lichen Häusern bekannt und neben deutschen Volksbüchern verbreitet. Goe­thes Mutter Katerina Elisabeth war eine außergewöhnliche Märchen­er­zäh­le­rin, deren Lust zu fabulieren überliefert ist. Wir wissen aus dem Briefwechsel Goethes mit Bettina Brentano, dass die Mutter nach dem Vorbild einer indi­schen Sultanin Märchen zu erzählen pflegte. Wie Schehrazade brach sie die Geschichten in einem spannenden Moment ab und setzte sie erst am fol­gen­den Tag fort. Das erhöhte die Spannung des Kindes und regte es zum Mit­dichten an. Es spann den Faden der Handlung selbständig weiter. So berich­tet Bettina Brentano:

»>Goethes Mutter<glaubte auch sich einen Anteil an seiner Darstellungsgabe zuschreiben zu dürfen, denn einmal sagte sie, konnte ich nicht ermüden zu erzählen, so wie er nicht ermüdete zuzuhören (...) da war kein Mensch so eifrig auf die Stunde des Erzählens mit den Kindern wie ich, ja, ich war im höchsten Grad begierig unsere kleinen eingebildeten Erzählungen weiter zu führen (...) Da saß ich, und da verschlang er mich bald mit seinen großen schwarzen Augen, und wenn das Schicksal irgendeines Lieblings nicht recht nach seinem Sinn ging, da sah ich, wie die Zornader an der Stirn schwoll und wie er die Tränen verbiß. Manchmal griff er ein und sagte noch eh ich meine Wendung genommen hatte: nicht wahr, Mutter, die Prinzessin heiratet nicht den verdammten Schneider, wenn er auch den Riesen (...), wenn ich denn am nächsten Abend die Schicksalsfäden nach seiner Angabe weiter lenkte und sagte: Du hast's gerathen, so ist's gekommen, da war er Feuer und Flamme (...).«[1]

Diese Erzähltechnik in Fortsetzungen beeinflusste den jungen Goethe so sehr, dass sich seine Vorstellung von Märchen für die Zukunft damit ver­band.

So sollten auch die drei goetheschen Märchen „Der neue Paris“, „Die neue Melusine“ ud „Das Märchen“ auf seinen Wunsch als Fortsetzungsge- schichten veröffentlicht werden.[2]

Gleichzeitig füllte sich die Phantasie des Knaben mit Gestalten und Geschich­ten der Bibel. In der Frankfurter Judengasse hörte er das Gemisch aus He­brä­isch und altertümlichem Deutsch der jüdischen Bürger. Als Fünfzehnjäh­ri­ger begann er auf eigenen Wunsch mit Privatunterricht in Althebräisch. Sein Ziel war ein tieferes Verständnis des Alten und Neuen Testaments:

»(...)denn indem ich mir das barocke Judendeutsch zuzueignen und es eben­sogut zu schreiben suchte, als ich es lesen konnte, fand ich bald, daß mir die Kenntnis des Hebräischen fehlte, (...) Ich eröffnete daher meinem Vater die Notwendigkeit, Hebräisch zu lernen, und betrieb sehr lebhaft seine Einwi­ll­i­gung: denn ich hatte noch einen höhern Zweck. Überall hörte ich sagen, daß zum Verständnis des Alten Testaments sowie des Neuen die Grundsprachen nötig wären (...) Mein Vater, der nicht gern etwas halbtat, beschloß den Rek­tor unseres Gymnasiums, Doktor Albrecht um Privat- stunden zu ersuchen, die er mir wöchentlich so lange geben sollte, bis ich von einer so einfachen Sprache das Nötigste gefaßt hätte.«[3]

Motive der ersten Dichtungen Goethes stammen aus der Bibel, besonders war er anscheinend von der Gestalt Josefs fasziniert. Er entwarf in einem Aufsatz einen Kreis von zwölf Bildern, die das Leben Josefs schildern sollten. Einige davon wurden ausgeführt. Den gleichen Lebenszyklus behandelte er auch in einem umfangreichen Epos, das er später verbrannte. Nur ein Teil davon, der „Monolog des Belzazer“, ist in der ersten Fassung des „Wilhelm Meister“, in „Wilhelm Meisters theatralischer Sendung“, erhalten geblieben.[4]

Der dreiundzwanzig jährige Goethe las die deutsche Koranübersetzung des Frankfurter David Friedrich Megerlin, der den Koran für unwahr hielt und Mohammed als falschen Propheten und Antichristen bezeichnete. Der junge Goethe war von dieser Übertragung offenbar enttäuscht, denn später las er zusätzlich die lateinische Koranübersetzung des italienischen Paters Ludovico Maracci. Einige Verse übersetzte er ins Deutsche, die anscheinend eine tiefe Wirkung auf ihn gehabt haben. Im Juli 1772 schreibt er an Herder:

»Herr mache mir Raum in meiner engen Brust!«[5]

Goethe zitiert hier die 20. Sure des Koran, um seine persönlichen Schaf­fens­probleme auszudrücken.[6]

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Goethe Jahrzehnte später, im Herbst 1813, ein handgeschriebenes Koranbruchstück erhielt, das wei­ma­rische Soldaten aus Spanien mitgebracht hatten. Er wandte sich an den Jenaer Orientalisten Georg Wilhelm Lorsbach mit der Bitte um eine Über­set­zung und um eine Einführung in die arabische Schriftkunde.

Goethe versuchte die arabischen Zeichen nachzuschreiben und ließ sich ihren Sinn von einem Kundigen deuten.[7]

Mit der vorislamischen arabischen Gedichtsammlung „Moallakat“ befasste sich Goethe im Jahre 1783. Mu'allaqāt bedeutet:

»die wegen ihrer Kostbarkeit auf einen Ehrenplatz erhobenen. Aus der wör­t­lichen Deutung dieses Namens entstand (...) die bekannte Sage, dass diese Gedichte schonin heidnischer Zeit als Meisterwerke anerkannt und an der Ka‛ba aufgehängt waren.«[8]

Goethe bekam die englische Übersetzung der Sammlung von William Jones durch den Orientalistik-Professor Johann Gottfried Eichhorn zugeschickt. Am 14. November 1783 schreibt Goethe darüber an Carl von Knebel:

»Der durch seine Bemühungen über die Arabische Poesie bekannte Jones hat die Moallakat oder die 7 Gedichte der 7 grosen arabischen Dichter die in der Moschee zu Mecca aufgehängt sind mit einer Englischen Übersetzung herausgegeben. Sie sind im ganzen sehr merkwürdig, und einzelne aller­lieb­ste Stellen drinne. Wir haben uns vorgenommen sie in Gesellschafft zu über­setzen, und also wirst du sie auch bald zu sehen kriegen.«[9]

Goethe übersetzte einen Teil der Gedichte aus der englischen Übertragung ins Deutsche. Jahre später äußerte sich Goethe in den „Noten und Abhand­lungen zum west-östlichen Divan“ noch einmal enthusiastisch über diese Lese­erfahrung:

»Bei (...) den Arabern, finden wir herrliche Schätze an den Moallakat. Es sind Preisgesänge, die aus dichterischen Kämpfen siegreich hervorgingen; Ge­dich­te, entsprungen vor Mahomets Zeiten, mit goldenen Buchstaben ge­schrie­ben, aufgehängt an den Pforten des Gotteshauses zu Mekka.«[10]

2. Literatur der Zeit zum Orient

Die kulturgeschichtliche Veränderung, die man „Aufklärung“ nennt, über­schritt in vieler Hinsicht die bisherigen Grenzen der abendländischen Geistes­welt. In ganz neuer Weise öffnete sich das Bewusstsein der Zeitgenossen Goethes den kulturellen Produkten des Nahen und Fernen Ostens.

In der Zeit der Aufklärung wurde die Selbstabgrenzung der mittelalterlich-christlichen Welt gegen den Orient endgültig aufgebrochen und die bishe­ri­gen Positionen wurden kritisch in Frage gestellt. Das 18.Jahrhundert begann das fremdartige Wesen der orientalischen Kulturen als in sich abgeschlos­se­ne und neben der eigenen Geschichte sinnvolle Entwicklungen zu verstehen.

Der junge Goethe machte diese Entwicklung vor allem unter dem Einfluss Herders mit. Er schreibt dazu in „Dichtung und Wahrheit“:

»Ich ward mit der Poesie von einer ganz andern Seite, in einem andern Sinne bekannt als bisher, und zwar in einem solchen, der mir sehr zusagte. Die he­brä­ische Dichtkunst, welche er nach seinem Vorgänger Lowth geistreich be­han­delte, die Volkspoesie, deren Überlieferungen im Elsaß aufzusuchen er uns antrieb, die ältesten Urkunden als Poesie, gaben das Zeugnis, daß die Dicht­kunst überhaupt eine Welt- und Völkergabe sei, nicht ein Privaterbteil einiger feinen, gebildeten Männer. Ich verschlang das alles, und je heftiger ich im Empfangen, desto freigebiger war er im Geben, und wir brachten die inter­essantesten Stunden zusammen.«[11]

In der Auseinandersetzung mit religionswissenschaftlichen, kulturgeschicht- lichen und sprachtheoretischen Werken seiner Zeit gewann Goethe einen neuen Zugang zur Bibel, löste sich auch von der kindlichen Hingabe an die biblischen Geschichten und betrachtete die Bibel kritischer:

»Das Innere, Eigentliche einer Schrift, die uns besonders zusagt, zu erfor­schen, sei daher eines jeden Sache, und dabei vor allen Dingen zu erwägen, wie sich zu unserem eigenen Innern verhalte und inwiefern durch jene Le­bens­kraft die unsrige erregt und befruchtet werde (...) Die derbe Natürlichkeit des Alten Testaments und die zarte Naivität des Neuen hatte mich in einzel­nen angezogen; als ein Ganzes wollte sie mir zwar niemals recht entgegen­treten, aber die verschiedenen Charakter der verschiedenen Bücher machten mich nun nicht mehr irre; ich wußte mir ihre Bedeutung der Reihe nach treu­lich zu vergegenwärtigen und hatte überhaupt zu viel Gemüt an dieses Buch verwandt, als daß ich es jemals wieder hätte entbehren sollen (...) Jede Art von redlicher Forschung (...) sagte mir höchlich zu, die Aufklärungen über des Orients Lokalität und Kostüm, welche immer mehr Licht verbreiteten, nahm ich mit Freuden auf, und fuhr fort, allen meinen Scharfsinn an den so werten Überlieferungen zu üben.«[12]

Auch auf die Gestalt des Propheten und Religionsgründers Mohammed fand Goethe durch ein religionswissenschaftliches Werk der Aufklärung einen neu­en erweiterten Zugriff. Im Jahre 1773 lernte er die beiden ersten Teile der Mo­hammed-Biographie des Franzosen Turpin François René (1709–1799) „Histoire de la vie de Mahomet, législateur de l 'Arabie“ (1773) kennen. In „Dichtung und Wahrheit“ berichtete er darüber:

»Ich hatte das Leben des orientalischen Propheten mit grossem Interesse gelesen und studiert.«[13]

Inspiriert davon verfasste er 1773 das Drama „Mahomet“, das allerdings Fragment blieb.

Die Bearbeitung von Voltaires Mohammed-Stück führte Goethe 1799 noch einmal auf die Person des Propheten zurück. Er beschäftigte sich auf Wunsch von Herzog Karl August mit der Übersetzung von Voltaires Tragödie „Le Fana­tisma ou Mahomet le Prophet“ (französische Erstaufführung 1741). Das Drama des Religionsgründers von Voltaire muss Goethes Mohammed-Bild aber stark widersprochen haben. Mohammed, für Voltaire eine negative Figur, ein Symbol für religiösen Fanatismus und Intoleranz, wurde von Goethe stets positiv gesehen.[14]

3. Eigene Werke mit Beziehung zum Orient

Als sich Goethe im Jahre 1772 mit der lateinischen Koran-Übersetzung von Maracci beschäftigte, übersetzte er einige Verse ins Deutsche. Was sich Goethe hier herausschrieb und übertrug, sind Passagen, die seinen eigenen religiösen Grundvorstellungen nahestanden, vor allem seinen Ideen von der Einheit Gottes bzw. von der Offenbarung Gottes in der Natur.[15] Gleich die ersten übertragenen Verse zeigen diesen Zusammenhang. Wie groß ihr Ein­fluss auf Goethe war, lässt sich auch daran ermessen, dass derselbe Stoff in der einzigen erhalten gebliebenen Szene des „Mahomet-Dramas“ in einem Monolog Mohammeds noch einmal verarbeitet wurde.

Es handelt sich um den 75. Vers der VI. Sura „Das Vieh“, den Goethe fol­gen­dermaßen nachdichtet:

»Abraham sprach zu seinem Vater Azar. Ehrst du Götzen für Götter? Wahr­haftig ich erkenne deinen und deines Volks offenbaren Irrtum. Da zeigten wir Abraham des Himmels und der Erde Reich, daß er im wahren Glauben be­stätigt würde. Und als die Nacht über ihm finster war, sah er das Gestirn und sprach: Das ist mein Herrscher, da es aber niederging rief er: untergehende lieb ich nicht.

Dann sah er den Mond aufgehen, sprach: Das ist mein Herrscher! da er aber niederging sagt'er:(...)Wie aber die Sonne heraufkam sprach er:(...)Aber da sie auch unterging, sprach er: O mein Volk nun bin ich frei von deinen Irr­tü­mern! ich habe mein Angesicht gewendet zu dem der Himmel und Erde er­schaf­fen hat.«[16]

Inspiriert von seinen Koranstudien und der Mohammed-Biographie Turpins, begann Goethe mit der Arbeit an einem Drama, das „Mahomet“ heißen sollte. 1773 schrieb er an einem fünfaktigen Stück, von dem allerdings nur Bruchstücke erhalten sind: das Gedicht „Mahomets Gesang“, das 1773 veröffentlicht wurde, und eine kleine Prosaszene „Mahomet – Halima“, die sich im Nachlass der Frau von Stein fand.[17]

In dieser Szene findet sich vor dem Gespräch des jungen Propheten mit sei­ner Pflegemutter Halima der hymnenartige Monolog Mohammeds, der den Inhalt des 75. Verses der VI. Sura verarbeitet. An die Stelle Abrahams ist Mo­hammed getreten, der sich wie Abraham im Koran zuerst an die Gestirne Mond und Sonne, dann an den einzigen Schöpfergott wendet:

»Sey geseegnet, O Mond! Führer du des Gestirns, sey mein Herr du mein Gott!
Du beleuchtest den Weeg.
Lass! Lass! Nicht in der Finsterniss Mich! Irren mit irrendem Volck.
Sonn, dir glühenden weiht sich das glühende Herz.
Sey mein Herr du mein Gott! Leit allsehende mich.
Steigst auch du hinab herrliche! Tief hüllet mich Finsterniss ein.
Heb liebendes Herz dem Erschaffenden dich! Sey
mein Herr du! mein Gott! Du alliebender du! Der
die Sonne den Mond und die Stern schuff Erde und Himmel
und mich!«[18]

Goethe hielt die Szene und die Hymne für verloren und schreibt dazu in „Dichtung und Wahrheit“:

»Diese Hymne hatte ich mit viel Liebe gedichtet; sie ist verloren gegangen, würde sich aber zum Zweck einer Kantate wohl wieder herstellen lassen, und sich dem Musiker durch die Mannigfaltigkeit des Ausdrucks empfehlen.«[19]

Im ersten Akt dieses Dramas wollte Goethe die innere Eintwicklung Moham­meds zum Propheten zeigen, im zweiten die erste innere Krise des Islam. Im dritten Akt sollte Mohammed seine Gegner besiegen, seine Religion zur all­gemeinen machen und die Kaaba von Götzen reinigen, im vierten sollte Mo­hammed von einer Frau vergiftet werden und im fünften sterben, nachdem er seine Lehre zum letzten Mal befestigt hat. Das Gedicht „Mahomets Ge­sang“, einer von mehreren Gesängen im Drama, sollte am Ende des Stücks kurz vor dem Tod des Propheten durch seinen Schwiegersohn Ali und seine Tochter Fatima im Wechselgesang vorgetragen werden. Das Gedicht schil­dert den Werdegang Mohammeds und die Ausbreitung seiner Lehre. Die letz­ten Strophen geben im Ozean das Naturbild eines alles umfassenden Schöp­fergottes:

Beyde: Bruder!
Bruder, nimm die Brüder mit!

Fatima: Mit zu deinem alten Vater,
Zu dem ewgen Ocean,
Der, mit weitverbreit'ten Armen
Unserer wartet,
Die sich, ach! vergebens öffnen,
Seine sehnenden zu fassen.
Ali: Denn uns frißt, in öder Wüste,
Gierger Sand; die Sonne droben
Saugt an unserm Blut;
Ein Hügel
Hemmet uns zum Teiche.
Bruder!
Nimm die Brüder von der Ebne!

Fatima: Doch ihn halten keine Städte,
Nicht der Thürme Flammengipfel,
Marmorhäuser, Monumente
Seiner Güte, seiner Macht.

Ali: Zedernhäuser trägt der Atlas
Auf den Riesenschultern; sausend
Wehen, über seinem Haupte,
Tausend Segel auf zum Himmel
Seine Macht und Herrlichkeit.
Und so trägt er seine Brüder,

Fatima: Seine Schätze, seine Kinder,
Beyde: Dem erwartenden Erzeuger
Freudebrausend an das Herz![20]

In seinem letzten Frankfurter Jahr 1794 schrieb Goethe fünfzehn kurze Fa­beln und Sprüche und stellte sie unter den Titel „Salomons König von Israel und Juda güldene Worte von der Zeder biss zum Issop“. Diese Über­schrift bezieht sich auf Vers 12/13 im Kapitel 5 des ersten „Buches der Könige“ im Alten Testament. Dort wird von dreitausend Sprüchen und tausend Liedern des Königs Salomon berichtet, die die Pflanzen des Nahen Ostens zum Ge­genstand hatten. Ein Beispiel für these Form der Dichtung, eine Kurzfabel mit Zeder und Dornstrauch als sprechende Pflanzen, findet sich an einer anderen Stelle des Alten Testaments (zweites Buch der Könige, Kapitel 14). Goethe übernahm die Zeder als zentrale „Gestalt“ und den knappen archaisch klin­gen­den Stil des Alten Testaments. Die Ausarbeitung in 15 Kurztexte ist aber inhaltlich eigenständig. Außer den sprechenden Pflanzen treten auch Men­schen auf: ein Mädchen, ein Held, ein Seefahrer, ein Wanderer und ein Pro­phet. Im Jahr 1775 wurde Goethe zum zweiten Mal durch das Alte Testament zu einer größeren eigengen Produktion angeregt. Er fertigte eine eigene Über­tragung des „Hohen Lieds Salomon“ an. In den „Noten und Abhand­lungen zum besseren Verständnis des West-östlichen Divans“ schreibt Goethe über 40 Jahre später:

»Wir verweilen sodann einen Augenblick bei dem hohen Lied, als dem Zar­te­sten und Unnachahmlichsten, was uns von Ausdruck leidenschaftlicher, an­mu­tiger Liebe zugekommen. Wir beklagen freilich, daß uns die frag­men­ta­risch durcheinander geworfenen, übereinander geschobenen Gedichte keinen vo­l­len reinen Genuß gewähren, und doch sind wir entzückt, uns in jene Zustän­de hineinzuahnden, in welchen die Dichtenden gelebt. Durch und durch wehet eine milde Luft des lieblichsten Bezirks von Kanaan; ländlich trauliche Verhäl­t­nisse, Wein-, Garten- und Gewürzbau(...).«[21]

Es ist umstritten, welche Bibel-Ausgaben Goethe bei seiner Übertragung ver­wendet hat. Mit Sicherheit hatte er die deutsche Luther-Bibel zur Hand, viel­leicht las er parallel dazu auch die lateinische Vulgata. Benno Badt glaubt sogar nachweisen zu können, dass Goethes Text eine besonders geglückte Übertragung des hebräischen Originals sei.[22] Auf jeden Fall ist Goethes „Hohe Lied“ lyrischer als die Übersetzung Luthers und erreicht fast den Rang einer Nachdichtung.[23]

Im Jahr 1783 befasste sich Goethe mit der Moallakat-Übersetzung des eng­lischen Arabisten William Jones: Moallakat or seven Arabian Poems, which were suspended on the temple at Mecca, with a translation and arguments by William Jones, London 1783. Goethe sagt 1815 rückblickend über diese Be­gegnung:

»Ich rief die Moallakats hervor, deren ich einige gleich nach ihrer Erscheinung übersetzt hatte. Den Beduinenzustand bracht' ich mir vor die Einbildungskraft(...).«[24]

Goethe übertrug die erste Dichtung der Moallakat von „Amralkais“ aus dem Englischen ins Deutsche:

Haltet laßt uns hier an der Stelle der Erinnerung weinen.
Dort wars, am Rande des geschwungenen sandigen Hügels
Dort stand ihr Zelt, umher das Lager.
Noch sind die Spuren nicht völlig verloschen,
So sehr auch der Nordwind und Südwind
Den stiebenden Sand durcheinander gewoben.
Und mir zur Seite hielten die Gefährten still,
Und sprachen: Vergeh nicht in Verzweiflung, sei gedultig.
Da rief ich: Tränen sind mein einzger Trost.[25]

Goethe ließ in seiner Übertragung der Moallakat-Dichtung die Namen der Orte, die im Originaltext (arabisch) und in der Übersetzung von Jones erschei­nen, aus, um dem Text allgemeineren Charakter zu geben und die von Re­gion und Kultur unabhängige Gültigkeit der Gefühle noch zu betonen. Im Jahre 1797 verfasste Goethe unter dem Einfluss Herders eine religions- geschichtliche Schrift, die sich mit den vier letzten Büchern Moses und dem darin überlieferten Zug des Volkes Israel durch die Wüste befasste. Fünf­und­zwanzig Jahre später nahm er die kleine Abhandlung mit dem Titel „Israel in der Wüste“ in seine „Noten und Abhandlungen“ auf. Zum Ziel seiner Arbeit meint er:

»Zwei Dinge sind es daher, auf die ich die Aufmerksamkeit meiner Leser zu richten wünschte. Erstlich auf die Entwickelung der ganzen Begebenheit dieses wunderlichen Zugs aus dem Charakter des Feldherrn, der anfangs nicht in dem günstigsten Lichte erscheint, und zweitens auf die Vermutung, daß der Zug keine vierzig, sondern kaum zwei Jahre gedaurt; wodurch denn eben der Feldherr, dessen Betragen wir zuerst tadeln mußten, wieder ge­recht­fertigt und zu Ehren gebracht, zugleich aber auch die Ehre des National­gottes gegen den Unglimpf einer Härte(...).«[26]

Goethe versuchte eine Trennung zwischen romanhafter und historischer Erzählung einerseits und religiösem Gehalt andererseits, um so das Ur­sprüng­liche der Heiligen Schrift, ihre eigentliche Bedeutung, ihren tieferen Sinn herauszuarbeiten:

»Um mich nun in diesem Labyrinthe zu finden, gab ich mir die Mühe, sorgfältig zu sondern, was eigentliche Erzählung ist, es mochte nun für Historie, für Fa­bel oder für beides zusammen, für Poesie, gelten. Ich sonderte dieses von dem, was gelehret und geboten wird. Unter dem ersten verstehe ich das, was allen Ländern, allen sittlichen Menschen gemäß sein würde, und unter dem zweiten, was das Volk Israels besonders angeht und verbindet.«[27]

Goethe möchte damit gleichzeitig erreichen, dass die Gestalt des Moses, die durch bestimmte Aussagen des Textes entstellt wird, ihren eigentlichen Wert zurückgewinnt:

»Und so gestehen wir gern, daß uns die Persönlichkeit Mosis, von dem ersten Meuchelmord(...)ein höchst bedeutendes und würdiges Bild gibt von einem Manne(...)Aber freilich wird ein solches Bild ganz entstellt, wenn wir einen(...)raschen Tatmann vierzig Jahre ohne Sinn und Not mit einer ungeheurn Volksmasse auf einem so kleinen Raum im Angesicht seines großen Zieles herumtaumeln sehen. Bloß durch die Verkürzung des Wegs und der Zeit(...)haben wir alles Böse, was wir von ihm zu sagen gewagt, wieder ausgeglichen und ihn an seinerechte Stelle gehoben.«[28]

Es lässt sich feststellen, dass die Beschäftigung Goethes mit dem Orient kontinuierlich und auf verschiedenen Ebenen verlief, aber dabei ist auffallend, dass es ein Ungleichgewicht zwischen seiner Rezeption von Originalwerken und Literatur über den Orient einerseits und seiner eigenen Produktion aus diesem Bereich andererseits gibt.

Nur auf dem Gebiet der Lyrik wird Goethe nennenswert schöpferisch, bleibt aber auch hier stark an konkreten Vorbildern orientiert; man kann allenfalls von Nachdichtungen sprechen. Sein Dramenversuch scheiterte. Die Frag-mente wurden von Goethe vernichtet! Im Bereich der Prosa stehen die fünf­zehn kleinen Fabeln isoliert. Die Abhandlung „Israel in der Wüste“ ist eine religionskritische Arbeit und gehört im engeren Sinne nicht zum künst­leri­schen Werk.

II. Die Entstehung des „Divan“

Schon im I. Kapitel habe ich zu zeigen versucht, wie Goethe immer wieder Anlass findet, sich in seiner Lektüre der Geschichte und Kultur des Orients zuzuwenden. Auffallend ist dabei, dass sein regelmäßig neu erwachendes Interesse vor allem rezipierend bleibt. Nur selten wird der Orient zum Gegenstand seiner schöpferischen Tätigkeit.

Erst mit dem Jahr 1814 kommt es in Goethes Verhältnis zum Orient zu einer doppelten Veränderung. Sein jahrzehntealtes, kontinuierliches Interesse, das bisher parallel zu anderen Beschäftigungen lief und meist hinter ihnen zurück­stand, erlangt plötzlich Priorität als vorherrschende Angelegenheit. Fast gleichzeitig wird Goethes Auseinandersetzung mit dem Orient kreativ. Das Orient-Studium und die Abfassung vieler Gedichte geschehen gleichzeitig. Diese doppelte Veränderung seines Verhältnisses zum Orient kommentiert Goethe auch selbst. Er schreibt in den Tag-und Jahresheften 1815:

»(...)so trug doch ein jeder <der zeitgenössischen Orientalisten> dazu bei mich aufs eiligste in einem Felde aufzuklären, in dem ich mich manchmal geübt, aber niemals ernstlich umgesehen hatte.«[1]

Über seine dichterische Produktivität kann er schon am 29. August 1814 an seinen Berater Friedrich Riemer (1774–1845) schreiben:

»Die Gedichte an Hafis sind auf 30 angewachsen und machen ein kleines Ganzes, das sich wohl ausdehnen kann.«[2]

Am 16. Mai desselben Jahres beschreibt er in einem Brief an seinen Verleger Cotta die Entstehung der neuen Gedichte und das Orient-Studium als eng verbunden:

»Ich habe mich nämlich im Stillen längst mit orientalischer Literatur beschäf­tigt, und um mich inniger mit derselben bekannt zu machen, mehreres in Sinn und Art des Orients gedichtet.«[3]

Goethes Tag- und Jahreshefte, seine Briefe und die Dokumentation seiner Be­nutzung der Weimarer Bibliothek geben ein recht genaues Bild von der Intensität seines Studiums. Goethe las ab 1814 wahrscheinlich fast täglich orientalische Literatur oder Literatur zum Orient. So schreibt er in den Tag-und Jahresheften 1815, dass ihm die Hafis-Übersetzung von Joseph von Hammer-Purgstall:

»(...)täglich zur Hand war, und mir zum Buch der Bücher wurde(...).«[4]

Über die Werke eines anderen zeitgenössischen Orientalisten schreibt er an Zelter:

»Hast Du denn in Deinem Leben den Geheimen Legationsrath von Diez ge­sehen? dessen Arbeiten, Übersetzungen, Noten und Abhandlungen meine tägliche Gesellschaft sind?«[5]

Das Orient-Studium dominiert eindeutig vor seinen anderen Interessen und Arbeiten. So schreibt er am 23. Januar 1815 an Christian Schlosser:

»Ich habe mich nämlich, mit aller Gewalt und allem Vermögen, nach dem Orient geworfen(...).«[6]

Goethe nimmt die Orient-Literatur, die er gerade liest, auch auf Reisen mit. Er beginnt mit der Lektüre von Hammer-Purgstalls Hafis-Übersetzung und liest weitere orientalische Dichtungen in englischen, lateinischen, französischen oder deutschen Übersetzungen. Parallel zu diesen Originalwerken liest Goe­the auch englische, französische und deutsche Sekundärliteratur von älteren oder zeitgenössischen Orientalisten, z.B. Hammer-Purgstalls „Geschichte der schönen Redekünste Persiens“ (1818), in der er auch Kurzbiographien der bedeutendsten persischen Dichter findet. Besonders wichtig scheint ihm auch das von Hammer-Purgstall herausgegebene Periodikum „Fundgruben des Orients“ gewesen zu sein, von dem er zwischen 1813 und 1819 immer wieder Bände aus der Hofsbibliothek in Weimar entleiht.

Neben literaturwissenschaftlichen Werken interessieren ihn aber auch sprach­wissenschaftliche und kulturgeschichtliche Arbeiten. Der Ausleihkatalog der Weimarer Bibliothek verzeichnet Wörterbücher, Enzyklopädien, staatsrecht­licheSchriften, historische Literatur, Atlanten und zahlreiche Reise­beschrei­bungen, die sich Goethe im Zusammenhang mit seiner Arbeit am Divan im­mer wieder und oft für längere Zeit ausleiht.

Goethe beschränkt sich nicht auf Lektüre, er sucht den Kontakt zu zeitgenös­si­schen Orientalisten, korrespondiert mit Hammer-Purgstall (1774–1856), Diez(1751–1817) und Kosegarten (1758–1818). Die „Noten und Abhand­lungen“ zeigen, dass er sich dabei zunehmend nicht nur als Ratsuchender versteht, sondern einzelnen Thesen der Fachgelehrten auch kritisch gegen­über­tritt. Sogar in sein gesellschaftliches und privates Leben wird die Ausein­andersetzung mit dem Orient integriert. Goethe liest bei Hof aus arabischen Dichtungen und sucht auch mit interessierten Freunden wie Sulpiz Boisserée die Auseinandersetzung über dieses Thema.

Auffallend ist, dass Orient-Studium und schöpferische Arbeit am Divan zeit­lich eng verschränkt sind. Goethe beginnt Anfang Juni 1815 mit der Hafis-Lek­türe, im selben Monat entsteht bereits das erste Divan-Gedicht. Von da an laufen Lektüre und kreative Arbeit parallel. Von einem auf den Divan bezo­ge­nen Vorstudium, durch das erst eine Basis hätte geschaffen werden müssen, kann also nicht gesprochen werden.

1. Die historische Situation

HEGIRE

Nord und West und Süd zersplittern,
Throne bersten, Reiche zittern,
Flüchte du, im reinen Osten
Patriarchenluft zu kosten,
Unter Lieben, Trinken, Singen
Soll dich Chisers Quell verjüngen.
Dort, im Reinen und im Rechten,
Will ich menschlichen Geschlechten
In des Ursprungs Tiefe dringen,
Wo sie noch von Gott empfingen
Himmelslehr' in Erdesprachen,
Und sich nicht den Kopf zerbrachen.[7]

Mit diesem Gedicht beginnt der Divan. In seinen Versen umreißt Goethe bereits allgemeine Zeitverhältnisse und persönliche Reaktionen darauf, die beide das Entstehen des Werkes begleiten werden.

„Hegire“ ist die französische Transkription des arabischen „Hedjira“ und meint die Flucht Mohammeds aus Mekka nach Medina.[8]

Mit den Begriffen„Flucht“ und „Aufbruch“ lässt sich auch die Reaktion des Dichters auf die politische und gesellschaftliche Situation seiner Zeit kennzeichnen. Bereits 1813 hatte er geschrieben:

»Wie sich in der politischen Welt irgendein ungeheures Bedrohliches hervortat, so warf ich mich eigensinnig auf das Entfernteste.«[9]

In „Dichtung und Wahrheit“ lesen wir:

»Wenn es auch draußen noch so wild und wunderlich herging (...), so flüch­tete ich gern nach jenen morgenländischen Gegenden, ich versenkte mich in die ersten Bücher Mosis und fand mich dort unter den ausgebreiteten Hirten­stäm­men zugleich in der größten Einsamkeit und in der größten

Gesell­­­schaft.«[10]

„Flucht“ und „Aufbruch“ bedeuten für Goethe in der Zeit, als er mit dem Divan beginnt, kein tatsächliches Entkommen aus der Realität, der er ja auch nicht entkommen konnte, sondern eine Ankunft im Innen, in einer geistigen Welt, die die Gegenwelt zu dem seit 25 Jahren immer aufs Neue erschüt­ter­ten Europa war. Mit den politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen seit 1789 ist er auf unterschiedliche Weise konfrontiert worden.

DerSturm auf die Bastille findet fast genau ein Jahr nach seiner Rückkehraus Italien statt. Drei Jahre später nimmt Goethe im Gefolge des Herzogs Karl August an einem Feldzug gegen das französische Revolutionsheer teil. Im Jahr darauf ist er wieder mit Karl August Zeuge der Belagerung von Mainz, das von französischen Truppen besetzt ist. In seiner dichterischen Arbeit sind die Dramen „Der Groß-Cophta“, „Der Bürgergeneral“, „Die Aufgeregten“ und die „Natürliche Tochter“ sowie das Epos „Hermann und Dorothea“ und die „Unterhaltungen Deutscher Ausgewanderten“ die deutlichsten Rea­k­tionen auf das Zeitgeschehen.

Als die kriegerischen Ereignisse durch Napoleons Offensive auf Deutschland übergreifen, bleibt Weimar nicht verschont. Goethe beobachtet am 14. Ok­to­ber 1806 die Niederlage des preußischen Heeres auf den Höhen zwischen Weimar und Jena. Am Tag darauf gerät der 57-jährige durch französische Soldaten, die sein Haus plündern, selbst in Lebensgefahr. Zwei Jahre später lässt ihn Napoleon zu einer persönlichen Unterredung nach Erfurt kommen und empfängt ihn in den folgenden Tagen noch zweimal in Weimar. Die Arbeit am Divan beginnt 1813 mit intensivem Studium arabischer und persischer Li­te­ratur und deckt sich zeitlich in den folgenden Jahren mit dem Krieg der eu­ro­päischen Großmächte gegen Napoleon, ein Kampf, dessen Ausgang bis zum Schluss ungewiss ist und dessen Schauplätze oft bedrohlich nahe bei Weimar liegen.

Diese persönlichen Erfahrungen tragen sicher zur „Flucht“ in die Welt des Orients bei. Goethe selbst schreibt am 21. Juli 1813 an J. H. Meyer:

»Wer es jetzt möglich machen kann, soll sich aus der Gegenwart retten, weil es unmöglich ist, in der Nähe von so manchen Ereignissen nur leidend zu leben, ohne zuletzt aus Sorgen, Verwirrung und Verbitterung wahnsinnig zu werden.«[11]

Die Goethes geistige Situation am Vorabend der Divan-Dichtung charakteri­sie­renden Begriffe „Flucht“ und „Aufbruch“ kann man den Begriffen „An­kunft“ und „Rettung“ gegenüberstellen.

Wo sie Väter hoch verherten,
Jeden fremden Dienst verwehrten;
Will mich freuen der Jugendschranke:
Glaube weit, eng der Gedanke,
Wie das Wort so wichtig dort war,
Weil es ein gesprochen Wort war.[12]

„Glaube weit, eng der Gedanke“ – dieser Satz beschreibt das Credo des Divans und seines Verfassers. „Rettung“ bedeutet für Goethe in der Zeit, als er den Divan schreibt, auch Erneuerung, Wiedergewinnung des Glaubens, wobei Glaube und Religion durchaus nicht als synonym gesehen werden dür­fen, sondern als Polarität, Zweiheit in Einem, Hinwendung an den allgewalti­gen Schöpfergott und Hinwendung an das allgewaltige Ich, Anschauung des Himmels und der Gestirne und Rückbindung an die Erde mit ihrem Gestein, ihren Pflanzen und Tieren. In einem Brief Goethes vom 21. April 1819 an Karl Ernst Schubart heißt es:

Auf Glaube, Liebe und Hoffnung
ruht des gottbegünstigten Menschen
Religion Kunst und Wissenschaft
diese nähren und befriedigen
das Bedürfnis anzubeten hervorzubringen zu schauen
alle drei sind eins
von Anfang und am Ende
wenn gleich in der Mitte getrennt.[13]

„Rettung“ bedeutet für Goethe also auch Synthese; erst die Verschmelzung von Mensch und Gottheit, Raum und Zeit, Abend- und Morgenland schaffen die Bindungen für eine zukünftige Existenz der Menschheit. Diese geistigen Voraussetzungen Goethes zur Divan-Dichtung, sein Streben nach einer Syn­these, die für ihn nur im Gedicht und nicht in der Geschichte herzustellen war, hat Walter Strich beschrieben:

»Zu diesem neuerwachten Drang nach Lösung, Sprengung, Opferung kam aber noch ein anderes, das ihn nach dem Osten kehrte. Es war wirklich eine Flucht vor dem Geiste Europas, der ihm damals in Napoleon wie in einer sym­bolischen Repräsentation bedrängte. Er sah nichts anderes um sich als Kampf um Politik und Herrschaft. Die Erschütterungen der französischen Re­volution, die Kriege, die ihr folgten, Eroberungs- und Befreiungskriege, die so­zialen und politischen Umwälzungen und Wirren: sie hatten ihn müde ge­macht und ihm erwiesen, daß dieser Weg Europas nur von dem Ziel des Men­schen abführt, das ihm vor der Seele schwebte. Die Gewaltsamkeit die­ser vulkanischen Ausbrüche verhieß keinen dauernden Besitz, sondern nur zeitliche und flüchtige Bewegungen.Die zunehmende Politisierung bedrohte die ewig menschliche Kultur. Er selbst empfand dieses Chaos der Zeit als eine Gefahr für sich. Es rückte ihm zu nah und drängte seine eigene, andere Welt zurück. Er brauchte Ferne, Weite, Fremdheit. Vielleicht daß ihm auch schon, bevor noch das Studium des Ostens einsetzte, die Ahnung aufge­gan­gen war, daß diese heillose Verwirrung und Verstrickung des europäischen Geistes allein von Osten her zu lösen sei. So kam es denn, daß er in den Orient flüchtete und ihm die großartige Vision von einer Verbindung des Mor­gen- und Abendlandes und des orientalischen und deutschen Geistes auf­ging. Das Denkmal dieses Willens zur Synthese und die dichterische Gestal­tung dieser Vision war der West-östliche Divan.«[14]

Goethe erreicht mit dem Durchlaufen jener hier als „Flucht“, „Aufbruch“, „Ankunft“ und „Rettung“ bezeichneten Phasen ein Existenz- und Schaf­fensniveau, das G. von Loeper „(...) den Archimedischen Punkt außerhalb der ihn umgebenden Welt <nennt>, von welchem aus er sich dieser zu be­mächtigen, den Zeitmoment zu idealisieren (...) vermochte.“[15]

Im Atemholen sind zweierlei Gnaden:
Die Luft einziehen, sich ihrer entladen.
Jenes bedrängt, dieses erfrischt;
So wunderbar ist das Leben gemischt.
Du danke Gott, wenn er dich preßt,
Und dank' ihm, wenn er dich wieder entläßt. [16]

Das „Idealisieren“ und „Symbolisieren“ von Zeitgeist und Geschichte bzw. das „Polemisieren“ dagegen verlaufen nun bei Goethe nicht als linearer Pro­zess, sondern beruhen auf der Polarität, auf dem Dualismus der Dinge und Erscheinungen. Im neunten Kapitel des zweiten Buches von „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ lässt Goethe seinem Helden Wilhelm folgende Be­lehrung durch Montan zuteil werden:

»Wenn man einmal weiß, worauf alles ankommt, hört man auf, gesprächig zu sein. Denken und Tun, Tun und Denken, das ist die Summe aller Weisheit, von jeher anerkannt, von jeher geübt, nicht eingesehen von einem jeden. Bei­des muß wie Ein- und Ausatmen sich im Leben ewig fort hin und her be­we­gen; wie Frage und Antwort sollte eins ohne das andere nicht stattfinden. Wer sich zum Gesetz macht, was einem jeden Neugeborenen der Genius des Men­schenverstandes heimlich ins Ohr flüstert, das Tun am Denken, das Den­ken am Tun zu prüfen, der kann nicht irren, und irrt er, so wird er sich bald auf den rechten Weg zurückfinden.«[17]

Es ist legitim, wenn Goethe in seiner Ethik auch dem Bösen seinen Platz in der Schöpfung zuweist, es als treibende Kraft in der Entwicklung preist, als »Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft,«[18] Schon in der Shakespeare-Rede vom 14.Oktober 1771 äußert Goethe, dass »das, was wir bös nennen, nur die andere Seite vom Guten sei, die so not­wen­dig zu seiner Existenz und in das Ganze gehöre als Zona torrida brennen und Lappland einfrieren muß, damit es einen gemäßigten Himmelsstrich gebe.«[19]

[...]


1 B. v. Arnim, Goethes Briefwechsel mit einem Kinde, Berlin, Weimar 1986, S. 379 f.

2 (Goethe, Werke, Bd. 36, Weimar 1893, S. 224)

3 Goethe, dtv-Gesamtausgabe, Bd. 22, Teil I, München 1962, S. 113.

4 H. H. Schaeder, Goethes Erlebnis des Ostens, Leipzig 1938, S. 32.

5 Goethe, Werke, Bd. 18, Zürich 1951, S. 174.

6 Den Brief an Herder und Goethes Schaffensprobleme in dieser Zeit analysiert K. Mommsen, Goethe und der Islam, Stuttgart 1964, S. 8.

7 H. H. Schaeder, 1938, S. 11.

8 C. Brockelmann, Geschichte der arabischen Literatur, Bd. I, Weimar 1898, S. 17 f.

9 Goethe, Werke, Bd. 18, Zürich 1951, S. 752.

10 Goethe, Werke, Bd. 2, München 1982 , S. 129. Goethe folgt in der Charakterisierung des einzelnen Gedichts dem Übersetzer William Jones, ebd. S. 130.

11 Goethe, dtv-Gesamtausgabe, Bd. 23, Teil II, München 1962, S. 181.

12 Ebd. Teil III, S. 62 f.

13 Ebd. S. 172.

14 K. Mommsen, 1964, S. 11 ff.

15 K. Mommsen, 1964, S. 9.

16 Goethe, Werke, Bd. 15, Zürich 1953, S. 322.

17 H. H. Schaeder, 1938, S. 40.

18 Goethe, Werke, Bd. 4, Zürich 1953, S. 181.

19 Goethe, dtv-Gesamtausgabe, Bd. 23, Teil III, München 1962, S. 172.

20 Goethe, Werke, Bd. 4, Zürich 1953, S. 184 f.

21 Goethe, Werke, Bd. 2, München 1982 , S. 128 f.

22 (B. Badt, Goethe als Übersetzer des Hohenliedes, Leipzig 1881, S. 357).

23 (M. Luther, Die Bibel, Berlin 1965, S. 783).

24 Goethe, Werke, Bd.11, Zürich 1950, S. 867.

25 K. Burdach (Hrsg.), Welt=Goethe=Ausgabe, Bd. 5, Mainz 1932, S. 344.

26 Goethe, Werke, Bd. 2, München 1982, S. 209.

27 Ebd.

28 Ebd., S. 224.

1 Goethe, Werke, Bd.11, Zürich 1950, S. 867.

2 Goethe, Werke, Bd. 21, Zürich 1951, S. 17.

3 Goethe, Briefe, Bd. 3, Hamburg 1965, S. 306.

4 Goethe, Werke, Bd.11, Zürich 1950, S. 867.

5 Goethe, Werke, Weimar 1911, S. 416.

6 Goethe, Briefe, Bd. 3, Hamburg 1965, S. 290.

7 Goethe, Werke, Bd. 2, München 1982, S. 7.

8 Enzyklopädie des Islam, Bd. 3, Leipzig 1936, S. 698.

9 Goethe, Werke, Bd.11, Zürich 1950, S. 862.

10 Goethe, dtv-Gesamtausgabe, Bd. 22, Teil I., München 1962, S.127 f.

11 M. Hecker (Hrsg.), Schriften der Goethe-Gesellschaft, Bd. 2, Weimar 1919, S. 326.

12 Goethe, Werke, Bd. 2, München 1982, S. 7.

13 Goethe, Werke, Bd. 21, Zürich 1951, S. 329.

14 W. Strich, Goethe und der Osten, in: Die Dioskuren, Bd. 2, Mün-chen 1923, S. 46 f.

15 E. Lohner, Studien zum West-östlichen Divan Goethes, Darmstadt 1971, S. 29.

16 Goethe, Werke, Bd. 2, München 1982, S. 10.

17 Goethe, Werke, Bd. 3, Herrsching 1932, S. 191.

18 Goethe, Faust I, Berlin 1982, S. 54.

19 A.Kippenberg, Goethes Reden zum Schäkespeare-Tag, Weimar 1938, S. 93.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
1989
ISBN (eBook)
9783836613415
Dateigröße
605 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Freie Universität Berlin – Philosophie und Geisteswissenschaften, Germanistik
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
2,0
Schlagworte
goethe orient west-östlicher divan kulturdialog völkerverständigung
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Titel: Dialog der Kulturen am Beispiel des "West-Östlichen Divan"
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