Lade Inhalt...

Zusammenhänge zwischen Mediennutzung und Gewalthandlungen bei Kindern

Perspektiven für die pädagogische Arbeit

©2006 Diplomarbeit 144 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:

Im Mittelpunkt der vorliegenden Diplomarbeit steht die Frage nach den Zusammenhängen zwischen medial erlebter Gewalt und aggressivem Verhalten von Kindern. Die Diskussion um Medienwirkungen ist dabei so alt wie die Medien selbst: Bereits seit der Antike wird über den Einfluss rezipierter Gewalt auf das tatsächliche Gewaltverhalten der Zuschauer nachgedacht (vgl. Merten 1999, 9). Die Thematik ist folglich weder neu, noch hat sie bisher an Brisanz verloren, denn das Interesse der Öffentlichkeit, Politiker und Pädagogen richtet sich noch immer auf mögliche negative Auswirkungen dargestellter Gewalt.
In den Blick geraten vor allem Massenmedien wie Film und Fernsehen und inzwischen auch Computerspiele, die sowohl für die allgemeine Kriminalitätsentwicklung, als auch für spektakuläre Einzeltaten zur Verantwortung gezogen werden, wie der jüngste Fall um den Amoklauf des Robert Steinhäuser zeigte.
Allgemein wird befürchtet, dass das häufige Ansehen von Gewaltszenen zu aggressiven Verhaltensweisen führt. Diese Besorgnis richtet sich hauptsächlich auf Kinder und Jugendliche, denn sie gelten in allen Gesellschaften als Ausdruck sozialer Hoffnung; ihr Werte- und Normensystem wird als leicht beeinflussbar betrachtet (vgl. Merten 1999, 212). Jede Bedrohung oder Gefahr des kindlichen Wohlergehens gilt gewissermaßen als Bedrohung oder Gefahr für die Gesellschaft selbst. Die Ängste der Bevölkerung sind deshalb besonders stark ausgeprägt.
Trotz der lang währenden Diskussion und inzwischen über 5.000 erschienener Untersuchungen, sind die Wirkungsweisen von Gewaltdarstellungen bislang nicht eindeutig geklärt (Kunczik/Zipfel 2002, 110). Dessen ungeachtet betrachtet der öffentliche Diskurs die schädigenden Effekte der Medien bereits als erwiesen und geht von vermeintlich einfachen Verursachungszusammenhängen zwischen medialer und realer Gewalt aus. Ein Grund hierfür ist vermutlich darin zu sehen, dass nahezu jeder täglichen Umgang mit Medien hat und so über eine eigene Beurteilungsgrundlage zu verfügen meint.
Die öffentliche Diskussion wird weniger von den Ergebnissen der wissenschaftlichen Gewaltforschung geprägt als vielmehr von populärwissenschaftlichen Publikationen mit unbewiesenen Behauptungen. So gelangt der wissenschaftlich bereits widerlegte monokausale Zusammenhang zwischen medialer und realer Gewalt immer wieder neu in den Fokus der Aufmerksamkeit.
Diese Diskrepanz zwischen öffentlicher Meinung und seriöser wissenschaftlicher […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Manuela Altendorf
Zusammenhänge zwischen Mediennutzung und Gewalthandlungen bei Kindern
Perspektiven für die pädagogische Arbeit
ISBN-10: 3-8324-9999-7
ISBN-13: 978-3-8324-9999-0
Druck Diplomica® GmbH, Hamburg, 2006
Zugl. Universität Hannover, Hannover, Deutschland, Diplomarbeit, 2006
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte,
insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von
Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der
Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen,
bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung
dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen
der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik
Deutschland in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich
vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des
Urheberrechtes.
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in
diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme,
dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei
zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
Die Informationen in diesem Werk wurden mit Sorgfalt erarbeitet. Dennoch können
Fehler nicht vollständig ausgeschlossen werden, und die Diplomarbeiten Agentur, die
Autoren oder Übersetzer übernehmen keine juristische Verantwortung oder irgendeine
Haftung für evtl. verbliebene fehlerhafte Angaben und deren Folgen.
© Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2006
Printed in Germany

Inhalt
Seite
Einleitung... 3
1. Der Gewaltbegriff... 6
1.1 Die Problematik des Gewaltbegriffs... 6
1.2 Ein umfassendes Gewaltverständnis... 9
1.2.1 Mediale Gewalt... 12
1.3 Zusammenfassung... 16
2. Medienumgang und kindliche Entwicklung... 18
2.1 Medienbezogene Fähigkeiten im Entwicklungsverlauf... 19
2.2 Das kindliche Gewaltverständnis... 27
3. Bildschirmspiele... 31
3.1 Definition und Merkmale... 32
3.2 Mediennutzung und Spielpräferenzen... 34
3.2.1 Geschlechtsspezifisches Medienverhalten... 38
3.2.2 Spielpräferenzen... 40
3.2.3 Zusammenfassung... 45
3.3 Faszinationskraft Bildschirmspiel... 46
3.4 Gewalthaltige Bildschirmspiele... 50
3.4.1 Klassifizierung von Bildschirmspielen... 51
3.4.2 Verbreitung gewalthaltiger Bildschirmspiele... 63
3.4.2.1 Alterseinstufungen von Bildschirmspielen... 65
4. Fernsehen... 68
4.1 Nutzungs- und Sehgewohnheiten... 68
4.1.1 Zusammenfassung... 76
4.2 Das Gewaltprofil des Fernsehens... 77

Inhalt
Seite
5. Wirkungen von Gewaltdarstellungen... 81
5.1 Theoretische Ansätze... 83
5.1.1 Kultivierungsthese... 84
5.1.2 Katharsisthese... 84
5.1.3 Inhibitionsthese... 86
5.1.4 Habitualisierungsthese... 86
5.1.5 Suggestionsthese... 88
5.1.6 Lerntheorie... 90
5.1.7 Arousal-Theorien... 92
5.1.8 Stimulationsthese... 93
5.2 Wirkungen von Gewalt in Bildschirmspielen... 94
5.3 Wirkungsmodelle... 95
5.4 Einflussfaktoren... 98
5.4.1 Mediale Faktoren... 99
5.4.2 Personenvariablen... 102
5.4.3 Soziales Umfeld... 103
5.5 Gewalt durch Gewalt in den Medien?... 105
6. Medienpädagogische Interventionsstrategien... 109
6.1 Medienkompetenz... 109
6.2 Medienpädagogische Maßnahmen... 114
6.2.1 Elterliche Interventionsstrategien... 114
6.2.2 Der Hardliner-Ansatz... 116
Schlussbetrachtung... 120
Literaturverzeichnis
Eidesstattliche Erklärung
CD

Einleitung
3
Einleitung
Im Mittelpunkt der vorliegenden Diplomarbeit steht die Frage nach den
Zusammenhängen zwischen medial erlebter Gewalt und aggressivem Verhalten von
Kindern. Die Diskussion um Medienwirkungen ist dabei so alt wie die Medien selbst:
Bereits seit der Antike wird über den Einfluss rezipierter Gewalt auf das tatsächliche
Gewaltverhalten der Zuschauer nachgedacht (vgl. Merten 1999, 9). Die Thematik ist
folglich weder neu, noch hat sie bisher an Brisanz verloren, denn das Interesse der
Öffentlichkeit, Politiker und Pädagogen richtet sich noch immer auf mögliche
negative Auswirkungen dargestellter Gewalt.
In den Blick geraten vor allem Massenmedien wie Film und Fernsehen und
inzwischen
auch
Computerspiele,
die
sowohl
für
die
allgemeine
Kriminalitätsentwicklung, als auch für spektakuläre Einzeltaten zur Verantwortung
gezogen werden, wie der jüngste Fall um den Amoklauf des Robert Steinhäuser
zeigte.
Allgemein wird befürchtet, dass das häufige Ansehen von Gewaltszenen zu
aggressiven Verhaltensweisen führt. Diese Besorgnis richtet sich hauptsächlich auf
Kinder und Jugendliche, denn sie gelten in allen Gesellschaften als Ausdruck
sozialer Hoffnung; ihr Werte- und Normensystem wird als leicht beeinflussbar
betrachtet (vgl. Merten 1999, 212). Jede Bedrohung oder Gefahr des kindlichen
Wohlergehens gilt gewissermaßen als Bedrohung oder Gefahr für die Gesellschaft
selbst. Die Ängste der Bevölkerung sind deshalb besonders stark ausgeprägt.
Trotz der lang währenden Diskussion und inzwischen über 5.000 erschienener
Untersuchungen, sind die Wirkungsweisen von Gewaltdarstellungen bislang nicht
eindeutig geklärt (Kunczik/Zipfel 2002, 110). Dessen ungeachtet betrachtet der
öffentliche Diskurs die schädigenden Effekte der Medien bereits als erwiesen und
geht von vermeintlich einfachen Verursachungszusammenhängen zwischen
medialer und realer Gewalt aus. Ein Grund hierfür ist vermutlich darin zu sehen, dass
nahezu jeder täglichen Umgang mit Medien hat und so über eine eigene
Beurteilungsgrundlage zu verfügen meint.
Die öffentliche Diskussion wird weniger von den Ergebnissen der wissenschaftlichen
Gewaltforschung geprägt als vielmehr von populärwissenschaftlichen Publikationen

Einleitung
4
mit unbewiesenen Behauptungen. So gelangt der wissenschaftlich bereits widerlegte
monokausale Zusammenhang zwischen medialer und realer Gewalt immer wieder
neu in den Fokus der Aufmerksamkeit.
Diese Diskrepanz zwischen öffentlicher Meinung und seriöser wissenschaftlicher
Forschung ist ein Thema, dass in Kapitel 5 behandelt wird.
Zunächst
jedoch
soll
sich
im
ersten
Kapitel
mit
dem
Gewaltbegriff
auseinandergesetzt und gezeigt werden, weshalb eine präzise Definition bei der
Untersuchung möglicher Zusammenhänge zwischen medialer und realer Gewalt
unerlässlich ist. Zudem wird versucht, ein umfassendes Gewaltverständnis zu
entwickeln, das reale und mediale Gewaltphänomene einschließt und ihr Verhältnis
zueinander beleuchtet.
Da die Diskussion über mediale Wirkungen wenig Sinn ergibt, wenn unklar bleibt, wie
Kinder Medien und darin enthaltene Gewaltdarstellungen im Laufe ihrer Entwicklung
wahrnehmen, soll dieser Aspekt Gegenstand des zweiten Kapitels sein. In
Anlehnung an die gesetzliche Wortverwendung gilt im Folgenden als Kind, wer das
14. Lebensjahr noch nicht vollendet hat (vgl. Sozialgesetzbuch Achtes Buch, § 7
Abs. 1).
In den weiteren Ausführungen stehen die audiovisuellen Medien Fernsehen und
Bildschirmspiel im Mittelpunkt, die häufig mit medialen Gewaltinhalten in Verbindung
gebracht werden. Kapitel 3 und 4 fragen zunächst nach den Nutzungszahlen dieser
Medien. Die im Folgenden referierten statistischen Angaben beziehen sich dabei
ausschließlich auf Deutschland. Die Betrachtung internationaler Zahlen wäre zwar
höchst interessant, würde aber den Rahmen dieser Arbeit sprengen.
Ein besonderer Schwerpunkt wurde auf das relativ neue Medium Bildschirmspiel
gelegt, das eine große Faszinationskraft auf Kinder ausübt und in Kapitel 3 behandelt
wird. Hier soll u.a. geklärt werden, welche Spiele und Spielgenres als gewalthaltig zu
klassifizieren sind und wie hoch ihre Verbreitung auf dem Spielemarkt ist. Zur
besseren Veranschaulichung der beschriebenen Spiele liegt dieser Arbeit eine CD
bei, die verschiedene Spielausschnitte beinhaltet.
Das vierte Kapitel bezieht sich ausschließlich auf das Medium Fernsehen. Neben
den Nutzungs- und Sehgewohnheiten von Kindern erfolgt eine Darstellung
inhaltsanalytischer Studien, aus denen sich ableiten lässt, wie viel und welche Arten

Einleitung
5
von
Gewalt
im
deutschen
Fernsehprogramm
gesendet
werden.
Die
Gewaltdarstellungen im Fernsehen werden im Folgenden verkürzt als Fernsehgewalt
bezeichnet.
Das
fünfte
Kapitel
gibt
schließlich
einen
Überblick
über
die
Medienwirkungsforschung, beginnend mit der Veranschaulichung verschiedener
theoretischer Ansätze zur Wirkung von Gewaltbildern. Es folgen u.a. die Darstellung
wichtiger Wirkungsmodelle und die Erläuterung von Problemen bei der
Wirkungsmessung,
wie
auch
bei
der
Aufstellung
von
Verursachungszusammenhängen. Zum Ende des Kapitels wird dann, auf der
Grundlage aktueller empirischer Studien, endgültig die Frage beantwortet, in
welchem Zusammenhang medial erlebte Gewalt und aggressives Verhalten von
Kindern stehen. Dabei zeigt sich, dass das Zusammentreffen mehrerer Faktoren
erforderlich ist, um eine Umsetzung rezipierter Gewalt zu bewirken.
In Kapitel 6 soll ein weiterer Aspekt des Titels dieser Diplomarbeit aufgegriffen und
die sich aus den Erkenntnissen der Gewaltwirkungsforschung ergebenden
pädagogischen Interventionsmöglichkeiten skizziert werden. Neben dem Begriff der
Medienkompetenz
steht
die
Erläuterung
konkreter
medienpädagogischer
Maßnahmen im Mittelpunkt.
Aufgrund der Komplexität des Themas dieser Diplomarbeit ergibt sich leicht die
Gefahr, in der Menge der einzelnen Informationen, den Kern der Problematik aus
den Augen zu verlieren. Diesem Dilemma soll durch kurze, pointierte
Zusammenfassungen am Ende besonders umfangreicher Kapitel begegnet werden.
Aus Gründen der Lesbarkeit wird im Folgenden die männliche Form verwendet,
welche beide Geschlechter gleichermaßen einschließt.

Kapitel 1 ­ Der Gewaltbegriff
6
1. Der Gewaltbegriff
1.1 Zur Problematik des Gewaltbegriffs
Möchte man die Frage nach möglichen Auswirkungen medialer Gewalt auf Kinder
beantworten, muss zunächst bestimmt werden, was unter Gewalt zu verstehen ist.
Der seit Jahren geführte Diskurs zu diesem Thema legt die Vermutung nahe, dass
zumindest in wissenschaftlichen Kreisen eine weitgehend übereinstimmende
Definition existiert. Bei genauerer Betrachtung bestätigt sich diese Erwartung jedoch
nicht: Gewalt ist vielmehr ,,einer der schillerndsten und zugleich schwierigsten
Begriffe der Sozialwissenschaften" (Imbusch 2002, 26). Der Terminus steht für sehr
unterschiedliche Erscheinungen, was bereits aus dem allgemeinen Sprachgebrauch
ersichtlich wird: Gewalt bezeichnet sowohl individuelle Gewalttätigkeit als auch
Staatsgewalt und wird gleichermaßen im Sinne von Kraft gebraucht (z.B.
Naturgewalt) (vgl. Merten 1999, 13f). Damit ist der Begriff auffallend ambivalent und
bezeichnet ein komplexes Phänomen, welches Ordnung gleichermaßen zerstören
als auch begründen kann (vgl. Mikos 2003, 14).
Die Komplexität des Begriffs setzt sich in den Geistes- und Sozialwissenschaften
fort, deren Gewaltverständnis je nach wissenschaftlicher Disziplin variiert: So
untersuchen
Psychologie
und
Sozialpsychologie
Gewalt
als
Bestandteil
zwischenmenschlicher Beziehungen; nach den gesellschaftlichen Funktionen fragen
die
Philosophie,
Soziologie
und
die
Politische
Wissenschaft;
Kommunikationswissenschaft und Pädagogik wiederum befassen sich mit Wirkungs-
und Interventionsfragen, z.B. in Zusammenhang mit dem Thema Mediengewalt (vgl.
Merten 1999, 33 u. Theunert 1996, 25). Die in den Medien dargestellten
Gewalterscheinungen sind ebenso vielfältig. So hört man etwa in Berichterstattungen
von Gewalttaten gegen bestimmte Personengruppen, wie Frauen, Kinder und
Migranten oder von Gewalthandlungen an bestimmten Orten, wie an Schulen oder
am Arbeitsplatz (vgl. Merten 1999, 15).
Diese beispielhaften Ausdifferenzierungen verdeutlichen, wie facettenreich das
Gewaltkonzept ist, das je nach Blickrichtung weitere Betrachtungsmöglichkeiten
eröffnet. Infolgedessen gibt es keine allgemeingültige Aggressions- bzw.
Gewalttheorie. Ein universelles, von allen gesellschaftlichen Gruppen und
Wissenschaftsrichtungen geteiltes Gewaltverständnis existiert nicht. Das ist insofern

Kapitel 1 ­ Der Gewaltbegriff
7
problematisch, als die daraus resultierende Vielfalt der Begriffsinhalte auch zu höchst
unterschiedlichen Operationalisierungen führt, was die Vergleichbarkeit von
Forschungsbefunden erschwert und für stark voneinander abweichende Resultate
sorgen kann (vgl. Bonfadelli 2004, 253 u. Bundesministerium für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend [BMFSFJ] 2004, 10). Vielfach bleibt eine Definition allerdings von
vornherein unberücksichtigt, sodass selbst in zahlreichen Forschungsarbeiten das
zugrunde liegende Gewaltkonzept unklar ist (vgl. Mikos 2003, 12).
Für
die
Untersuchung
möglicher
Zusammenhänge
zwischen
medialen
Gewaltdarstellungen und realem Gewaltverhalten hat dies gravierende Folgen, denn
,,[w]enn nicht klar ist, was Gewalt beinhaltet, ist auch nicht klar, welche medialen
Phänomene als gewalthaft zu klassifizieren sind, und welche auf der Einstellungs-,
Verhaltens- und Handlungsebene bei den Rezipienten beobachtbaren Phänomene
als Gewalttätigkeit einzuordnen sind" (Theunert 1996, 43).
Eine weitere Schwierigkeit der Gewaltforschung liegt laut Theunert (1996, 25) darin,
dass sie ,,individuelles Gewalthandeln vorher[sagt; d. Verf.], indem sie einzelne
Wirkfaktoren isoliert und beschreibt". Die Medien sind dabei ein solcher häufig isoliert
betrachteter Wirkfaktor, deren Gewaltdarstellungen ,,aus ihrem gesellschaftlichen
Entstehungszusammenhang, real existenten Gewaltphänomenen und -verhältnissen,
und aus ihrem Wirkungskontext, den realen Gewalterfahrungen der Individuen"
gelöst
werden
(ebd.).
So
entstehen
vermeintlich
einfache
Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zwischen medialer und realer Gewalt, wie sie
auch nach dem Erfurter Amoklauf des Robert Steinhäuser als bewiesen erachtet
wurden. Der 19-Jährige tötete 2002 an seiner ehemaligen Schule 16 Menschen und
schließlich sich selbst. Wie sich rückblickend herausstellte, imitierte er dabei ein
Vorgehen, welches er aus Bildschirmspielen, Filmen und dem Fernsehen kannte
(vgl. Merten 2003, 157). Die Zeitschrift Der Spiegel schrieb: ,,Von Zimmer zu Zimmer,
von Flur zu Flur musste der Killer Robert Steinhäuser in seiner virtuellen
Computerwelt vordringen, immer eine Stufe höher, und er musste Türen öffnen und
Treppen hinaufsteigen [...] und deshalb wirken diese Spiele im Nachhinein wie eine
Blaupause für den realen Massenmord" (Brinkbäumer et al. 2002, 131).
Für einen Großteil der deutschen Bevölkerung schien nach diesem schockierenden
Vorfall einmal mehr bewiesen, dass Gewaltdarstellungen in den Medien zum
unmittelbaren Auslöser für reale Gewalt werden können. In einer wenige Wochen

Kapitel 1 ­ Der Gewaltbegriff
8
nach dem Amoklauf durchgeführten repräsentativen Erhebung des Instituts für
Demoskopie Allensbach
1
zweifelte kaum einer der Befragten (78 Prozent) daran,
dass die Medien für solche Gewalttaten ,,in hohem Maße" mitverantwortlich seien
(Institut für Demoskopie Allensbach 2002, 3). Daraufhin forderten sogar 71 Prozent
der Bevölkerung, dass ,,die Masse an Gewalt im Fernsehen unbedingt eingeschränkt
oder gar verboten werden sollte" (ebd., 1). Die Fakten, dass Robert Steinhäuser
Mitglied eines Schützenvereins war und ihm sogar eine Waffenbesitzkarte
ausgestellt wurde oder, dass er einen Schulverweis erhielt und sich damit seiner
Zukunftsperspektive beraubt sah, fanden hingegen in der Öffentlichkeit kaum
Beachtung (vgl. Brinkbäumer et al. 2002, 138 u. 141).
Geschehen solche Aufsehen erregenden Einzeltaten auch relativ selten, so kommt
es doch häufig zu ähnlichen Reaktionen: ,,[S]elbsternannte Experten und andere
vermeintlich Kompetente [...] [sondern; d. Verf.] eilige, meist weitgehend haltlose
Diagnosen ab" (Kübler 2003, 4), die Öffentlichkeit fordert ein Verbot von
Gewaltdarstellungen und der Gesetzgeber
2
versucht, dem nachzukommen. Merten
(1999, 258) spricht an dieser Stelle von einem immer wieder auftauchenden
,,Grundmuster zyklischer öffentlicher Entrüstung und Panikmache" und bemerkt: ,,Die
Wirkung von Gewalt in den Medien wird immer dann beklagt, wenn sich massive und
unerwartete reale Gewalt ereignet und eine Erklärung hierfür schwierig ist".
Auf der Suche nach einfachen und plausiblen Gründen weicht die Komplexität der
Thematik häufig dem alleinigen Blick auf den Wirkfaktor Mediengewalt. Doch die
Medien existieren nicht unabhängig von der Gesellschaft, sondern sind deren
Bestandteil (vgl. Theunert 1996, 25f). Mediale Gewaltdarstellungen lassen sich
deshalb nur im Zusammenhang mit realer Gewalt verstehen und erklären. Aus
diesem
Grund
soll
nachfolgend
versucht
werden,
ein
umfassendes
Gewaltverständnis zu entwickeln, welches beide Komponenten mit einbezieht und ihr
Verhältnis zueinander beleuchtet.
1
Die sogenannten Allensbacher Berichte sind repräsentativ für die gesamtdeutsche Bevölkerung über
16 Jahren. Es wurden insgesamt 2087 Probanden befragt (vgl. Institut für Demoskopie Allensbach
2002, 5).
2
Auch gegenwärtig spielt das Thema Mediengewalt in der Politik eine Rolle. In ihrem Koalitionsvertrag
haben CDU/CSU und SPD ein Verbot sogenannter ,,Killerspiele" vereinbart, um so ,,den Schutz von
Kindern und Jugendlichen nachhaltig zu verbessern" (vgl. Koalitionsvertrag 2005, 105).

Kapitel 1 ­ Der Gewaltbegriff
9
1.2 Ein umfassendes Gewaltverständnis
Um den facettenreichen Gewaltbegriff zu strukturieren, werden häufig Dichotomien
verwendet, anhand derer wesentliche Merkmale deutlich werden. Dazu gehören die
Gegenüberstellungen von personaler und struktureller Gewalt, physischer und
psychischer Gewalt, sowie von Gewalt und Aggression. Die Aufstellung derartiger
Konstrukte scheint nahezu unbegrenzt fortsetzbar zu sein, denn außerdem existieren
weitere Begriffspaare, wie legitime und illegitime Gewalt, individuelle und kollektive
Gewalt oder Mikro- und Makro-Gewalt
(
vgl. dazu ausführlich Merten 1999, 26-32 u.
Imbusch 2002, 39-50).
Wie diese Beispiele zeigen, gibt es viele verschiedene Möglichkeiten, über Gewalt
nachzudenken und entsprechende Handlungen zu klassifizieren. Eine über die
geläufigsten Gewaltdimensionen hinausgehende Ausführung würde jedoch zu sehr
ins Detail gehen, zumal davon ausgegangen werden kann, dass ,,Gewalt in
experimentellen Studien oft nicht explizit definiert oder [...] sich nur auf physische
Formen der Gewalt [beschränkt; d. Verf.]" (Bonfadelli 2004, 252). Daher werden
nachfolgend die allgemein bekannten Erscheinungen personale und strukturelle,
physische und psychische Gewalt sowie Gewalt und Aggression gegenüber gestellt.
Bei einer Ausdifferenzierung des vielseitigen Gewaltbegriffs ist außerdem zu
berücksichtigen, dass Ausprägungen und Gebrauch einem stetigen zeitlichen,
kulturellen und ideologischen Wandel unterliegen und in anderen Gesellschaften
sowie
in
verschiedenen
sozialen
Gruppen
innerhalb
einer
Gesellschaft
unterschiedlich sein können (vgl. Mikos 2003, 12).
Personale
Strukturelle Gewalt
Die wohl am häufigsten vorgenommene Unterteilung von Gewalt ist jene in
strukturelle bzw. indirekte und personale bzw. direkte Gewalt. Unter
personaler Gewalt wird die beabsichtigte physische und/oder psychische
Schädigung einer Person, von Lebewesen und Sachen durch eine andere
Person verstanden (vgl. Kunczik 1995, 126). Sie resultiert häufig aus
strukturellen Gewaltverhältnissen (vgl. Theunert 1996, 86).
Strukturelle Gewalt meint die einem sozialen System inhärente Gewalt, die
sich in ungleichen Herrschafts- und Machtverhältnissen äußert und sich
vollzieht, ohne dass ein konkreter Akteur sichtbar sein muss und ohne dass

Kapitel 1 ­ Der Gewaltbegriff
10
sich ihre Opfer dessen bewusst sein müssen (vgl. Kunczik 1995, 126f u.
Theunert 1996, 91f). Diese Gewaltform zeigt sich beispielsweise in sozialer
Ungleichheit, wie sie etwa auftritt, wenn sich finanziell schlechter gestellte
Familien ausschließlich Wohnungen in bestimmten Stadtteilen leisten
können. Bisher sind strukturelle Gewalterscheinungen jedoch kaum zum
Gegenstand der Forschung geworden (vgl. BMFSFJ 2004, 10).
Physische
Psychische Gewalt
Nahezu alle Untersuchungen zur Wirkung medialer Gewaltdarstellungen
befassen sich ausschließlich mit personaler Gewalt, worunter die
beabsichtigte physische oder psychische Schädigung einer Person, von
Lebewesen und Sachen durch eine andere Person verstanden wird (vgl.
BMFSFJ 2004, 10). Die Einteilung in physische und psychische Gewalt stellt
also eine Untergruppierung personaler Gewalt dar. Dabei werden
Gewaltphänomene,
die
körperliche
Zerstörung,
Verletzung
oder
Einschränkung zur Folge haben, als physische Gewalt bezeichnet. Unter
psychischer Gewalt können Formen, wie Diskriminierung, Drohung und
Beleidigung verstanden werden, die die geistige und seelische Verfassung
der Betroffenen schädigen (vgl. Theunert 1996, 61). Letztere findet
ausschließlich zwischen Menschen statt und ist in ihren Ausprägungen und
Folgen meist latent, sodass eine Wahrnehmung schwierig ist. Physische
Gewalt ist im Gegensatz dazu manifest und eindeutiger zu bestimmen (vgl.
ebd., 89f).
Gewalt
Aggression
Häufig wird mit dem Gewaltbegriff der Begriff der Aggression assoziiert. Um
sich einem umfassenden Gewaltverständnis zu nähern, erscheint es
notwendig, auf die gegenwärtige Verwendung des Begriffspaares
einzugehen, da beide Ausdrücke oft synonym
3
verwendet werden und mithin
eine klare Grenzlinie nicht erkennbar zu sein scheint (vgl. Kleber 2003, 29).
Die etymologische Bedeutung des Wortes Gewalt geht auf die
indogermanische Wurzel val und das Verb giwaltan zurück, was soviel wie
stark/verfügungsfähig sein oder herrschen bedeutet (vgl. Imbusch 2002, 29).
3
Auch im weiteren Verlauf dieser Diplomarbeit werden die beiden Begriffe gleichbedeutend
gebraucht, da der Großteil der verwendeten Literatur selbst keine Unterscheidung vornimmt.

Kapitel 1 ­ Der Gewaltbegriff
11
Vielfach wird Gewalt als eine spezifische, schwere, insbesondere körperliche
Erscheinungsform von Aggression verstanden (vgl. Merten 1999, 21 u.
Kleber 2003, 32). Hingegen sind mit dem Aggressionsbegriff, der sich aus
dem Lateinischen (aggredi = herangehen/aktiv werden) ableiten lässt,
leichtere Formen, wie beispielsweise Schimpfen, böse Blicke etc. gemeint
(vgl. Kleber 2003, 30). In einem eher weit gefassten Definitionsansatz können
mit dem Terminus ,,Verhaltensweisen bezeichnet [werden; d. Verf.], die eine
Realisierung individueller oder kollektiver Vorzüge durch Drohung,
Zurückdrängung, physische Beeinträchtigung [...] eines tatsächlichen oder
vermeintlichen [...] [Gegners; d. Verf.] ermöglichen sollen" (Wikipedia 2006a,
www.wikipedia.de).
Ganz allgemein kann daher der Versuch einer Abgrenzung der beiden
Begriffe folgender Aussage nach vorgenommen werden: ,,Jeder Fall von
Gewalt ist ein Fall von Aggression, aber nicht umgekehrt." (Selg 2003, 147).
In der öffentlichen und politischen Diskussion sowie in dem Großteil der
Gewaltwirkungsstudien ist derzeit ein Gewaltverständnis verbreitet, das vor allem die
zielgerichtete, direkte physische Schädigung von Menschen durch Menschen bzw.
den körperlichen Angriff auf Sachen umfasst
4
(vgl. Merten 1999, 13). Subtile
psychische oder strukturelle Gewaltformen und deren Folgen für die Opfer geraten
durch diese eingeengte Sichtweise nicht in den Blick. Stattdessen gelten lediglich
solche Phänomene als Gewalt, die mit einer intendierten Handlung und einem Täter
verbunden sind (vgl. Theunert 1996, 75). Dieses sogenannte aktionistische
Gewaltverständnis führt dazu, dass Gewalt ausschließlich als ,,Gewalt-Antun" erfasst
wird (ebd.).
Ein Teil des wissenschaftlichen Diskurses plädiert hingegen für eine umfassendere
Betrachtung und sieht Gewalt eng an die Ausübung bzw. an die Existenz von Macht
und Herrschaft gebunden, die generell als Voraussetzung für Gewalttätigkeit gelten
(vgl. ebd., 60). Gewalt liegt demnach immer dann vor, wenn Einzelne oder Gruppen
von Menschen aufgrund ungleicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse eine
Schädigung erfahren (vgl. ebd., 74). Diese Schädigungen können ,,unmittelbare,
4
Gegenwärtig scheinen jedoch auch psychische Gewaltformen mehr und mehr in den Blick von Politik
und Öffentlichkeit zu geraten. So soll Stalking (beharrliche Verfolgung, Belästigung und Bedrohung)
strafbar werden. Justizministerin Zypries stellte am 11. Mai 2006 dem Bundestag ein solches
Anti-Stalking-Gesetz vor (vgl. Zweiwochendienst 2006, www.zwd.info).

Kapitel 1 ­ Der Gewaltbegriff
12
vermittelte oder langfristige Folgen personaler oder struktureller Gewalt sein"
(Theunert, 1996, 74). Ausgehend davon, dass Gewalt letztlich immer Opfer hat,
können mit Hilfe dieses Zugangs auch latente und strukturelle Gewalterscheinungen
identifiziert werden (vgl. ebd., 79).
Die folgende Abbildung versucht die beschriebene, umfassendere Sichtweise zu
veranschaulichen und zeigt die verschiedenen Dimensionen von Gewalt und ihre
Zusammenhänge:
Quelle: In Anlehnung an Theunert 1996, 61
1.2.1 Mediale Gewalt
Medien sind Bestandteil der Gesellschaft und von gesellschaftlichen Realitäten nicht
abzulösen. Sie orientieren sich in ihren Inhalten an alltäglichen Themen und leisten,
wie sich nachfolgend zeigen wird, zugleich einen Beitrag zum Erhalt der
gesellschaftlichen Bedingungen (vgl. Theunert 1996, 110). Bezogen auf
Mediengewalt
5
bedeutet dies, dass sich immer Entsprechungen und Bezüge zu real
vorfindbarer Gewalt finden lassen. Deshalb gelten die bei dem Gewaltbegriff
vorgenommenen Bestimmungen sowohl für reale als auch für mediale
Gewalterscheinungen. Für die Betrachtung medialer Gewaltphänomene sind jedoch
zusätzliche Unterscheidungsmerkmale notwendig, denn die Medien bilden reale
5
Der Terminus Mediengewalt meint in diesem Zusammenhang durch Medien ,,produzierte, vermittelte,
transportierte, dargebotene Gewalt" (Kleber 2003, 33).
b
e
o
b
a
c
h
tb
a
r
e
rs
c
h
lie
ß
b
a
r
physisch
psychisch
ungleiche Macht zwischen
Ausübenden und Betroffenen
ungleiche Machtverhältnisse
im gesellschaftlichen System
Folgen: Schädigung und Leiden von Menschen
GEWALT
Strukturelle Gewalt
Ausübung von Macht
mögliche Erklärung
Personale Gewalt

Kapitel 1 ­ Der Gewaltbegriff
13
Gewalt und Realität nicht einfach ab. Sie verwenden spezifische Verarbeitungs- und
Darbietungsformen, auf die nun ­ vor allem in Bezug auf das Medium Fernsehen ­
eingegangen wird (vgl. Merten 1999, 32).
Kepplinger und Dahlem (1994, 384) unterscheiden hierbei reale von fiktionalen
Gewaltdarstellungen. Unter der Darbietung realer Gewalt kann die Präsentation von
Verhaltensweisen verstanden werden, die physische und psychische Schädigungen
beabsichtigen oder bewirken. Die Darstellung fiktionaler Gewalt bedeutet
demgegenüber die Präsentation von Verhaltensweisen, die dies nur vorgeben (vgl.
ebd.). Die Autoren teilen die fiktionale Gewalt zudem in eine natürliche und
künstliche Komponente ein. Während sich die natürliche Gewaltdarstellung auf die
lebensechte Präsentation (Realfilm) bezieht, wird unter der künstlichen
Gewaltdarstellung die artifizielle Präsentation (Zeichentrickfilm) verstanden (vgl.
ebd.).
Neben der referierten Einteilung schlägt Mikos (2003, 13) eine Differenzierung realer
Gewaltdarstellungen vor und unterscheidet zwischen abgebildeter realer Gewalt und
inszenierter realer Gewalt. Um abgebildete reale Gewalt handelt es sich dann, wenn
bestehende Gewalt für die Präsentation im Medium aufbereitet wurde. Eine solche
Wiedergabe ist vorwiegend im Informationsbereich und in der Berichterstattung,
beispielsweise in Nachrichten, Reportagen und Dokumentationen anzutreffen (vgl.
ebd.). Dabei muss jedoch beachtet werden, dass Medien zwar einerseits reale
Gewalt abbilden, aber andererseits durch spezifische Präsentationsformen selbst
strukturelle Gewalt erzeugen (vgl. Best 2002, 140). Dies kann im Bereich der
Informationssendungen beispielsweise durch eine einseitige Kommentierung,
spektakuläre und schockierende Bilder oder die Ausblendung von Zusammenhängen
und
Hintergründen
geschehen
(vgl.
Theunert
1996,
114).
Derartige
,,Gestaltungsmittel" können den Zuschauer in seiner Informationsaufnahme,
-einordnung und -verarbeitung behindern und Vorurteile gegenüber bestimmten
Personengruppen aufbauen bzw. verfestigen (Best 2002, 140).
Von inszenierter realer Gewalt spricht Mikos (2003, 13), wenn die Medien im
Rahmen von ,,Game- oder Talkshows" gewalttätige soziale Interaktionen darstellen.
Eine solche Inszenierung ist laut Best (2002, 142) auch in den Fernsehangeboten

Kapitel 1 ­ Der Gewaltbegriff
14
Infotainment und Reality-TV
6
anzutreffen, die zwischen dem Unterhaltungs- und
Informationsbereich anzusiedeln sind. Theunert (1996, 113) geht an dieser Stelle von
einer ,,Variation real vorfindbarer Gewalt" aus, was bedeutet, dass bestehende
Gewalt aufgegriffen und mit fernsehspezifischen Mitteln verändert wird. Wie in der
Sendung Notruf hat das dargestellte Gewaltgeschehen zwar wirklich stattgefunden,
allerdings nicht so, wie es der Zuschauer sieht: Der Vorfall wird in eine dramatisierte
Geschichte eingebunden, die das reale Gewaltereignis bewusst spektakulärer
nachinszeniert. Der Realität wurde damit etwas hinzugefügt, das dieser zwar
entnommen ist, jedoch nicht ihrer tatsächlichen Erscheinungsform entspricht (vgl.
ebd.). Reale Gewaltformen werden hierbei also durch eine ,,künstlerisch-ästhetische
Dramatisierung [...] überspitzt, [...] idealisiert, kurz: verfremdet" (Merten 1999, 32).
Auf diese Weise übt das Fernsehen im Bereich des Infotainments strukturelle Gewalt
aus; es vermittelt verzerrte Bilder, Weltsichten und Klischees vom Leben und
behindert den Rezipienten darin, Informationen von Pseudoinformationen zu
unterscheiden (vgl. Best 2002, 142). Zudem kann die verfälschende Abbildung der
Wirklichkeit die Wahrnehmung der Zuschauer einschränken und zur Entwicklung von
Feindbildern beitragen (vgl. Merten 1999, 57f).
Da das Fernsehen auch im Bereich der Nachrichten selbst zum Regisseur wird,
indem es lediglich Ausschnitte der Wirklichkeit zeigt, zwischen Berichtenswertem und
Unbedeutendem selektiert und entscheidet, welche Aspekte eines Geschehens in
den Mittelpunkt gestellt werden, können meines Erachtens die Grenzen zwischen
abgebildeter und inszenierter realer Gewalt als fließend betrachtet werden (vgl. Best
2002, 140).
Die bisher erfolgte Betrachtung des Fernsehens als struktureller Gewaltfaktor im
Informations- und Infotainmentbereich schließt natürlich nicht aus, dass fiktionale
Unterhaltungsangebote keine strukturelle Gewalt vermitteln. Laut Best (2002, 141f)
ist das Gegenteil der Fall: ,,Unterhaltungsfernsehen" kann durch ständige
Wiederholungen
von
Rollenklischees
und
vereinfachende,
verfälschende
Darstellungen von der Welt, den Menschen und ihrem Leben gesellschaftliche
Gewaltverhältnisse und Vorurteilsstrukturen bestärken.
6
Reality-TV ist ein Fernsehformat, das im dokumentarischen Stil über bestimmte Menschen/Themen
berichtet und dabei versucht, das tägliche Leben darzustellen, indem die handelnden Personen durch
zahlreiche Kameras beobachtet werden (vgl. Wikipedia 2006b, www.wikipedia.de).

Kapitel 1 ­ Der Gewaltbegriff
15
Folgende Abbildung zeigt noch einmal im Überblick, wie mediale Gewalt im
Fernsehen präsentiert wird:
Ergänzend soll angemerkt werden, dass Fernsehgewalt, im Gegensatz zu
vergleichbaren realen Gewaltereignissen, als eine überwiegend saubere Gewalt
7
beschrieben wird (vgl. Theunert/Pescher/Best/Schorb 1994, 198 u. Kleber 2003, 35).
Die Folgen der Gewaltanwendung, beispielsweise die Darstellung von Schmerzen
und Blut, werden in der Regel ausgespart oder verharmlost (vgl. ebd.). Besonders im
Bereich der Zeichentrickangebote hat Gewalt scheinbar keine Opfer oder ist
zumindest reversibel, sodass die betroffenen Figuren immer wieder unbeschadet
aufstehen. An dieser Stelle sei den folgenden Kapiteln vorweg genommen, dass ein
Verzicht auf Blutszenen Kinder zwar weniger überfordert
8
, dadurch jedoch einer
Gewaltverharmlosung Vorschub geleistet und ,,antiviolente[n] Effekte[n] [von
Gewaltdarstellungen; d. Verf.] [...] der Boden entzogen wird" (Grimm
9
1999, 720 u.
722).
7
Der Begriff ist dabei nicht in einem wertenden Kontext zu verstehen, sondern dient lediglich der
Beschreibung von Gewaltdarstellungen. Zur näheren Veranschaulichung sauberer Gewalt sei auf die
Spielsequenz des Spiels Dragon Ball Z verwiesen, die sich auf der beiliegenden CD in dem Ordner
Bildschirmspiele/Spielausschnitte befindet.
8
siehe Kapitel 2.2
9
Diese Aussagen beruhen auf den Ergebnissen einer mehrteiligen Untersuchungsreihe, die in den
Kapiteln 5.1.3 und 5.1.4 näher vorgestellt werden.
Quelle: In Anlehnung an Kepplinger/Dahlem 1994, 384 u. Mikos 2003, 13
(eigene Erstellung)
mediale Gewaltdarstellungen
fiktionale Gewalt
z.B. Serie, Film
reale Gewalt
z.B. Nachrichten, Reportagen
natürliche Darstellung
z.B. Kriegs-, Horrorfilm
künstliche Darstellung
z.B. gewalthaltige
Zeichentrickangebote
abgebildete reale Gewalt
z.B. Nachrichten
inszenierte reale Gewalt
z.B. gewalthaltiges Reality-TV
fließende Übergänge

Kapitel 1 ­ Der Gewaltbegriff
16
Auch wenn die Gewaltwirkungsforschung überwiegend von einem auf physische
Gewalterscheinungen
reduziertes
Begriffsverständnis
ausgeht,
haben
die
Ausführungen über mediale Gewaltdarstellungen gezeigt, dass im Fernsehen ,,alle
nur
erdenklichen
und
in
der
gesellschaftlichen
Realität
vorfindbaren
Gewalt-, Aggressions- und Konfliktformen" abgebildet sind (Kleber 2003, 34). Die
Besonderheit medialer Gewalt im Unterschied zu realer Gewalt liegt jedoch in ihrer
ständigen Verfügbarkeit und Häufigkeit (vgl. ebd. u. Kapitel 3.2, 3.4.2, 4.1, 4.2).
1.3 Zusammenfassung
In den vorangegangenen Abschnitten wurde das Phänomen Gewalt sowohl in
realen, als auch in medialen Zusammenhängen betrachtet und Ansätze zur
Strukturierung vorgestellt. Es hat sich gezeigt, wie vielschichtig die Sachverhalte
sind, die unter diesem Oberbegriff zusammengefasst werden. Für die
Gewaltforschung bringt dies erhebliche Schwierigkeiten mit sich, denn offenbar ist
eine Einigung auf ein allgemeingültiges Verständnis von Gewalt nicht möglich. Damit
wird eine Gegenüberstellung verschiedener Studien bzw. ihre Verknüpfung
schwierig. Zudem behindern auseinandergehende, fehlende oder ungenaue
Begriffsbestimmungen eine Bewertung der Forschungsergebnisse und die Ableitung
angemessener pädagogischer Forderungen.
In Anbetracht dieser Umstände halte ich es für unangemessen, meiner Arbeit ein
bestimmtes Gewaltverständnis zugrunde zu legen, welches dann wohlmöglich nur
auf einige der im weiteren Verlauf vorgestellten Studien zutreffen würde.
Genauso komplex wie der Gewaltbegriff gestaltet sich die Rolle der Medien, die reale
Gewalt nicht nur abbilden, sondern selbst strukturelle Gewalt erzeugen. Best (2002,
143) bemerkt zum Einfluss der Medien: ,,Sie können die Menschen in ihrer
Wahrnehmung und in ihren Vorstellungen von Realität und in ihrem Umgang damit
einschränken, sie können fragwürdige Welt- und Menschenbilder, unrealistische
Weltsichten, Rollenklischees und Vorurteilsstrukturen verfestigen bzw. mit zu deren
Aufbau beitragen." Mediale Darstellungen ermöglichen es, gegenwärtige gewaltsame
Strukturen in der Gesellschaft zu verstärken und aufrechtzuerhalten. Ob und
inwieweit aber die medial produzierte und reproduzierte Gewalt ihre Wirkungen
entfalten kann, ist nur in der Wechselbeziehung zwischen Medien, Gesellschaft und
Rezipienten auszumachen (vgl. ebd.). Laut Best (2002, 144) ist es entscheidend,

Kapitel 1 ­ Der Gewaltbegriff
17
,,auf welche Entsprechungen mediale Gewalt in der Wirklichkeit stößt, inwieweit die
Menschen
mediale
Gewaltdarstellungen
in
ihre
Lebens-
und
Erfahrungszusammenhänge integrieren und ob diese Möglichkeiten der Verstärkung
oder der Relativierung bieten." Mediengewalt kann daher nicht als ein isoliertes
Phänomen betrachtet werden, sondern ist mit realen Gewalthandlungen,
-erfahrungen und -verhältnissen in Zusammenhang zu bringen.

Kapitel 2 ­ Medienumgang und die Entwicklung des Kindes
18
2. Medienumgang und die Entwicklung des Kindes
Kaum ist der Nachwuchs geboren, werden Freunde, Verwandte und Bekannte per
E-Mail mit digitalen Babyfotos versorgt. Der erste Schritt in eine Welt, in der Medien
eine wichtige Rolle spielen, ist getan. Von Musik-CDs für Säuglinge bis hin zu
Fernsehformaten für Kleinkinder ­ der Medienmarkt hat bereits die Jüngsten als
Zielgruppe entdeckt.
Löste vor einigen Jahren die Einführung der Teletubbies auf dem deutschen Markt
noch Unverständnis aus, weil sich die Frage stellte, ob Fernsehen für Zweijährige
sinnvoll sei, richtet sich die Besorgnis heutzutage auf Babys. Denn speziell für die
Altersgruppe der unter Dreijährigen soll in Deutschland noch im Jahr 2006 der neue
Pay-TV-Sender Baby-TV gestartet werden (vgl. Fiala 2005, www.pressetext.de). Die
ursprünglich israelische Produktion ist dort bereits zum erfolgreichsten Kanal des
Landes avanciert. In dem eigens von Experten entwickelten Programm wird die
,,sichere, kleine Welt [...] des Kleinkindes" und ein Einschlafprogramm, bestehend
aus beruhigender Musik und langsamen Farbbewegungen, ausgestrahlt (ebd.).
Dabei besitzt Baby-TV zwar Seltenheitswert, ist aber keinesfalls einmalig: Auch der
Sender BabyFirstTV richtet sich mit seinem Programmangebot an Babys und
Kleinkinder und kann seit Mai 2006 in den USA empfangen werden (vgl. BBV 2006,
www.bbv-net.de).
Mit Sendeformaten, wie Die Teletubbies, Baby-TV und BabyFirstTV sollen Kinder
immer früher als Zielgruppe gewonnen werden. Auch die Computerspielindustrie
unterscheidet sich davon nicht wesentlich und legt das Einstiegsalter für die Welt der
virtuellen Spiele auf zwei Jahre fest (vgl. Wiemken 2004a, 24). In Anbetracht dieser
Medienentwicklung und der Verbreitung medialer Gewaltdarstellungen
10
stellt sich
die Frage, wie Kinder mit problematischen Medieninhalten umgehen. Die
Wahrnehmung und Bewertung der Medienangebote hängt dabei wesentlich vom
kognitiven und sozial-moralischen Entwicklungsstand der Rezipienten ab (vgl.
Kirchhoff 2004, 6). Daher soll im Folgenden veranschaulicht werden, wie sich im
Verlauf der kindlichen Entwicklung das Verständnis und die Beurteilungsfähigkeit
gegenüber
Medieninhalten
und
Darbietungsweisen
ausdifferenzieren.
In
Kapitelabschnitt 2.1 werden die geistigen und sozial-moralischen Voraussetzungen,
10
Zum Gewaltprofil des Fernsehens vgl. Kapitelabschnitt 4.2; die Verbreitung gewalthaltiger
Bildschirmspiele untersucht Unterpunkt 3.4.2.

Kapitel 2 ­ Medienumgang und die Entwicklung des Kindes
19
über die Kinder zwischen drei und 13 Jahren üblicherweise verfügen, um
Medienfiguren und Mediengeschichten zu verstehen, zusammenfassend betrachtet.
In Kapitelabschnitt 2.2 wird hierbei explizit dem kindlichen Gewaltverständnis in
realen und medialen Kontexten nachgegangen.
2.1 Medienbezogene Fähigkeiten im Entwicklungsverlauf
Für die Einordnung und Bewertung medialer Gewalt ist entscheidend, was Kinder in
der Realität als Gewalt begreifen, beobachten und erfahren (vgl. Kirchhoff 2004, 7).
Ihre Wahrnehmung hängt insbesondere von geistigen und sozial-moralischen
Fähigkeiten ab: Denn die mit der Denkfähigkeit parallel verlaufende soziale und
moralische Entwicklung eröffnet Kindern nach und nach Verstehens- und
Beurteilungswege für Medieninhalte (vgl. Theunert/Lenssen/Schorb 1995, 41).
Dabei bestimmt der kognitive Entwicklungsstand, welche Medienangebote aktiv
genutzt und ob inhaltliche und formale Darstellungen verstanden werden (vgl. Institut
für Medienpädagogik in Forschung und Praxis [JFF]/Aktion Jugendschutz Bayern
[AJ] 2003a, 10). Der kognitive Entwicklungsstand gibt Aufschluss darüber, inwieweit
ein Kind z.B. physikalische und logische Zusammenhänge begreift (vgl.
Theunert/Lenssen/Schorb 1995, 48). Dabei gilt: Was in realen Kontexten noch nicht
verstanden wird, kann auch in den Medien nicht nachvollzogen werden (vgl. JFF/AJ
2003a, 10).
Vom sozial-moralischen Entwicklungsstand des Kindes hängt ab, wie mediale
Botschaften interpretiert werden. Darüber hinaus charakterisiert er das Niveau, auf
dem ein Kind soziale Beziehungen eingehen und erfassen kann, und von welchen
moralischen Orientierungen es sich dabei leiten lässt (vgl. Theunert/Lenssen/Schorb
1995, 48). Sutter (1999, 74) spricht an dieser Stelle von der ,,sozialen
Perspektivenkoordination" und bezeichnet damit die Fähigkeit, andere Personen und
soziale Interaktionen zu verstehen.
Die moralische Entwicklung ist vor allem für die Beurteilung und den Umgang mit
Gewalt bedeutsam. Im Laufe seiner Sozialisation werden dem heranwachsenden
Kind entsprechende moralische Normen und Werthaltungen vermittelt. Akzeptiert
und verinnerlicht es diese Konventionen als die eigenen, werden sie fortan zum
Maßstab des eigenen Handelns. Dieser Prozess wird in der Psychologie als
Internalisierung bezeichnet (vgl. Zimbardo/Gerrig 2003, 789). Er bewirkt, dass eine

Kapitel 2 ­ Medienumgang und die Entwicklung des Kindes
20
Missachtung dieser nun selbstgesetzten Normen mit negativen Gefühlen, wie
Scham, Schuld oder Strafangst einhergeht und daher als Hemmfaktor für eigenes
Gewalthandeln fungiert (vgl. Steckel 1998, 31). Welche Werthaltungen dabei
übernommen werden, ist abhängig vom kognitiven Entwicklungsstand des Kindes.
Die beschriebenen Zusammenhänge zwischen den kindlichen Fähigkeiten und dem
Medienumgang veranschaulicht nachfolgende Grafik:
Das Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis und die Aktion
Jugendschutz
Bayern
(JFF/AJ
2003a,
10)
sehen
im
kognitiven
und
sozial-moralischen Entwicklungsstand das erste Einfallstor, das Medienangebote
passieren müssen, um vom Rezipienten aufgenommen zu werden. Wie die
Darstellung zeigt, bilden die sogenannten handlungsleitenden Themen ein weiteres
Einfallstor. Diese Bezeichnung drückt aus, dass Kinder Medieninhalte nach ihrer
Eignung zur Verarbeitung und Bewältigung entwicklungsbedingter Anforderungen
auswählen (vgl. ebd., 11 u. Theunert/Lenssen/Schorb 1995, 44f). Im Kontext der
handlungsleitenden Themen erstreckt sich ihre Orientierungssuche je nach Alter und
kognitive Fähigkeiten
sozial-moralische
Fähigkeiten
Handlungsleitende
Themen
Medieninterpretation
Medienverständnis
Medienhandhabung
Medienpräferenzen
- Medienbevorzugung
- gestalterische und
inhaltliche Vorlieben
Orientierungssuche
- entwicklungsbedingte
Anforderungen
- aktuelle Problemlagen
- Normen und Werte
- personale Vorbilder
Entwicklungsstand
Medienumgang
Quelle: In Anlehnung an JFF/AJ 2003a, 9

Kapitel 2 ­ Medienumgang und die Entwicklung des Kindes
21
Entwicklungsstand beispielsweise auf soziale Beziehungen und erfolgreiches
Konfliktverhalten,
Weiblichkeits-
und
Männlichkeitskonzepte,
Welt-
und
Menschenbilder, Normen des Miteinanderlebens als auch auf den Umgang mit
persönlichen Problemlagen. Die zu bearbeitenden Themen bestimmen fortan den
kindlichen Umgang mit ihrer Lebenswelt, zu der als ein sich immer weiter
ausbreitender Bestandteil auch die Medien gehören (vgl. Theunert/Lenssen/Schorb
1995, 45). Medien bieten Kindern also eine Orientierungsfunktion, bergen jedoch
dadurch gleichzeitig die Gefahr, dass fragwürdige Vorgaben als geeignete
Bewältigungsstrategien angesehen werden. Dieses Risiko besteht laut Best (2002,
151), des Instituts für Medienpädagogik in Forschung und Praxis und der Aktion
Jugendschutz Bayern (2003a, 11) besonders dann, wenn umstrittenen Inhalten in
der Realität nichts entgegengesetzt wird.
Im Verlauf der kindlichen Entwicklung verfeinern sich die kognitiven und
sozial-moralischen Fähigkeiten immer weiter und bestimmen, welches Verständnis
ein Kind seiner Umwelt entgegenbringen kann: Inwieweit es Gegenstände und
Vorgänge begreift, welche Arten von Beziehungen es selbst eingehen kann, von
welchem Standpunkt aus es zwischenmenschliche Beziehungen wahrnimmt und
unter welchen moralischen Gesichtspunkten es Ereignisse beurteilt (vgl.
Theunert/Lenssen/Schorb 1995, 43).
Die kindlichen Entwicklungsprozesse verlaufen dabei in aufeinander aufbauenden
Stufen, in denen das Lebensalter den Rahmen vorgibt. Jedoch ist eine Zunahme von
Fähigkeiten nicht allein altersabhängig, sondern wird außerdem von der sozialen
Umgebung und deren Anregungen mitbestimmt (vgl. ebd., 43). Daher liefert die
nachstehende Einteilung lediglich Anhaltspunkte dafür, wie Kinder in einer
bestimmten Phase ihres Lebens mit Medienangeboten umgehen. Zudem ist
anzumerken, dass die individuelle Entwicklung eher fließend und kontinuierlich
verläuft und nicht sprunghaft, wie durch eine Einteilung in Stufen suggeriert werden
könnte (vgl. Gurt 2003, 19).
Im Folgenden sollen die wichtigsten Stationen der geistigen und sozial-moralischen
Entwicklung von Kindern zwischen dem dritten und dreizehnten Lebensjahr erläutert
und ihre Bedeutung für den Umgang mit Medien
11
herausgestellt werden. Der
Spannweite dieser Altersgruppe wird durch die Aufteilung in drei Altersetappen
11
Aufgrund der weitestgehenden Beschränkung der mir zur Verfügung stehenden Literatur, wird im
weiteren Verlauf vor allem der Umgang mit dem Medium Fernsehen behandelt.

Kapitel 2 ­ Medienumgang und die Entwicklung des Kindes
22
Rechnung getragen. So beziehen sich die nachstehenden Ausführungen auf
Vor- und Grundschulkinder sowie auf Heranwachsende. Als Vorschulkinder gelten, in
Anlehnung an Gurt (2003, 20) und Theunert, Lenssen und Schorb (1995, 49), Kinder
zwischen drei und sechs Jahren. Die Gruppe der Grundschulkinder umfasst
Sechs- bis Zehnjährige (vgl. ebd.). Der Begriff der Heranwachsenden wird im
weiteren
Verlauf
für
die
Altersgruppe
der
10-
bis
13-Jährigen verwendet ­ im Unterschied zum gesetzlichen Wortgebrauch, wonach
18- bis 20-Jährige als Heranwachsende gelten (vgl. Jugendgerichtsgesetz, § 1 Abs.
2). Die zugrunde gelegte Alterseinteilung basiert dabei einerseits auf biografischen
Übergängen, die jeweils neue Entwicklungsaufgaben mit sich bringen, und orientiert
sich andererseits an den Phasen der kognitiven Entwicklung nach Piaget (vgl.
Zimbardo/Gerrig 2003, 464ff).
Vorschulkinder
Die kognitiven Fähigkeiten von Vorschulkindern sind soweit ausgebildet, als
ihr
Denken
,,an
den
unmittelbaren
Augenschein
gebunden"
ist
(Theunert/Lenssen/Schorb 1995, 49). Dadurch nehmen sie ausschließlich
Dinge wahr, die sie direkt sehen können oder bereits kennen. Sutter
12
(1999,
75) konstatiert für Kinder ab dem vierten Lebensjahr eine ,,undifferenzierte
Perspektivenkoordination", d.h. sie können Personen nur physisch, nicht aber
psychisch
13
voneinander unterschieden. Für den Umgang mit Medien
bedeutet dies, dass primär äußere Merkmale und nur ansatzweise die
Gefühle von Fernsehfiguren erfasst werden (vgl. Theunert/Lenssen/Schorb
1995, 52).
Ab dem fünften Lebensjahr sind Kinder in der Lage, beabsichtigte von
unbeabsichtigten Handlungen zu unterscheiden und die psychischen
Merkmale einer Person zu erkennen (vgl. Sutter 1999, 76). In diesem Alter
beginnt zudem die moralische Entwicklung nach Kohlberg
14
(vgl. ebd.). Das
12
Sutter entwirft auf Basis der Auffassungen von Habermas, Kohlberg, Piaget und Selman eine
zusammenfassende Darstellung entwicklungspsychologischer Grundlagen der Mediensozialisation.
13
Mit psychisch sind im Folgenden Persönlichkeitsmerkmale und Charaktereigenschaften gemeint.
14
In Anlehnung an die Analysen von Piaget hat Kohlberg ein Modell der moralischen
Urteilsentwicklung entworfen. Er beschäftigte sich nicht mit moralischem Handeln, sondern mit der
Frage, wie Menschen Handlungen unter dem Gesichtspunkt von gut oder böse (moralisch richtig oder
moralisch falsch) beurteilen. Dazu legte Kohlberg ein Stufenmodell vor, das drei Entwicklungsniveaus
mit jeweils zwei Stufen ­ also insgesamt sechs Entwicklungsschritte ­ umfasst. Die Moralentwicklung
wird dabei als lebenslanger Prozess der Veränderung von Werten und Normen verstanden. (Vgl.
Zimbardo/Gerrig 2003, 503)

Kapitel 2 ­ Medienumgang und die Entwicklung des Kindes
23
Kind befindet sich demnach auf der ersten Stufe der präkonventionellen
Moral und orientiert sich in Konfliktsituationen an Geboten von Autoritäten,
um sich abzusichern und Bestrafung zu vermeiden.
Entsprechend
des
sozial-moralischen
Entwicklungsstandes
von
Vorschulkindern werden Beziehungen lediglich aus einer ichbezogenen
Perspektive betrachtet. Dadurch beschränkt sich die Wahrnehmung von
Fernsehfiguren und -ausschnitten auf solche, die einen Bezug zum eigenen
Ich aufweisen (vgl. Theunert/Lenssen/Schorb 1995, 50). Außerdem sind
Kinder diesen Alters ausschließlich dazu in der Lage, einfache
dramaturgische Gestaltungsmittel und kurze, geradlinig erzählte Geschichten
zu verstehen (vgl. ebd., 51 u. Gurt 2003, 20). Bis etwa zum fünften
Lebensjahr können sie Fiktion und Realität nicht sicher voneinander
unterscheiden (vgl. Theunert/Lenssen/Schorb 1995, 51).
Handlungsleitendes Thema dieser Altersgruppe ist die Auseinandersetzung
mit und die eigene Verortung in ihrer Umgebung. Drei- bis Sechsjährige
suchen fortan in den Medien nach Modellen, um die eigene Position in ihrem
Umfeld zu stärken. Dabei verorten sie sich zunächst in ihrer unmittelbaren
Umgebung, indem sie sich beispielsweise innerhalb ihrer Familie Geltung
und eine zufriedenstellende Position zu verschaffen suchen. Später
beschäftigen sie sich auch mit der Stellung, die sie gegenüber Gleichaltrigen
und älteren Kindern haben (vgl. ebd., 79).
Auf dem Gebiet der Bildschirmspiele können Vorschulkinder mit einfachen
Geschicklichkeits- und sogenannten Jump-`n-Run-Spielen
15
z.B. auf dem
Gameboy
16
umgehen (vgl. Gurt 2003, 19).
Grundschulkinder
Die kognitiven Fähigkeiten von Grundschulkindern erlauben das Erfassen
konkreter logischer Verknüpfungen und Handlungsfolgen. Dadurch sind sie
beispielsweise in der Lage, mögliche Gefahren vorauszusehen: Wenn ich
das Messer an der Schneide anfasse, kann ich mich verletzen (vgl.
Theunert/Lenssen/Schorb 1995, 54).
15
Diese Spielgenrebezeichnungen werden in Kapitel 3.4.1 näher erläutert.
16
Bei dem Gameboy handelt es sich um eine tragbare Spielkonsole der Firma Nintendo. Eine Klärung
verschiedener Begrifflichkeiten, den Bereich der Bildschirmspiele betreffend, findet sich in Kapitel 3.1.

Kapitel 2 ­ Medienumgang und die Entwicklung des Kindes
24
Entsprechend ihres sozial-moralischen Entwicklungsstandes vermögen
Kinder ab sechs Jahren zunächst nur die Perspektive eines direkten
Gegenübers nachzuvollziehen, können dabei aber entweder lediglich ihre
eigene
oder
die
Sichtweise
des
Anderen
einnehmen
(vgl.
Theunert/Lenssen/Schorb 1995, 54). Im Verlauf der zweiten Stufe der
präkonventionellen moralischen Entwicklung, die etwa ab dem siebten
Lebensjahr einsetzt, gelingt es, sich selbst aus der Sicht eines Anderen zu
beurteilen (vgl. Sutter 1999, 76).
Für das Fernsehverständnis der Sechs- bis Zehnjährigen bedeutet dies, dass
Inhalte und Personen mit Bezug zur eigenen Lebenswelt auch in größeren
Handlungskontexten erfasst werden (vgl. Theunert/Lenssen/Schorb 1995,
49). In Bezug auf die medienbezogenen Fähigkeiten im Umgang mit
Bildschirmspielen können Spiele, die Konzentration, Geschicklichkeit,
Regelverstehen und taktisches Vorgehen verlangen, zunehmend bewältigt
werden (vgl. Gurt 2003, 19).
Grundschulkinder trennen nicht nur Fiktion und Realität sicher voneinander,
sondern haben ca. bis zum achten Lebensjahr ebenso gelernt, verschiedene
Filmgattungen zu unterscheiden (vgl. Theunert/Lenssen/Schorb 1995, 55).
Spätestens ab dem zehnten Lebensjahr können sie sich Beziehungen in
Fernsehsendungen erklären und Gründe für Auseinandersetzungen und
Konflikte nachvollziehen (vgl. ebd., 57).
Kinder dieser Altersgruppe präferieren Fernsehangebote mit Realitätsbezug,
um Modelle zu finden, die für die Ausformung des eigenen Selbst und für
akzeptiertes Handeln hilfreich sein können. Dabei beschäftigen sie sich vor
allem mit dem Thema des Großwerdens und den damit verbundenen Fragen
nach Selbstständigkeit und Selbstbehauptung. Im Verlauf der Grundschulzeit
suchen Jungen und Mädchen zunehmend brauchbare Konzepte für
Geschlechterrollen (vgl. ebd., 58).
Heranwachsende
Das logische Denken 10- bis 13-Jähriger ist weitgehend ausgebildet.
Aufgrund ihrer kognitiven Fähigkeiten können abstrakte Zusammenhänge
verstanden werden. Heranwachsende sind darüber hinaus in der Lage, sich
in verschiedene Menschen hineinzuversetzen und mehrere Sichtweisen

Kapitel 2 ­ Medienumgang und die Entwicklung des Kindes
25
miteinander zu verbinden. Dabei reichen ihre sozial-moralischen Fähigkeiten
soweit, dass die Motive und Erwartungen aller Beteiligten reflektiert,
Beziehungen distanziert betrachtet und verschiedene Auffassungen
miteinander koordiniert werden können (vgl. Sutter 1999, 76 u.
Theunert/Lenssen/Schorb 1995, 59). Dementsprechend kann auf dem
zweiten Entwicklungsniveau, der sogenannten konventionellen Moral, die ab
dem zehnten Lebensjahr erreicht wird, ein Begriff der sozialen Norm gebildet
werden (vgl. Sutter 1999, 76). Dabei orientieren sich Heranwachsende bei
der Anerkennung und Einhaltung von Werten und Normen, gemäß den
beiden Stufen dieses Moralniveaus, an wechselseitigen Erwartungen und
den gesellschaftlichen Vorgaben (vgl. Zimbardo/Gerrig 2003, 503).
Aufgrund der geistigen und sozial-moralischen Fähigkeiten, über die 10- bis
13-Jährige
nun
verfügen,
aber
auch
durch
ihre
bisherigen
Fernseherfahrungen werden komplexere Medieninhalte und deren formale
und
dramaturgische
Gestaltung
immer
besser
verstanden
(vgl.
Theunert/Lenssen/Schorb
1995,
59).
Damit
nähert
sich
ihr
Fernsehverständnis dem von Erwachsenen, wobei sich der Medienumgang
laut Theunert, Lenssen und Schorb (1995, 60) etwa mit Beginn des
Jugendalters vollständig angeglichen hat.
Hinsichtlich verschiedener Fernsehinhalte wenden sich Heranwachsende
insbesondere realitätsbezogenen Angeboten zu, die die zentralen
Entwicklungsaufgaben 10- bis 13-Jähriger thematisieren (vgl. ebd.). Dazu
gehört beispielsweise die Suche nach Wegen, sich von Erwachsenen und
deren Welt abzugrenzen und Anregungen zur Ausformung der eigenen
Geschlechterrolle zu finden (vgl. ebd., 61 u. 81). Demzufolge schenken
Mädchen Medienangeboten besondere Aufmerksamkeit, die weibliche
Charaktere und Verhaltensmuster, insbesondere in Bezug auf Liebes- und
Familienbeziehungen, aufgreifen (vgl. ebd., 61). Entsprechend suchen
Jungen nach männlichen Identifikationsfiguren und Verhaltensmustern, die
Überlegenheit, Erfolg und Durchsetzungsvermögen verkörpern (vgl. ebd.,
62).

Kapitel 2 ­ Medienumgang und die Entwicklung des Kindes
26
Wie die Ausführungen dieses Kapitelabschnittes zeigten, unterscheidet sich das
Medienverständnis von Kindern in den verschiedenen Entwicklungsstufen erheblich:
Je jünger die Kinder sind, desto weniger können sie Inhalte, Formen und
Dramaturgien der Medienangebote erfassen und verstehen. Erst die zunehmende
geistige und soziale Reife und die wachsenden Erfahrungen mit Fernsehen und
Bildschirmspielen ermöglichen ein ausgeformtes Medienverständnis.
Mit Übergang in das Jugendalter haben Kinder in der Regel das zweite Niveau des
moralischen Urteilens vollständig erreicht. Da Normen und Werthaltungen nicht nur
argumentativ vermittelt, sondern auch durch Beobachtung erlernt und aus dem
Verhalten anderer erschlossen werden, können Medien an der Moralentwicklung
mitwirken. Dadurch bergen sie jedoch die Gefahr, dass im Fernsehen beobachtete
oder in Bildschirmspielen erlebte Belohnungen für aggressives Verhalten die
kindliche Akzeptanz und Kontrolle von Gewalt verändern (vgl. Steckel 1998, 32).
Die grobe Charakterisierung der kognitiven und sozial-moralischen Stufenmodelle ist
jedoch mit Vorsicht zu behandeln. Die dahinterstehenden Entwicklungs- und
Sozialisationstheorien wurden vielfach kritisiert, da sie auf einer starren,
ausschließlich am biologischen Alter orientierten Sichtweise basieren (vgl. Sutter
1999, 77). Doch ungeachtet ihrer Schwächen sind die Stufenmodelle für die Zwecke
dieser Diplomarbeit geeignet, denn sie bieten Orientierung und die Möglichkeit, sich
ein Bild über die geistigen und sozial-moralischen Fähigkeiten zu machen, über die
Kinder in einem bestimmten Altersstadium üblicherweise verfügen.
Wie dieser Kapitelabschnitt außerdem zeigte, ist die Zuwendung zu bestimmten
Themen und Medieninhalten alters- und entwicklungsabhängig: Die kindlichen
Interessen und die aus der aktuellen Lebenslage entstehenden Fragen und
Probleme steuern die Medienrezeption und bestimmen, welchen Angeboten sich
Kinder vorrangig zuwenden. Zudem ist dieser Orientierungsvorgang eng mit dem
Geschlecht der Kinder verwoben.
In der ständigen Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Entwicklung versuchen sie,
sich die Verhaltensweisen und Problemlösestrategien medialer Vorbilder anzueignen
und wenn möglich auf spielerische Art und Weise für sich und in ihrem Umfeld
auszuprobieren (vgl. Theunert/Lenssen/Schorb 1995, 88 u. 93). Je nachdem,
welcher Art diese Medienvorgaben sind, können sie die Entwicklung von Kindern
unterstützen oder auch behindern (vgl. ebd., 62).

Kapitel 2 ­ Medienumgang und die Entwicklung des Kindes
27
Allerdings ist es verkürzt, Medieninhalte generell als chancen- oder risikoreich zu
beurteilen. Zum einen wird der kindliche Medienumgang stark durch das soziale
Umfeld beeinflusst: ,,Haben die Kinder das Glück, in einer anregungsreichen Umwelt
zu leben, so suchen sie nach differenzierten, facettenreichen Vorbildern [...]. Fehlt
die anregende Umwelt, so können die ärmlichen Serienvorbilder zu wirklichen
Vorbildern werden. Dann besteht die Gefahr, daß die simplen Helden mit ihrem
primitiven Handeln für bare Münze genommen werden und die Kinder tatsächlich
versuchen ihnen nachzueifern." (Theunert/Lenssen/Schorb 1995, 94). Zum anderen
beinhaltet jedes Altersstadium eine bestimmte Sicht auf Medien und dadurch
spezifische Möglichkeiten, das verfügbare Angebot zu nutzen, sodass auch
diejenigen Inhalte, die Chancen und Hemmnisse für die Entwicklung bergen können,
variieren.
2.2 Das kindliche Gewaltverständnis
Um einen möglichst umfassenden Einblick in den Medienumgang und die kindliche
Entwicklung zu erlangen, vor allem aber in Anbetracht des Themas dieser
Diplomarbeit, sollen im Folgenden das Gewaltverständnis von Kindern und seine
Bedeutung für die Verarbeitung von Mediengewalt herausgestellt werden.
,,Was Kinder an Gewalt erleben, an anderen beobachten oder selbst praktizieren,
bestimmt, welches Verständnis von Gewalt und welche Fragen, Einstellungen,
Vorstellungen und Ängste sie haben" (Best 2002, 144). Mit zunehmendem Alter und
den damit verbundenen kognitiven und sozial-moralischen Fähigkeiten sowie den
Erfahrungen mit medialer Gewalt, erweitert sich ihre Auffassung (vgl. ebd. u. JFF/AJ
2003a, 15). Da sich das kindliche Gewaltverständnis nicht zwangsläufig an einer
wissenschaftlichen Begriffsbestimmung orientiert, halte ich es für sinnvoll, an dieser
Stelle gesondert darauf einzugehen.
Dabei beziehe ich mich auf die grundlegenden und vorwiegend übereinstimmenden
Ergebnisse mehrerer Studien
17
zur kindlichen Wahrnehmung und Verarbeitung von
17
Die
nachfolgenden
Ausführungen
fassen
die
Ergebnisse
zweier
Studien
(Theunert/Pescher/Best/Schorb 1994 u. Theunert/Schorb 1995) zusammen, in denen jeweils ca. 100
Kinder zwischen 8 und 13 Jahren aus Hamburg und München befragt wurden. Hierbei untersuchten
Theunert und Schorb (1995) den kindlichen Umgang mit realen Gewaltdarstellungen in Nachrichten
und in Reality-TV, während Theunert, Pescher, Best und Schorb (1994) der Wahrnehmung und
Verarbeitung von Fernsehinhalten durch Kinder aus unterschiedlichen soziokulturellen Milieus
nachgingen. Daneben werden die von Best (2002) zusammengefassten Befunde mehrerer Studien

Kapitel 2 ­ Medienumgang und die Entwicklung des Kindes
28
Fernsehgewalt. Zur besseren Veranschaulichung und Untermauerung der
nachstehenden Ausführungen, habe ich selbst vier Kindern die Frage gestellt: Was
verstehst du unter Gewalt?
18
Die Antworten der Kinder lauteten:
Laura (sieben Jahre): ,,Also, wenn da gerade einer kommt, zum
Beispiel so 'n ganz Blöder, den haue ich dann einfach an die Birne
eine, mit 'ner Bratpfanne."
Lukas (sieben Jahre): ,,Wenn man Kleine damit [Gewalt; d. Verf.]
schlägt, tut's schon weh. Wenn man Kleine schlägt, dann heulen 'se."
Anne (12 Jahre): ,,Unter Gewalt verstehe ich, dass man jemanden
ärgert, bedroht oder verprügelt. Unter Ärgern verstehe ich, dass man
halt jemanden auch entweder verprügelt oder mit Worten beschimpft.
Und Gewalt ist für mich eigentlich das meiste nur, dass man
jemanden ärgert."
Falk (13 Jahre): ,,Also, unter Gewalt verstehe ich, wenn man
Ausländer ist und von Nazis gejagt wird, und die einen auf den Boden
werfen und mit Stahlkappen in die Rippen oder gegen Kopf oder die
Augenhöhlen zertreten, und dass man danach Querschnittsgelähmt
ist. Das ist für mich Gewalt... ­ oder überhaupt, wenn man verprügelt
wird."
Vergleicht man die getroffenen Aussagen miteinander, fällt besonders eine
Gemeinsamkeit auf: Die befragten Kinder sehen Gewalt in erster Linie in ihrer
physischen
Erscheinungsform.
Anscheinend
lässt
sich
diese
Sichtweise
verallgemeinern, denn verschiedene Wissenschaftler bestätigen, dass körperliche
Gewalt über alle Altersstufen hinweg das kindliche Gewaltverständnis dominiert (vgl.
Theunert/Pescher/Best/Schorb 1994, 196). Auch psychische Gewalterscheinungen
werden von Kindern erfasst, besonders dann, wenn sie selbst davon betroffen sind.
erläutert, die am JFF durchgeführt wurden. Dabei handelt es sich um Untersuchungen zur
Umgangsweise 7- bis 13-Jähriger mit Fernsehgewalt im Unterhaltungs- und Informationsbereich.
18
Die Kinder wurden in Einzelsituationen spontan befragt und ihre Antworten mit dem Diktiergerät
festgehalten.

Kapitel 2 ­ Medienumgang und die Entwicklung des Kindes
29
Hingegen nehmen sie strukturelle Gewaltphänomene in der Regel noch nicht wahr
(vgl. Best 2002, 145 u. Theunert/Schorb 1995, 134).
Unterschiede hinsichtlich der Gewaltvorstellungen ergeben sich vor allem zwischen
den Geschlechtern
19
: ,,Jungen lassen nur drastische und existentielle körperliche
Verletzung als Gewalt gelten", während Mädchen bereits harmlosere Formen als
solche einordnen (Theunert/Pescher/Best/Schorb 1994, 196). Die Antworten von
Falk und Anne belegen diese Differenz. Während die 12-Jährige auch psychische
Gewaltformen erfasst und eher von alltäglicher Gewalt spricht, die sie wohlmöglich in
der Schule selbst erlebt, beschreibt Falk sehr detailreich eine schwere Form der
Körperverletzung mit irreversiblen Folgen für das Opfer.
Interessant ist an dieser Stelle, dass sich laut Theunert und Schorb (1995, 135)
Kinder danach unterscheiden lassen, aus welcher Perspektive sie eine
Gewalthandlung beschreiben: ,,Auf die Opfer und die Folgen, die eine Gewalttat für
diese hat, schauen fast nur die Mädchen; die wenigen Jungen, die dies auch tun,
haben einen moralisch und intellektuell anregenden Familienhintergrund." (ebd.). In
der Regel richten Jungen also ihr Augenmerk auf den Täter. Im Fall der Befragten
handelt es sich offensichtlich um Ausnahmen: Während Falk deutlich die
Opferperspektive einnimmt, hat der siebenjährige Lukas zwar einen Blick auf den
Täter gerichtet, sieht aber gleichzeitig auch das Opfer. Dagegen beschreiben die
beiden Mädchen Anne und Laura ihr Gewaltverständnis vollkommen aus der Sicht
des Handelnden.
Dennoch ergibt die repräsentative Untersuchung von Theunert, Pescher, Best und
Schorb (1994, 197), dass Kinder Gewalt vor allem aus der Opferperspektive
wahrnehmen. Die Autoren erklären dies mit den realen Erfahrungen der Kinder:
Häufig sind sie die Schwächeren ­ besonders im körperlichen Sinne ­ und geraten
dadurch selbst in die Rolle des Opfers.
Das Gewaltverständnis, welches Kinder im Laufe ihrer Entwicklung bilden, bestimmt,
wie sie medial präsentierter Gewalt begegnen, worauf sie ihre Aufmerksamkeit
richten und wie sie das Gesehene einschätzen (vgl. Best 2002, 144). Allerdings
unterscheidet sich die Bewertung von Gewalt, je nachdem, ob es sich um ein reales
19
Die kindliche Gewaltwahrnehmung ist neben dem Geschlecht auch vom Alter abhängig: Mit
zunehmendem Alter haben Kinder einen differenzierten Zugang zu Gewalt und können derartige
Erscheinungen allgemeiner definieren und bewerten. Dagegen beziehen vor allem jüngere Kinder ihr
Gewaltverständnis aus der eigenen Erfahrungswelt (vgl. Theunert/Schorb 1995, 136).

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2006
ISBN (eBook)
9783832499990
ISBN (Paperback)
9783838699998
DOI
10.3239/9783832499990
Dateigröße
895 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover – Sozialwissenschaften
Erscheinungsdatum
2006 (Dezember)
Note
1,8
Schlagworte
medien pädagogik gewalt aggression computerspiele
Zurück

Titel: Zusammenhänge zwischen Mediennutzung und Gewalthandlungen bei Kindern
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
144 Seiten
Cookie-Einstellungen