Lade Inhalt...

Deviante Nutzungsmuster bei synchroner Computer-Mediated Communication (CMC)

Einzelfallstudien ausgehend von Chat- und MUD-Angeboten - Explorativ-deskriptive Untersuchung

©2002 Magisterarbeit 162 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Zusammenfassung:
Diese Magisterarbeit stellt die Befunde zur „Internetsucht“ grundsätzlich in Frage. Im Zentrum der explorativ-deskriptiven Untersuchung von synchronen CMC-Angeboten (Chat, MUD, MOO etc.), verbunden mit Einzelfallanalysen ihrer Nutzer, stehen „Vielnutzer“ von Chat- und MUD (Multi-User-Dungeons)-Angeboten, deren Nutzungsverhalten deviante Züge aufweist. Ihre Nutzungsmotive sowie die Angebote selbst werden unter dem Fokus postmoderner Identitätstheorien, insbesondere der „Patchwork-Identität“ von Heiner Keupp, untersucht. Dabei werden Zusammenhänge zwischen CMC-Nutzung und Identitätsprozessen aufgedeckt, sowie Hypothesen entwickelt, die das Verhalten der Subjekte als Produkt normaler Identitätsarbeit fassbar machen. Es wird dabei in Ansätzen die Theorie der „dominanten, virtuellen Teilidentität“ skizziert, die durch die begleitenden Einzelfallanalysen gestützt wird.
Forschungsleitende Fragen:
Die zentrale Fragestellung dieser Arbeit ist:
Wie und unter welchen Umständen beeinflussen die Erfahrungen mit synchroner Computer mediated Communication (CMC) die Erlebens-, und Verhaltensweisen der Nutzer so, dass diese zu devianten Nutzungsmustern führen?
Die Beantwortung dieser Frage führt unter Punkt 2.1 zunächst zur Vorstellung der Patchwork-Identität von Heiner Keupp und deren Funktionsweise im Spannungsfeld des postmodernen Diskurses. Diesem Teil liegen die folgenden zentralen Fragen zugrunde:
Wann und unter welchen Umständen werden Teilidentitäten entwickelt?
Wann wird eine Teilidentität dominant?
Welche Ressourcen sind für eine gelingende Identitätsarbeit notwendig?
Zur Beantwortung dieser Fragen werden die wesentlichen Konstrukte (Teilidentität, Dominante Teilidentität, Identitätsressourcen etc.) der Identitätsarbeit erklärt und Kriterien der Identitätsbildung herausgearbeitet. Es werden weiter Situationen mit hoher Ambiguität beschrieben und definiert, da diese den Prozess der Identitätsbildung besonders relevant werden lassen.
Unter Punkt 2.2 werden die unterschiedlichen CMC-basierten Angebote und deren Spezifika, im Besonderen rekurrierend auf Döring, Turkle, Batinic, Götzenbrucker und Bahl beschrieben.
Punkt 2.3 steht unter dem Fokus der zentralen Fragen:
Kann im virtuellen Raum eine Teilidentität entstehen?“
Gibt es Unterschiede zwischen den Teilidentitäten im realen und im virtuellen Raum?“
Hierbei wird erläutert, warum es, ausgehend von den Kriterien aus Teil 2.1, möglich ist, dass sich im CMC-Raum […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 9457
Marburger, Harald J.:
Deviante Nutzungsmuster bei synchroner Computer-Mediated Communication (CMC) -
Einzelfallstudien ausgehend von Chat- und MUD-Angeboten -
Explorativ-deskriptive Untersuchung
Druck Diplomica GmbH, Hamburg, 2006
Zugl.: Universität Leipzig, Magisterarbeit, 2002
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte,
insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von
Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der
Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen,
bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung
dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen
der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik
Deutschland in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich
vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des
Urheberrechtes.
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in
diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme,
dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei
zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
Die Informationen in diesem Werk wurden mit Sorgfalt erarbeitet. Dennoch können
Fehler nicht vollständig ausgeschlossen werden, und die Diplomarbeiten Agentur, die
Autoren oder Übersetzer übernehmen keine juristische Verantwortung oder irgendeine
Haftung für evtl. verbliebene fehlerhafte Angaben und deren Folgen.
Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2006
Printed in Germany

Informationen zum Autor:
Marburger , Harald
(geb. 1973)
Studium der Kommunikations- und Medienwissenschaft, Psychologie und Hispanistik an der
Universität Leipzig
Freiberuflich tätig für private und öffentlich-rechtliche Fernsehsender als freier Journalist und
Cutter, sowie als Schriftsteller.
Kontakt:
Harald Marburger Albert Schweizer Str. 20 04317 Leipzig
Email: H.Marburger@web.de

Danksagung
Mein besonderer Dank gilt meinem Bruder, Dipl. Ing. Markus Marburger, der die
Korrektur dieser Arbeit übernommen und mir wertvolle Anregungen gegeben hat.
Weiter möchte ich mich bei meiner Freundin Anastasia Ustinov, meinen Eltern und
Waldemar Scheible bedanken. Sie alle haben mir stets mit moralischer, materieller und
intellektueller Unterstützung zur Seite gestanden, haben meinen Ausführungen geduldig
zugehört und wissen jetzt über dominante Teilidentitäten, den postmodernen Diskurs und
synchrone ,,Computer Mediated Communication" bestimmt genauso viel wie ich.
Nicht zuletzt gilt mein Dank meinen beiden Professoren: Professor Dr. Bernd Schorb und
Professor PD Dr. Hartmut Warkus, die das Wagnis auf sich genommen haben, mich diese
Arbeit machen zu lassen und mich aus so mancher theoretischen Sackgasse wieder auf
den richtigen Weg zurückführten.
Leipzig, den 20.10.2002
Harald J. Marburger

1
Inhaltsverzeichnis Seite
1
Einleitung
3
1.1 Untersuchungsgegenstand 8
1.2 Das Erkenntnisinteresse 11
1.3 Aufbau der Arbeit 12
1.4 Forschungsleitende Fragen 14
2 Theoretische Ansätze 17
2.1 Die Patchwork­ Identität 17
2.1.1
Postmoderne Ursprünge
17
2.1.2
Entstehung von Identität
21
2.1.3 Der Prozess der reflexiven, alltäglichen Identitätsarbeit
23
2.1.4 Modell und Funktionsweise der Patchwork-Identität 24
2.1.5
Teilidentitäten
27
2.1.6
Dominante Teilidentitäten
29
2.1.7
Kapitalsorten und Identitätsressourcen
31
2.1.7.1 Soziales, materielles und kulturelles Kapital
32
2.1.7.2 Identitätsressourcen 34
2.1.8 Situationen hoher Ambiguität und Identitätsspannung 38
2.2 Das Phänomen der Computer mediated Communication 41
2.2.1 Einführung und theoretische Verortung 41
2.2.2 Beschreibung synchroner CMC ­Angebote 44
2.2.2.1 Chat-Räume 44
2.2.2.2 Multi User Dungeons (MUD) 49
2.2.2.3 Zusammenfassung 55
2.3 Situative Selbsterfahrungen bei synchroner CMC und Entwicklung 57
von Teilidentitäten
2.3.1 Körperlosigkeit und Anonymität 57
2.3.2 Ausnutzung des Zeichensatzes zu sozialer und emotionaler Interaktion 58
2.3.3 Verwendung von Nicknames und Avataren zur Selbstpräsentation 60
2.3.4 Virtuelle Teilidentitäten 63
2.4 Bezug von Identitätsressourcen über synchrone CMC 65
2.4.1 CMC-Angebote als Optionsraum 65
2.4.2 CMC-Angebote als Subjektive Relevanzstruktur 68

2
2.4.3 CMC-Angebote als Bewältigungsressource 70
2.5 Devianz und Internetnutzung 71
2.5.1 Deviante Nutzungsmuster und Normen 71
2.5.2 Deviante Nutzungsmuster und dominante Teilidentitäten 74
2.5.3 Abgeleitete Forschungsfragen 76
3 Durchführung der Untersuchung am Gegenstand 77
3.1 Grundprinzipien der qualitativen Sozialforschung 77
3.2 Das Untersuchungsdesign 78
3.3 Das Kategoriensystem 81
3.4 Die Auswertungsregeln 85
4 Die Auswertung 87
4.1 Qualitative Auswertung der einzelnen Interviews 87
4.1.1 Heidrun 87
4.1.2 David 97
4.1.3 Nadja 107
4.1.4 Herbert 115
4.1.5 Simon 122
4.1.6 Ludwig 132
4.2 Beantwortung der Forschungsfragen 143
5 Ergebnisse, Schlussfolgerungen und abschließende Betrachtung 147
5.1 Ergebnisse 148
5.2 Abschließende Betrachtung 151
6 Literaturverzeichnis 153
7 Anhang

3
1 Einleitung
,,Also erstma zum anfang, ich bin 16 Jahre alt und, wie soll es auch anders sein
Chatsüchtig...(...)....naja und gutaussehend bin ich leider auch nicht...naja und mit der zeit
wurde ich immer mehr ausgegrenzt...von da an saß ich praktisch nur noch zu hause
rum...(...)...irgentwann bin ich dann mal auf einen Chatroom gestoßen....und es gefiel mir mit
anderen leuten zu reden...immer öfter bin ich also in den chat gegangen....(...).....ich freundete
mich mit vielen leuten an...stieg praktisch auf und vor nun was besseres im chat...ich war
nicht nur irgentein user mehr...(...)....meine umwelt und die paar freunde in real,die ich bis
dahin doch noch gehabt hatte vernachlässigte ich sehr sehr stark...(...)....ich wollte nie wahr
haben,dass ich süchtig danach bin zu chatten...(...)....aber ich will das nicht mehr...ich will
loskommen vom chat...obowohl meine "Freunde" alle im chat sind...alle sagen mir,ich soll
mal ein paar tage weg vom chat...an die frische luft...aber es geht einfach nicht..."
(Autor: Love, 03.10.01)
1
Seit etwa 1995 geht ein Gespenst in der Welt der neuen Medien um. Ins Leben gerufen
von dem amerikanischen Psychiater Iwan Goldberg, der, wie anekdotisch berichtet
wird, sein eigenes Verhalten analysierte, das er bei der Betreuung eines Internet-
Forums für Psychiater an den Tag legte. Dies hatte zur Folge, dass er bei sich alle An-
zeichen einer Sucht entdeckte.
Sucht:
[ahd. suht >Krankheit, zu siechen],unabweisbares Verlangen nach einem
bestimmten Erlebniszustand. Diesem Bedürfnis werden die Kräfte des Verstandes
untergeordnet. Es beeinträchtigt die freie Entfaltung der Persönlichkeit und zerstört die
sozialen Bindungen und Chancen eines Individuums. (...) Bei einem S.-Abhängigen wird das
gesamte Leben, Denken und Handeln auf die Beschaffung des S.-Mittels , die Verhütung von
Entzugserscheinungen und die Vertuschung der S. ausgerichtet, wobei das S.-Mittel nicht
unbedingt eine Droge sein muss, sondern auch eine Verhaltensweise sein kann (Brockhaus
1996; BD 21: 336).
Mehr zum Scherz als im Ernst entwickelte er einen Fragenkatalog zur Internetnutzung,
basierend auf der Symptomatik des pathologischen Spielens (,,pathological gambling")
und sandte diesen an seine Kollegen. Das Echo, das er darauf erhielt, war so überwälti-
gend wie unerwartet
2
. Es häuften sich die Berichte von Menschen, die sich betroffen
fühlten und bald begann man von einer regelrechten Internetsucht zu sprechen.
1
Online ­Forum: ,,Onlinesucht.de" (Text wurde mit den orthographischen Fehlern im Original übernommen.)
(Quelle/Online:http://forum.webmart.de/wmmsg.cfm?id=90182sr=1Days=90tid=149635)
2
,,Just Click No" :New Yorker Magazine - January 13, 1997; (Quelle/Online:http://www.psycom.net/iasg.html)

4
,,
Internet can be as addicting as alcohol, drugs and gambling, says new research"
3
lautete die Headline eines Artikels der American Psychological Association (APA) im
Jahre 1996. Pathological Internet Use, Cyber Disorder, Internet Addiction
Disorder, Online-Addiction oder schlicht Internetsucht sind Ausdrücke für ein
Phänomen, von dem man nicht recht weiß, ob es sich dabei um eine ernstzunehmende
Krankheit handelt oder eher um ein Modephänomen, das auf dem Nährboden techno-
kratischen Misstrauens gedeiht, das stets das Aufkommen eines neuen Mediums
begleitet. Es würde uns heutzutage überraschen, welche negativen Konsequenzen in
grauer Vorzeit selbst dem Medium Buch zugeschrieben wurden und wie sehr diese den
heutigen Bedenken ähneln. Der griechische Philosoph Plato war nicht nur der Meinung,
dass Bücher Gedächtnis, Phantasie und Urteilskraft des Menschen schwächen, ihn in
eine Scheinwelt locken, in der er sein Leben vertrödelt, sondern auch der Ansicht, dass
sie die ganze Kultur in Gefahr brächten (vgl. Platon:
,,
Phaidros" 2000: 173 ff ). Auch
der Schulreformer Campe, ein Pädagoge des ausgehenden 18. Jahrhunderts, konnte
dem Buch wenig abgewinnen und schreibt über das Lesen:
,,
Die erzwungene Lage und der Mangel an aller körperlicher Bewegung beim Lesen, in
Verbindung mit der, so gewaltsamen, Abwechslung von Vorstellungen und Empfindungen
erzeugt (...) Schlaffheit, Verschleimung, Blähungen und Verstopfung (...) und Anspannung im
Nervensystem" (Rogge 2000: 258).
Wenig erstaunlich, dass man auch im Zusammenhang mit dem Internet und der
Kommunikation via Computer von Isolation spricht, Ent-Menschlichung, Ein-
samkeit, Kommunikationspathologie und Ent-Kontextualisierung (siehe dazu
Rossnagel et al. 1990;
Mettler-Meibom 1996;
Volpert 1985 u.a.).
In rascher Folge gab es nun andere amerikanische Psychiater, die dem bis dato unbe-
kannten Suchtaspekt des Internets mit einer Reihe von mehr oder weniger fundierten
Untersuchungen auf den Grund zu gehen suchten (Kimberly S. Young1995
4
,
Morahan-Martin Schumacher 1999
5
, Greenfield et al. 1998
6
u.a.).
3
APA (Quelle/Online
:
http://www.apa.org/releases/internet.html)
4
Gründung eines Online-Hilfezentrums für Süchtige, einzelne Fallstudien:
(Quelle/Online: http//:www.netaddiction.com)
5
Untersuchungen von College-Studenten zur Internetnutzung und Untersuchung über den
Zusammenhang von Einsamkeit und Internetmissbrauch
(Quelle/Online: http://www.bryant.edu/facultyprofile/morahanmartin_janet.htm)
6
Untersuchung von ca. 17.000 Internetnutzern in Zusammenarbeit mit dem Fernsehsender ABC.
(Quelle/Online: http://www.virtual- addiction.com/abcchat.htm)

5
Dabei stellten auch sie bei ihren Patienten unerklärliche Symptome fest, die mit der
Nutzung des Internets einhergingen. Diese bestanden im wesentlichen
l
in einem Kontrollverlust über die Internetnutzung,
l
in Entzugserscheinungen bei Internet-Abstinenz,
l
in einer Einengung des Verhaltensraums, dergestalt, dass über längere
Zeitspannen der größte Teil des Tageszeitbudgets zur Internetnutzung
verausgabt wird,
l
und aus negativen sozialen Konsequenzen, die die Bereiche Arbeit,
Leistung und soziale Beziehungen betrafen.
Vergleiche dazu die zusammenfassende Darstellung der Symptome (Jerusalem und
Hahn 2001:3)
7
. Diesen Symptomen liegen, wie schon bei Goldberg, zum großen Teil
die Kriterien nichtsubstanzgebundener Süchte nach dem Diagnostischen und sta-
tistischen Manual psychischer Störungen (DSM V) der
APA
(American Psychiatric
Association) und des pathologischen Spielens zugrunde. Was die Art der Untersuch-
ungen angeht, so basieren diese auf einzelnen Fallstudien oder quantitativen Online­
Erhebungen, deren Daten hier aufgrund ihrer mangelnden Validität und Reliabilität
und dem uneinheitlichen Untersuchungsdesign allenfalls als Rahmen genutzt werden
können. Bald wurden dann auch kritische Stimmen laut: Goldberg selbst war neben
anderen (Grohol 1999
8
; Eichenberg und Ott 1999
9
u.a.) einer der ersten, der Kritik an
der Diagnose ,,Internetsucht" übte. Seiner Meinung nach ist ,,Internetsucht" nur der
sichtbare Teil und das Symptom einer bereits vorher vorhanden Primärerkrankung (wie
beispielsweise einer Depression). Es gelte demnach die Primärerkrankung zu heilen,
dann verschwände auch die ,,Internetsucht".
"I try to remind people that they need to look at why they are on-line (...) People should get
themselves into Psychotherapy and work out why they hide behind a keyboard.(...)"
10
7
,,Internetsucht: Jugendliche gefangen im Netz
(Quelle/Online: http://psilab.educat.hu-berlin.de/ssi/publikationen/internetsucht_2001a.pdf )
8
,,What ist Internet Addiction Disorder?"(Quelle/online: (http://psychcentral.com/netaddiction/)
9
,,Suchtmaschine Internetabhängigkeit: Massenphänomen oder Erfindung der Medien?"
(Quelle/Online: http://www.heise.de/ct/99/19/106/default.shtml)
10
"Just Click No":New Yorker Magazine - January 13, 1997 (Quelle/Online:
http://www.psycom.net/iasg.html)

6
Es dauerte noch einige Zeit, bis man auch im deutschsprachigen Raum, genauer gesagt
in Österreich, von einer ,,neumodischen Krankheit" (Zimmerl und Panosch 1998)
11
zu
sprechen begann. In Deutschland ist es namentlich eine größere Untersuchung, auf die
ich mich im folgenden beziehe. Im Rahmen des SSI­Projektes (Stress und Sucht im
Internet) an der Humbold­Universität Berlin wurde 2001 eine Pilotstudie mit ca.
14.000 Teilnehmern durchgeführt, die mittels eines Onlinefragebogens zu ihrem Inter-
netverhalten befragt wurden. Sucht wurde dabei verstanden als ,,eine moderne Ver-
haltensstörung und eskalierte Normalverhaltensweise im Sinne eines exzessiven und
auf ein Medium ausgerichteten Extremverhaltens" (Jerusalem und Hahn 2001: 4)
12
.
Unter den bereits genannten Symptomen war die Nutzungszeit eines der wichtigsten
Kriterien für Internetsucht. Nutzer, die 25 Stunden in der Woche online sind, gelten als
gefährdet, Nutzer mit 35 Stunden als internetsüchtig. Die Studie erbrachte unter an-
derem folgende weitere Resultate:
,,Die Häufigkeitsrate der Internetabhängigkeit beträgt für die BRD etwa 3 Prozent (obere
Grenze). Das entspricht heute (April 2001) etwa 650.000 Internetnutzern.
1. Die Online-Zeit eines Internetsüchtigen beträgt im Mittel 35 Stunden in der Woche.
2. Internetabhängigkeit scheint besonders Jugendliche und Heranwachsende zu betreffen. Mit
zunehmendem Alter sind Frauen häufiger betroffen als Männer.
3. Weitere Risikogruppen sind:
- Menschen ohne Lebenspartner(in)
- Arbeitslose, Teilzeitbeschäftigte
4. Internetabhängige nutzen signifikant häufiger Chat- und Kommunikationssysteme, spielen
öfter über das Netz (ohne Geldeinsatz) und greifen reger zu Musikangeboten (z.B. MP3 ­
Downloads) als unauffällige Internetnutzer" (Jerusalem und Hahn 2001: 26 - 27)
13
.
Mittlerweile besteht über den rein deskriptiven Charakter der Internetsucht größtenteils
Konsens und man ist sich einig, dass mit dem Begriff Internetsucht ausgedrückt werden
soll, dass eine Verhaltensstörung vorliegt und diese ,,an das Internet als Austragungsort
gebunden ist" (Jersusalem und Hahn 2001: 4)
14
.
Es soll hier nicht weiter auf die Geschichte der Internetsucht eingegangen werden.
11
"Internetsucht - Eine neumodische Krankheit?": (Quelle/Online:
http://gin.uibk.ac.at/gin/thema/gin.cfm?nr=11267)
12
,,Internetsucht: Jugendliche gefangen im Netz"
(Quelle/Online: http://psilab.educat.hu-berlin.de/ssi/publikationen/internetsucht_2001a.pdf )
13
,,Pilotprojekt zur Internetsucht": (Quelle/Online:
http://www.internetsucht.de/publikationen/internetsucht_kurzpraesentation.pdf)
14
,,Jugendliche gefangen im Netz"
(Quelle/Online: http://psilab.educat.hu-
berlin.de/ssi/publikationen/internetsucht_2001a.pdf)

7
Das Internet ist ein Medium wie es in der ganzen Mediengeschichte noch nicht einmal
vorgekommen ist. Es vereinigt in sich eine Vielzahl von Medien, medialen Ausdrucks-
formen (Video, Audio, Text, Bild), synchrone und asynchrone Kommunikation und
unterschiedlichste Angebote, die ein genauso breites Spektrum an Aktionsmöglich-
keiten bieten. Es ist daher schlicht unmöglich, das Internet als Ganzes zu betrachten
und dabei Rückschlüsse auf etwaige Verhaltensweisen zu ziehen.
Kimberly Young (Young 1996)
15
entwickelte daher ein erstes Kategoriensystem zur
Abgrenzung der Suchtfelder im Internet, an dem sich die meisten Nachfolgeunter-
suchungen in der einen oder anderen Form orientieren. Young unterscheidet unter
anderem in:
l
Cyber­Relationship Addiction (Cyber-Romanzen und Beziehungen
dominieren das Leben des Internet-Nutzers so sehr, dass sein reales Leben
darunter leidet.)
l
Cybersexual Addiction (Zwanghafter Konsum von Sex-Seiten)
l
Information Overload (Zwanghaftes Suchen nach Informationen)
l
Gaming und Computing (Suchthafte Nutzung von Online-Spielen und
Programmieren)
Das diese Kriterien nicht trennscharf sind und einen Rückschluss auf etwaige Internet-
Angebote nicht erlauben, ist am Beispiel des MUD (Multi User Dungeon), das im
weiteren noch näher beschrieben wird, ersichtlich. Dort kann man sowohl Cyberbe-
ziehungen (auch sexuellen Inhalts) aufbauen, als auch chatten, spielen und program-
mieren. Es scheint evident, dass es im Zusammenhang mit der Internetnutzung und
besonders bei CMC-Angeboten bei bestimmten Menschen zu Verhaltensauffälligkeiten
hinsichtlich der Internetnutzung kommt. Allerdings ist die Perspektive der Sucht und
der damit einhergehende pathologisierende und stigmatisierende Blickwinkel dem
Gegenstand nicht angemessen und schränkt ihn zu sehr ein. In dieser Arbeit wird
deshalb der Begriff ,,deviante Internetnutzung" bevorzugt, wobei noch zu klären
bleibt, wann und unter welchen Umständen eine Devianz im Nutzungsverhalten vor-
liegt.
Möglicherweise stecken ganz andere Mechanismen hinter der vermeintlichen Sucht.
Darauf deuten unter anderem die von Jerusalem und Hahn gefundenen Korrelationen
15
,,What makes the Internet addictive?" (Quelle/Online: http://netaddiction.com/articles/habitforming.htm)

8
von Arbeits- und Partnerlosigkeit und dem jugendlichen Alter hin, das sich als Zeit-
raum besonderer Gefährdung herausgestellt hat. Auch die Tatsache, dass vermeintlich
süchtige Nutzer vermehrt den realen Kontakt zu virtuellen Freunden suchen
(van Well
2000: 291)
ist ein weiteres Indiz dafür, dass diesem Nutzungsmuster andere Ursachen
zugrunde liegen.
1.1 Untersuchungsgegenstand
Im Fokus dieser Arbeit stehen jene ,,süchtigen" Vielnutzer, von denen es in Deutsch-
land über eine halbe Million zu geben scheint. Ihre Nutzungsmotive sollen hier unter
spezifischem Fokus näher untersucht werden. Die Nutzungszeit fungiert dabei als
Schlüsselkriterium. Nachdem man mit 25 Stunden wöchentlicher Internetnutzung
bereits als ,,gefährdet"
gilt, scheint es angebracht, hier auch die Schwelle zur Quali-
fikation der Interviewpartner anzulegen. Angebotsseitig von besonderer Relevanz für
eine Untersuchung der Nutzungsmotive erscheinen die synchronen CMC-Angebote
(Chat-Rooms, MUDs und deren diverse Untergruppen), auf die sich diese Arbeit
beschränkt. Bei diesen Angeboten wird im Unterschied zu E-Mail, News­Groups und
anderen asynchronen Angeboten mit anderen Usern ,,live" interagiert. Diese Interaktion
beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Gesprächspartner, sondern betrifft auch das
virtuelle Szenarium und die Objekte, die sich dynamisch den eigenen Aktionen an-
passen.
,,Eine besondere Qualität der synchronen computervermittelten Kommunikation liegt darin,
dass unmittelbares Reagieren nicht nur auf sprachlicher Ebene (als schriftliches Gespräch)
stattfindet, sondern auch auf der virtuellen Handlungsebene (als schriftlicher Umgang mit
virtuellen Räumen, Objekten und Körpern. Beim privaten Chat, auf Chat­Channels und am
stärksten in MUDs, werden virtuelle Objekte beschrieben und kollektiv gehandhabt, Körper
und Räume sprachlich etabliert und mit sozialer Bedeutung und Funktionalität ausgestattet"
(Döring 1999: 137).
Beziehungen und Bindungsgefüge, die sich nach relativ kurzer Zeit im Chat-Raum oder
im MUD entwickeln, können so stark werden, dass der virtuelle Freundeskreis von
Usern oft mit der Familie verglichen wird (vgl. Debatin 1998)
16
. Neben der Interaktion
mit anderen, bieten CMC­Angebote eine Vielzahl von Aktivitätsmöglichkeiten,
16
,,Analyse einer Gruppenkommunikation im Chat-Room"; (Quelle/Online:www.uni-
leipzig.de/~debatin/German/Chat.html)

9
wie z. B. das Sammeln von Spielpunkten, Lösen von Quests und Erkunden einer meist
phantastischen Umgebung im MUD, Quizze und Games in Chat-Räumen und anderes
mehr. Dementsprechend üben sie auch, verglichen mit anderen Internetangeboten, eine
besondere Faszination auf die Nutzer aus. Sie werden reger genutzt (Fix 2001) und
ihnen wohnt nach den Ergebnissen der Pilotstudie von Jerusalem und Hahn
(2001)
ein
,,hohes Suchtpotential"
17
inne. Was Untersuchungen zu Chat­Räumen oder MUDs
angeht, so gibt es bis auf wenige Ausnahmen (Bahl 1997; Döring 1999; Fix 2000;
Debatin 1998)
nur
einzelne empirische Arbeiten von Nutzern selbst, die jedoch thema-
tisch eng begrenzt sind und sich meist nur auf eine Analyse von Netzumgangsformen
beschränken oder sich in der Darstellung von bestimmten Angeboten erschöpfen
18
.
Diese Forschungsansätze bleiben größtenteils netzimmanent
.
Erkenntnisse aus der CMC­Forschung (Bahl 1997; Turkle 1999; Döring 1999/2000)
lassen den Schluss zu, dass synchrone CMC-Angebote (MUD, MOOS, IRC, Chat etc.)
ein hohes identitätsrelevantes Potential besitzen und zwar solcherart, dass durch die
körperlose, anonyme Repräsentation via Nickname (Handle) oder Avatar wie durch
ein Spiel mit Masken (vgl. Bahl 1997) unter anderem Wunschidentitäten erschaffen,
neue Identitäten spielerisch ausprobiert oder persönliche Stigmatas kaschiert werden
können (vgl. Döring 1999: 269 ff).
In dieser Arbeit werden die Erkenntnisse zur Identitätsentwicklung in CMC­Räumen
aufgegriffen, und es wird ihnen ein soziologisches Identitätsmodell, nämlich das der
Patchwork­Identität von Heiner Keupp (Keupp 1999), zugrunde gelegt.
CMC ist ein Phänomen der Postmoderne und das Patchwork-Identitätsmodell, nah an
der empirischen Realität entwickelt, trägt den spezifischen Erfahrungen Rechnung,
denen die Subjekte unserer postmodernen Zeit ausgesetzt sind. Es ist aufgrund seiner
offenen Struktur und seines Prozesscharakters gut geeignet, intrapsychische, bei der
Kommunikation via Computer ablaufende Prozesse, sowie die Identitätslagen der
Nutzer zu erfassen und zu beschreiben.
Darüber hinaus bietet der Ansatz der ,,alltäglichen Identitätsarbeit" ein alternatives
Erklärungsmodell für die deviante Nutzung synchroner CMC-Angebote, das den
Vorzug hat, verstärkt den lebensweltlichen und identitätsbezogenen Kontext der
Internetnutzer miteinzubeziehen und im Laufe der Arbeit vorgestellt wird.
17
,,Pilotprojekt zur Internetsucht": S. 25 (Quelle/Online:
http://www.internetsucht.de/publikationen/internetsucht_kurzpraesentation.pdf)
18
Deutsche Gemeinschaft virtueller Welten: (Quelle/Online: http://www.mud.de/Forschung/)

10
Identität ist kein hypothetisches Gebilde, vom dem egal ist, ob man sie hat oder nicht,
sondern sie ist das ,,individuelle Rahmenkonzept einer Person, innerhalb dessen sie ihre
Erfahrungen interpretiert" (Keupp 1999: 60). ,,Subjekte arbeiten (indem sie handeln)
permanent an ihrer Identität" (Straus/Höfer 1997: 273).
Dieser Prozess beeinflusst in spezifischer Weise ihre Wahrnehmung und auch ihr
Verhalten. Es gilt zugespitzt die Formel: "Das Wissen darum, wer wir sind (oder sein
möchten), bestimmt die Art und Weise unseres Verhaltens" .
Identität entsteht an der Schnittstelle zwischen Innen- und Außenwelt eines Subjektes.
Unter ,,innerer Welt" wird dabei die subjektive Selbstwahrnehmung des Subjekts ver-
standen, seine selbstbezogenen Vorstellungen, Pläne und Zielsetzungen. Die ,,äußere
Welt" stellen dabei der lebensweltliche Kontext der Subjekte und die signifikanten
Anderen dar, die dem Subjekt den Rahmen und die Grenzen setzen, in dem es sich ver-
wirklichen kann. Die innere Welt ist nun fortwährend mit den Wahrnehmungen und
Rückmeldungen aus der äußeren Welt konfrontiert. Aufgabe und Ziel der ,,alltäglichen
Identitätsarbeit" ist es, die innere und die äußere Welt eines Subjektes in ein, wenn
auch vielleicht nicht spannungsfreies, so doch erträgliches Passungsverhältnis zu
bringen. Identität ist ,,als ein subjektiver Konstruktionsprozess zu begreifen (...), in dem
Individuen eine Passung von innerer und äußerer Welt suchen (Keupp 1999:7). Die er-
folgreiche Passung ist in der Postmoderne keineswegs selbstverständlich. Sie wird
durch die zunehmende Fragmentarisierung von Lebenswelten, der Auflösung traditio-
neller Wertesysteme, Entgrenzungs- und Individualisierungsphänomene und andere
Faktoren (siehe 2.1.1) erschwert, so dass sich die Subjekte teilweise in Situationen zu-
rechtfinden müssen, die sich durch hohe Ambiguität und hohe Identitätsspannungen
auszeichnen.
,,Das Gelingen von Identität ist deshalb kein privates oder im engen Freundeskreis zu
bewerkstelligendes Projekt, es ist letztlich ein gesellschaftlich vermittelter Prozess."
(Keupp 1999: 286).
Wesentlicher Faktor für die erfolgreiche Passung ist deshalb das Vorhandensein von
Identitätsressourcen, die es den Subjekten erlauben, Ambiguitäten auszuhalten und
Identitätsspannungen zu ertragen. CMC­Räume bieten nun eine ganze Reihe von
Identitätsressourcen, die von den Subjekten möglicherweise auch in diesem Kontext
genutzt werden. Sei es in der Form von Anerkennung, Zugehörigkeit, Selbstwirk-

11
samkeits- und Kohärenzerleben oder in der Vergrößerung oder Schaffung eines
sozialen Netzwerkes an virtuellen Freunden.
Deviantes Verhalten bezüglich unseres Untersuchungsgegenstandes muss also nicht
unbedingt aus einer, wie auch immer gearteten Sucht heraus resultieren, sondern ist
vielleicht nichts anderes als der Versuch eines Subjektes, ,,eine lebbare Antwort auf
eine spezifische Lebenssituation zu finden" (Keupp 1987
b
: 89). Weiter ist es so, dass
die Art der eingesetzten Ressourcen und das damit verbundene Bewältigungs- und
Belastungshandeln in spezifischer Weise auf den Identitätsbildungsprozess zurück-
wirken, z.B. durch die Ausbildung einer dominanten Teilidentität oder einer Teil-
identität. Interessanterweise hat Heiner Keupp selbst in seiner großangelegten empiri-
schen Untersuchung zur ,,Patchwork-Identität" einen Fall beschrieben, der mit diesen
Überlegungen korrespondiert. Auslöser für ein Verhalten, in dem sich das Subjekt
verstärkt dem Computer und elektronischen Medien zuwandte, war in diesem Fall ein
Mangel an sozialen Ressourcen:
,,Der Netzwerktypus soziale Isolation [kursiv im Original] ist vor allem bei arbeitslosen
Jugendlichen anzutreffen, die aufgrund ihrer schlechten Ressourcenlage viele
Freizeitangebote gar nicht nutzen können. Gerade bei hoher psychosozialer Belastung und
prekärer Familiensituation ziehen sich solche Jugendlichen zurück. Interessanterweise werden
hier technische Geräte und neue Medien zum Kommunikationsmittel(...) Kurti, der auch
arbeitslos ist, sitzt jede Nacht am Computer, surft im Internet und schreibt inzwischen eigene
Programme" (Keupp 1999: 158).
1.2 Das Erkenntnisinteresse
Devianz im Umgang mit dem Internet ist im deutschen Raum bis auf einige Aus-
nahmen (etwa Niesing 2000)
19
fast nur quantitativ und nur unter der Suchtperspektive
untersucht worden. Es fehlen zum einen tiefergehende, qualitative Untersuchungen, die
es erlauben, Rückschlüsse auf die Lebenskontexte der Vielnutzer und auf die betref-
fenden Internetangebote zu ziehen und zum anderen eine offenere, weniger einschränk-
ende und stigmatisierende Annäherung an den Gegenstand. Das Internet ist per se
19
,,Zusammenhang des Persönlichkeitsmerkmals Impulsivität und Internetsucht. Unveröffentlichte
Diplomarbeit." Berlin: Technische Universität Berlin. (Quelle/Online: http://psilab.educat.hu-
berlin.de/ssi/publikationen/Diplomarbeit_Niesing_Internetsucht_20001201.pdf)

12
weder zu verteufeln noch schrankenlos gut zu heißen. Es ist ein Medium, das in spezi-
fischer Weise von den Subjekten genutzt wird. In dieser Arbeit soll deshalb auch das
Subjekt selbst zu Wort kommen, um, weg von Zahlen und Statistik, über seine
Nutzungsmotive Auskunft zu geben. Hierbei sind seine individuellen Lebenskontexte,
seine persönlichen Befindlichkeiten und Probleme, seine sozialen, identitätsbezogenen
und wirtschaftlichen Ressourcen, kurz: die Verortung des Subjekts in seiner Welt zu
hinterfragen. Mit der Einbeziehung der Identitätsproblematik, die einen wesentlichen
Aspekt der CMC­Kommunikation ausmacht, tritt der Prozess der Identitätsarbeit der
einzelnen Subjekte in den Vordergrund. Dieser bildet dann auch das Raster, den Such-
fokus, unter dem die Angebote, wie auch deren Nutzer, beleuchtet werden.
Schlussendlich ist genauer zu analysieren, ob es sich bei der Nutzung wirklich um
deviantes Verhalten handelt. Denn es bleibt immer zu bedenken, dass, wie Heiner
Keupp es in seiner Darstellung der Entwicklung und Entstehung des menschlichen
Leides eindrucksvoll zum Ausdruck bringt,
,,psychische Störungen und Normalität keine naturgeschichtlichen Produkte [kursiv im
Original] sind, sondern nur eingebettet in die gesellschaftliche Lebenspraxis verstanden
werden können. Es gibt deshalb auch keine universellen Kriterien für Normalität und für
Störung. Was jeweils als angemessenes Handlungssystem, als sinnvolle Lebensperspektive
und -praxis oder als deren Störung betrachtet wird, ist nur zu verstehen, wenn man den
gesellschaftlichen Lebenszusammenhang kennt, in dem ein Individuum steht und seine
Identität entwickelt." (Keupp 1987
b
: 132)
1.3 Aufbau der Arbeit
Diese Arbeit hat explorativ-deskriptiven Charakter und ihr liegt ein kontextuelles
Verständnis von Medien und deren Aneignung zugrunde (Schorb 2000: 33 ff). Im
Mittelpunkt steht dabei die subjektive Seite des Medienhandelns.
,,Es steht für das, was das Individuum mit den Medien macht, wie es sich ihnen zuwendet, sie
auswählt oder ablehnt, mit welchen Absichten es die Medien nutzt, was es wahrnimmt oder
ignoriert" (Schorb 2000: 34).
Dabei müssen zum einen das Subjekt in seinen spezifischen Lebenskontexten und zum
anderen die Spezifika des Mediums selbst berücksichtigt werden, so dass ein Rück-
bezug der Aussagen der Subjekte auf das mediale Referenzsystem möglich wird.

13
,,Es reicht nicht aus, sich auf die von den Individuen geäußerten Inhalte zu beschränken,
sondern es ist darüber hinaus eine Medienanalyse geboten, um die medienbezogenen
Äußerungen der Individuen auf die konkreten Medieninhalte, die die artikulierten Eindrücke
ausgelöst haben, beziehen zu können" (Schorb 2000: 37).
Grundsätzlich gilt, dass die Aussagen der Subjekte bezüglich ihrer Medienaneignung
als richtig zu werten sind und empirische Gültigkeit besitzen, da sie auf subjektiven
Medientheorien basieren, ,,also aus dem Fundus der Erfahrungen schöpfen, die die
Subjekte mit ihrer Umgebung inklusive der Medien gemacht haben" (Schorb ebd.). Das
kontextuelle Verständnis der Medienaneignung erfordert eigentlich ,,alle Fakten,
Räume und Bezugspersonen, die für die Lebenswelt der Untersuchungsobjekte relevant
sind, in die Beobachtung und Analyse zu integrieren" (Schorb 2000: 39). Da dies aus
zeitlichen wie auch aus ökonomischen Gründen nicht möglich und für das spezifische
Ziel dieser Arbeit auch nicht notwendig ist, konzentriert sich diese Arbeit nutzerseitig
auf die Erfassung der für den Identitätsbildungsprozess wesentlichen Faktoren und
medienangebotsseitig auf die identitätsrelevanten Aspekte der synchronen CMC­
Angebote. Zusammenfassend kann Medienaneignung wie folgt beschrieben
werden: Es ist der ,,komplexe Prozess der Nutzung, Wahrnehmung, Bewertung, Verar-
beitung von Medien aus der Sicht der Subjekte unter Einbezug ihrer ­ auch medialen ­
Lebenskontexte" (Schorb 2000: 35).

14
1.4 Forschungsleitende Fragen
Die zentrale Fragestellung dieser Arbeit ist:
l
Wie und unter welchen Umständen beeinflussen die Erfahrungen mit
synchroner Computer mediated Communication (CMC) die
Erlebens-, und Verhaltensweisen der Nutzer so, dass diese zu
devianten Nutzungsmustern führen?
Die Beantwortung dieser Frage führt unter Punkt 2.1 zunächst zur Vorstellung der
Patchwork-Identität von Heiner Keupp und deren Funktionsweise im Spannungsfeld
des postmodernen Diskurses. Diesem Teil liegen die folgenden zentralen Fragen
zugrunde:
l
Wann und unter welchen Umständen werden Teilidentitäten entwickelt?
l
l
Wann wird eine Teilidentität dominant?
l
l
Welche Ressourcen sind für eine gelingende Identitätsarbeit notwendig?
Zur Beantwortung dieser Fragen werden die wesentlichen Konstrukte (Teilidentität,
Dominante Teilidentität, Identitätsressourcen etc.) der Identitätsarbeit erklärt und
Kriterien der Identitätsbildung herausgearbeitet. Es werden weiter Situationen mit
hoher Ambiguität beschrieben und definiert, da diese den Prozess der Identitätsbildung
besonders relevant werden lassen.
Unter Punkt 2.2 werden die unterschiedlichen CMC-basierten Angebote und deren
Spezifika, im Besonderen rekurrierend auf Döring (1999; 2000), Turkle (1999), Batinic
(2000), Götzenbrucker (2001) und Bahl (1997) beschrieben.
Punkt 2.3 steht unter dem Fokus der zentralen Fragen:
l
Kann im virtuellen Raum eine Teilidentität entstehen?"
l
Gibt es Unterschiede zwischen den Teilidentitäten im realen und im
virtuellen Raum?"

15
Hierbei wird erläutert, warum es, ausgehend von den Kriterien aus Teil 2.1, möglich ist,
dass sich im CMC-Raum Teilidentitäten entwickeln und inwiefern sich diese von Teil-
identitäten im ,,real life" unterscheiden.
Punkt 2.4 liegen folgende Fragen zugrunde:
l
Können Subjekte Identitätsressourcen aus synchronen CMC-Räumen
beziehen?
l
Welcher Art sind diese Ressourcen und wie werden sie bezogen?
Hierbei werden die aus Punkt 2.1 herausgearbeiteten Identitätsressourcen als Raster
genommen und wiederum unter Rückgriff auf die bereits unter Punkt 2.2 genannten
Autoren an die Angebote angelegt.
Punkt 2.5 leitet die empirischen Überprüfung ein.
Hier werden deviante Nutzungsmuster definiert und das bisher theoretisch Formulierte
thesenhaft zur empirischen Untersuchung komprimiert. Dabei wird ein Zusammenhang
zwischen dem lebensweltlichen Kontext der Subjekte, ihrer Ressourcenlage und Iden-
titätsarbeit, sowie der Nutzung von synchronen CMC-Angeboten hergestellt.
Unter Punkt 3 werden die Grundprinzipien der qualitativen Forschung und die
Methoden, mit denen gearbeitet wird, vorgestellt. Da es das kontextuelle Verstehen der
Medienaneignung erforderlich macht, dass den Subjekten ein adäquater Rahmen für
ihre Äußerungs- und Artikulationsmöglichkeiten geboten wird (vgl. Schorb 2000: 36 f),
aber gleichzeitig auch anzunehmen ist, dass die Subjekte über bestimmte Sachverhalte
(z.B. dominante Teilidentitäten, Identitätsressourcen) keinen bewussten Zugang haben,
wird zur empirischen Überprüfung der entwickelten Thesen das Tiefen-Interview
verwendet, das den Vorteil hat, den Subjekten einen großen Spielraum bezüglich ihrer
Äußerungen zu lassen. Dieses Interview wird anhand eines Leitfadens geführt, der aus
den bis dato gewonnen Erkenntnissen erstellt wurde. Im weiteren werden in diesem
Teil unter anderem das Kategoriensystem für die spätere Interviewauswertung und die
Transkriptionsregeln vorgestellt.

16
Punkt 4 beinhaltet die abschließenden Einzel- wie auch die Gesamtauswertungen der
Interviews und die Beantwortung der Forschungsfragen.
Unter Punkt 5 folgt eine abschließende Betrachtung unter Einbeziehung der
Ergebnisse, eine kritische Reflexion und ein Ausblick auf weitere mögliche
Forschungen in diesem Bereich.

17
2 Theoretische Ansätze
2.1 Die Patchwork -Identität
2.1.1 Postmoderne Ursprünge
Patchwork [engl. = Flickenwerk]: "Man versteht unter Patchwork das in mühevoller
Kleinarbeit mit überwendlichen Stichen oder auch durch Zierstiche erfolgende
Zusammennähen kleiner Stoffreste zu oft künstlerisch gestalteten Artikeln. Meist haben die
Stoffreste identische Formen, etwa Quadrate, Rechtecke oder Sechsecke. Eine andere
Methode, bei der unregelmäßig geformte Stücke zusammengenäht werden, nennt man »Crazy
patchwork«. Der Reiz dieser Arbeiten liegt meist im Detail, in der geschickten Kombination
auch unterschiedlichster Stoffreste und Farben(...).
20
Die Entwicklung der eigenen Identität ist eine ernst zu nehmende und unumgängliche
Aufgabe, die jeder Mensch in seinem Leben angehen, bearbeiten und für sich stimmig
lösen muss. Heiner Keupp, Vertreter einer reflexiven Sozialpsychologie (vgl. Keupp
1993), entwickelte seine Theorie der ,,Patchwork-Identität mit Blick auf die ver-
änderten gesellschaftlichen Lebensverhältnisse der Post- oder Spätmoderne. Eine der
grundlegenden Überlegungen dieses Modells ist, dass ,,Identitätsbildung nicht der
Vollzug eines biologischen Programms ist, sondern ein Entwicklungsprozess, der innig
mit der Konstitution des Subjektes in einer spezifischen gesellschaftlichen Epoche
zusammenhängt (...)" (Kraus 1996 : 22ff). In anderen Worten: Individuen entwickeln
ihre Identitäten nicht autonom, sondern im Rahmen gesellschaftlich-historischer Gege-
benheiten und Zustände. Den Grundstein für diese soziologische Betrachtungsweise
von Identität legte Kant mit seinem transzendentalen Idealismus, der zwischen dem
,,reinen Ich" (pure Ego) und dem ,,empirischen Ich" (me, self) unterscheidet (Mikl-
Horge 2001: 153ff). Damit wurde ein Bezug zur Gesellschaft hergestellt, der ein kon-
textuelles Verstehen von Identität ermöglichte.
G. H. Mead (Mead 1934: 216ff) nimmt diese Gedanken auf und definiert Identität
als reflexive Fähigkeit des Subjekts, sich zu sich selbst und anderen gegenüber zu
verhalten. Dabei wird die Identitätswerdung als Prozess aufgefasst, in dessen Verlauf
man die Erwartungen der Interaktionspartner wahrnimmt, sie internalisiert und auf sie
reagiert (s.a.: Brockhaus der Psychologie 2001: 260; Mikl-Horge 2001: 192 ff ).
20
Lexikon der textilen Raumausstattung (Quelle/Online:http://www.raumausstattung.de/2999/2566.html)

18
Kennzeichnend für unsere postmoderne Zeit sind ,,Prozesse der Individualisierung, der
Entwurzelung aus klassischen Gruppen- und Integrationsformen"(Kraus 1996:25).
Einerseits erfährt das Individuum heute durch den Zerfall von vielen traditionellen
Institutionen eine bisher nicht gekannte Optionsfreiheit.
Nur noch in Restbeständen existieren Lebenswelten mit geschlossener weltanschaulich-
religiöser Sinngebung, klaren Autoritätsverhältnissen und Pflichtkatalogen. Die
Möglichkeitsräume haben sich in einer pluralistischen Gesellschaft explosiv erweitert. In
diesem Prozess stecken enorme Chancen, aber auch zunehmende Gefühle des
Kontrollverlustes und wachsenden Risiken des Misslingens (Keupp 1999: 55).
Andererseits ist es aber gezwungen diese neuen Wahlmöglichkeiten aktiv zu nutzen,
um aus seinem Leben ,,etwas zu machen".
,,Statt auf einem gesicherten Platz in einer stabilen sozialen Ordnung verweilen zu können,
wird von den Einzelnen gefordert, sich aktiv bei der Gestaltung ihres Lebens und ihrer
sozialen Position in einer sich beständig verändernden Umwelt zu engagieren" (Wagner
1995:243).
Dieser Prozess birgt Risiken in sich. Deswegen spricht Keupp an anderer Stelle auch
von ,,riskanten Chancen" (Keupp 1997: 29 ff). Problematisch ist nicht nur, dass viele
Menschen davon überfordert sind, sondern auch, dass die Alltagserfahrung, der zufolge
,,man eben nicht aus seiner Haut kann", keine Berücksichtigung findet. Ebenso wenig
wie die zahlreichen sozialen und psychologischen Bedingtheiten und Grenzen, die den
Subjekten gesetzt sind. Die ,,Patchwork"-Identität ist ein Identitätsmodell der
Postmoderne. Um dessen Struktur und Aufbau, sowie die Abgrenzung von anderen
klassischen Identitätstheorien, verständlicher zu machen, seien hier die wichtigsten und
einschneidensten Umbruchserfahrungen, denen die Menschen unserer Zeit ausgesetzt
sind, etwas ausführlicher dargestellt:
l
Entbettung
Damit ist gemeint, dass der kulturelle Rahmen mit ehemals verlässlichen Traditionen,
der ,,Sicherheit, Klarheit, aber auch hohe soziale Kontrolle vermittelt" (Keupp 1999:
47), wegfällt und die Subjekte jetzt selbstbestimmt eigene Optionen und Lösungswege
im Laufe ihrer Entwicklung suchen müssen. Dieses Gefühl wird als ,,Entbettung"
erlebt, als ,,ontologische Bodenlosigkeit" (ebd.).

19
l
Entgrenzung individueller und kollektiver Lebensmuster
Es gibt keine allgemeingültigen Schnittmuster mehr, anhand derer Heranwachsende
ihre Biographie entwerfen können. Vormals gesamtgesellschaftlich geteilte Vorstel-
lungen von ,,Erziehung, Sexualität, Gesundheit, Geschlechter- oder Generationsbe-
stimmung verlieren den Charakter des Selbstverständlichen" (ebd.).
l
Erwerbsarbeit wird als Basis von Identität brüchig.
Arbeit als gesellschaftlicher Integrations-, Einbettungs- und vor allem als sinnstiftender
Faktor wird weniger. Es gibt nicht genug Arbeit für alle; das machen die aktuellen
Arbeitslosenquoten mehr als deutlich. Das ,,Gut" Arbeit gewinnt durch die Ver-
knappung jedoch gleichzeitig an Wert. ,,Die psychologischen Folgen dieses Prozesses
sind enorm, gerade in einer Gesellschaft, in der die Teilhabe an der Erwerbsarbeit über
Ansehen, Zukunftssicherung und persönliche Identität entscheidet" (ebd.).
l
,,Multiphrene Situation" wird zur Normalerfahrung.
,,Multiphren" meint in diesem Kontext die zunehmende Fragmentarisierung und Er-
weiterung unserer lebensweltlichen Kontexte, seien es direkt zwischenmenschliche,
elektronisch oder medial vermittelte. ,,Die wachsende Komplexität von Lebensver-
hältnissen führt zu einer Fülle von Erlebnis- und Erfahrungsbezügen, die sich aber in
kein Gesamtbild fügen. Diese Erfahrungen sind wie Teile eines zerbrochenen Hohl-
spiegels" (ebd.).
l
Virtuelle Welten als neue Realitäten
Die Entwicklungen, die die Vernetzung und das Entstehen virtueller Gemeinschaften
mit sich bringt, sind bis jetzt noch kaum absehbar. Die neuen virtuellen Welten fördern
vor allem den Zweifel an dem einen gültigen ,,Realitätsprinzip" und sie bewirken auch
Veränderungen im zwischenmenschlichen Bereich. ,,Familientherapeuten berichten von
Kommunikationsrissen zwischen Eltern und Kindern, die sich souverän in diesen
virtuellen Welten bewegen und aufhalten, aber die Eltern und Lehrer können ihnen
dahin nicht folgen" (ebd.).

20
l
Zeitgefühl erfährt ,,Gegenwartsschrumpfung"
Dies bedeutet, dass sich unser subjektives Zeitempfinden für Vergangenheit, Gegen-
wart und Zukunft verändert. Der Grund liegt in einer Innovationsverdichtung, die zu
einem immer schneller werdenden Verfall bislang geltenden Wissens führt. Mit dieser
zunehmenden ,,Veraltensgeschwindigkeit" ändert sich auch unser Verhältnis zur Zeit.
Was gestern noch modern war, ist morgen bereits wieder veraltet. Das führt zu einer
weiteren Verstärkung des Gefühls der Orientierungslosigkeit.
l
Pluralisierung von Lebensformen
Damit ist gemeint, dass die Entscheidungsfreiheit des Subjekts, was die Art seiner
Lebensweise und das Milieu, in dem er sich aufhält oder aufhalten möchte, kaum mehr
begrenzt ist. ,,Ein schwuler junger Mann, der in seinem dörflichen Herkunftsmilieu zum
diskriminierten Außenseiter zu werden droht, kann sich eine schwule Subkultur in den
urbanen Zentren suchen (...)" (Keupp 1999: 51). Diese Freiheit der Gestaltung geht bis
zu den intimsten Beziehungen, sei es in der Partnerschaft oder der Familie. Ehen ohne
Trauschein, zeitlich begrenzte Beziehungen, wechselnde Lebenspartner in einer Familie
und das Entstehen einer Vielzahl subkultureller Lebensräume sind Ausdruck dieser
Pluralisierung.
l
Dramatische Veränderung der Geschlechterrollen
Mit der emanzipatorischen Frauenbewegung wurden und werden Bereiche gesellschaft-
licher, traditionell verankerter Selbstverständlichkeiten aufgebrochen, die die Rollen-
verteilung von Mann und Frau betreffen, insbesondere der Sexualität, Arbeitsteilung
und Kindererziehung. Damit öffnet sich den Frauen bei der Suche nach ihrer Identität
ein Raum für weniger festgelegte und freiere Konstruktionen ihrer Identität.
l
Individualisierung verändert das Verhältnis vom einzelnen zur Gesellschaft
Unter Individualisierung wird die ,,Freisetzung aus Traditionen und Bindungen"
(Keupp 1999: 52) verstanden. Gesellschaftliche Institutionen, die auf Traditionen
beruhen, wie Kirchen, Gewerkschaften oder Parteien verlieren an Macht und Einfluss
auf das Leben des Einzelnen. Die Person wird selbst ,,zur Steuerungseinheit, und die
Begründung ihres Handelns muss ihr sinnvoll und vernünftig erscheinen und darf sich
nicht allein auf das ,,man" traditioneller Normierungen berufen" (Keupp ebd). Schlag-
worte wie ,,Ego­Gesellschaft" und der damit verbundene Verlust der Gemeinschafts-

21
verantwortung und des Gemeinschaftsengagements zeigen dabei allerdings nur eine
Seite des Phänomens. Auf der anderen Seite ist der Mensch sehr wohl noch in der Lage,
sich solidarisch zu verhalten. Allerdings muss es ihm subjektiv vernünftig erscheinen
und mit seinen Vorstellungen der Selbstgestaltung und Lebensführung korrespondieren.
l
Individualisierte Form der Sinnsuche
Damit ist gemeint, dass die tradierten und etablierten philosophischen, politischen und
gesellschaftlichen Deutungssysteme an Bedeutung verlieren. Sie sind nicht in der Lage,
mit den vielfältigen, neuen Deutungsmustern, die mit dem Erfahrungspluralismus
einhergehen, Schritt zu halten. Dieser Verlust an Orientierung erzeugt den individuellen
,,Sinn-Bastler", der sich in einer Welt, in der nichts mehr ,,sicher" ist, seinen eigenen
Sinn konstruieren muss.
Wie gehen nun die Individuen mit diesen veränderten gesellschaftlichen Vorraus-
setzungen um?
Wie schaffen sie es, trotzdem eine Identität zu entwickeln, die sie handlungsfähig
bleiben lässt und mit der sie leben können?
Keupp´s Identitätsmodell versucht diese Fragen zu beantworten.
2.1.2 Entstehung von Identität
Wie bereits dargelegt, ist Identität abhängig vom gesellschaftlichen Rahmen, in dem sie
entwickelt wird, und dem Spielraum, den dieser den Subjekten für ihre Entfaltung zu-
gesteht. In einer Zeit, in der das Individuum einer zunehmenden Fragmentarisierung
und Globalisierung seiner Umwelt und damit äußerst widersprüchlichen Erfahrungen
ausgesetzt ist, in der immer weniger vorgezeichnete Identitätskarrieren existieren und
sich stattdessen unzählige Optionsräume für individuelle Entwicklung (oder Versagen)
eröffnen und herkömmliche Traditions- und Normenkorsetts wegbrechen, kann Keupps
Meinung nach die Theorie einer einheitlichen, festen, monolithischen Identität nicht
mehr aufrecht erhalten werden. Das Konzept von Identität als ,,subjektives Gefühl einer
bekräftigenden Gleichheit und Kontinuität" (Erikson 1981: 15), als ,,unmittelbare
Wahrnehmung der eigenen Gleichheit in der Zeit und die damit verbundene
Wahrnehmung, dass auch andere diese Gleichheit und Kontinuität erkennen" (Erikson

22
zitiert nach Hausser 1995: 75), wie sie Erikson vertrat,
ist heute nicht mehr haltbar.
Erikson ging von einer Kernidentität aus und sah deren Entwicklung und Bildung als
eine Entwicklungsaufgabe des Menschen an, die sich in mehreren Phasen zwischen den
Polen Identität und Identitätsdiffusion vollzieht, und die in der Pubertät zu lösen sei
(Hausser 1995 ebd.). Einer seiner prominentesten Vertreter war James E. Marcia.
Marcia bricht insofern mit Erikson, als er die Identitätsentwicklung nicht mehr nur auf
das Jugendalter beschränkt und als irreversibel erklärt, sondern als dynamischen
Übergang zwischen verschiedenen Identitätszuständen. Er unterscheidet dabei in
Moratorium (Phase der krisenhaften Exploration, verschiedene Alternativen),
Foreclosure (Identitätsübernahme, klare innere Verpflichtung bei gleichzeitiger starker
Orientierung an den Eltern), Identitätsdiffusion (keine Festlegung, keine
Experimentierphase, keine Bemühung) und Identity Achievement (gelungene
Identität). Diese Identitätszustände bewegen sich zwischen den beiden Polen
Commitment (Selbstverpflichtung) und Crisis (Exploration). Mit seinem ,,Identity
Status Interview" öffnet Marcia auch den Weg zu einer empirischen Überprüfbarkeit
der psychosozialen Entwicklungsstufen (siehe dazu Hausser 1995: 79ff; Keupp 1999:
80 ff). Heiner Keupp sieht in der Konstruktion von Identität einen lebenslangen
Passungsprozess von Innen- und Außenwelt, der vom Individuum in seinem
individuellen Identitätsrahmen und mittels seiner Möglichkeiten zu steuern gesucht
wird. ,,Mit unserem Projekt verfolgen wir das Ziel, Identitätsarbeit als aktive Passungs-
leistung des Subjekts unter den Bedingungen einer individualisierten Gesellschaft zu
begreifen (...). Identität verstehen wir als das individuelle Rahmenkonzept einer Person,
innerhalb dessen sie ihre Erfahrungen interpretiert und das ihr als Basis für alltägliche
Identitätsarbeit dient" (Keupp 1999: 60). Die Individuen sind heute gefordert, die
mannigfaltigen, sich teilweise widersprechenden Teile ihres Ichs wieder zu einem
stimmigen Bild zusammenzufügen. Sie sind aufgefordert, sich eine Persönlichkeit und
eine persönliche Geschichte zu konstruieren. Es ist nicht mehr die globale Frage: ,,Wer
bin ich?", die nach Identität fragt, sondern vielmehr die Frage: ,,Wer bin ich aktuell?
In dieser Situation? Mit diesen Menschen? Hinsichtlich meiner Zukunft, meiner
Gegenwart und meiner Vergangenheit?"
Genau dies soll mit der ,,Patchwork"-Metapher ausgedrückt werden.

23
2.1.3 Der Prozess der reflexiven, alltäglichen Identitätsarbeit
Identität entsteht an der Schnittstelle zwischen Innen- und Außenwelt. Identitätsent-
wicklung findet zwar im Subjekt selbst statt, doch basiert sie auf einem ,,Aushandlungs-
prozesses des Subjekts mit seiner gesellschaftlichen Umwelt" (Keupp 1999: 191).
Hierbei kollidiert die innere Welt des Subjekts mit der Außenwelt und Identität bildet
dabei ein ,,selbstreflexives Scharnier" (Keupp 1999:28). Es ist eine Sache, wie ich mich
selbst sehe oder gerne sehen möchte, eine ganz andere jedoch, welche Rückmeldungen
ich von draußen, von meinen Interaktionspartnern, über mich bekomme bzw. welcher
Handlungsspielraum mir zur Verfügung steht und zugestanden wird. Die innere und die
äußere Welt müssen deshalb ständig aneinander an- bzw. miteinander abgeglichen
werden. ,,Identität verstehen wir als einen fortschreitenden Prozess (...), der sich (...) in
jeder alltäglichen Handlung (neu) konstruiert" (Keupp 1995: 215). Dieses Handeln
findet seinen Ausdruck in Identitätsentwürfen und Identitätsprojekten.
Identitätsentwürfe sind das, was nach Markus
(vgl. Keupp1999: 194) auch als
,,optionale Selbste" bezeichnet werden kann. Dabei entwirft sich das Subjekt in die
Zukunft. Dies geschieht in teilweise imaginären, utopischen Vorstellungen und
Träumen, von dem, was es erreichen kann und wie es sich in der Zukunft sieht, z. B.:
,,Ich werde ein berühmter Filmstar". Manche dieser Entwürfe verdichten sich dann zu
Identitätsprojekten, z. B.: ,,Ich werde mich bei der Theaterschule bewerben". Im
Gegensatz zu den Identitätsentwürfen haben diese jedoch ,,inneren Beschlusscharakter"
(Keupp 1999: 194) und es hat dabei im Regelfall auch eine Überprüfung der tatsächlich
vorhandenen Ressourcen und Möglichkeiten des Subjektes stattgefunden (vgl. Keupp
ebd.). Die Subjekte stellen bei der alltäglichen Passungsarbeit bzw. Identitätsarbeit ihrer
Umwelt ein flexibles Identitätskonstrukt entgegen, das sich mit den gesammelten
Erfahrungen im Fluss permanenter Veränderungen befindet und ständig modifiziert
wird. Diese Modifizierung erfolgt unter einer funktionalen Perspektive.
,,Spezifische Funktionen von Identität können sein: das Lust-Schmerz-Verhältnis zu
optimieren, eine positive Selbsteinschätzung zu erhalten und das Selbstwertgefühl zu erhöhen.
Beurteilungskriterium der Identitätsstruktur ist demnach ihre Nützlichkeit, das heißt, dass sie
Erklärungen und Interpretationen anbietet, die die eigenen Werte und Ziele stützt, die
emotionale Befindlichkeit stabilisieren. Subjekte mit dem Gefühl positiver eigener Hand-
lungsfähigkeit erleben sich (...) als ,,Intentionalitätszentrum" (Keupp 1999: 239).

24
Als weitere funktionale Kriterien wären zu nennen: Die Vermittlung von Anerkennung,
Zugehörigkeit (Integration), Autonomie, Originalität, Authentizität, Selbstwirksamkeit,
Selbstachtung und Kohärenz (vgl. Keupp 1999: 261ff; 274).
Ziel der Passungsarbeit ist dabei nicht die heute kaum mehr zu realisierende Aufhebung
aller Ambivalenzen und das völlige Kohärenzerleben, sondern die ,,Herstellung eines
konfliktorientierten Spannungszustandes, bei dem es weder um Gleichgewicht und
Widerspruchsfreiheit, noch um Kongruenz geht, sondern um ein subjektives Maß an
Ambiguität (Krappmann 1969) und des «Herausgefordertseins»" (Keupp 1999:197).
Diese Ambiguität hat zwei Dimensionen: Sie ist das, was bei Freud die Störung des
homöostatischen Zustandes war, also der Motor, der uns antreibt und uns herausfordert,
und sie hat als Ambiguitätstoleranz den Status einer Fähigkeit, die entscheidend dafür
ist, wie viel an Widersprüchlichkeit jeder einzelne von uns ertragen kann, um hand-
lungsfähig zu bleiben. Das Maß an erträglicher Ambiguität wird dabei entscheidend
davon beeinflusst, welche Ressourcen uns zur Verfügung stehen (zur Rolle der
Ressourcen siehe 2.1.5). Weiter folgt Identitätsarbeit einem relationalen Grundmodus
(vergl. Keupp 1999: 190ff ). Nach diesem besteht sie vor allem in einer
permanenten Verknüpfungsarbeit von situativen Selbsterfahrungen, die dem Subjekt
hilft, sich im Strom der eigenen Erfahrungen selbst zu begreifen und die alltägliche
Komplexität auf ein erträgliche Maß zu reduzieren. Dabei ordnet das Subjekt seine
Selbsterfahrungen zum einen einer zeitlichen Perspektive unter (verknüpft
Vergangenes mit Gegenwärtigem und Zukünftigem), zum anderen einer lebens-
weltlichen (Erfahrungen als Sportler, als Berufstätiger, als Ehepartner, als Familien-
vater etc.) und einer inhaltlichen (Ähnlichkeiten, Differenzen bzw. Neuheit der Selbst-
erfahrungen) Perspektive.
2.1.4 Modell und Funktionsweise der Patchwork-Identität
Heiner Keupps Modell soll im Folgenden nur grob skizziert werden, da es zwar wichtig
ist, dass der Leser einen Einblick in die einzelnen Wirkungszusammenhänge bekommt,
es aber zumindest im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich ist, das Modell in seiner
ganzen Komplexität abzubilden. Im Prozess alltäglicher Identitätsarbeit werden auf der
Basis von situativen Selbsterfahrungen permanent Selbstthematisierungen vorgenom-
men. Selbsterfahrungen können in allen Bereichen gesammelt werden, in denen sich

25
das Subjekt betätigt (Sport, Schule, Beruf, Golfklub, Universität, Internet etc.). Bei
diesen Selbsterfahrungssituationen lassen sich fünf Modi der situationalen Selbstwahr-
nehmung unterscheiden:
l
emotionaler Eindruck (Wie man sich emotional in der Situation gefühlt
hat)
l
körperlicher Eindruck ( Körperliches Befinden in der Situation)
l
sozialer Eindruck (Rückmeldung zum eigenen Verhalten von anderen)
l
kognitives (Selbst-)Bild (Selbsteinschätzung, auch in bezug auf eigene
Leistungsnormen)
l
produktorientiertes (Selbst-)Bild (Selbsteinschätzung dessen, was man
geleistet hat)
Diese fünf Aspekte sind bei jeder unserer Handlungen vorhanden, werden allerdings
bei nachträglicher Betrachtung nicht alle bewusst reflektiert. Es kann sein, dass ein
Aspekt dominanter wahrgenommen wird als die anderen (z.B. der emotionale oder der
soziale Aspekt) bzw. es kann auch sein, dass sich einzelne Eindrücke widersprechen.
Die daraus resultierenden Selbstthematisierungen werden auf zweierlei Weise verar-
beitet. Zum einen werden sie unter gesellschaftlich mitbestimmten Perspektiven zu
Teilidentitäten verdichtet. Zum anderen werden die entstandenen Teilidentitäten, auf
die im nächsten Abschnitt ausführlicher eingegangen wird, auf einer Metaebene reflek-
tiert. Auf dieser Ebene der Metaidentität sind die biographische Kernnarration, die
dominierende Teilidentität und das Identitätsgefühl angesiedelt. Hier werden die
situational und bereichsspezifisch begrenzten Teilidentitäten zu bestimmten Identitäts-
kernen verdichtet. In diesen Kernen werden die vielen Erfahrungen aus den Teiliden-
titäten nochmals unter verschiedenen Aspekten integriert. Die Kernnarrration
beschreibt, wie das Subjekt sich übergreifend erzählt, die dominierende Teilidentität,
gibt an, welche der Teilidentitäten für die Identitätsarbeit momentan die größte Rele-
vanz hat und im Identitätsgefühl verdichtet und sammelt das Subjekt vor allem die
biographischen Bewertungen von sich selbst. Die Erfahrungen des Identitätsgefühls
lassen sich unterscheiden in ein Kontinuum positiver und negativer Selbstwerte
(Selbstgefühle) und in ein Kontinuum niedrigen bis hohen Kohärenzgefühls der
Machbarkeit, Verstehbarkeit und Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns.

26
,,In unserem Verständnis enthält das Identitätsgefühl sowohl Bewertungen über die Qualität
und Art der Beziehung zu sich selbst (Selbstwertgefühl) als auch Bewertungen darüber, wie
eine Person die Anforderungen des Alltags bewältigen kann"
(Keupp 1999: 226 ff).
Diese drei Identitätskonstruktionen Teilidentität, Kernnarration und insbesondere das
Kohärenzgefühl, das auch gleichzeitig den Status einer generalisierten Bewältigungs-
ressource besitzt, beeinflussen wiederum die Handlungsfähigkeit und das Verhalten
des Subjektes bezüglich anderer Selbsterfahrungen.
Grafisch stellen sich die Beziehungen der einzelnen Komponenten des Identitäts-
modells wie folgt dar:
Biographische
Kernnarrration
Ebene der Dominierende Identitätsgefühl
Metaidentität Teilidentität
Selbst- und
Kohärenzgefühl
Ebene der Freizeit
Teilidentitäten Arbeit Familie
Handeln
Chat/MUD? Gesundheit
(Belastungs-/
Bewältigungs-
handeln)
Ebene der
situativen
Selbstthematisierungen
(viele einzelne situative Selbsterfahrungen)
Abb.1: Konstruktionen der Identitätsarbeit (Keupp 1999: 218).

27
2.1.5 Teilidentitäten
Teilidentitäten sind das Ergebnis von situativen Selbsterfahrungen, die das Individuum
im Laufe seines alltäglichen Lebens macht.
Jedes Subjekt verfügt über mehrere und durchaus unterschiedliche Teilidentitäten. Teil-
identitäten haben keinen dauernden Charakter. Je nach Lebensabschnitt, -alter und
-situation können neue Teilidentitäten in den Vordergrund kommen, alte zurücktreten
oder ganz verschwinden. Wenn ein Jugendlicher beispielsweise seinen Zivildienst ab-
leistet, ist es sehr wahrscheinlich, dass seine dominierende Teilidentität für die Dauer
des Zivildienstes, die eines Zivildienstleistenden ist (gleiches gilt für Schüler, Student
etc.). Das bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass die anderen passiven Teilidentitäten
völlig aufgegeben werden. Sie können immer noch präsent, aber eben im Moment nicht
aktiviert sein. Keupp spricht in diesem Zusammenhang auch von einer ,,Felderwirt-
schaft" (Keupp 1999:25): ,,Während die eine Teilidentität in ihrer Entwicklung eher
,brach liegt', bestellt das Subjekt die zweite und erntet bei der dritten die Früchte der
Identitätsarbeit" (ebd.). Man entwickelt jedoch nicht in allen Bereichen eine Teiliden-
tität. Die Entwicklung von Teilidentitäten folgt Identitätsperspektiven, die von
Gesellschaft und sozialem Netzwerk des Individuums geprägt werden.
,,Man könnte auch sagen, dass Perspektiven und Teilidentitäten ein Verhältnis von Form und
Inhalt bilden. Die Verdichtung der Erfahrungen beispielsweise unter dem Gesichtspunkt einer
der zentralen Handlungsaufgaben (Erwerb einer beruflichen Identität) führt zur Typisierung
der eigenen Person als ,Berufstätiger'" (Straus/Höfer 1997: 281).
Für die Ausbildung von Teilidentitäten ist gesamtgesellschaftlich betrachtet der
,,historisch bedinge Differenzierungsgrad der Lebenswelt(en) " (Keupp 1999:222) von
Bedeutung. Heute unterscheidet man im allgemeinen eine lebensweltliche Dreiteilung,
in Beruf, Freizeit und Familie. Diese lebensweltliche Teilung ist aber keineswegs obli-
gatorisch. Wie bereits unter Punkt 2.1.1 (Pluralisierung von Lebenswelten) dargestellt,
ist die Postmoderne reich an Alternativen, so dass ein Subjekt auch eine völlig andere
Teilidentität (z.B.: Trekkie
21
o.ä.) entwickeln kann. Auf der Ebene des Individuums ist
die Wahl der Teilidentitäten abhängig vom Verlauf seiner Biographie, von seiner
sozialen und gesellschaftlichen Umgebung und schlussendlich von seiner
individuellen Entscheidung (Keupp 1999: 222 f).
21
Star-Trek Fan

28
Die Frage nach einer Teilidentität ist die Frage, welche Perspektive ein Subjekt zulässt,
bzw. unter welcher es sich bewerten will. In der Teilidentität werden alle Erfahrungen,
Ziele, Pläne subsummiert, die mit dem jeweiligen Lebensbereich verbunden werden.
Die familiäre Teilidentität enthält beispielsweise alle Erfahrungen, Ziele, Pläne etc.,
die im Rahmen der Familie gemacht wurden. Ein weiteres Kennzeichen eines Bereich-
es, in dem eine Teilidentität entwickelt wurde, ist eine Ausdifferenzierung der eigenen
Wahrnehmung. Teilidentitäten enthalten die, zumindest für einen bestimmten Zeitraum,
gültigen Standards. Unter Standards versteht man ein ,,Set von angewandten
Bedeutungen" (Burke zit. nach Keupp 1999: 219 ), die definieren, ,,Wer man ist" und
an denen man sich und sein Handeln ausrichtet. Man könnte diese Standards auch als
,,subjektive Bezugsnormen" bezeichnen (Hausser 1995: 16). Sie folgen ähnlich wie die
Dimensionen von Selbsterfahrungen den fünf zentralen Erfahrungsmodi des Selbst
(vgl. Keupp 1999: 218 ff), die allerdings auch in Widerspruch zueinander stehen kön-
nen. Man entwickelt im Rahmen einer Teilidentität kognitive, soziale, emotionale,
körper- und produktorientierte Standards.
Generell gilt, dass es ,,keine logische Festlegung oder Begrenzung der Teilidentitäten
eines Subjektes gibt" (Keupp 1999:224).Teilidentitäten können in jedem Lebensbereich
eines Individuums gebildet werden. Um in einem Bereich allerdings eine Teilidentität
zu entwickeln, muss dieser Bereich erst einmal als ein solcher wahrgenommen werden
bzw. eine ausreichende subjektive Relevanz für das Subjekt besitzen. Weiter ist es
unwahrscheinlich, dass eine Teilidentität in einem Lebensbereich entwickelt wird, der
nur selten frequentiert wird. Es ist unwahrscheinlich, dass man eine Teilidentität als
Chatter entwickelt, wenn man nur einmal im Jahr im Internet ist. Viel wahrscheinlicher
ist es hier, dass diese Selbsterfahrung einer anderen Teilidentität zugeordnet wird (z.B.
der Freizeit-Teilidentität). Wenn ich jedoch leidenschaftlicher Chatter bin, möglicher-
weise auch in einer Community eine leitende Position einnehme, hat dieser Identitäts-
bereich eine ganz andere Bedeutung für mich, da ich mich bis zu einem bestimmten
Grad darüber definiere.
Kriterien für das Vorhandensein einer Teilidentität sind demnach:
l
Subjektiv empfundene Wichtigkeit des jeweiligen Lebensbereiches
l
Abgrenzbarkeit des (Lebens-)Bereiches und Ausdifferenzierung der
Wahrnehmung.
l
In dem betroffenen Teilbereich vorgegebene oder durch Freunde und

29
soziales Netzwerk vermittelte Identitätsperspektiven
l
Verknüpfung und Einordnung der Selbsterfahrungen unter dieser
Perspektive
l
Wie beim Entstehen von Identität überhaupt, ist auch bei der Entstehung
einer Teilidentität die Interaktion mit anderen Individuen, im Sinne
,,sozialen Handelns"
22
, Vorraussetzung.
2.1.6 Dominante Teilidentität
Die Frage nach der Dominanz einer Teilidentität ist eine Frage nach Verhältnismäßig-
keiten. Überlegungen, die in diesem Zusammenhang angestellt werden, sind:
Welche Identitätsperspektive ist für mich im Moment am wichtigsten?
Welche Projekte haben Vorrang vor anderen?
Wie viel Energie wende ich für die Realisierung eines Projektes auf ?
Es ist ein Festlegen auf das, was in der jeweiligen Lebenssituation für das Sub-
jekt am wichtigsten ist und am meisten Relevanz besitzt. Ist für ein Subjekt zum Bei-
spiel das Projekt ,,Familie gründen" am wichtigsten ist, so wird sich seine familiäre
Teilidentität wahrscheinlich zur dominanten ausbilden. Dabei werden sich die beruf-
liche und die Freizeit-Teilidentität dieser unterordnen und zwar dergestalt, dass dem
Bereich ,,Familie" mehr Aufmerksamkeit, Anstrengung und Zeit gewidmet wird. Bei
möglicherweise daraus resultierenden Konflikten (z. B. Berufstätige Frau, die trotzdem
eine gute Mutter sein will), muss meist eine Entscheidung zugunsten einer Alternative
getroffen werden (Kinder oder Karriere). Dabei stehen dann die Standards der domi-
nanten Teilidentität über denen der anderen Teilidentitäten.
,,Stehen Teilidentitäten im Konflikt, würde dies (...) in aller Regel bedeuten, dass die
Standards der [dominanten] (Einschub des Verfassers) Teilidentität über den anderen stehen
und Veränderungsprozesse in den anderen Teilidentitäten mitprägen" (Keupp 1999: 242).
Denkbar wäre auch der Fall mehrerer dominanter Teilidentitäten, die jeweils zu
unterschiedlichen Zeiten aktiviert werden. Es kann durchaus sein, dass eine Frau
gleichzeitig Karriere machen und trotzdem ihren Kindern eine gute Mutter sein kann.
22
Soziales Handeln wird hier verstanden als Handeln, ,,welches seinem dem oder den Handelnden
gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer (kursiv im Original) bezogen wird
und daran in seinem Ablauf orientiert ist
(Weber 1976:8).

30
Da die Subjekte allerdings im Normalfall weder über unbegrenzte Zeit noch über
unbegrenzte Energiereserven verfügen, ist das Gelingen eines solchen Vorhabens
wesentlich von den verfügbaren Identitätsressourcen abhängig. Darüber hinaus ist auch
das soziale Netzwerk von der Dominanz einer Teilidentität betroffen:
Welche Freunde aus welchen Lebensbereichen sind am wichtigsten?
Welche Meinungen zählen, welche nicht?
Unter einer psychodynamisch-funktionellen Perspektive ist die Wahl einer dominan-
ten Teilidentität nicht willkürlich, sondern davon abhängig, wie viel an Identitäts-
ressourcen sie dem Subjekt vermittelt.
,,Ihre Dominanz verdanken sie vor allem zwei Gründen. Zum einen sind sie aktuell besser
organisiert, das heißt, sie vermitteln dem Subjekt in punkto Anerkennung, Selbstachtung,
Autonomie und Originalität mehr Sicherheit. Zum zweiten haben sie in einer jeweiligen
Lebensphase höhere Relevanz als andere." (Strauss/Höfer 1997: 299).
Die Dominanz der Teilidentität wirkt sich unter anderem dahingehend aus, dass sie sich
wahrscheinlich in der biographischen Kernnarration eines Individuums wiederspie-
gelt. Die Frage nach der Kernnarrration ist die nach der übergreifenden und über-
situationalen Selbstverortung eines Subjektes. Dort wird im Rahmen narrativer Selbst-
darstellung und Selbstbeschreibung festgelegt, was relevant ist, welche Ereignisse wirk-
lich wichtig sind (oder waren) und welche Projekte oder Freunde im Moment Vorrang
haben. Sie ist der Ort, an dem das Subjekt die Dinge für sich selber und für andere auf
den Punkt bringt.
,,Spricht jemand davon, dass er ein Workaholic sei, ist das nicht nur eine Aussage über eine
arbeitsbezogene Teilidentität, sondern macht deutlich, dass letztere die für ihn dominierende
ist" (Keupp 1999: 242).
Kriterien für dominante Teilidentitäten sind demnach:
l
Die dominante Teilidentität vermittelt mehr Identitätsressourcen
(Anerkennung, Kohärenzerleben, Zugehörigkeitsgefühle, Autonomie,
Soziale Integration etc.) als die anderen Teilidentitäten.
l
Die dominante Teilidentität ist besser organisiert, d.h. es wird für den
betroffenen Lebensbereich mehr Energie aufgewandt, Arbeit und Zeit
investiert als in andere Lebensbereichen. Die anderen Teilidentitäten (und

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2002
ISBN (eBook)
9783832494575
ISBN (Paperback)
9783838694573
DOI
10.3239/9783832494575
Dateigröße
987 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Leipzig – Fakultät für Sozialwissenschaften und Philosophie, Kommunikations- und Medienwissenschaft
Erscheinungsdatum
2006 (März)
Note
2,0
Schlagworte
internet-sucht patchwork-identität chat identitätsressourcen teilidentität
Zurück

Titel: Deviante Nutzungsmuster bei synchroner Computer-Mediated Communication (CMC)
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
162 Seiten
Cookie-Einstellungen