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Leistet Sport einen Beitrag zur Förderung der kognitiven Kompetenz von Erwachsenen mit geistiger Behinderung?

Eine experimentelle Feldstudie zur Reproduktionsleistung in Sport- und Bewegungsangeboten

©2002 Diplomarbeit 121 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
In der Arbeit mit geistig behinderten Erwachsenen nimmt man an, dass eine Wechselwirkung zwischen der Lebenszufriedenheit und den Lebens- bzw. Arbeitsbedingungen besteht. Die Lebenszufriedenheit stellt eine grundlegende persönliche Ressource auf dem Weg in ein selbstbestimmtes Leben dar. Es ist davon auszugehen, dass durch den Erhalt bzw. die Erweiterung der individuellen Handlungskompetenzen der Erwachsenen diese Ressource gestützt wird. Neben der Arbeitswelt bieten auch die sozialbegleitenden Maßnahmen den geistig behinderten Erwachsenen die Möglichkeit, ihre individuellen Handlungskompetenzen in physischer, psychischer und sozialer Hinsicht zu festigen bzw. zu entwickeln.
Kompetenz wird nach Greenspan und Granfield bzw. Holtz als persönliche Verfügbarkeit von Mitteln oder Fertigkeiten bzw. als situationsangemessene Aktualisierung definiert. Heutzutage soll sich stärker auf Veränderungen von Kompetenzen durch gezielte Förderung konzentriert werden, als auf eine Akzentuierung von Schäden und Beeinträchtigungen.
Auf diesem theoretischen Ansatz basierend, wird in der vorliegenden Diplomarbeit der Frage nachgegangen, ob bei geistig behinderten Erwachsenen die kognitive Kompetenz über das Erinnern von kontextgebundenen Inhalten empirisch prüfbar ist und sich Zusammenhänge darstellen lassen. Nach Tulving und Donaldson (1972) können die Merkmale der Übungsstunden in prozedurale und deklarative Wissenskategorien klassifiziert werden. Sie werden immer dann erinnert, wenn sie als subjektiv bedeutsam erlebt werden.
Ziel dieser Diplomarbeit soll es sein zu untersuchen, wie differenziert die einzelnen Wissenskategorien erinnert werden. Das Erinnern an die soziale Situation (SS) und die Handlungsinhalte (HI) wird eher dem prozeduralen Gedächtnis zugeordnet, weil diese Erinnerungen an motorische und soziale Handlungen geknüpft sind, während das Erinnern an die Übungsleiter (ÜL) und die verwendeten Übungsgeräte (ÜG) eher dem deklarativen Gedächtnis zugeordnet wird, da es sich um Faktenwissen handelt, das einer bewussten Anstrengung beim Abruf bedarf.
Nach Jantzen speichern Menschen mit geistiger Behinderung, mit Ausnahme der schwer zentralnervös Geschädigten, Informationen nach ähnlichen allgemeinen lernpsychologischen Prinzipien wie der Durchschnitt der Bevölkerung.
Deshalb soll der Frage nachgegangen werden, ob diese Lernstrukturen auch im Sport zum Tragen kommen, wo kognitive Lernaufgaben nicht im Vordergrund stehen.
Im Rahmen […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 8841
Kopp, Stefan: Leistet Sport einen Beitrag zur Förderung der kognitiven Kompetenz von
Erwachsenen mit geistiger Behinderung? - Eine experimentelle Feldstudie zur
Reproduktionsleistung in Sport- und Bewegungsangeboten
Hamburg: Diplomica GmbH, 2005
Zugl.: Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Diplomarbeit, 2002
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2005
Printed in Germany

2
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung ... 4
2 Theoretische
Grundlagen
... 6
2.1
Wesen der geistigen Behinderung ... 6
2.1.1 Definition ... 6
2.1.2 Definitionsansätze ... 8
2.1.2.1 Medizinisch-biologischer Aspekt ...
9
2.1.2.2 Verhaltenswissenschaftlicher Aspekt
... 10
2.1.3 Intelligenzmodell ... 15
2.1.4 Lernmodelle ... 18
2.1.5 Kompetenzmodell ... 24
2.2 Gedächtnis
... 27
2.2.1 Definition ... 27
2.2.2 Gedächtnismodelle ... 27
2.2.3 Erinnerungsstrategien - Wiederholen
(maintenance rehearsal)... 36
2.2.4 Einfluss des Alters auf die Gedächtnisleistung... 38
2.2.5 Einfluss des Geschlechts auf die Gedächtnisleistung... 40
2.2.6 Einfluss sportlicher Aktivität auf die Gedächtnisleistung ..
42
2.3 Sport- und Bewegungsangebote/ -therapie
für Menschen mit geistiger Behinderung ... 43
2.3.1 Definition ... 44
2.3.2 Grundsätze und Ziele der Sport- und Bewegungs-
angebote/ -therapie mit geistig behinderten Menschen ... 44
2.4
Arbeitshypothesen ... 48

3
3 Empirische Untersuchung ... 50
3.1
Durchführung und Verlauf der Untersuchung ... 50
3.2 Untersuchungsgruppen
... 52
3.3 Messinstrument
... 53
3.3.1 Entwicklung und Aufbau der Itembögen ... 54
3.3.2 Gedächtnisaufgaben zu Sport- und Bewegungsinhalten
der Übungsstunde (Sportfragebogen)... 55
3.3.3 Gedächtnisaufgaben zu Freizeitaktivitäten der letzten
Woche (Freizeitfragebogen) ... 59
3.3.4 Prüfung des Messinstrumentes ... 62
3.4 Untersuchungsauswertung
... 62
3.4.1 Hypotheseneinteilung ... 62
3.4.2 Mathematisch-statistische Auswertung ... 66
3.5 Methodenkritik
... 67
4
Darstellung und Diskussion der Untersuchungsergeb-
nisse ... 69
4.1
Einfluss der kontinuierlichen Reproduktion von sport-
gebundenen Inhalten auf die Erinnerungsleistung ... 69
4.2
Einfluss der quantitativen Reproduktionsmerkmale
auf die Erinnerungsleistung ... 73
4.3
Einfluss der kontinuierlichen Reproduktion von sport-
gebundenen Inhalten auf die Erinnerungsleistung der
Wissenskategorien ... 79
4.4
Geschlechtsabhängigkeit der Erinnerungsleistung ... 91
4.5 Altersabhängigkeit
der
Erinnerungsleistung ... 96
5
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen ... 101
Literaturverzeichnis ... 104

4
1 Einleitung
In der Arbeit mit geistig behinderten Erwachsenen nimmt man an, dass eine Wech-
selwirkung zwischen der Lebenszufriedenheit und den Lebens- bzw. Arbeitsbedin-
gungen besteht. Die Lebenszufriedenheit stellt eine grundlegende persönliche Res-
source auf dem Weg in ein selbstbestimmtes Leben dar. Es ist davon auszugehen,
dass durch den Erhalt bzw. die Erweiterung der individuellen Handlungskompeten-
zen der Erwachsenen diese Ressource gestützt wird. Neben der Arbeitswelt bieten
auch die sozialbegleitenden Maßnahmen den geistig behinderten Erwachsenen die
Möglichkeit, ihre individuellen Handlungskompetenzen in physischer, psychischer
und sozialer Hinsicht zu festigen bzw. zu entwickeln.
Kompetenz wird nach Greenspan und Granfield (1992) bzw. Holtz (1994) als persön-
liche Verfügbarkeit von Mitteln oder Fertigkeiten bzw. als situationsangemessene Ak-
tualisierung definiert. Heutzutage soll sich stärker auf Veränderungen von Kompe-
tenzen durch gezielte Förderung konzentriert werden, als auf eine Akzentuierung von
Schäden und Beeinträchtigungen.
Auf diesem theoretischen Ansatz basierend, wird in der vorliegenden Diplomarbeit
der Frage nachgegangen, ob bei geistig behinderten Erwachsenen die kognitive
Kompetenz über das Erinnern von kontextgebundenen Inhalten empirisch prüfbar ist
und sich Zusammenhänge darstellen lassen. Nach Tulving und Donaldson (1972)
können die Merkmale der Übungsstunden in prozedurale und deklarative Wissenska-
tegorien klassifiziert werden. Sie werden immer dann erinnert, wenn sie als subjektiv
bedeutsam erlebt werden.
Ziel dieser Diplomarbeit soll es sein zu untersuchen, wie differenziert die einzelnen
Wissenskategorien erinnert werden. Das Erinnern an die soziale Situation (SS) und
die Handlungsinhalte (HI) wird eher dem prozeduralen Gedächtnis zugeordnet, weil
diese Erinnerungen an motorische und soziale Handlungen geknüpft sind (Pöhl-
mann, 1994; Loosch, 1999), während das Erinnern an die Übungsleiter (ÜL) und die
verwendeten Übungsgeräte (ÜG) eher dem deklarativen Gedächtnis zugeordnet
wird, da es sich um Faktenwissen handelt, das einer bewussten Anstrengung beim
Abruf bedarf (Bandura, 1986).

5
Nach Jantzen (2001) speichern Menschen mit geistiger Behinderung, mit Ausnahme
der schwer zentralnervös Geschädigten, Informationen nach ähnlichen allgemeinen
lernpsychologischen Prinzipien wie der Durchschnitt der Bevölkerung.
Deshalb soll der Frage nachgegangen werden, ob diese Lernstrukturen auch im
Sport zum Tragen kommen, wo kognitive Lernaufgaben nicht im Vordergrund stehen.
Im Rahmen einer Längsschnittuntersuchung werden die Veränderungen der Ge-
dächtnisleistung über das Wiedererkennen (recognition) von Merkmalen der Ü-
bungsstunde untersucht. Dabei wird davon ausgegangen, dass auch Erwachsene
mit geistiger Behinderung durch bewusstes Abrufen von kontextgebundenen Inhalten
ihre Gedächtnisleistung erhöhen.
Durch die kognitive Fähigkeit, Informationen aufzunehmen, zu verarbeiten und wie-
der abzurufen, erzeugt das Erinnern eine bewusste Reflexion des individuellen Han-
delns und Wissens. Geistig behinderte Erwachsene erleben ihre kognitive Kompe-
tenz nicht nur im Arbeitsalltag, sondern auch bei den sozialbegleitenden Maßnah-
men, z.B. Sport. Im Fokus der Betrachtung der vorliegenden Diplomarbeit steht somit
der Beitrag des Sports zur Förderung der kognitiven Kompetenz von Erwachsenen
mit geistiger Behinderung.
Weitere Fragestellungen sollen im Rahmen dieser Diplomarbeit untersucht werden:
-
Beeinflusst die Anzahl der Reproduktionsmerkmale die Wiedererken-
nungsleistung der Versuchspersonen?
-
Gibt es statistisch bedeutsame Unterschiede in der Wiedererkennungs-
leistung zwischen männlichen und weiblichen Versuchspersonen?
-
Welche Auswirkungen hat das Alter der Versuchspersonen auf die
Wiedererkennungsleistung?

6
2 Theoretischer
Teil
Im Blickpunkt dieser Diplomarbeit steht die Möglichkeit der Kompetenzerweiterung
im Bereich der Reproduktionsleistung bei geistig behinderten Menschen. Ausgangs-
punkt der Untersuchung ist, dass bei Menschen mit geistiger Behinderung Lernvor-
gänge in ähnlicher Weise ablaufen wie bei Menschen ohne Behinderung.
In diesem Sinne werden im Folgenden theoretische Grundlagen geschaffen, die zum
einen das Wesen der geistigen Behinderung aus der Sicht von unterschiedlichen
Wissenschaftsdisziplinen betrachten, zum anderen aber auch geistige Behinderung
innerhalb bestehender Modellvorstellungen analysieren. Da bei dieser Pilotstudie die
Behaltensleistungen im Vordergrund stehen, wird das Gedächtnis als informations-
speicherndes Organ im Fokus der theoretischen Betrachtung liegen. An dieser Stelle
sollen die schon in der Einleitung erwähnten Fragestellungen theoretisch fundiert
werden. Sportliche Tätigkeit mit ihren Möglichkeiten bedeutungsvolle und emotionale
Erlebnisse zu schaffen, bietet eine gute Möglichkeit zur Kompetenzerweiterung in
physischer, psychischer und sozialer Hinsicht. Welche Optionen sie für Menschen
mit geistiger Behinderung bereit hält, wird im Anschluss erläutert.
2.1 Wesen der geistigen Behinderung
,,Den geistig Behinderten oder besser den Menschen mit geistiger Behinderung gibt
es nicht" (Kapustin, Ebert Scheid, 1992, S. 18). Jeder Mensch ist einzigartig mit
sehr individuellen Eigenschaften und Fähigkeiten. In diesem Kapitel wird versucht,
das Wesen der geistigen Behinderung näher zu untersuchen. Es werden verschie-
dene Definitionsansätze erläutert, um die Sichtweisen verschiedener Wissenschafts-
disziplinen vorzustellen. Zusätzlich kommen verschiedene Modellvorstellungen zum
Tragen. Intelligenz-, Kompetenz- und Lernmodelle bilden hierfür den theoretischen
Rahmen. Des Weiteren soll dargestellt werden, dass es beim Lernen nur geringe Un-
terschiede zwischen Menschen mit und Menschen ohne geistige Behinderung gibt.

7
2.1.1 Definition
,,Da Menschen mit einer geistigen Behinderung anderen Menschen ihre Realität nicht er-
klären können, besteht die Gefahr, vorschnell einseitige und unreflektiert subjektive Inter-
pretationen von der Beobachtungsseite her zu formulieren" (Kammer-Klimm, 1998, S.
43).
So geläufig wie die geistige Behinderung inzwischen geworden ist, von einem bündig
klaren Begriff, dessen Inhalt sich operationalisieren lässt, kann keine Rede sein. Die-
se Unklarheit bezieht sich sowohl auf die Komplexität dessen, was alles an einem
Menschen als geistig behindert gilt, als auch auf eine stimmige Abgrenzung eines
solchen Befundes von einer anderen Behinderung oder einer Nichtbehinderung.
,,Auf den geistig behinderten Menschen lässt sich lediglich hinweisen, er ist begrifflich
nicht zu fassen. Die Definition geistige Behinderung scheitert an der Ratlosigkeit desjeni-
gen, der dieses Phänomen beschreiben und interpretieren will, da er die existentielle
Wahrheit und Wirklichkeit mit seinen Kriterien und Argumenten nicht erreicht, in der sich
der geistig behinderte Mensch vorfindet und definiert" (Thalhammer, 1974, S. 9).
Geistige Behinderung ist auch als Prozess im individuellen Lebenslauf zu verstehen.
Die Einschätzung einer geistigen Behinderung ist von der Einstellung der einschät-
zenden Person abhängig und korrespondiert mit den gängigen Einstellungen der
Gesellschaft. Der Begriff Geist, für den es unzählige Definitionen gibt, eignet sich
nicht für eine wissenschaftliche Operationalisierung. Dies ist auch nicht notwendig,
denn nicht das Wort, sondern der Inhalt hätte sich einer Operationalisierung zu stel-
len. Mit den beiden Wörtern Geist und Behinderung ist keine semantische Klarheit
geschaffen, denn der Geist lässt sich nicht behindern.
Die Geschichte zeigt, dass Definitionen notwendig sind, dass sie austauschbar sind,
und dass es nicht die Definitionen sind, die den Inhalt sichern, sondern die Men-
schen, die diese Definitionen verwenden. Neuhäuser und Steinhausen (1999, S. 42)
weisen darauf hin, dass die gegenwärtig akzeptierte Bezeichnung geistige Behinde-
rung als Vorläufer Blödsinn, Idiotie und Schwachsinn hat.
Nach Speck (1993, S. 40) ist die Behinderung ein sehr komplexer Begriff, der aus
verschiedenen Teilbegriffen resultiert, aus einer organischen Schädigung (Schädi-
gung des Zentralnervensystems), aus individuellen Persönlichkeitsstrukturen und

8
aus sozialen Bedingungen bzw. Einwirkungen. Das Zusammenwirken dieser Teilfak-
toren, als auch der Teilfaktor Schädigung des Zentralnervensystems ergibt das, was
man im deutschsprachigen Raum unter Behinderung versteht.
2.1.2 Definitionsansätze
Für Holtz (1995, S. 14ff.) ist theoretisch noch immer offen, ob Menschen mit geistiger
Behinderung nur langsamer oder qualitativ anders lernen als Nichtbehinderte. Es
scheint so, dass die Frage nicht eindeutig beantwortbar ist. Je nach Aufgabenart,
nach Alter und Ausmaß der zentralnervösen Schädigungen bei der untersuchten Po-
pulation, ergeben sich unterschiedliche Antworttendenzen. Eine gewisse Überein-
stimmung gibt es laut Schäfer (2000, S. 21) dahingehend, dass geistig behinderte
Menschen weniger spontan lernen, Gelerntes weniger leicht generalisieren und we-
niger abstrahieren. Es muss daher planvoller gelehrt werden, die Übungsschritte
müssen genauer bemessen werden und es sind mehr Übungsdurchgänge nötig. Des
Weiteren muss auch die Übertragung des Gelernten von der geübten Situation auf
ähnliche Situationen mitgeübt werden. Daneben werden eine starke Ablenkbarkeit
durch zusätzliche Außenreize, eine allgemein reduzierte Merkfähigkeit und vor allem
motivationale Besonderheiten angegeben, z.B. erhöhte Misserfolgserwartungen, un-
realistische Einschätzung der Umweltanforderungen bzw. der eigenen Leistungs-
möglichkeiten und eine ausgeprägte extrinsische Motivationsgebundenheit.
Entsprechungen zu motivationalen Aspekten finden sich nach Schäfer (2000, S.
22ff.) im Problemlösungsverhalten, wo Misserfolgsvermeidung hervorsticht.
Wichtig erscheint, dass sehr viel mehr quantitative als qualitative Unterschiede ge-
funden werden, so dass vielleicht mit Ausnahme der schwerst zentralnervös Ge-
schädigten, für geistig behinderte Menschen in etwa die gleichen Gesetzmäßigkeiten
des Lernens gelten können wie bei der Durchschnittsbevölkerung (Jantzen, 2001).
Die traditionelle Intelligenz- und Defizitdiagnostik bietet wenig bis keine Hilfe bei der
Steuerung dieser Lernprozesse, nicht zuletzt deswegen, weil die geprüften Verhal-
tensstichproben keinen erkennbaren Zusammenhang mit relevanten Kriterien kom-
petenten Verhaltens haben.
,,Die Definitionen erhalten jeweils ihre Bedeutung durch die fachspezifischen Sicht-
weisen" (Kammer-Klimm, 1998, S. 42). Die unterschiedlichsten Wissenschaftsdiszip-

9
linen, wie die Medizin (Neuhäuser Steinhausen, 1999), die Psychologie (Speck,
1993), die Soziologie (Liepmann, 1979) und die Pädagogik (Speck, 1993), versuchen
die geistige Behinderung zu erläutern bzw. zu erklären.
Speck (1993, S. 37) sieht die medizinisch-biologische, psychologische, soziologische
und pädagogische Betrachtungsweise als die wichtigsten Ansätze zur Erläuterung
der geistigen Behinderung an. Der medizinisch-biologische Ansatz gilt primär den
physischen (organisch-genetischen) Abweichungen und Besonderheiten. Der psy-
chologische Ansatz beschäftigt sich mit den beobachtbaren Verhaltensweisen, der
soziologische Ansatz mit den gesellschaftlichen Bedingungssystemen und der päda-
gogische Ansatz mit den Möglichkeiten der Erziehung. Diese Ansätze können sich
sinnvoll ergänzen und so dazu beitragen, den Begriff geistige Behinderung nicht nur
von einem Aspekt aus generalisierend zu betrachten und zu interpretieren.
2.1.2.1 Medizinisch-biologischer
Aspekt
Jede geistige Behinderung hat ihre körperliche Basis. Die Fülle der zu Grunde lie-
genden pathologischen Faktoren ist sehr groß. Von zentraler Bedeutung ist die
Schädigung des Gehirns. Diese kann die verschiedensten Körperfunktionen in Mit-
leidenschaft ziehen. Es können aber auch anderweitige Störungen vorliegen. Die
große Vielfalt der körperlichen Erscheinungsbilder und der Ursachen macht es
schwer, diese zu ordnen und jeweils die näheren Entstehungsbedingungen zu
bestimmen. Laut Liepmann (1979, S. 101) liegen bei etwa der Hälfte der Kinder und
Jugendlichen mit einer geistigen Behinderung keine klaren Diagnosen vor. Da es
sich um eine ältere Quelle handelt, sollte diese Aussage vorsichtig und differenziert
betrachtet werden.
Neuhäuser und Steinhausen (1999, S. 110) entwerfen ein Einteilungsschema, das
auf klinische Symptome und auf spezielle psychopathologische Störungen
ausgerichtet ist und sich zugleich an der Genese der verschiedenen Krankheits- und
Störungsbilder orientiert. Beide gliedern die große Zahl der klinischen Syndrome
nach den Entstehungsphasen, also vor, während und nach der Geburt. Als eigene
Kategorie werden noch zusätzliche Störungen aufgelistet. Die klinischen Syndrome,
die bei einer geistigen Behinderung vorliegen können, sind pränatal entstandene
Formen, perinatale Komplikationen, postnatale Ursachen und psychiatrische
Störungen.

10
Zu den pränatal entstandenen Formen gehören Fehlentwicklungen des Nervensys-
tems (Fehlbildungen und Differenzierungsstörungen der ZNS), Genmutation, Fehlbil-
dungs- und Retardierungssyndrome, Fehlbildungen des Nervensystems (z.B. Makro-
zephalie), Chromosomenanomalien (z.B. Down-Syndrom), exogen verursachte prä-
natale Entwicklungsstörungen durch Infektionen (z.B. Virus), chemische Einwirkun-
gen (Alkohol, Medikamente) und Strahlen- bzw. Umweltbelastungen sowie die idio-
pathische Form geistiger Behinderung (keine körperlichen Symptome bei zerebraler
Funktionsstörung).
Zu den perinatalen Komplikationen mit der Folge einer geistigen Behinderung zählen
die Geburtstraumen (Verletzung von Gehirnteilen), die Enzephalopathien (Gehirn-
entzündungen) durch Sauerstoffmangel, Frühgeburten und Erkrankungen des Neu-
geborenen (z.B. neonatale Meningitis).
Als postnatale Ursachen geistiger Behinderung gelten entzündliche Erkrankungen
des Zentralnervensystems (Meningitis, Enzephalitis), Schädel-Hirn-Traumen (z.B.
durch Unfälle), Hirntumore und Hirnschädigungen durch Intoxikation (Vergiftungen)
oder Sauerstoffmangel.
Darüber hinaus können auch psychiatrische Störungen, z.B. Autismus, Psychosen,
Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsstörungen, Stereotypien, Automutilitation (Autoag-
gression), Enuresis und Enkopresis (Einnässen und Einkoten) sowie Essstörungen
auftreten.
2.1.2.2
Verhaltenswissenschaftlicher Aspekt
Psychologischer Aspekt
Bei der psychologischen Begriffsbestimmung von geistiger Behinderung sieht Speck
(1993, S. 46) bei früheren Forschungsansätzen die Minderung der Intelligenz im
Vordergrund. Anfang des 20. Jahrhunderts wird geistige Behinderung als intellektuel-
le Retardierung definiert. Der Grad der geminderten Intelligenz wird über Intelligenz-
messverfahren gemessen, als deren Ergebnis über Intelligenzalter und Intelligenz-
rückstand ein Intelligenzquotient errechnet wird. Als dessen theoretische Basis wird
eine allgemeine Intelligenz als konstante Größe pro Individuum angenommen. Ent-
sprechend verallgemeinernd fallen dabei die Kategorisierungen aus. Dass aber das,
was als Intelligenz gemessen wird, begrifflich stets unklar bleibt, sich aber die immer

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häufiger verwendeten IQ-Tests als praktisch und unvermeidbar erweisen, kann man
unter Intelligenz letztlich nur das verstehen, was durch die IQ-Tests gemessen wird.
Kritisch betrachtet Speck (1993, S. 47) auch die Annahme einer Angeborenheit von
Intelligenz. Es kann auch lernpsychologisch nachgewiesen werden, dass für die
Entwicklung der Intelligenz soziale und kulturelle Bedingungen maßgebend sind. Da
aber zugleich eine gewisse Konstanz des IQs über die verschiedenen Entwicklungs-
stufen hinweg als erwiesen gilt, gelangt man zu einer Kopplung von Intelligenzleis-
tung und sozialer Anpassung. Zu deren näherer Bestimmung werden eigene Sozial-
Entwicklungstests konstruiert. Als eindeutig unterdurchschnittlich werden solche In-
telligenzleistungen angesehen, bei denen der IQ unter 67 (beim Stanford-Binet-Test)
bzw. 69 (beim Wechsler-Test) liegt.
Es wird ausdrücklich betont, dass das bloße Ermitteln eines niedrigen IQ in keinem
Fall genügt, um eine geistige Retardierung zu diagnostizieren. Von entscheidender
Bedeutung sind das Auftreten und Andauern einer geistigen Retardierung bis zum
18. Lebensjahr, insbesondere aber Ausfälle im Bereich des adaptiven Verhaltens,
das sich in Standards persönlicher Unabhängigkeit und sozialer Verantwortlichkeit
niederschlägt, soweit diese vom Alter und der kulturellen Gruppe her erwartet wer-
den. Speck (1993, S. 48) nimmt anhand des Lebensalters eine Unterteilung in das
Frühkindheits- und Vorschulalter, das Schul- und frühe Jugendzeitalter sowie das Al-
ter für Heranwachsende und Erwachsene vor. Im Frühkindheits- bzw. Vorschulalter
sollen sensomotorische und kommunikative Fertigkeiten sowie Fertigkeiten der
Selbstversorgung und Sozialverhalten (Interaktion mit anderen) erlangt werden. Das
Schulzeit- bzw. frühe Jugendzeitalter ist gekennzeichnet durch die Anwendung
grundlegender Kulturtechniken im Alltag, die Anwendung angemessener Begrün-
dungen und Urteile in der Bewältigung der Umwelt und das Anwenden von Sozialfer-
tigkeiten (Teilnahme an Gruppenfertigkeiten und interpersonale Beziehungen). Im
Heranwachsenden- bzw. Erwachsenenalter stehen dagegen die beruflichen und so-
zialen Verantwortlichkeiten bzw. Leistungen im Vordergrund.
Gardner (1994, S. 17ff.) verabschiedet den IQ mitsamt der ihm zu Grunde liegenden
allgemeinen Intelligenz und legt stattdessen eine Theorie der multiplen Intelligenzen
vor. Er geht von mindestens 7 solcher getrennt fungierender Intelligenzen aus, einer
linguistischen, einer musikalischen, einer logisch-mathematischen, einer räumlichen,
einer körperlich-kinästhetischen und zwei personalen Intelligenzen. Es ist aufschluss-
reich, dass Gardners Theorie sich auch auf Beobachtungen retardierender und autis-

12
tischer Kindern stützt, bei denen immer wieder auffallend intakte Teilkompetenzen
festgestellt werden. Damit werden praktische und pädagogische Erfahrungen mit
geistig behinderten Personen bestätigt und ungewöhnlich musikalische, künstleri-
sche oder körpertechnische Talente nachgewiesen.
Soziologischer Aspekt
Geistige Behinderung ist bei aller neurophysischen oder genetischen Bedingtheit
nicht zuletzt auch Ausprägungsform der Sozialisation. Dies wird bereits deutlich bei
der definitorischen Verbindung von Intelligenz mit dem adaptiven Verhalten sowie bei
der Betonung der Sozialabhängigkeit der Intelligenzentwicklung. Darüber hinaus gibt
es für Speck (1993, S. 50) auch eine primär soziale Kausalität für die Entstehung ei-
ner geistigen Behinderung. Retardierende Bedingungen einer sozial anregungsar-
men Umwelt können somit ebenfalls für die Entstehung leichterer Formen geistiger
Behinderungen verantwortlich gemacht werden.
Die Bedeutung des soziologischen Aspektes lässt sich am Verhältnis von sozialer
Schicht und geistiger Behinderung gut erkennen. Speck (1993, S. 51) zeigt, dass bei
Sozialschwachen die Quote geistig behinderter Kinder deutlich größer als die bei So-
zialetablierten ist. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass es sich hierbei nicht
um eine repräsentative Stichprobe handelt, wodurch die Gültigkeit der ermittelten
Werte eine Einschränkung erfährt. Differenziertere Daten anderer Untersuchungen
ergeben, dass sich geistig behinderte Kinder gleichmäßig über alle sozialen Schich-
ten der Gesellschaft verteilen, wobei leicht geistig behinderte Kinder vorwiegend aus
den unteren sozialen Schichten stammen. Hinweise für eine stärkere Belastung der
Unterschichtfamilien mit geistig behinderten Kindern verdeutlicht die epidemiologi-
sche Untersuchung von Liepmann (1979, S. 72).
Tabelle 2.1. Sozial-Schichtverteilung geistig behinderter Kinder (Liepmann, 1979, S. 72)
Bevölkerung der BRD Stichprobe Gb Mannheim
Soziale Schicht
%
n
%
I (Oberschicht, obere und mittlere Mittelschicht)
19,5
10
3,3
II (untere Mittelschicht)
40,3
58
19,0
III (Unterschicht)
40,2
238
77,7
100,0
306
100,0

13
Die Tabelle 2.1 zeigt, dass geistig behinderte Kinder häufiger unteren sozialen
Schicht angehören. Liepmann betrachtet diese Ergebnisse als unerwartet und sieht
sie im Widerspruch zu den meisten Befunden dieser Art. Der Versuch eine schlüssi-
ge Erläuterung für diesen Befund zu finden wird bei Liepmann unterlassen. Vielmehr
verweist sie auf übliche Schwächen bei der Bestimmung des Personenkreises und
empfiehlt weitere Untersuchungen. Es wird als wahrscheinlich angesehen, dass das
Auftreten schwerer geistiger Behinderung in den unteren sozialen Schichten häufiger
als in den oberen sozialen Schichten vorkommt, wenn auch die Differenz, zwischen
den sozialen Schichten, nicht so groß angesetzt wird wie für die leichte geistige Be-
hinderung.
Die hier dargelegten Ergebnisse soziologischer Studien zeigen die hohe Bedeutung
sozialer Komponenten für das Zustandekommen einer geistigen Behinderung bzw.
für die Erklärung dessen, was komplex darunter zu verstehen ist.
Pädagogischer Aspekt
Für Speck signalisiert der Begriff der geistigen Behinderung die pädagogischen und
sozialen Bedürfnisse der betroffenen Menschen.
,,Demnach bezieht sich geistige Behinderung auf spezielle Erziehungsbedürfnisse, die
bestimmt werden durch derart beeinträchtigte intellektuelle und soziale Entwicklung, dass
lebenslange pädagogisch-soziale Hilfen zu einer humanen Lebensverwirklichung nötig
werden" (Speck, 1993, S. 62).
Das oben angeführte Zitat verdeutlicht, dass Unterstützungen für ein angenehmes
bzw. zufriedenstellendes Lebens für die Menschen mit geistiger Behinderung ein Le-
ben lang notwendig sind. Die pädagogische Förderung bedarf eines eigenen Ver-
ständnisses dessen, was als geistige Behinderung bezeichnet wird. Für die Pädago-
gik ist die geistige Behinderung sowohl ein Phänomen vorgefundener und zu erfas-
sender Wirklichkeit, als auch eine Wirklichkeit, die unter dem Anspruch von Humani-
tät erzieherische Hilfe zur Entfaltung braucht und von Werten und Normen bestimmt
wird. Erziehung vollzieht sich immer in der Zeit und ist dem Wandel der Lebensfor-
men unterworfen.
Erziehung verfolgt sowohl das Ziel, den individuellen Erziehungsbedürfnissen des
einzelnen Kindes gerecht zu werden, als auch die von der Gesellschaft gestellten
Bildungsaufträge zu erfüllen. Erziehung ist auch Hilfe zur Selbsthilfe, d.h. Hilfe zur

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Selbstverwirklichung, soweit sie der einzelne Mensch benötigt. Geistige Behinderung
bezieht sich pädagogisch gesehen auf eine spezifische Aufgabe. Sie besteht darin,
die besten Möglichkeiten der Erziehung zu finden, wo diese durch elementare Blo-
ckierungen des Handelns und Denkens erschwert sind.
Es steht nach Speck (1993, S. 63ff.) nicht das Anderssein im Vordergrund, sondern
das Humane und Gemeinsame. Das Behinderungsspezifische erlangt demzufolge
nur sekundäre Bedeutung. So erscheint es in Bezug auf die Begrifflichkeiten adäqua-
ter, von Menschen mit einer geistigen Behinderung zu sprechen, statt von geistig
Behinderten. Bei Kindern mit geistiger Behinderung spricht man in der Pädagogik
von Kindern mit speziellen Erziehungsbedürfnissen. Von diesem pädagogisch inte-
grativen Ansatz ausgehend, lassen sich folgende pädagogische Thesen ableiten:
-
geistige Behinderung gilt als normale Variante menschlicher Daseins-
form,
-
die Erziehung von Menschen mit geistiger Behinderung orientiert sich
an den allgemeinen edukativen Erfordernissen, Werten und Normen,
-
die Spezifierung des Pädagogischen orientiert sich an den besonderen
Bedürfnissen und Möglichkeiten ebenso wie an den sozialen Bedingun-
gen und Erfordernissen im Sinne einer wirksamen Verbesserung der
gemeinsamen Lebenssituation.
Was die Erziehung dabei zu leisten hat, kann laut Kron (1988, S. 177) als: ,,... Le-
benhelfen unter erschwerten Bedingungen" bezeichnet werden.
Zu Leben helfen heißt in diesem Sinne, soziale Isolierung zu vermeiden bzw. abzu-
bauen und die Umwelt zu erschließen, damit sich der Mensch mit geistiger Behinde-
rung darin verwirklichen kann. Für Menschen mit geistiger Behinderung ist die Hilfe
zur Selbsthilfe von zentraler Bedeutung. Mit Hilfestellungen für die geistig behinder-
ten Menschen wird versucht, die individuellen Handlungskompetenzen zu festigen
bzw. zu entwickeln. Es ist davon auszugehen, dass der Erhalt bzw. die Erweiterung
der Handlungskompetenzen sich positiv auf die Lebenszufriedenheit auswirkt, die ei-
ne grundlegende persönliche Ressource auf dem Weg in ein selbstbestimmtes Le-
ben darstellt.

15
2.1.3 Intelligenzmodell
,,
Als geistig behindert gelten Personen, deren Lernverhalten deutlich hinter der auf das
Lebensalter bezogenen Erwartung zurückbleibt und durch ein dauerndes Vorherrschen
des anschaulich-vollziehenden Aufnehmens, Verarbeitens und Speicherns von Lerninhal-
ten und eine Konzentration des Lernfeldes auf direkte Bedürfnisbefriedigung gekenn-
zeichnet ist, was man in der Regel bei einem Intelligenzquotienten von unter 55/ 60 fin-
det" (Bach, 1995, S. 92).
In diesem Zitat erfolgt eine eigenständige Klassifizierung von geistig behinderten
Menschen durch einen bestimmten Bereich der Intelligenzquotienten. Der IQ als
Messwert weist eine Reihe von Vorteilen auf, zum einen ist er ein sehr reliables Maß,
zum anderen zeigt er bedeutsame Korrelationen zu kognitiven Leistungen auf. Die-
sen Vorteilen steht allerdings ein ganz gravierender Nachteil gegenüber. Zunächst
wird die Aussagemöglichkeit häufig missverstanden. Holtz (1994, S. 24) betont, dass
der IQ keine Eigenschaft, sondern ein Relativitätsmaß ist, das verschiedene Informa-
tionen enthält. Die gemessene Intelligenz stellt ein theoretisches Konstrukt dar, wird
aber oft als substantiell gegebene psychische Einheit, die mit Tests gemessen wird
und stabil bleibt, verstanden. Es stellt sich die Frage, ob Intelligenztests überhaupt
sinnvolle Messinstrumente sein können. Nach Oerter (1987, S. 434) messen sie im
Idealfall etwas, was relativ erfahrungsunabhängig und damit auch lebensfremd ist.
Sie messen nicht oder nur wenige Qualifikationen, die der Mensch im Leben benö-
tigt. Der Intelligenzquotient allein ist kein ausreichendes Kriterium für das Vorliegen
geistiger Behinderung, es ist nur insofern von Interesse, dass er ungefähre Aussa-
gen über das vorab zu erwartende Lernverhalten erlaubt. Bach (1979, S. 5) weist
darauf hin, dass mit dem IQ lediglich eine grobe Gruppierung und vorläufige Hinwei-
se auf das zu erwartende Leistungsniveau erzielt werden. Man ist weit davon ent-
fernt, international verbindliche Definitionen und Begriffe der geistigen Behinderung
aufzustellen. Nicht nur die Terminologie ist uneinheitlich, sondern auch die Klassifika-
tionen beruhen weitgehend auf der unterschiedlichen Festsetzung der IQ-
Grenzwerte.
Gegenüber der in der Geistigbehindertenpädagogik praktizierten Diagnostik, die in
der IQ-Bestimmung und in der Klassifikation der geistig behinderten Menschen be-
steht, herrscht heute ein großes Missbehagen. Als logische Konsequenz resultiert

16
aus diesem Missbehagen die Kritik an einer allzu vereinfachten und verabsolutierten
Intelligenzdiagnostik. Kritiker, wie Bürli (1979, S. 44), stellen fest, dass die heutigen
Intelligenztests bestenfalls den Erfolg in einer Mittelklasseschule unserer industriellen
Gesellschaft vorhersagen, wobei den unterschiedlichen sozio-ökonomischen Schich-
ten mit ihren eigenen Normen keine Rechnung getragen wird. Der Intelligenz-
quotient, so ist kritisch anzumerken, sagt in erster Linie etwas über die gegenwärtige
Intelligenzleistung aus und eignet sich schlecht für langfristige Vorhersagen. Anhand
des IQs lässt sich schwerlich die Lernfähigkeit abschätzen, was pädagogisch aber
sehr wichtig wäre. Der Intelligenztest vermag wenig über die sozialen Verhaltenswei-
sen aussagen, die nicht notgedrungen dem IQ-Niveau entsprechen. Deshalb und
weil die Kenntnis des IQs allein nicht für die Förderung der ganzen Persönlichkeit
genügt, müssen noch andere Verhaltensdimensionen geprüft werden.
Der Grad der geistigen Behinderung wird klinisch und psychometrisch nach dem all-
gemeinen Intelligenzniveau und nach dem Grad der sozialen Adaptibilität definiert.
So wird eine Intelligenzminderung nach dem Klassifikationsschema der ICD 10 als
ein Zustand von verzögerter oder unvollständiger Entwicklung der geistigen Fähigkei-
ten definiert. Man unterscheidet eine leichte, eine mittelgradige, eine schwere und
eine schwerste Form.
Tabelle 2.2. Klassifikation der geistigen Behinderung nach ICD 10 (Neuhäuser Steinhausen, 1999,
S. 27)
Allgemeine
Klassifikation
Klassifikation
nach ICD 10
ICD-10-
Nummer
IQ-Werte
Anteil in % (aller geistig
behinderten Menschen)
Leichte
Leichte Intelligenz-
minderung
F 70
50 - 69
80
Mittelgradige Intelligenz-
minderung
F71
35 - 49
12
Schwere Intelligenz-
minderung
F72
20 - 34
7
Schwere
Schwerste Intelligenz-
minderung
F73
20
1
In der Literatur finden sich weitere Klassifikationen. Die der AAMD wird 1969
herausgegeben.

17
Tabelle 2.3. Klassifikation nach IQ-Werten (Speck, 1993, S. 49)
Stufe der geistigen
Behinderung
Standard-
abweichungen
Stanford-Binet-IQ
Hamburg-Wechsler-IQ
Leicht (mild)
-2 bis -3
52 - 62
55 - 69
Mäßig (moderate)
-3 bis -4
36 - 51
40 - 54
Schwer (severe)
-4 bis -5
20 - 35
-
Schwerst (profound)
-5 und darunter
20
-
Die Ermittlung der intellektuellen Leistungsfähigkeit erfolgt in herkömmlicher Weise
mittels Intelligenztestverfahren. Mit Hilfe von Intelligenzalter und Intelligenzquotient
können Klassifizierungen bezüglich der Abweichung von der Norm vorgenommen
werden. Eggert (1979, S. 402) hat die Problematik der Intelligenztestung bei geistig
behinderten Kindern im Einzelnen aufgezeigt und resümiert: ,,Das Intelligenzniveau
ergibt zwar durchaus eine globale Niveaubestimmung, ist aber als alleiniger Klassifi-
kationsansatz mit Sicherheit nicht ausreichend".
Die Angebote der kulturellen und sozialen Umwelt spielen nach Wendt (1997, S.
267f.) eine große Rolle und spiegeln sich deshalb in den Ergebnissen wieder. Des-
halb wird versucht, möglichst viele kulturfreie Untertests zu schaffen, in denen es
darum geht, abstrakte Strukturen schnell zu begreifen und anzuwenden. So sollen
die Intelligenztests eigentlich die Fähigkeit zum Lösen neuer Probleme erfassen, a-
ber sie orientieren sich mehr an eingekleideten Mathematikaufgaben und Wissens-
tests. ,,Dementsprechend korrelieren die Ergebnisse in Intelligenztests auch kaum
mit der Fähigkeit zum Problemlösen" (Wendt, 1997, S. 269).
Obwohl die Intelligenzmessung ihre zentrale Funktion bei der Diagnose einer geisti-
gen Behinderung verliert, gehört die quantitative Erfassung der Intelligenz immer
noch zur selbstverständlichen Routine für Klienten und Psychologen. Dabei lassen
sich nach Neuhäuser und Steinhausen (1999, S. 64ff.) vier unterschiedliche Metho-
den unterscheiden: Stufentests, normorientierte Einzelintelligenztests, niveauspezifi-
sche Testverfahren und entwicklungsorientierte Verfahren.
Zu den vereinzelt eingesetzten Stufentests zählen der Stanford-Binet-Test und der
Kramer-Test.

18
Normorientierte Einzelintelligenztests (Hawik) sind in der Regel an der Normalpopu-
lation normiert und für geistig behinderte Menschen oft zu schwer. Standardisierte
Testdurchführungen scheitern oft an Anpassungsproblemen der geistig behinderten
Menschen. Die Intelligenzforschung geht heute nicht mehr von der Intelligenz aus,
sondern nimmt an, dass Intelligenz aus mehreren unkorrelierten Faktoren zusam-
mengesetzt ist. Eine sinnvolle Trennung zwischen geistig behindert und geistig nicht
behindert ist anhand psychologischer Kriterien, wie der Intelligenz, nicht möglich.
Niveauspezifische Testverfahren (TES, Testbatterie für entwicklungsrückständige
Schulanfänger) dienen der Differenzierung innerhalb einer vorher definierten Teilpo-
pulation, ein Vergleich mit Nichtbehinderten, d.h. die Quantifizierung des Defizits wird
hier nicht angestrebt.
Einen gerade bei Menschen mit geistiger Behinderung vielversprechenden Ansatz
stellen entwicklungsorientierte Verfahren dar, die ausschließlich förderdiagnostisch
orientiert sind. Bei Kenntnis des bisher erreichten Stadiums lässt sich aus der zu
Grunde liegenden Entwicklungstheorie ableiten, welches Stadium als nächstes an-
zustreben ist.
2.1.4 Lernmodelle
Lernen wird in vielen Publikationen der unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen
thematisiert und diskutiert. Unterschiedliche Zugänge in der Psychologie (Zimbardo,
1992), Neurophysiologie (Schmidt, 1995), Pädagogik (Bach, 1979), Sportwissen-
schaft (Meinel Schnabel, 1998) und die Komplexität des Gegenstandes sorgen da-
für, dass bis heute keine allgemein anerkannte Definition für das Lernen existiert, die
alle Aspekte berücksichtigt.
Wenig hilfreich ist dabei die Tatsache, dass Lernen als Prozess introspektiv kaum
zugänglich ist und deshalb aus den Veränderungen des beobachtbaren Verhaltens
erschlossen werden muss. Häufig ist zu bemerken, dass unter Lernen die Anhäufung
von Wissen verstanden und demnach auf das Einprägen, Behalten und Reproduzie-
ren eines Wissensstoffes reduziert wird. Das hinter dem Phänomen Lernen mehr als
diese umgangssprachliche These steckt, soll die folgende Diskussion verschiedener
Definitionsansätze zeigen.
Mit der alltagssprachlichen Verwendung des Begriffs Lernen haben wissenschaftli-
che Definitionsversuche den Aspekt der Veränderung gemeinsam. In der Psycholo-

19
gie (Edelmann, 2000; Schermer, 1991; Zimbardo, 1992) wird von Lernen gespro-
chen, wenn gegenüber einem früheren Zustand eine Veränderung eingetreten ist.
Anders als im Alltagsverständnis ist die Richtung der Veränderung beliebig. Ohne
Veränderung gibt es kein Lernen, aber nicht jede Veränderung stellt ein Lernergebnis
dar. Schermer (1991, S. 11) weist darauf hin, dass einige Veränderungen, z.B. Rei-
fung, Medikamenteneinfluss, Intoxikationen, strukturelle Veränderungen des Gehirns
oder Ermüdung keine Lernprozesse darstellen.
Zimbardo (1992, S. 227) definiert Lernen als: ,,... ein Prozess, der zu relativ stabilen
Veränderungen im Verhalten oder im Verhaltenspotential führt und auf Erfahrung
aufbaut". Damit eine Veränderung als lernbedingt angesehen wird, muss sie zwei
Bedingungen erfüllen: Sie muss auf Erfahrung und/ oder Übung des Organismus zu-
rückgehen und überdauernd, d.h. längere Zeit verfügbar sein. Nach Singer (1985, S.
14) ist Lernen: ,,... eine relativ stabile Veränderung des Leistungs- oder Verhaltenspo-
tentials, basierend auf Übung oder früheren situativen Erfahrungen". Hier wird deut-
lich, dass Lernresultate nur relativ stabil sind, da Gelerntes durch später Gelerntes
verändert wird oder Vergessensprozessen unterliegt. Klix (1978, S. 347) stellt die In-
formationsabhängigkeit von Lernprozessen heraus. Lernen ist für ihn: ,,... jede umge-
bungsbezogene Verhaltensänderung, die als Folge einer individuellen (systemeige-
nen) Informationsverarbeitung eintritt". Der Organismus gilt dabei als System, das In-
formationen aufnimmt, bewertet, mit bestehenden Informationseinheiten in Bezie-
hungen setzt und zur Regulierung seines Verhaltens einsetzt.
,,Lerntheorien sollen dem besseren Verständnis von Lernphänomenen und den ihnen
zugrundeliegenden Mechanismen führen, sowie Methoden hervorbringen die wis-
senschaftlich abgesichert sind" (Singer, 1985, S.83). Lernmodelle beschreiben, un-
tersuchen und erklären die Prozesse, die zu bestimmten Lernphänomenen führen
und versuchen wissenschaftlich abgesicherte Methoden herauszukristallisieren. Un-
terschieden wird dabei, wie die Begriffe Erfahrung und Veränderung interpretiert und
konkretisiert werden. Man kann sie auf Grund unterschiedlicher Vorannahmen, For-
schungsmethodik, Lerninhalte, sowie unterschiedlicher (wissenschafts-) historischer
Situationen nur oberflächlich ordnen.
Eine allgemeine Lerntheorie existiert bis heute nicht. Die bisherigen Lerntheorien be-
ziehen sich auf bestimmte Prototypen des Lernens und sind nur für bestimmte Fälle
menschlichen Lernens repräsentativ. Die existierenden Lernmodelle postulieren zum
Teil recht unterschiedliche Lernmechanismen. Nach Klix (1978, S. 351ff.) existiert je-

20
doch eine Grundstruktur des Erkenntnisgewinns, die in allen Formen des Lernens
enthalten ist. Klix (1978, S. 350) schreibt dazu:
,,
Wird eine falsche (inadäquate, unangepasste) Verhaltensweise aktiviert, dann führt die
Rückmeldung über das Resultat zur Registrierung einer korrekturbedürftigen Gedächt-
nisstruktur, die auch die Bewertung der Verhaltensentscheidung verändert. Wird dagegen
eine adäquate Reaktion oder Verhaltensweise aktiviert, so führt die Rückmeldung zu ei-
ner Stabilisierung derjenigen Entscheidungs- und (korrigierten) Gedächtnisstruktur, die
der Aktivierung zugrunde gelegen hat".
Das Zitat beschreibt die einfachen, grundlegenden Prinzipien, auf denen sich im We-
sentlichen alle Lernprozesse aufbauen. Im Allgemeinen sind Lernprozesse nicht
durch ein Lernmodell begründbar. So verändern sich die Relationen einzelner Lern-
modelle in Abhängigkeit vom Lernverlauf.
Loosch (1999, S. 172ff.) unternimmt den Versuch die wesentlichen Arten des Ler-
nens in Anlehnung an Klix (1978) zu strukturieren. Dabei grenzen sich bei Loosch die
verschiedenen Lernarten nicht scharf voneinander ab, sondern gehen fließend inein-
ander über und bauen aufeinander auf.
Abbildung 2.1. Grundannahmen des Lernens (Loosch, 1999, S. 173)

21
Die Abbildung 2.1 zeigt die verschiedenen Arten des Lernens nach Loosch, von der
einfachen Lernart, der Habituation bis zur komplexen Lernart, dem Problemlösen
durch Einsicht. Im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit bleiben die Grundan-
nahmen des Lernens unberücksichtigt, da sie in der Literatur vielfach beschrieben
sind. Weiterführende Literatur sind: Bach 1979; Edelmann, 2000; Loosch 1999; Klix,
1978; Schermer, 1991; Singer 1985; Zimbardo, 1992.
Für Lernprozesse ist die Rückkopplung von immenser Bedeutung. Übung allein
macht eben nicht den Meister, ohne Rückinformation sind keine Fortschritte beim
Lernprozess einer Fertigkeit zu erwarten. Dass Lernen ein Informationsverarbei-
tungsprozess ist und Feedbackinformationen nötig sind, hat schon Thorndike (1927)
in vielen Untersuchungen erkannt.
Da es sich bei der vorliegenden Pilotstudie um eine Untersuchung von Lernprozes-
sen handelt, kommt der Rückkopplung eine zentrale Bedeutung zu. Es ist davon
auszugehen, dass dieser Lernprozess lerntheoretischen Gesetzmäßigkeiten unter-
liegt, deshalb wird im Folgenden das operante Konditionieren erläutert, da bei die-
sem Modell die Rückmeldung von entscheidender Bedeutung ist. Sie gelangt zu ent-
scheidender Wichtigkeit für den Erkenntnisgewinn und kann positiv bzw. negativ ver-
stärkend auf das Verhalten wirken und somit Lernprozesse beeinflussen.
Im Gegensatz zum klassischen Konditionieren steht die Reizkontrolle beim operan-
ten Konditionieren im Vordergrund. Zimbardo (1992, S. 238ff.) schreibt: ,,... um einen
Reiz zu kontrollieren oder vorherzusagen, muss man lernen wie man erwünschte
Konsequenzen hervorruft und unerwünschte gering hält". Beim operanten Konditio-
nieren ist die Beziehung die gelernt werden muss, die zwischen einer Reaktion und
ihren Konsequenzen. Die erreichten Effekte (Konsequenzen) der Handlung bestim-
men die Wahrscheinlichkeit ihrer Wiederholung. Der zentrale Begriff des operanten
Konditionieren ist nach Schermer (1991, S. 56) die Verstärkung. Zimbardo (1992, S.
244) unterscheidet zwischen positiver und negativer Verstärkung (Bekräftigung). Po-
sitive Verstärker (Futter, Wasser, sexueller Kontakt usw.) erhöhen die Auftretens-
wahrscheinlichkeit eines Verhaltens, während negative Verstärker (Lärm, Kälte, Hitze
usw.) die Auftretenswahrscheinlichkeit verringern. Zimbardo (1992, S. 328ff.) sieht
neben der Verstärkung zwei weitere Funktionen der Rückkopplung (Feedback). Sie
liefert Informationen über die Resultate bzw. Eigenschaften einer Reaktion und kann
zur weiteren Bearbeitung einer Aufgabe motivieren.

22
Im Gegensatz zu den Experimenten in der Literatur (Loosch, 1999; Singer, 1985)
zum operanten Konditionieren, bekommen die Probanden bei dieser Pilotstudie kein
Feedback (Rückmeldung) von außen, d.h. keine extrinsische, sondern eine intrinsi-
sche Rückkopplung. Die intrinsische Rückmeldung ist nach Kaul und Zimmermann
(2001, S. 47) eine sehr fein differenzierte Rückmeldung, die wichtige Informationen
der Leistung übermittelt.
Beim Wiedererkennen der sportgebundenen Inhalte erfolgt die intrinsische Rück-
kopplung mit vermutlich ähnlichen Effekten, wie bei der extrinsischen des operanten
Konditionierens. Die Eigenrückkopplung der geistig behinderten Teilnehmer beim
Reproduzieren der Sportinhalte könnte verstärkerähnliche Wirkung hervorrufen, die
sich auf den Lernprozess auswirkt. Damit beinhaltet die intrinsische Rückkopplung
gleichzeitig einen motivationalen Effekt. Meinel und Schnabel (1988, S. 150) weisen
darauf hin, dass durch Rückinformationen Erfolgs- bzw. Misserfolgserlebnisse
ausgelöst werden können und somit Motive zum Weiterlernen geschaffen werden.
Das Wiedererkennen der Stundenmerkmale könnte als positiver Verstärker bzw. als
Erfolgserlebnis fungieren, während das Nichterkennen als negativer Verstärker bzw.
als Misserfolgserlebnis angesehen werden könnte. An dieser Stelle muss betont
werden, dass es sich bei der Pilotstudie nicht um operantes Konditionieren handelt.
Dieses Modell wird lediglich zur Erklärung herangezogen, um mögliche Effekte der
intrinsischen Rückkopplung zu erklären.
Geistig behinderte Menschen nehmen wie alle anderen wahr. Ihre Denkvollzüge lau-
fen prinzipiell so ab wie bei anderen, geringer ist lediglich der Grad der Differenziert-
heit, die Höhe der Abstraktion und die Fähigkeit zu Transferleistungen. Bach (1979,
S. 254) hebt besondere Lerneigentümlichkeiten geistig behinderter Menschen her-
vor. Er verweist auf die starke qualitative und quantitative Eingeengtheit des Lernfel-
des sowie die quantitativ stark begrenzte Interessierbarkeit und Aufnahmefähigkeit
bei Menschen mit geistiger Behinderung. Des Weiteren sieht er das natürliche Lern-
bedürfnis, d.h. eine situative Neugier oder sachbezogenes Interesse gar nicht oder
nur ansatzweise vorhanden. Aus diesem Grund müssen die Inhalte der Übungsstun-
den für die Probanden interessant, abwechslungsreich und emotional ansprechend
sein. Nur so sind sie in der Lage sportgebundene Inhalte zu reproduzieren. Subjektiv
bedeutsame Merkmale der Übungsstunden werden am Ende der Stunde von den
Probanden leichter und besser wiedererkannt. Voraussetzungen dafür sind Stunden
mit hohem Aufforderungs- und motivationalen Charakter, da die Erwachsenen mit

23
geistiger Behinderung ihre Aufmerksamkeit nur begrenzt auf eine Sache fokussieren
können. Unabhängig vom Ergebnis der Reproduktion sportgebundener Inhalte erhal-
ten die Teilnehmer von außen Zuwendung, Beachtung und Aufmerksamkeit. Es wird
versucht, für die Probanden eine angenehme Lernatmosphäre zu schaffen.
Geistig behinderte Menschen lernen weniger durch Worte oder bildhafte Ableitungen,
sondern durch sinngemäße Anschaulichkeit bzw. durch den motorischen Vollzug.
Somit unterstützt die sensorische Ansprechbarkeit der geistig behinderten Men-
schen, den Einsatz des Mediums Bewegung bei der Pilotstudie und begünstigt dem-
zufolge Lernerfolge. Die Übungsstunden müssen klar strukturiert sein, weil den Men-
schen mit geistiger Behinderung die Fähigkeit zur selbstständigen Aufgabengliede-
rung fehlt oder nicht ausreichend ausgeprägt ist.
Durch die gemäßigte Lerndynamik, d.h. die extreme Verlangsamung, Verflachung
und zeitliche Begrenzung der Lernprozesse benötigen geistig behinderte Menschen,
die die gleichen Entwicklungsphasen wie Nichtbehinderte durchlaufen, mehr Zeit für
das Lernen als Nichtbehinderte. Daher ist es sinnvoll, Lernprozesse über längere
Zeiträume zu planen. Diese Lerncharakteristika sind bei der Pilotstudie von großer
Bedeutung und werden bei der Durchführung berücksichtigt.
2.1.5 Kompetenzmodell
In Anlehnung an Empfehlungen der AAMD (American Association On Mental Defi-
ciency) werden im deutschsprachigen Raum, neben Intelligenzdaten, auch Maße der
sozialen Kompetenz diskutiert. Die Definition der AAMD, die auf Heber (1969, S.
376ff.) zurückgeht, beinhaltet 3 Kriterien: ,,Mental retardation refers to significantly
subaverage general intellectual functioning existing concurrently with deficits in adap-
tive behavior, and manifested during the developmental period" (Grossmann, 1973,
S. 11).
Die drei Klassifikationskriterien sind unterdurchschnittliche Intelligenz, Defizite im a-
daptiven Verhalten und deren Auftreten in einer Entwicklungsperiode (hier bis 18
Jahre). Kompetenz betrifft nicht so sehr einzelne Persönlichkeitsbereiche der Indivi-
duen, sondern in transaktionaler Sichtweise die Fähigkeit der Individuen, je nach
Aufgabenbereich, die eigenen Fähigkeiten und Kenntnisse auf die Anforderungen
und Ressourcen der Umwelt zu beziehen. Kompetenz wird mit der Fähigkeit gleich-

24
gesetzt, diese Ressourcen so zu mobilisieren und zu koordinieren, dass Lernmög-
lichkeiten und Potentiale wie Ressourcen der Umwelt realisiert werden, um ein gutes
Entwicklungsergebnis zu erzielen. Damit ist eine günstige Abstimmung der eigenen
Möglichkeiten mit Forderungen und Hilfen der Umwelt gemeint, wobei die Qualität
der Organisation und nicht der eigenen Fähigkeiten oder Umweltressourcen das ei-
gentliche Kriterium ist. Schließlich wird nicht so sehr die Qualität der Umwelt, son-
dern die Fähigkeit, Aspekte von der Umwelt für die eigenen Ziele zu nutzen, von
Holtz (1994, S. 37) als wesentliches Kriterium einer so verstandenen Kompetenzein-
schätzung gesehen. Kompetenz wird somit zu einem Prozesskonstrukt, welches im
wesentlichen die Organisation von persönlicher Entwicklung beinhaltet. Sie wird oft
im Zusammenhang mit Motivation, Intelligenz, Verhaltensabweichung und Psychopa-
thologie verwendet. Vielfach wird an die Verwendung des Kompetenzkonzepts die
Hoffnung geknüpft, die interdisziplinäre Arbeit in Bezug auf Theorie, Forschung und
Praxis voranzutreiben. Es wird ferner betont, dass mit den Kompetenzmodellen im
Gegensatz zu den medizinischen Modellen eine Abkehr von einer Defektorientierung
erreicht werde. Kompetenzmodelle knüpfen an vorhandene Fähigkeiten und Potenti-
ale der behinderten Menschen an und versuchen diese auszubauen. ,,Von all den
Konzepten, die eingeführt wurden, um individuelle Probleme mit Charakteristika des
sozialen Systems zu verbinden, sind die Konzepte der Kompetenz und des Kompe-
tenzaufbaus am überzeugendsten" (Bloom, 1977, S. 250).
Blooms Meinung ist nachvollziehbar, weil bei Kompetenzmodellen die Fähigkeiten
der behinderten Menschen im Vordergrund stehen und nicht die Einschränkungen.
Sommer spricht in seiner Kompetenzdefinition, die zu einer Auflistung instrumenteller
und sozialer Kompetenzen führt, den kognitiv-strategischen Aspekt des Konstrukts
an. Sommer (1977, S. 75) definiert Kompetenz als: ,,... die Verfügbarkeit und ange-
messene Anwendung von Verhaltensweisen (motorischen, kognitiven und emotiona-
len) zur effektiven Auseinandersetzung mit konkreten Lebenssituationen, die für das
Individuum und/ oder seiner Umwelt relevant sind". Dies setzt auf der Elementen-
Ebene unseres Strukturmodells ein umfangreiches und problemangemessenes Ver-
haltensrepertoire voraus. Sowohl zur Verfügbarkeit, d.h. Aktualisierung, als auch zur
angemessenen Anwendung der Verhaltensweisen sind jedoch Strategien erforder-
lich, die eine Organisation aller Elemente innerhalb des Systems und eine Struktur-
kopplung mit anderen Systemen zum Zwecke einer effektiven Auseinandersetzung
erst ermöglichen.

25
Grennspan und Granfield (1992, S. 447) konzipieren einen Intelligenz beinhaltenden
Kompetenzbegriff. Kompetenz wird nach Greenspan und Granfield (1992) als: ,,...
persönliche Verfügbarkeit von Mitteln oder Fertigkeiten bzw. situationsangemessene
Aktualisierung" verstanden. Sie schlagen die generelle Kompetenz als übergeordne-
tes Konstrukt vor, aus dem sich dann die instrumentelle und soziale Kompetenz un-
tergeordnet ableiten lassen. Bei diesem Modell greifen instrumentelle sowie soziale
Kompetenzen auf unterschiedliche intellektuelle Aspekte zurück, wobei nach Green-
span und Granfield (1992) die unterschiedlichen Intelligenzen Teilaspekte der jewei-
ligen Kompetenzen sind.
Abbildung 2.2. Einteilung der Kompetenzbereiche (Greenspan Granfield, 1992, S. 447)
Die deutlich unterdurchschnittliche Leistungsfähigkeit der sozialen Kompetenz zeigt
sich in der Kommunikation, der eigenständigen Versorgung, im häuslichen Leben
bzw. in den sozialen Fertigkeiten, in der Nutzung öffentlicher Einrichtungen, in der
Selbstbestimmung, in den funktionalen Schulleistungen, in der Arbeit, in der Freizeit,
in der Gesundheit und in der Sicherheit.
Es ist davon auszugehen, dass durch den Erhalt bzw. die Erweiterung der individuel-
len Handlungskompetenzen der geistig behinderten Erwachsenen die Lebenszufrie-
denheit gestützt wird. Sie stellt eine grundlegende persönliche Ressource auf dem
Weg in ein selbstbestimmtes Leben dar. Neben der Arbeitswelt bieten auch die sozi-
albegleitenden Maßnahmen, z.B. Sport, den Menschen mit geistiger Behinderung die

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2002
ISBN (eBook)
9783832488413
ISBN (Paperback)
9783838688411
DOI
10.3239/9783832488413
Dateigröße
1.1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg – Musik-, Sport- und Sprechwissenschaft
Erscheinungsdatum
2005 (Juni)
Note
2,0
Schlagworte
gedächtnis intelligenz lernen behinderung bewegung
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Titel: Leistet Sport einen Beitrag zur Förderung der kognitiven Kompetenz von Erwachsenen mit geistiger Behinderung?
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