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Die kapitalgedeckte Altersvorsorge am Beispiel Chile

Ergebnisse, Auswirkungen, Lehren und Verbesserungsmöglichkeiten

©2007 Diplomarbeit 95 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Am 4. November 1980 beschloss die damalige chilenische Regierung ein Gesetz, mit dem zum ersten Mal in der Geschichte ein vollständig ausgereiftes, staatlich organisiertes Umlageverfahren der Altersvorsorge durch ein vollständig kapitalgedecktes, privatwirtschaftlich organisiertes Verfahren abgelöst werden sollte. Damit hatten Arbeitsminister José Piñera und die von ihm angeführte Expertengruppe sich nicht nur gegen zahlreiche Interessengruppen durchgesetzt, sondern auch gegen die Generäle des „präsidialen Beratungskomitees“, die grundlegende Reformen des Rentensystems bislang verhindert hatten. Ein Vierteljahrhundert, nachdem die Implementierung dieses neuen Verfahrens begonnen hat, ist das heutige Chile das aus mehreren Gründen geeignetste Fallbeispiel, um die Funktionsweise der kapitalgedeckten Altersvorsorge und ihre vielfältigen Auswirkungen in der Praxis zu beobachten:
Das bestehende Umlagesystem wurde nicht nur durch eine zusätzliche Säule ergänzt, sondern das erwähnte Gesetz sah den vollständigen Ausstieg aus der Umlage vor. Seitdem erste Erfolge sichtbar geworden sind, und seitdem die Rentensysteme vieler Länder aus demographischen und anderen Gründen Krisensymptome zeigen, hat es verschiedene Nachahmungen des chilenischen Weges gegeben, in den Nachbarländern, aber auch in Osteuropa und Südostasien. Vor allem die Nachbarländer haben sich dabei deutlich an Chile angelehnt, die meisten haben allerdings nur Mischsysteme eingeführt.
Ein praktischer Grund, der für Chile als Anschauungsbeispiel spricht, ist der, dass die Reform seit nunmehr 25 Jahren ohne substantielle Änderungen in Kraft ist und sich somit eine vergleichsweise umfangreiche empirische Basis bietet. Die weniger radikalen Nachahmer verwirklichten ihre Reformen erst ab Mitte oder Ende der 1990er, osteuropäische Modelle sind sogar noch jünger. Bis wirklich gesicherte Aussagen über den Alterslebensstandard möglich sind, wird allerdings auch in Chile noch eine lange Zeit vergehen müssen.
Ein dritter Grund ist der, dass sich in Chile der Übergang von einem etablierten Umlageverfahren zur Kapitaldeckung nachverfolgen lässt. Auch in Australien oder Hongkong basiert die Altersvorsorge auf individualisierter Ersparnisbildung, aber dort hatte es nie ausgebaute Umlagesysteme gegeben. Die australische Rentenreform von 1992 bedeutete, anders als die chilenische von 1981, nur die Stärkung einer längst vorhandenen privaten Säule.
Viertens ist an der chilenischen […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhalt

Tabellen- und Graphikenverzeichnis

Verzeichnis landesspezifischer Begriffe

Vorwort

I. DIE ALTERSVORSORGE IN CHILE
1. Chiles früheres Rentensystem.
1.1 Die Krise des alten Systems
1.2 Reformdiagnosen und -ansätze 1950-1980
2. Der Übergang von der Umlage zur Kapitaldeckung
3. Funktionsweise des AFP-Systems
4. Evolution seit 1981

II. THEORETISCHE KLASSIFIZIERUNG
1. Systeme und Ordnungen
2. Vorstellbare Alterssicherungsverfahren
3. Klassifizierungsweisen der chilenischen Institutionen
4. Kapitaldeckung und Umlage im Vergleich
4.1 Schwierigkeiten von Kapitaldeckungsverfahren
4.2 Schwierigkeiten von Umlageverfahren
4.3 Politökonomie und Ideenwettbewerb.

III. MIKRO- UND MAKROÖKONOMISCHE AUSWIRKUNGEN DER RENTENREFORM
1. Die chilenische Ökonomie vor und nach der Rentenreform.
2. Der Beitrag der Rentenreform
2.1 Faktor Kapital
2.1.1 Theorie
2.1.2 Empirie
2.1.3 Interpretation
2.2 Faktor Arbeit
2.2.1 Theorie
2.2.2 Empirie
2.2.3 Interpretation
2.3 Totale Faktorproduktivität
2.3.1 Theorie
2.3.2 Empirie
2.3.3 Interpretation

IV. DEFIZITE UND VERBESSERUNGSVORSCHLÄGE
1. Neue Investitionsmöglichkeiten für die AFPs.
2. Eine effizientere Struktur der Rentenfond-Industrie
3. Höhere Partizipationsraten und Beitragsdichten
3.1 Selbständigkeit.
3.2 Informalität
4. Flexiblere Vertrags- und Preisstrukturen
Schlusswort: „Kosmos“ oder „Taxis“?

Literatur

Anhang 1: Tabellen

Anhang 2: Graphiken.

Urheberschaftserklärung

Tabellen- und Graphikenverzeichnis

Tabelle 1: Schlüsselvariablen der drei Hauptkassen des früheren Rentensystems, 1970er

Tabelle 2: Schlüsselvariablen des Multifond-Systems, gültig seit 2002:

Tabelle 3: bisherige Ergebnisse des AFP-Systems

Tabelle 4: mögliche Klassifizierungen der chilenischen Renteninstitutionen .

Tabelle 5: Chilenisches BIP-Wachstum pro Kopf, ausgewählte Epochen

Tabelle 6: Ökonomische Auswirkungen der Rentenreform I: Faktor Kapital

Tabelle 7: Ökonomische Auswirkungen der Rentenreform II: Faktor Arbeit

Tabelle 8: Die Entwicklung des chilenischen Kapitalmarktes, ausgewählte Kennziffern

Tabelle 9: Ökonomische Auswirkungen der Rentenreform III: Totale Faktorproduktivität

Tabelle 10: Kenntnisstand der Chilenen zum AFP-System, ausgewählte Indikatoren.

Tabelle 11: Hindernisse zur Formalisierung der Ökonomie, ausgewählte Kennziffern.

Graphik 1: AFP-Aktiva in % des chilenischen BIP 1981-2005

Graphik 2: Reale Jahresrenditen der AFPs 1981-

Graphik 3: Portfolio der AFPs, repräsentative Jahre

Graphik 4: Partizipationsrate des Rentensystems 1975-2005

Graphik 5: Solow-Faktorenzerlegung des chilenischen BIP-Wachstums..

Graphik 6: Solow-Faktorenzerlegung des chilenischen BIP-Wachstums (alternativ)

Graphik 7: Chiles Arbeitsmarkt vor und nach der Rentenreform

Graphik 8: Partizipationsrate des Rentensystems, Chile und die Nachbarländer mit den nächsthöchsten Werten

Graphik 9: Dichte der Rentenbeitragszahlungen, ausgedrückt als Dichtefunktion

Verzeichnis landesspezifischer Begriffe

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Vorwort

Am 4. November 1980 beschloss die damalige chilenische Regierung ein Gesetz, mit dem zum ersten Mal in der Geschichte ein vollständig ausgereiftes, staatlich organisiertes Umlageverfahren der Altersvorsorge durch ein vollständig kapitalgedecktes, privatwirtschaftlich organisiertes Verfahren abgelöst werden sollte. Damit hatten Arbeitsminister José Piñera und die von ihm angeführte Expertengruppe sich nicht nur gegen zahlreiche Interessengruppen durchgesetzt, sondern auch gegen die Generäle des „präsidialen Beratungskomitees“, die grundlegende Reformen des Rentensystems bislang verhindert hatten. Ein Vierteljahrhundert, nachdem die Implementierung dieses neuen Verfahrens begonnen hat, ist das heutige Chile das aus mehreren Gründen geeignetste Fallbeispiel, um die Funktionsweise der kapitalgedeckten Altersvorsorge und ihre vielfältigen Auswirkungen in der Praxis zu beobachten:

Das bestehende Umlagesystem wurde nicht nur durch eine zusätzliche Säule ergänzt, sondern das erwähnte Gesetz sah den vollständigen Ausstieg aus der Umlage vor. Seitdem erste Erfolge sichtbar geworden sind, und seitdem die Rentensysteme vieler Länder aus demographischen und anderen Gründen Krisensymptome zeigen, hat es verschiedene Nachahmungen des chilenischen Weges gegeben, in den Nachbarländern, aber auch in Osteuropa und Südostasien. Vor allem die Nachbarländer haben sich dabei deutlich an Chile angelehnt, die meisten haben allerdings nur Mischsysteme eingeführt.

Ein praktischer Grund, der für Chile als Anschauungsbeispiel spricht, ist der, dass die Reform seit nunmehr 25 Jahren ohne substantielle Änderungen in Kraft ist und sich somit eine vergleichsweise umfangreiche empirische Basis bietet. Die weniger radikalen Nachahmer verwirklichten ihre Reformen erst ab Mitte oder Ende der 1990er, osteuropäische Modelle sind sogar noch jünger. Bis wirklich gesicherte Aussagen über den Alterslebensstandard möglich sind, wird allerdings auch in Chile noch eine lange Zeit vergehen müssen.

Ein dritter Grund ist der, dass sich in Chile der Übergang von einem etablierten Umlageverfahren zur Kapitaldeckung nachverfolgen lässt. Auch in Australien oder Hongkong basiert die Altersvorsorge auf individualisierter Ersparnisbildung, aber dort hatte es nie ausgebaute Umlagesysteme gegeben. Die australische Rentenreform von 1992 bedeutete, anders als die chilenische von 1981, nur die Stärkung einer längst vorhandenen privaten Säule[1].

Viertens ist an der chilenischen Erfahrung bemerkenswert, dass eine Reform, die eigentlich hoch entwickelte Kapitalmärkte zur Voraussetzung hat, um ihr vollständiges Potential zu entfalten, in einem Umfeld implementiert wurde, in dem gerade diese Märkte anfangs nur rudimentär vorhanden waren. Die notwendigen Begleitreformen, die die Funktionsweise des Kapitalmarktes ermöglichen, wurden erst parallel zur Rentenreform durchgeführt, aber auch mit Wechselwirkungen zu dieser. So betrachtet war die chilenische Reform ein weitaus riskanteres Unterfangen als etwa die australische.

Trotz all dieser Vorzüge ergibt sich bei der Betrachtung des chilenischen Modells eine große Schwierigkeit. Bei aller Ähnlichkeit mit einem kontrollierten Experiment fehlt doch die wichtigste Eigenschaft eines solchen vollkommen: die Konstanz aller weiteren Einflussfaktoren. Chiles Rentenreform wurde durchgeführt in einer Epoche, die wirtschaftspolitisch einen völligen Bruch mit der bisherigen dirigistisch-interventionistischen Tradition bedeutete. Die Reichweite des Reformprozesses erschwert es, den Beitrag einer individuellen Reform zu isolieren, zumal von umfangreichen Wechselwirkungen zwischen diesen ausgegangen werden kann.

Kapitel 1 wird erklären, wie es historisch zu dieser außergewöhnlichen Reform kam, wie sie durchgeführt wurde, und wie sich die kapitalgedeckte Altervorsorge bisher entwickelt hat. Kapitel 2 wird erläutern, wie die Reform im Rahmen der finanzwissenschaftlichen Theorie zu bewerten ist. In Kapitel 3 soll es darum gehen, die ökonomischen Veränderungen, die beim Übergang von Umlage zu Kapitaldeckung theoretisch zu erwarten sein sollten, mit denen zu kontrastieren, die in Chile tatsächlich beobachtbar sind. In diesem Buch wird zwar die Position vertreten werden, dass die Aufgabe eines Altersvorsorgeverfahrens in der Sicherung des Alterslebensstandards besteht, und nicht in der Schaffung gesamtwirtschaftlicher Vorteile, also z.B. nicht in der Erhöhung der Investitions- oder Beschäftigungsquote. Es wird aber deutlich werden, dass die Evolution des chilenischen Kapitaldeckungsverfahrens nicht isoliert von der ökonomischen Entwicklung betrachtet werden kann. In Kapitel 4 werden die Schwächen des chilenischen Arrangements beleuchtet, zu denen Verbesserungsvorschläge präsentiert werden sollen. Eine Leitfrage des Buches wird sein, inwiefern die beobachtbaren Ergebnisse allgemeine Merkmale einer auf individueller Ersparnis basierenden Altersvorsorge sind, die andernorts ähnlich wirken müssten, oder sich eher auf Besonderheiten in der chilenischen Ausgestaltung zurückführen lassen und auch ganz anders sein könnten.

In der tagespolitischen Debatte werden die Begriffe „Umlage“ und „Kapitaldeckung“ meistens in einer sprachlich unpräzisen Form verwendet. Wer vom „Umlagevefahren“ spricht, meint damit in der Regel: „ein von einem staatlichen Monopolanbieter organisiertes Umlageverfahren mit einem kollektiven Fond, konstantem Rentenniveau und Rentenzahlung bis ans Lebensende“. Wer vom „Kapitaldeckungsverfahren“ spricht, meint damit in der Regel: „ein von im Wettbewerb zueinander stehenden, privaten Unternehmen organisiertes Kapitaldeckungsverfahren mit individualisierten Konten, konstantem Beitragssatz und Rentenzahlung, bis die Ersparnisse aufgebraucht sind“. In Wahrheit besteht also ein multivariates Entscheidungssystem, dessen Merkmale -zumindest theoretisch- mehr als nur diese beiden Kombinationen zulassen. Die Verkürzung auf zwei Merkmalskombinationen kann dann problematisch sein, wenn den beiden Konzepten Eigenschaften zugesprochen werden, die sich in Wahrheit nicht aus ihrer Finanzierungsform, sondern aus ihrer Trägerschaft oder Marktform ergeben. Aus Platzgründen werden die beiden Begriffe hier manchmal wie im Alltagsgebrauch verwendet, allerdings nur dann, wenn die genauere Unterscheidung nicht relevant ist.

Ebenso unpräzise ist in der deutschsprachigen Literatur der Begriff der „Rentenversicherung“, denn das Alter ist erkennbarerweise kein Versicherungsrisiko. Nur einige Zusatzfunktionen von Altersvorsorgesystemen haben Versicherungscharakter, so die Absicherung gegen das Risiko, die im Alter zur Verfügung stehenden Mittel oder Ansprüche zu „überleben“. Die Risiken der (vollständigen oder teilweisen) Berufsunfähigkeit und des Hinterlassens von wirtschaftlich abhängigen Familienmitgliedern im Todesfall gehören zwar sachlogisch nicht in den Aufgabenbereich eines Altersvorsorgesystems, werden aber in den meisten Ländern über diese mit abgesichert und daher auch hier als Bestandteile dieser aufgefasst.

Gründe der Pietät gebieten es, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass die zuweilen wohlwollende Schilderung von gelungenen Aspekten der Renten- und verschiedener Begleitreformen keine Sympathiebekundung für die Militärdiktatur sind, in deren Amtszeit die Reformen fielen. Das ökonomische und soziale Projekt, das hier diskutiert wird, war das alleinige Werk von José Piñera und seiner Expertengruppe, nicht das von Augusto Pinochets Militärjunta. Entgegen der üblichen Darstellung förderte die Militärregierung das Projekt auch keinesfalls, sondern sie boykottierte es im Gegenteil lange Zeit - und das ist auch keineswegs verwunderlich. Politisch bedeutete die Reform schließlich, dass die Junta mit einem Schlag die Kontrolle über den gesamten Lebensbereich der Altersvorsorge verlor. Damit verlor sie auch die Möglichkeit, die Rente für machtpolitische Zielsetzungen zweckzuentfremden.

Dieses Buch wurde ursprünglich als Diplomarbeit verfasst. Sie kam auf folgende Weise zustande: Im Sommer 2006 arbeitete ich als Praktikant beim Institute of Economic Affairs (IEA) an einem Projekt mit, dass privatwirtschaftliche Altersvorsorgemodelle in aller Welt untersuchte. Mein Beitrag bestand in einer Analyse der lateinamerikanischen Modelle. Zurück in Berlin nutzte ich meine so erworbenen Vorkenntnisse und weitete diese zu einer Diplomarbeit aus. Bedanken möchte ich mich bei Nick Silver und Prof. Dr. Philip Booth vom IEA, die die Aufsicht über das Projekt führten, und denen ich zahlreiche Anregungen verdanke. Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Charles B. Blankart von der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, der die anschließende Diplomarbeit betreute. Die Arbeit setzte an vielen Stellen völlig andere Schwerpunkte, als die wirtschaftswissenschaftliche Ausbildung an der Humboldt-Universität das für gewöhnlich tut. Bei anderen Professoren hätte ich arge Bedenken gehabt, ob sie sich auf meinen Ansatz überhaupt einlassen würden. Bei Prof. Blankart hatte ich diese Bedenken zu keinem Zeitpunkt. Die Gewissheit, dass meine Herangehensweise honoriert werden würde, wenn sie denn begründet und in sich stimmig zu Ende gedacht wird, ermutigte mich dazu, die Arbeit von der ersten bis zur letzten Seite so zu schreiben, wie ich es für richtig hielt.

I. DIE ALTERSVORSORGE IN CHILE

“Ach, der Staat hat nur allzuviel Neigung dem teuflischen Rat zu folgen. Denn er besteht aus Ministern, aus Beamten, aus Menschen eben, die wie alle Menschen herzlich verlangen und nach jeder Gelegenheit greifen, ihren Reichtum und Einfluß zu vermehren.“

-Frédéric Bastiat (1848)

1. Chiles früheres Rentensystem

1.1 Die Krise des alten Systems

Chile verfügt über eine für Lateinamerika ungewöhnlich lange und tiefe Tradition staatlicher Sozialversicherung. Die ersten berufsbezogenen Rentenkassen für Beschäftigte des Privatsektors waren 1924 ins Leben gerufen worden. Weitere Rentenkassen kamen bald hinzu und deckten einen immer größeren Personenkreis ab. Im ersten Jahr, für das exakte amtliche Daten hierüber vorliegen, 1975, führten 61,9% der Erwerbspersonen (71,2% der Erwerbstätigen) Rentenbeiträge ab[2], ein Wert, der Schätzungen zufolge in den zehn vorangegangen Jahren ähnlich war[3] und der bis heute von keinem anderen lateinamerikanischen Land erreicht wird[4]. Die Zahl der Rentenkassen stieg gleichzeitig auf 32. Alle Kassen waren berufs- bzw. berufsgruppenspezifisch. Anfangs war eine Teilfundierung vorgesehen, aber die Rücklagen wurden mit der Zeit aufgebraucht, so dass das System als ein faktisch reines Umlageverfahren aufgefasst werden kann. 1962 repräsentierten Kapitalerträge nur noch 3% der Gesamteinnahmen der Rentenkassen[5] und verblieben danach in etwa auf diesem Niveau[6].

Die Rentenkassen unterschieden sich deutlich in der Beitragshöhe, den erforderlichen Mindestbeitragsjahren, der Rentenformel, der Renten-Kalkulationsbasis, der Inflationsindexierung der Rente, der Lohnersatzrate und der nominalen Aufteilung in Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge.

Tabelle 1: Schlüsselvariablen der drei Hauptkassen des früheren Rentensystems, 1970er:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

-eigene Darstellung, Daten von SAFP-Veröffentlichungen (2006) S.32

Diese Heterogenität nahm im Laufe der Zeit noch zu, da die Kassen neben der Hauptfunktion der Altersversorgung zusätzlich Aufgaben wie Invaliditäts- und Hinterbliebenensicherung übernahmen – ebenfalls wieder zu unterschiedlichen Bedingungen. In den siebziger Jahren verwalteten die Pensionsträger zusammen etwa 150 verschiedene Leistungsprogramme[7]. Problematisch dabei war, dass nicht notwendigerweise ein Zusammenhang zwischen Leistung (also Beitragshöhe und Mindestvoraussetzungen für den Anspruchserwerb) und Gegenleistung (Höhe und Anzahl der Ansprüche) bestand. Vielmehr war dieses Verhältnis ein unmittelbares Produkt des politischen Prozesses, denn bezahlt wurden alle Ansprüche aus einem gemeinsamen Pool. Das führte zu kaum nachvollziehbaren Ungleichbehandlungen unterschiedlicher Berufsgruppen. Rent seeking, also ein Minimieren der eigenen Einzahlungen bei einem gleichzeitigen Maximieren der Leistungen mittels politischer Einflussnahme, wurde attraktiv. Das wird beispielsweise daran ersichtlich, dass von den 11.395 Rentengesetzen und Rechtsverordnungen, die zwischen 1926 und 1963 erlassen wurden, nur 863 universalen Charakter hatten und die übrigen 10.532 nur für spezielle Gruppen galten[8]. Vor allem Frühverrentung, automatisierte Rentensteigerungen oder subventionierte Kredite durch die Kassen wurden zu beliebten Wahlgeschenken. Asymetrien bestanden bereits zwischen den Angehörigen der drei größten Kassen, besondere Vorzüge aber genossen die von kleinen, politisch gut organisierten Gruppierungen. So kam es, dass beispielsweise Bankangestellte nach 25 Beitragsjahren in Rente gehen konnten. Die offensichtlichste Privilegierung fand wohl bei den Kassen des Reitsports statt, wo es „nicht schwierig war, dreißigjährige Rentner zu finden [9] .

Ein weiteres Defizit des alten Systems bestand in der hohen Verwaltungsintensität. Für den rechtlichen Rahmen dieses komplexen Systems waren über 600 normengebende Institutionen vonnöten[10], was nicht nur mangelnde Transparenz, sondern auch hohe administrative Kosten bedeutete.

Das trug bei zur finanziellen Instabilität. Ende der sechziger Jahre konnten die Kassen, wiederum als Ganzes betrachtet, nur noch etwa zwei Drittel ihrer Ausgaben durch Beitragseinnahmen decken. Da die Beitragssätze, damals bereits auf einem Niveau von 16-26% (je nach Kasse), nicht beliebig erhöht werden konnten, und Kapitaleinkünfte, wie beschrieben, keine entscheidende Rolle mehr spielten, blieb die Notwendigkeit für Staatszuschüsse von etwa 30%. Dieser Beitrag sollte in den siebziger Jahren auf 40%, oder 3% des Sozialproduktes, ansteigen[11].

Trotz allem hat das alte Systems einer für Lateinamerika ungewöhnlich großen Zahl von Personen eine Grundabsicherung gewährt. Die Partizipationsraten von über 60% der Erwerbspersonen werden in Chile bis heute nicht übertroffen, trotz eines viel höheren ökonomischen Entwicklungsniveaus und weniger informeller Beschäftigung. Bis heute erreicht keines der Nachbarländer solche Werte[12]. Der verschärfte Niedergang der 1970er Jahre lag auch an Variablen, die außerhalb des Rentensystems lagen, wie einer schweren Wirtschaftskrise, dem sprunghaften Anstieg der Arbeitslosigkeit, der vorübergehenden Zunahme unsicherer Beschäftigungsverhältnisse ohne Sozialversicherung, und einem allmählich ansteigenden Altersquotienten. 1975 war die Wirtschaftsleistung um 13,3% gefallen, die Arbeitslosigkeit lag bis Mitte der achtziger Jahre zwischen 10% und 15%[13]. 1970 kamen auf eine Person im Alter von mindestens 65 Jahren noch 12 Personen im erwerbsfähigen Alter, 1980 nur noch 11,1[14]. José Pablo Arellano (1988), ein Befürworter des alten Systems, vermutet, die vorhandenen Schwierigkeiten wären auch innerhalb desselben lösbar gewesen[15].

1.2 Reformdiagnosen und –ansätze 1950-1980

Seit den fünfziger Jahren wurde die Entwicklung des Rentensystems in der chilenischen Politik als Problemfall erkannt, in der grundsätzlichen Bewertung bestand ein lagerübergreifender Konsens. Präsident Carlos Ibañez (1952-1958) beauftragte mit der Klein-Sachs-Kommission erstmals ein Expertengremium mit der Analyse. Dieses kam zu dem Ergebnis, es mangele an einer einheitlichen Systematik, die hohe finanzielle Belastung verhindere Beschäftigung und Investitionen, der Verwaltungsaufwand sei immens, und die wenigen Investitionen der Kassen hätten den Charakter von Gefälligkeiten, da sie vor allem in Baukrediten für ihre Mitglieder bestanden. Folgen hatte der Bericht nicht.

Der nationalkonservative Präsident Jorge Alessandri (1958-64) setzte zum gleichen Zweck die Prat-Kommission ein, die zu sehr ähnlichen Ergebnissen kam: Ihr Abschlussbericht attestierte dem System mangelnde Fairness, bürokratische Willkür, finanzielle Kurzsichtigkeit und eine kontinuierliche Abwertung der Renten für die Mehrheit der Versicherten durch Inflation und mangelnde Anpassung an diese.

Der christdemokratische Präsident Eduardo Frei (1964-1970) setzte ebenfalls verschiedene Expertengruppen ein und wiederholte im Prinzip die Kritikpunkte seiner Vorgänger: Beliebigkeit und Klientelismus, Überbürokratisierung und Ineffizienz, hohe Kosten und niedrige Renten. Frei brachte sogar einen Gesetzesentwurf, der mehr Standardisierung zum Ziel hatte, ins Parlament ein, fand aber keine Mehrheit.

Der marxistische Präsident Salvador Allende (1970-73) teilte die Kritik an der Ungleichbehandlung und versprach eine Ausweitung des Rentensystems auf bisher ausgeschlossene Bevölkerungsgruppen[16].

Nach dem Militärputsch gelang den Chicago Boys allmählich der Aufstieg in die wirtschaftlich relevanten Positionen[17]. Diese legten 1974 erstmals einen Plan vor, der eine Ablösung des Rentensystems durch individuelle Kapitalbildung mittels privater Intermediäre vorsah. Der Vorschlag, sowie auch verschiedene Neuauflagen in den Folgejahren, wurde von der Militärjunta jedoch zurückgewiesen[18]. So blieb das Rententhema anfangs auch in den Pinochet-Jahren eher unangetastet, kleinere Korrekturschritte innerhalb des bestehenden Systems waren die Angleichung der Mindestrenten 1974 und die Einführung der beitragsunabhängigen „Hilfsrente“ (PASIS) für die ärmsten Rentner 1975[19]. Erst die weitere Erosion des Rentensystems erhöhte allmählich die Kompromissbereitschaft, was dann zur Ernennung José Piñeras zum Arbeits- und Sozialminister führte.

Piñera schließlich standardisierte einige Systemvariablen. Ende 1978 wurde ein einheitliches Renteneintrittsalter, nämlich 65 Jahre für Männer und 60 Jahre für Frauen, beschlossen und stufenweise umgesetzt. 1979 wurde die Aktualisierungsform der Rentenhöhe angeglichen: Bis dahin reichte die Bandbreite von Kassen, deren Rentenzahlungen den Lohnerhöhungen ihrer Berufsgruppe automatisch folgten, bis hin zu solchen, die nicht einmal Inflationsanpassung vorsahen. Piñera beendete einerseits die Koppelung an Lohnerhöhungen, von denen etwas über 10% aller Rentner profitiert hatten[20], und führte andererseits eine universale Inflationsindexierung ein, die automatisch greifen sollte, sobald die Inflationsrate die Marke von 15% überstieg[21]. Für die Mindestbeitragszeit, die eine Kasse fordern konnte, wurde eine Untergrenze von zehn Jahren vorgeschrieben[22]. Auch dies waren Korrekturen innerhalb des bestehenden Systems, Piñera vermutete aber, dass künftige Regierungen diese wieder schrittweise zurücknehmen würden, und wollte die Altersvorsorge dauerhaft aus der politischen Entscheidungssphäre herauslösen. Das war nur möglich, wenn das staatlich organisierte Umlageverfahren vollständig durch ein privatwirtschaftlich organisiertes Kapitaldeckungsverfahren abgelöst würde, das auf individualisierten Rentensparkonten basierte. Mitte 1979 begann er, mit einer im Arbeitsministerium angesiedelten Expertengruppe einen Plan für eine solche Ablösung auszuarbeiten, dessen Rohfassung im April 1980 zunächst von Diktator Pinochet und der Legislative angenommen wurde[23]. Nachdem das Vorhaben am 1. Mai 1980 öffentlich bekannt gegeben wurde, begann sich jedoch Widerstand zu formieren. Einige Angehörige des bisherigen Systems, Sozialexperten, Angestellte der Rentenkassen, Oppositionspolitiker und Gewerkschaften bekundeten öffentlich ihre Ablehnung der Reform. Der Bruch in der Haltung zur Rentenreform ging aber auch durch die Regierung selbst. Die Generäle des „präsidialen Beratungskomitees“, eines Gremiums, das direkt Präsident Pinochet unterstand, lehnten Piñeras Vorschlag mehrheitlich ab. So kam es, dass Pinochet das Vorhaben im Sommer 1980 für vorerst beendet erklärte. Es folgte die Verfassungsabstimmung vom 11. September 1980, die u.a. die langsame Rückkehr zur Demokratie beschließen sollte, von vielen in der Regierung aber auch als Abstimmung über die Wirtschaftsreformen der Chicago Boys gewertet wurde. In diesem Sinne war die Abstimmung auch eine Kraftprobe zwischen den Generälen und den Chicago Boys, wäre sie abgelehnt worden, so wäre das Liberalisierungsexperiment in Chile möglicherweise beendet gewesen. Die Zustimmung von 65,7% aber veranlasste Piñera, die Gunst der Stunde zu nutzen und die Rentenreform erneut auf die Agenda zu setzen. Diesmal setzte er sich durch.

2. Der Übergang von der Umlage zur Kapitaldeckung

Die gesetzliche Grundlage für den Systemwechsel in der Altersvorsorge, Decreto Ley 3500, wurde am 6. November 1980 verabschiedet und sollte ein halbes Jahr später umgesetzt werden. Träger der neuen Form der Altersvorsorge sollten private Rentenfondverwalter sein, die sich nach Verabschiedung von DL 3500 bereits formieren, aber noch keiner Geschäftstätigkeit nachgehen konnten. Für diesen neu entstehenden Industriezweig wurde weiterhin festgeschrieben, dass seine Akteure in keinem zusätzlichen Geschäftsfeld aktiv sein konnten, da Zielkonflikte befürchtet wurden, dass sie sich aus einer lohnabhängigen Einheitsgebühr und wahlweise einer fixen Grundgebühr zu finanzieren hatten[24], und dass ihr Vermögen von den Investitionskonten ihrer Kunden strikt zu trennen sei. Dieser neue Unternehmenstyp, dem somit der Boden bereitet war, trug den Namen Administradora de Fondos de Pensiones (≈ “Rentenfondverwalter“), oder kurz AFP. Hauptaufgaben einer AFP sollten die Erstellung und Durchführung eines Investitionsplanes, des eigentlichen Fondo de Pensiones, und die Verwaltung und ständige Aktualisierung der Konten ihrer Mitglieder sein. Der Rentenfond selbst, obwohl streng genommen kein eigenständiges Unternehmen, sondern nur die Summe aller Konten seiner Mitglieder, sollte eine von der AFP selbst separierte juristische Entität sein, die von der möglichen Insolvenz einer AFP nicht betroffen sein sollte. Außerdem sollten die AFP sicherstellen, dass ihren Kunden bzw. deren Angehörigen im Bedarfsfall Invaliditäts- und Hinterbliebenenrenten ausgezahlt werden, wenngleich die AFPs diese nicht selbst bereitstellen sollten. Das sollte in Form von Gruppenverträgen mit Versicherungsgesellschaften geschehen, die die AFPs für ihre Mitglieder abschließen. Ökonomisch gesprochen bedeutet dies, dass sowohl die Vorsorge- als auch die Versicherungsfunktion der früheren Rentenkassen in eine privatwirtschaftliche Organisationsform übergeführt wurden[25].

Um die Operationen der AFPs zu überwachen wurde eine spezialisierte und teilautonome Aufsichtsbehörde, die Superintendencia de AFP (SAFP) geschaffen. Sie sollte Einhaltung von gesetzlichen Investitions- und Preisgestaltungsvorschriften sicherstellen und statistische Informationen zu den AFPs sammeln und veröffentlichen.

Zwischen drei Bevölkerungsgruppen wurde unterschieden: Die alten Kassen blieben grundsätzlich bestehen, um mit Steuermitteln die unveränderte Versorgung der Rentner des alten Systems zu gewährleisten. Neuzugänge zum Arbeitsmarkt sind seit dem 1. Januar 1983 zur Teilnahme am privatwirtschaftlichen System verpflichtet. Den bisherigen Beitragszahlern wurde die Wahl gelassen. Sie konnten zu unveränderten Konditionen bei ihrer bisherigen Kasse verbleiben, oder innerhalb von fünf Jahren zu einer AFP wechseln[26]. In diesem Falle wurde der Barwert ihrer bislang erworbenen Rentenansprüche nach einer Standardformel quantifiziert und ihnen in Form einer nicht-handelbaren Staatsanleihe, dem „Anerkennungsgutschein“, ausbezahlt. Der Anerkennungsgutschein ist einzulösen, wenn der Inhaber das legale Renteneintrittsalter erreicht. Die früheren Kassen wurden zu einer einzigen Organisation, dem „Institut für Rentenvereinheitlichung“ (INP), zusammengeführt, ihre unterschiedlichen Modalitäten blieben allerdings erhalten. Das INP bestreitet seine Ausgaben fast ausschließlich aus Steuermitteln, da sich schon 1981 zwei Drittel der Beitragszahler für den Wechsel entschieden[27]. Um den finanziellen Schock abzumildern wurde für die, die übertraten, eine Übergangssteuer in Höhe von 3% ihres Einkommens eingeführt, die in jedem Jahr um einen Prozentpunkt sank und 1984 auslief[28]. Das Übergangsdefizit, also die Summe aus dem „operationalen Defizit“ (den INP-Rentenzahlungen) und dem „Anerkennungsdefizit“ (dem Einlösen von Anerkennungsgutscheinen), lag seither zwischen 3% und 4% des Sozialproduktes[29] und hat seinen Höhepunkt vor kurzem überschritten[30].

Eine weitere Schwierigkeit der Übergangsphase war, dass individuelle Vermögensbildung eine Reihe von Kapitalmarktinstitutionen benötigt, die das Investieren großer Kapitalsummen überhaupt erst ermöglichen. Einige von diesen waren gar nicht oder nur in rudimentärer Form vorhanden. Es gab bis dato keine Rating-Agenturen zur Bewertung von Kreditrisiken, eine Aufgabe, die daher anfangs von einer staatlichen Kommission übernommen wurde. Die „Risikoklassifizierungskommission“ gibt es noch immer, aber die eigentliche Bewertung wird heute von privaten Finanzdienstleistern vorgenommen. Intermediäre für die Verwahrung festverzinslicher Anleihen gab es nur in unzureichender Anzahl und Größe. Diese Aufgabe wurde daher anfangs der Zentralbank übertragen.

Ähnlich verhielt es sich mit der Versicherungsindustrie. Den AFPs sollte die Pflicht obliegen, für ihre Mitglieder Versicherungsverträge zur Invaliditäts- und Hinterbliebenenversorgung abzuschließen. Auch sollten kommende AFP-Rentner die Möglichkeit haben, sich gegen das Risiko, die eigenen Rentenersparnisse zu Lebzeiten aufzubrauchen, abzusichern. Der Versicherungssektor war ebenso unterentwickelt, hier wurde aber keine staatliche Institution ersatzweise betraut, stattdessen wurde davon ausgegangen, der Sektor könne sich mit einigen gesetzlichen Modifikationen parallel zu dem der AFPs entwickeln. Für Versicherungen wurden Tarife liberalisiert, ausländisches Kapital zugelassen und Mindestkapitalreserven festgelegt[31].

Prozentuale Obergrenzen für einzelne Portfolio-Bestandteile sollten anfangs ebenfalls nur ein Provisorium sein. Langfristig sollte sich die staatliche Aufsicht darauf begrenzen, Transparenz sicherzustellen und Betrug zu unterbinden[32], nicht aber in die Investitionsstruktur selbst einzugreifen. Trotz deutlicher Lockerung der Begrenzungen ist diese Form der staatlichen Intervention jedoch prinzipiell erhalten geblieben.

3. Die Funktionsweise des AFP-Systems

Für abhängig Beschäftigte besteht die Pflicht, 10% ihres Bruttoeinkommens an eine AFP eigener Wahl abzuführen. Die Besteuerung ist ausschließlich nachgelagert, das gilt bis zu einer Obergrenze auch für die zusätzliche freiwillige Altersersparnis, genannt APV [33] [34] . AFPs unterhalten seit 2002 fünf Fonds (A-Fond bis E-Fond), die sich in Risiko und Rendite unterscheiden. Für jeden Fond besteht eine gesetzliche Ober- und Untergrenze bezüglich des Anteils an Aktiva mit variabler Verzinsung, von denen der A-Fond die meisten und der E-Fond gar keine enthält.

Tabelle 2: Schlüsselvariablen des Multifond-Systems, gültig seit 2002:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

-eigene Darstellung, Daten der SAFP (2006)

Bis zum 55. Lebensjahr sind alle Fonds frei wählbar, danach ist der A-Fond es nicht mehr, und für Rentner, die ihr AFP-Konto behalten möchten, auch der B-Fond nicht mehr. Die AFP kann jederzeit ohne Übertragsverluste gewechselt werden, ebenso wie der Fond innerhalb einer AFP. Zwei Fonds können kombiniert werden, zwei AFPs dagegen nicht, zumindest nicht innerhalb der Pflichtersparnis. Das gesetzliche Rentenalter beträgt nach wie vor 65 Jahre und 60 Jahre für Frauen, wer danach weiterhin arbeiten möchte, ist nach erreichen dieses Alters von der Beitragspflicht befreit und kann bereits Abhebungen vom AFP-Konto vornehmen. In Frührente gehen kann, wer mindestens 55 Jahre (Frauen: 50 Jahre) alt ist und genügend Kapital angespart hat, um damit eine Lohnersatzrate von mindestens 70% des eigenen Durchschnittsgehalts der letzten zehn Jahre zu erzielen. Dieser Wert betrug bislang 50% und wird gegenwärtig schrittweise angehoben, da die bisherige Regelung einen starken Anreiz zur Frühverrentung geboten hat. 60% aller derzeitigen AFP-Rentner sind Frührentner[35].

Es bestehen zwei grundsätzliche Auszahlungsmodi und beliebige Kombinationen aus diesen. Ein Rentner kann sein AFP-Konto beibehalten und monatliche Abhebungen vornehmen, für die eine alters- und kontostandsabhängige gesetzliche Obergrenze gilt, die jedes Jahr neu berechnet wird. In diesem Falle trägt er sämtliche Kursrisiken selbst, profitiert aber von eventuellen weiteren Kurssteigerungen, kann die AFP und/oder den Fond weiterhin wechseln und die Auszahlungshöhe -unter Beachtung der genannten Obergrenze- nach Bedarf variieren. Verbleibendes Kapital wird der Erbmasse zugeschlagen. Die zweite Grundoption ist die „Lebensrente“, bei der das gesamte Sparvermögen an eine Versicherung übertragen wird, die ihrem Kunden dann bis an sein Lebensende einen inflationsindexierten monatlichen Festbetrag auszahlt. (Die Lebensrente ähnelt somit der in Deutschland bekannten Leibrente [36] .) In diesem Falle ist er an die Versicherung gebunden und kann keine Vertragsvariable mehr variieren, trägt aber keine Risiken mehr. Eine Vererbungsoption kann vereinbart werden. Diese beiden Grundtypen können zeitgleich oder zeitlich versetzt kombiniert werden. Bei der zweiten Variante würde ein Rentner sein AFP-Konto weiterführen und eine Lebensrente erwerben, die nur fällig würde, wenn er ein bestimmtes Datum „überlebt“. Ökonomisch gesprochen bedeutet das, dass neben der schon erwähnten Invaliditäts- und Hinterbliebenensicherung auch die dritte Aufgabe eines Rentensystems mit Versicherungscharakter, nämlich die Absicherung gegen das „Überleben“ des eigenen Kapitalbestandes, privatisiert wurde. Im Gegensatz zu den beiden erstgenannten bleibt es hier dem Rentner überlassen, ob er sich gegen dieses Risiko überhaupt versichern will, und wenn ja, in welchem Umfang und in welcher Organisationsform.

Wer 20 Jahre lang Beitragszahlungen geleistet hat, erwirbt das Recht auf eine einheitliche, staatliche Mindestrenten-Garantie. Wer nicht genug Kapital angespart hat, um eine Monatszahlung in Höhe dieser Mindestrente (ca. US-$150, im höheren Alter mehr) zu erzielen, kann trotzdem Abhebungen in dieser Höhe vornehmen. Wenn das Konto aufgebraucht ist, setzt der Staat die Zahlung fort. Gegenwärtig nehmen etwa 11% aller AFP-Rentner die Mindestrente in Anspruch, die Kosten belaufen sich auf 0,1% des BIP[37]. Wer den Anspruch auf Mindestrente nicht erreicht, aber weniger als die Hälfte dieser zur Verfügung hat, hat ein Recht auf die 1975 eingeführte Hilfsrente, unabhängig davon, ob er vorher einer AFP, dem INP oder gar keinem Altersvorsorgesystem angehört hat. Die Hilfsrente beträgt stets die Hälfte der Mindestrente und wird derzeit von ca. 14% aller über siebzig Jährigen in Anspruch genommen[38]. Ihre Kosten belaufen sich auf etwa 0,4% des BIP[39]. Ökonomisch gesprochen bedeutet dieses Arrangement, dass die beiden Anliegen „Altersvorsorge“ und „Umverteilung“ strikt voneinander getrennt wurden. Umverteilung findet statt, aber sie wird aus allgemeinen Steuermitteln, nicht innerhalb des Rentensystems selbst vorgenommen. Dadurch greift sie in das Verhalten der AFPs nicht ein. (In das ihrer Kunden eventuell schon, hier besteht die Möglichkeit eines klassischen Moral Hazard -Verhaltens). Eine andere Form der Umverteilung ist allerdings innerhalb des AFP-Verfahrens verblieben: Die AFP-Gebühren bestehen aus lohnabhängigen Beiträgen, nicht aus Festpreisen.

4. Evolution seit 1981

Seit der Reform sind 25 Jahre vergangen, und die Pensionsfonds haben zusammengenommen Vermögenswerte in Höhe von über 60% des chilenischen BIP angespart[40], eine Größe, die noch immer hohes Wachstum verzeichnet.

Graphik 1: AFP-Aktiva in % des chilenischen BIP 1981-2005

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

-SAFP Statistiken (2006)

Die reale Jahresrendite betrug im Durchschnitt der bisherigen 25 Jahre 10%[41], mit einer Standardabweichung von 8,3.

Graphik 2: Reale Jahresrenditen der AFPs 1981-2005

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

-SAFP-Statistiken (2006) & AFP-AG Statistiken (2006)

Die Zahl der AFPs ist seit 1994 durch Übernahmen, aber auch durch drei vollständige Liquidationen[42], von 21 auf 6[43] gefallen. Einen Vermögensverlust für die betroffenen Kunden bedeutete das aber nicht. Bislang gibt es nur wenige AFP-Rentner, aber diese beziehen bei deutlich niedrigeren Beitragszahlungen eine höhere Rente als diejenigen des alten INP-Systems.

Tabelle 3: bisherige Ergebnisse des AFP-Systems

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

-eigene Darstellung, Daten von Larrain Rios (2005) and AFP-AG (2006)

Größere Betrugsfälle einer AFP sind bislang nicht bekannt geworden[44]. Eine kontinuierliche Liberalisierung der Investitionsmöglichkeiten hat stattgefunden und hat eine wesentliche Diversifizierung der AFP-Portfolios ermöglicht. Bestanden 1983 noch 97% der AFP-Aktiva aus Staatsanleihen und Anlagen im heimischen Finanzsektor, so beträgt dieser Anteil heute 46%, während Anlagen in der Privatwirtschaft 23% und Auslandsinvestitionen 30% ausmachen.

Graphik 3: Portfolio der AFPs, repräsentative Jahre

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

-SAFP Statistiken(2006)

Schwach ausgeprägt ist dagegen die Differenzierung zwischen den AFPs, also die Produktvielfalt des Marktes. Hauptgrund dürfte das „Renditeband“ sein: Unterschreitet die Rendite einer AFP die Durchschnittsrendite aller AFPs um mehr als zwei Prozentpunkte (A- und B-Fond: vier Prozentpunkte), so muss die AFP die Differenz aus ihrem eigenen Vermögen begleichen. Das bedeutet einen Anreiz für ein möglichst ähnliches Investitionsverhalten, weswegen die Portfolios innerhalb eines Fond-Typs auch recht homogen sind. Die monatlichen Kommissionen sind relativ zur Einführungsphase von 4,87% (1983) eines durchschnittlichen Bruttogehaltes auf 2,42%[45] gefallen, variable und fixe Gebühr zusammengenommen. Das liegt auch daran, dass sich die darin enthaltene Versicherungsgebühr für Arbeitsunfähigkeit und Hinterbliebenenversorgung von anfangs 2% im gleichen Zeitraum halbiert hat[46]. Die Partizipationsrate liegt mit ca. 60% der Erwerbspersonen um mehr als 10 Prozentpunkte höher als bei der Einführung und deutlich über den Werten aller Nachbarländer. Andererseits wurden ähnliche Werte schon in den siebziger Jahren erreicht, damals allerdings auf einem wesentlich niedrigeren Wohlstandsniveau. Wer nur sporadisch Einzahlungen auf sein AFP-Konto tätigt, wird im Alter kaum ausreichend über Mittel verfügen, sich aber auch nicht für die Mindestrente qualifizieren. Diese ist an eine Beitragsbiographie von 20 Jahren geknüpft. Vielen wird daher nur die nicht-kontributive Hilfsrente bleiben, die alleine nicht das Existenzminimum sichern kann.

Graphik 4: Partizipationsrate des Rentensystems 1975-2005

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

-eigene Darstellung, Daten vom Consejo Asesor para la Reforma Previsional

II. THEORETISCHE KLASSIFIZIERUNG

“[E]s ist zu fragen, ob an die Stelle der menschlichen Individualität, der Selbstbestimmung, der freien Initiative des mündigen Staatsangehörigen, die Oberaufsicht der Polizei und die fürsorgende Hand des Staats gesetzt werden soll. “

-Ludwig Bamberger (1881)

„Die Arbeiter sollen sich gewissermaßen betrachten lernen als solche, die in dieser Beziehung Staatspensionäre sind, und sollen also auch ein Gefühl der Abhängigkeit bekommen, wie es Staatspensionären vielfach eigentümlich ist.“

-Eugen Richter (1884)

1. Systeme und Ordnungen

Welche Varianten der Altersvorsorge sind theoretisch vorstellbar, und wie sind die unterschiedlichen Bestandteile des chilenischen Arrangements in diesem Sinne zu klassifizieren? An dieser Stelle erscheint es hilfreich, mit der grundsätzlichen Frage zu beginnen, ob denn die Altersvorsorge auch in vollkommen staatsfreier Form denkbar wäre, und wenn ja, welche Organisationsform in einem Szenario ohne Staat wahrscheinlich wäre. Altersversorgung findet immer in irgendeiner Form statt. In informellen Ökonomien, in denen die erwerbstätigen Individuen jeweils ihre Eltern im Alter versorgen, könnte man von einem freiwilligen Umlageverfahren sprechen. In diesem obliegt aber die Versorgung eines konkreten Individuums einigen wenigen Personen, es besteht eventuell keine Risikoabsicherung für den Fall, dass diese selbst in wirtschaftliche Notsituationen geraten oder frühzeitig versterben. Auch ist diese Versorgungsform stark an traditionelle familiäre und dörfliche Bindungsstrukturen einer wenig mobilen Gesellschaft geknüpft, die meistens mit zunehmender wirtschaftlicher Entwicklung allmählich an Bedeutung verlieren. Daher ist es nahe liegend, dass mit allmählicher Formalisierung der Ökonomie, also der Einbindung der Erwerbsprozesse in vertraglich organisierte und arbeitsteilige Strukturen, auch eine Nachfrage nach formalisierteren Arten der Altersabsicherung entsteht. Diese können nur in individualisierter Ersparnisbildung bestehen, denn niemand würde Leistungszusagen eines privaten Unternehmens als glaubwürdig betrachten, die nicht durch Rückstellungen gedeckt sind und zu deren Zahlung niemand verpflichtet werden kann. Freiwillige Umlage kann es also nur in sehr kleinen Gemeinschaften geben, die ja gerade keine breite Risikoverteilung zulassen. Ersparnisbildung mit dem spezifischen Ziel der Altersvorsorge müsste demnach mit dem Entstehen von Kapitalmarktinstitutionen langsam aufkommen. Historisch ist auch genau das beobachtbar. Mit der Etablierung eines immer universaleren Kreditwesens in den Hochburgen des vorindustriellen Handelskapitalismus, etwa in den Niederlanden des 18. Jahrhunderts, wurde die Bildung von Altersersparnissen und der Erwerb von Leibrenten üblich[47]. Diese Tendenz verstärkte sich mit der Industrialisierung, mit der eine größere Vielfalt von Kreditinstituten und Sparinstrumenten entstand. Wo Personen mit geringem Einkommen noch keinen Zugang zu gewinnorientierten Institutionen fanden, entstanden Selbsthilfeorganisationen wie die britischen Friendly Societies und die deutschen Genossenschaften und „Gewerkvereine“. Was solche gewinnorientierten oder genossenschaftlichen Unternehmen praktizierten, war nichts anderes als Altersvorsorge durch Kapitaldeckung – wenn auch selbstverständlich noch nicht mit universaler Partizipation. In Großbritannien aber entstand eine umfassende staatliche Alterssicherung erst mit dem Nachkriegs-Wohlfahrtsstaat, bis dahin war die private Vorsorge weit fortgeschritten. Bei einer Bevölkerung von damals 50 Millionen bestanden in den frühen fünfziger Jahren 9 Millionen Lebensversicherungsverträge, sowie 88 Millionen weitere Versicherungspolicen, von denen einige Altersvorsorgecharakter hatten. 23 Millionen Sparkonten wurden bei der Post Office Savings Bank unterhalten, 8 Millionen Konten bei Genossenschaftsbanken, 3,5 Millionen Beteiligungen an Building Societies, und 14 Millionen Konten bei „Konsumgenossenschaften“. 6,25 Millionen Arbeitnehmer nahmen Teil an Betriebsrenten-Programmen. Rechnet man Immobilienbesitz hinzu, so waren damals Vermögenswerte in Höhe von mehr als dem Doppelten des damaligen britischen Sozialproduktes gebildet worden[48]. Staatsfreie Altersvorsorge ist also vorstellbar. Das bedeutet noch lange nicht, dass ein ganz oder teilweise staatlich organisiertes System nicht pareto-superior sein könnte, aber zumindest kann ein solches nicht mit einem generellen Marktversagen begründet werden. In Abwesenheit staatlicher Mechanismen wäre es wahrscheinlich, dass die Absicherung gegen Krankheit, Pflegebedürftigkeit usw. von privaten Versicherungen organisiert würde. Sobald die Wirkungsweise von Versicherungen analysiert wird, muss die Frage gestellt werden, ob die Möglichkeiten von adverser Selektion, bewusster Risikoselektion und Moral Hazard gegeben sind, die die Versicherbarkeit eines Risikos erschweren oder sogar unmöglich machen können. Für die Altersvorsorge gilt das nicht, denn auch wenn sich der Begriff „Rentenversicherung“ eingebürgert hat, und es Zusatzfunktionen mit Versicherungscharakter gibt, ist das Alter als solches kein Versicherungsrisiko[49]. Daher wäre in einer staatsfreien Welt auch nicht in erster Linie die Versicherung, sondern die Vermögensbildung die adäquate Antwort darauf. Bei dieser haben die Anbieter nicht per se einen Anreiz, bestimmte Bevölkerungsgruppen auszuschließen, und die Nachfrager keinen, sich „fahrlässiger“ zu verhalten.

Es ist im Sinne des oben Beschriebenen zumindest unpräzise, wenn in der ökonomischen Literatur manchmal von einem „kapitalgedeckten Rentensystem“ die Rede ist. Ein „System“ ist etwas bewusst und mit einem wohl definierten Ziel entworfenes, ein Konstrukt[50]. Kapitaldeckung ist kein System, sondern ein Gebilde, welches man mit Friedrich Hayek als „spontane Ordnung“ oder mit Robert Nef als „Non-System“ bezeichnen könnte: Individuelle Akteure gehen wechselseitige Vertragsbeziehungen ein, bei denen sie jeweils ganz unterschiedliche Zielsetzungen verfolgen. Haushalte möchten Konsum über die Zeit transferieren, Unternehmen suchen nach langfristigen Finanzierungsquellen, Kreditinstitute entstehen als Intermediäre, die die Einsparung von Transaktionskosten zu ihrer Geschäftsgrundlage machen. Mit einem steigenden Vertiefungsgrad kommen sekundäre institutionelle Akteure wie Rating-Agenturen hinzu, aber keiner der Beteiligten hat jemals das Ziel, ein „kapitalgedecktes Rentensystem“ „einzuführen“.

Das mag überraschend klingen, denn die Entstehung des chilenischen Models entstand alles andere als spontan, sondern nach einem minutiösen Plan. Die AFP-Industrie hat sogar, möglicherweise als einzige private Industrie der Welt, ein exaktes Entstehungsdatum, den 1. Mai 1981. Hier gilt es aber zu differenzieren: Was einem Plan folgte und somit den Charakter eines Systems hat, ist die spezifische Organisationsform. Die Marktstruktur, die Zahl der Fonds, die Investitionsstruktur: all das wäre ohne staatliche Beteiligung möglicherweise völlig anders, Rentensparkonten gäbe es allerdings sicher auch ohne staatliche Vorgaben. Daher ist es zwar angebracht, vom „AFP-System“ zu sprechen, nicht aber vom “kapitalgedeckten System“. Bevor Renditen, Risiken und andere Variablen verglichen werden, sei dieser wesentliche Unterschied zwischen Kapitaldeckung und Umlage herausgestellt: Die umlagefinanzierte Rente ist ein System, die kapitalgedeckte ist auch als Ordnung vorstellbar.

2. Vorstellbare Alterssicherungsverfahren

Theoretisch lassen sich Altersvorsorgesysteme anhand folgender Unterscheidungsvariablen klassifizieren[51]:

- Finanzierungsform: umlagefinanziert oder kapitalgedeckt
- Trägerschaft: staatlich oder privat
- Marktform: monopolistisch oder gegliedert bzw. wettbewerblich
- Kontrollvariable: konstantes Leistungsniveau oder konstanter Beitragssatz
- Eigentumsform: kollektiv oder individualisiert
- Risikoausgleich: Verfahren mit und Verfahren ohne einen solchen

Beim vorletzten Punkt geht es darum, ob jemand konkret bezifferbare, einklagbare Eigentumsansprüche erwirbt, oder ob die Einzahlungen gepoolt werden und der Einzelne Zuweisungen nach einer bestimmten Formel erhält. Mit dem letzten Punkt ist die Absicherung gegen das Risiko, die eigenen Altersansprüche vorzeitig aufzubrauchen, gemeint.

In der politischen Alltagsdebatte werden meist die Ausprägungen umlagefinanziert-staatlich-monopolistisch-kollektiv-risikoausgeglichen einerseits und kapitalgedeckt-privat-wettbewerblich-individualisiert-risikohaltig als einander zugehörig dargestellt. Mischformen sind dagegen durchaus vorstellbar. Der Punkt des Risikoausgleichs ist dabei der banalste, der deswegen gleich zu Beginn abgehandelt werden soll. In einem Umlagesystem besteht der Ausgleich zumeist automatisch, Rentenansprüche werden in der Regel bis ans Lebensende gezahlt. Ein Umlageverfahren, in dem Rentenansprüche nur für eine bestimmte Zeitspanne, etwa in Abhängigkeit von der Zahl der Beitragsjahre, gewährt werden, ist aber theoretisch vorstellbar. In einem Kapitaldeckungsverfahren spart jeder Teilnehmer einen individuellen Kapitalstock an, der natürlich auch aufgebraucht werden kann. Eine Leibrente, die zu einem vereinbarten Zeitpunkt in der Zukunft einsetzt, kann aber als eine „Überlebensversicherung“ aufgefasst werden. Probleme, die manche Arten der Versicherung erschweren, wie Moral Hazard, bestehen hierbei kaum. Niemand wird nur aus dem Grunde ein langes Leben anstreben, dass er für diesen Fall versichert ist. Auch die Informationsasymetrie ist begrenzt: Der Versicherungsnehmer kann seine verbleibende Lebensdauer vermutlich selbst nicht wesentlich besser einschätzen als der Versicherer. Der Risikoausgleich kann also im Weiteren ignoriert werden.

Ein Umlagesystem kann, aus den erwähnten Gründen, nicht privat angeboten werden. Bestenfalls könnten einige administrative Aufgaben an eine private Firma ausgegliedert werden, aber der Staat wäre in jedem Fall Auftraggeber und Entscheidungsträger. Aus gegliederten Kassen kann es durchaus bestehen, wie es in Chile vor 1981 der Fall war. Diese sind dann aber auf Mitgliederzuweisung, z.B. berufsbezogen, angewiesen. Im Wettbewerb zueinander mit Wahlfreiheit können sie nicht stehen, weil sich sonst das gleiche Problem ergäbe wie bei Privaten, es sei denn innerhalb eines äußerst komplizierten Risikostrukturausgleichs. Sowohl der Beitragssatz als auch das Leistungsniveau können konstant gehalten werden, das „konstante Leistungsniveau“ kann aber stets nur in eingeschränktem Sinne garantiert werden, da der Beitragssatz nicht beliebig steigen kann[52]. Ein Umlageverfahren, bei dem Einzahlungen zu einem einklagbaren Anspruch auf konkrete Geldsummen führen, ist vorstellbar, solche „virtuellen Konten“ gibt es in Polen[53] und Schweden[54]. Die praktische Relevanz dieser Einklagbarkeit ist aber sehr fraglich, denn die Garantie ist nicht durch greifbare Vermögenswerte gedeckt. Fehlen dem Rentenversicherungsträger die Mittel um sie zu erfüllen, so bleibt ihm außer der Verschuldung nur der Weg der Beitragserhöhung, und Einklagbarkeit eines bezifferbaren Anspruchs müsste letztendlich das Recht der Rentner bedeuten, höhere Rentenbeitragssätze herbeizuklagen.

Besser vorstellbar wäre ein staatlich organisiertes Kapitaldeckungsverfahren. Bei diesem wäre ein konstantes Leistungsniveau theoretisch möglich, aber mit der Schwierigkeit behaftet, dass der Renditeverlauf unmöglich für Jahrzehnte vorausgesagt werden kann. Sehr große Schwankungs-Kapitalreserven müssten aufgebaut werden. Mit einem kollektiven Pool würde dieses Verfahren wohl nicht lange Bestand haben, denn der Aufbau von kollektiven Reserven widerspricht dem generellen Anreizsystem der Politik. Staatsdiener sind Verwalter, sie sind keine Eigentümer und auch nicht von solchen vertraglich beauftragt. Anders als für Eigentümer besteht für sie daher zumindest kein ökonomischer Anreiz, den Kapitalwert der von ihnen kontrollierten Ressourcen, also deren langfristigen Vermögenswert, zu maximieren[55]. Eine Maximierung der „politischen Rente“, also Einfluss, Ansehen und Bedeutsamkeit, legt eher hohe Staatsausgaben nahe als hohe Investitionen, zumindest, wenn deren Vorzüge erst nach langer Zeit sichtbar werden[56]. Kommt es trotzdem zum Aufbau von Reserven, so besteht stets politischer Druck, diese für konsumtive Zwecke vorzeitig auszugeben. Beispiele sind die früheren chilenischen Rentenkassen, die ihre Rücklagen fast vollständig aufzehrten, und der britische National Insurance Fund, von dessen Rücklagen bereits im ersten Jahr seines Bestehens Gebrauch gemacht wurde[57]. Selbst auf die Schwankungsreserven der deutschen Rentenversicherungsanstalt, der einzigen Rücklage die diese unterhält, wurde bereits politisch motiviert zugegriffen. Mit individualisierten Konten, von Eigentümern geführt, wäre die Situation bereits eine etwas andere. In Singapur, Hongkong und Malaysia gibt es „Central Providence Funds“, bei denen der Staat einen Kapitalstock aufbaut, vor allem durch die Finanzierung öffentlicher Infrastruktur- und Bauprojekte.

[...]


[1] Congressional Budget Office Paper (1999); S. 43 ff

[2] Arenas de Mesa (2000) S.20

[3] Arellano (1985) zitiert in Arenas de Mesa et al (2004) S.8

[4] Vgl. Rofman (2005) S. 31

[5] Godoy & Valdés (1994) S. 138

[6] Vgl. SAFP-Veröffentlichungen (2006) S.35

[7] Favre et al S.11

[8] Piñera (1990) S.3

[9] Pinera (1990) S.11 Übersetzung des Autors

[10] Arenas de Mesa (2000) S.12

[11] SAFP Veröffentlichungen (2006) S.35

[12] vgl. Rofman (2003) S.31

[13] Cáceres & Larroulet (2006)

[14] Eigene Berechnung, basierend auf Daten von INE&CEPAL (2002)

[15] Arellano (1988)

[16] Bericht der Klein-Sachs-Kommission (1956), Prat-Bericht (1960), Präsidialansprachen von Eduardo Frei und Salvador Allende zitiert in Godoy & Valdés (1994) S. 137ff

[17] Valdés (1995)

Die Militär-Junta Augusto Pinochets verfügte, abgesehen von einer diffusen Fixierung auf die „nationale Sicherheit“, über keine präzise Ideologie, am wenigsten in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Das Militär war, seinem Ruf als „Staat im Staate“ gemäß, mit äußerster Vorsicht darauf bedacht, nicht als Interessenvertreter einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe zu gelten. Die Ideen der Chicago Boys waren in Chile völlig unbekannt, so wie ökonomischer Liberalismus dort generell über keinerlei heimische Tradition verfügte. Sie galten im positiven Sinne als ausländischer Fremdkörper, nämlich als garantiert „unparteiisch“. Hinzu kam die fachliche Autorität der Ausbildung an der University of Chicago. „ Los Chicago Boys “ wurde ein im chilenischen spanisch gebräuchlicher Ausdruck.

[18] Acuña & Iglesias S.433

[19] Favre et al (2006) S.12

[20] Piñera (1990) S. 13

[21] SAFP Veröffentlichungen (2006) S. 29

[22] Acuña & Iglesias S.450

[23] Piñera (1990) S.32 ff

[24] In den ersten Jahren war zusätzlich eine kontostandsabhängige Gebühr gestattet, die aber bald verboten wurde.

[25] Nicht eingeschlossen sind Arbeitsunfälle, aber auch diese können privat abgesichert werden.

[26] Piñera (1980)

[27] CAPRP (2006) S.3

[28] Piñera (1990) S.27

[29] Corbo & Schmidt-Hebbel (2003)

[30] Think Tank Libertad y Desarrollo (2005) S. 2

[31] SAFP Veröffentlichungen S.44

[32] Acuña & Iglesias S.450

[33] sofern nicht anders angegeben, stammen alle Angaben dieses Unterkapitels von der AFP-Aufsichtsbehörde SAFP (2006)

[34] APV-Konten sind weit weniger streng reguliert als AFP-Konten, beispielsweise können sie jederzeit aufgelöst und auch von anderen Institutionen als AFPs betrieben werden; siehe SAFP Veröffentlichungen (2006a)

[35] Berstein, Larrain & Pino (2005) S.13

[36] definiert nach Breyer (1990) S.47

[37] Soto (2005) S.6

[38] Larrain Rios (2005)

[39] Think Tank Libertad y Desarrollo (2005)

[40] Favre et al (2006) S.19

[41] AFP-AG Statistiken (2006)

[42] SAFP Statistiken (2006)

[43] Marcel, CAPRP (2006)

[44] Marcel (2006)

[45] AFP-AG Statistiken (2006)

[46] Piñera [Jahr nicht angegeben]

[47] Homer (1963) zitiert in Homburg (1988) S. 8 Fußnote

[48] Seldon (1996) S. 64

[49] Booth (2005) S. 86ff

[50] Vgl. z.B. Baader (2004) S. 83-86

[51] Klassifizierung teils nach Homburg (1988), teils nach Breyer (1990), teils eigene

[52] In Deutschland ist die Lohnersatzrate in den letzten Jahren mehrfach geändert worden, während die 20%-Marke beim Beitragssatz zu einer Art symbolischer Schwelle wurde.

[53] Ostaszewski (2005)

[54] Palmer

[55] Hoppe (2003) S. 68-89

[56] Blankart (2003) S. 402f

[57] Seldon (1996) S.66+

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2007
ISBN (eBook)
9783836606677
DOI
10.3239/9783836606677
Dateigröße
840 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin – Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Volkswirtschaftslehre
Erscheinungsdatum
2007 (November)
Note
1,3
Schlagworte
altersvorsorge kapitaldeckungsverfahren chile rentensysteme sozialpolitik
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Titel: Die kapitalgedeckte Altersvorsorge am Beispiel Chile
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