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Rentenpolitik politischer Parteien in der Bundesrepublik

Ein Diskussionsbeitrag zum Informationsgehalt von Theorien über politische Parteien

©2004 Magisterarbeit 118 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Problemstellung:
Die Parteientheorie ist ein kurioses Gebiet wissenschaftlicher Betätigung. Während in anderen Forschungsfeldern die Anhänger der verschiedenen Theorieschulen sich heftige Auseinandersetzungen über die Plausibilität, Gültigkeit und Aussagekraft ihrer Hypothesen liefern, streiten sich die Parteienforscher schon seit Jahrzehnten darüber, ob es überhaupt eine allgemeine Parteientheorie geben kann, was ihre Aufgabe sein soll und ob sie nicht vielleicht sogar ganz verzichtbar ist. Diese Arbeit versucht, durch eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Ansätzen und Strömungen in der Theoriearbeit einen Beitrag zur Diskussion über den Gehalt von Theorien über politische Parteien zu leisten.
Dem Untersuchungsansatz liegt das kritisch-rationale Argument zu Grunde, dass man Hypothesen an der Wirklichkeit testen können muss. Auch aus Theorien über politische Parteien müssen Hypothesen ableitbar sein, die mit Beobachtungsaussagen konfrontiert und so auf ihre Gültigkeit überprüft werden können. Dieses deduktive Design des Tests alternativer Hypothesen dient nicht der Theoriebildung, sondern der Theoriefortbildung.
An diesem Ziel orientiert sich auch die Methode: Die Annahmen, die Parteientheorien zu Grunde liegen, und die aus ihnen abgeleiteten Aussagen sollen anhand eines Politikfeldes in einem Land auf ihre empirische Validität überprüft werden. Das erlaubt Rückschlüsse auf die Gültigkeit der Theorie unter den Bedingungen des Einzelfalls.
Als Fallbeispiel dient die Rentenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland zwischen der 10. und 14. Legislaturperiode (1983 bis 2002). Die Untersuchung beschränkt sich auf die gesetzliche Rentenversicherung und klammert andere Bereiche der Alterssicherung wie die Beamtenaltersversorgung aus. Dieses Politikfeld verspricht aus verschiedenen Gründen aufschlussreiche Ergebnisse. Erstens handelt es sich um eine sehr bedeutende Materie. Die Rentenversicherung gilt Experten als das legitimatorische Zentrum des deutschen Sozialstaats. Veränderungen in der Ausgestaltung sind Veränderungen in seinem Kernbestand und seinem Selbstverständnis. Zweitens fanden im Untersuchungszeitraum interessante Wandlungsprozesse der Rahmenbedingungen, des Parteienhandelns und der Parteistruktur sowie ein Regierungswechsel statt. Und drittens stellt der demographische Wandel die Parteien in der Rentenpolitik vor außergewöhnliche Herausforderungen.
Die Auswahl der untersuchten Parteientheorien lehnt sich an den […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 9132
Wagner, Bernd: Rentenpolitik politischer Parteien in der Bundesrepublik - Ein
Diskussionsbeitrag zum Inform ationsgehalt von Theorien über politische Parteien
Ham burg: Diplom ica Gm bH, 2005
Zugl.: Bayerische Julius-Maxim ilians-Universität Würzburg, Magisterarbeit, 2004
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Diplom ica Gm bH
http:/ / www.diplom .de, Ham burg 2005
Printed in Germ any

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Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung... 3
2 Paradigmatische Grundlagen der Parteientheorie... 5
2.1 Das Integrationsparadigma... 7
2.2 Das Konkurrenzparadigma... 8
2.3 Das Transmissionsparadigma... 9
3 Ausgewählte Parteientheorien... 10
3.1 Die funktionalistische Parteientheorie nach Beck und Sorauf... 11
3.2 Rational-choice-orientierte Parteientheorie nach Strøm/Müller... 13
3.3 Der konflikttheoretische Ansatz von Richard Stöss... 17
4 Exkurs: Parteien in der sozialpolitischen Literatur... 18
5 Die gesetzliche Rentenversicherung in Deutschland... 21
5.1 Grundzüge... 22
5.2 Entwicklung von 1983 bis 2004... 23
6 Implementation: Parteientheorien in der Rentenpolitik... 29
6.1 Parteien in der Rentenpolitik aus Rational Choice-Sicht... 29
6.2 Funktionalistische Sichtweise der Parteien in der Rentenpolitik... 65
6.3 Rentenpolitik aus konflikttheoretischer Perspektive... 99
7 Bewertung... 101
7.1 Rational-Choice-Theorie... 101
7.2 Funktionalistische Parteientheorie... 103
7.3 Konflikttheorie... 106
8 Schlusswort... 107
9 Literaturverzeichnis... 109

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1 Einleitung
Die Parteientheorie ist ein kurioses Gebiet wissenschaftlicher Betätigung. Während in anderen For-
schungsfeldern die Anhänger der verschiedenen Theorieschulen sich heftige Auseinandersetzungen
über die Plausibilität, Gültigkeit und Aussagekraft ihrer Hypothesen liefern, streiten sich die Parteien-
forscher schon seit Jahrzehnten darüber, ob es überhaupt eine allgemeine Parteientheorie geben kann,
was ihre Aufgabe sein soll und ob sie nicht vielleicht sogar ganz verzichtbar ist (vgl. Beyme 1983: 251;
Greven 1993: 279; Steininger 1984: 89ff). Die Theoriedebatten werden ,,selbstanklägerisch und despek-
tierlich im Tenor geführt und enden mit vernichtenden Urteilen, die kein gutes Haar am Entwicklungs-
niveau der Theoriearbeit lassen" (Wiesendahl 1998: 15). Im Zentrum der Kritik steht dabei nicht etwa
eine generelle Theorielosigkeit, sondern fehlendes Theoriebewusstsein. Die Parteienliteratur enthalte
zum einen oftmals implizit theoretische Grundannahmen, die jedoch unreflektiert und ohne Abgren-
zung zu anderen theoretischen Positionen adaptiert würden, ohne Gedanken über die logischen und
methodologischen Implikationen zu verlieren, auf die man sich als Forscher mit seiner Wahl einlässt
(vgl. ebd.: 17). Zum anderen zerfalle die Parteientheorie in zahlreiche Bereichstheorien von geringer
Reichweite ohne einen gemeinsamen theoretischen Bezugsrahmen, der die Forschung in Spezialgebie-
ten anleiten könnte. Eine Gesamtansicht politischer Parteien, welche die Vielfalt der Parteienwirklich-
keit berücksichtigt, sei auf diese Weise nicht möglich. Stattdessen würden immer ,,mehr isolierte punk-
tuelle Ausschnitte (...) detailliert erhellt, ohne daß Brückenschläge oder Transfers erkennbar wären"
(ebd.: 17). Als Folge dieser ziellosen Fragmentierung gerät die Parteienforschung in dem ,,Geruch, nur
gehobenen Journalismus darzustellen" (Beyme 2000: 9). Greven empfiehlt den Parteienforschern indi-
rekt sogar, gleich ganz ihren Job an den Nagel zu hängen, wenn er schreibt: ,,Ist es nicht so, daß der
fundierte Journalismus über politische Parteien (...) der akademischen Parteienforschung regelmäßig um
Längen voraus ist? Was erführe man aus ihr, was man nicht längst in Journalen gelesen hätte (...)?
" (Greven 1993: 280).
Anstatt dem Beispiel Grevens zu folgen und das Handtuch zu werfen, will ich in dieser Arbeit versuchen,
durch eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Ansätzen und Strömungen in der Theoriearbeit einen
Beitrag zur Diskussion über den Gehalt von Theorien über politische Parteien zu leisten. Meinem Un-
tersuchungsansatz liegt das kritisch-rationale Argument zu Grunde, dass man Hypothesen an der Wirk-
lichkeit testen können muss. Auch aus Theorien über politische Parteien müssen Hypothesen ableitbar
sein, die mit Beobachtungsaussagen konfrontiert und so auf ihre Gültigkeit überprüft werden können
(vgl. Alemann 1995: 48). Dieses deduktive Design des Tests alternativer Hypothesen dient nicht der
Theoriebildung, sondern der Theoriefortbildung (vgl. Bürklin/Welzel 1995: 334). An diesem Ziel orien-
tiert sich auch die Methode: Die Annahmen, die Parteientheorien zu Grunde liegen, und die aus ihnen

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abgeleiteten Aussagen sollen anhand eines Politikfeldes in einem Land auf ihre empirische Validität über-
prüft werden. Das erlaubt Rückschlüsse auf die Gültigkeit der Theorie unter den Bedingungen des Ein-
zelfalls (vgl. Richter 2001: 3). Die Beschränkung auf eine Fallstudie wirkt dabei wie ein Vergrößerungs-
glas; um eine umfassendere Sicht zu ermöglichen, können die Ergebnisse der Beobachtung anschlie-
ßend mit den Erkenntnissen anderer Arbeiten verglichen werden.
Als Fallbeispiel habe ich die Rentenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland zwischen der 10. und 14.
Legislaturperiode (1983 bis 2002) ausgewählt. Die Untersuchung beschränkt sich auf die gesetzliche
Rentenversicherung und klammert andere Bereiche der Alterssicherung wie die Beamtenaltersversor-
gung aus. Dieses Politikfeld verspricht aus verschiedenen Gründen aufschlussreiche Ergebnisse. Ers-
tens handelt es sich um eine sehr bedeutende Materie. Nullmeier/Rüb halten die Rentenversicherung für
,,das legitimatorische Zentrum des deutschen Sozialstaats. Veränderungen in der Ausgestaltung (...) sind
Veränderungen in seinem Kernbestand und seinem Selbstverständnis" (1993: 16; Hervorh. i. Orig.).
Zweitens fanden im Untersuchungszeitraum interessante Wandlungsprozesse der Rahmenbedingun-
gen, des Parteienhandelns und der Parteistruktur sowie ein Regierungswechsel statt. Und drittens müs-
sen die Parteien vor allem durch den demographischen Wandel in der Rentenpolitik außergewöhnliche
Herausforderungen meistern.
Gang der Untersuchung
Bei der Auswahl der Parteientheorien lehne ich mich an den renommierten Parteienforscher Elmar
Wiesendahl an. Er hat in seinem Buch ,,Parteien und Demokratie" (1980) eine perspektivengebundene
Typologie der Parteientheorien vorgeschlagen, die viel Anerkennung fand und nach wie vor häufig zi-
tiert wird. Wiesendahls Ausgangspunkt ist die Standortgebundenheit des Forschers: ,,Theoretisieren über
Parteien beginnt mit grundlegenden Vorstellungen, Perspektiven und Analyseansätzen, mit denen Par-
teienforscher an ihren Gegenstandsbereich herantreten (...). Parteientheorie stellt immer eine vom For-
scher geschaffene Eigenwelt dar und ist mit der Wirklichkeit niemals identisch" (1998: 28). Ich werde
im ersten Schritt die drei paradigmatischen Denkansätze vorstellen, auf denen die Parteienforschung
laut Wiesendahl beruht. In seinem aktuellen Werk ,,Parteien in Perspektive" (1998) macht der Autor für
die Gegenwart nur noch zwei theoretische Hauptströmungen aus, die aus den Paradigmen hervorge-
gangen sind
1
. Im zweiten Schritt werde ich deshalb zwei prominente Vertreter dieser Richtungen, die
funktionalistische Parteientheorie nach Beck und Sorauf und den Rational Choice-Ansatz von Strøm und
Müller, vorstellen und erläutern, wie ich ihre Konzepte für die Überprüfung in der Rentenpolitik opera-
1
Die klassische Parteientheorie stellt Wiesendahl zwar als eigene Hauptströmung vor, charakterisiert sie aber als über-
holt und unzeitgemäß.

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tionalisiere. Auf die aus dem dritten Paradigma hervorgegangenen Konflikttheorien werde ich am Bei-
spiel von Stöss nur am Rande eingehen. Weil die Parteientheorien auch in der Sozialpolitikforschung
eine Rolle spielen, widme ich diesem Zusammenhang einen Exkurs.
Die Prüfung der Theorien leite ich mit einer Darstellung der Gestalt und einem Überblick über die Ge-
schichte der Rentenversicherung in der Bundesrepublik ein. Im Hauptteil werde ich das Handeln, die
Organisationsstruktur und die Entscheidungsprozesse der Parteien in der Rentenpolitik den Hypothe-
sen der vorgestellten Parteientheorien gegenüberstellen und aufzeigen, in wie weit sich die Beobachtun-
gen mit den Hypothesen erklären lassen, wo Übereinstimmung zwischen Theorie und Empirie
herrscht und wo Widersprüche auftreten. Im letzten Schritt werde ich den Problemkreis mit einer Be-
wertung der Erklärungskraft der Theorien, ihrer Defizite und der Möglichkeiten einer gegenseitigen Er-
gänzung schließen.
2 Paradigmatische Grundlagen der Parteientheorie
Wie alle sozialwissenschaftlichen Theorien steht auch die Parteientheorie vor einem logischen Problem:
,,Jede Weltbeobachtung findet in der Welt statt, jede Gesellschaftsbeobachtung, wenn sie als Kommu-
nikation vollzogen wird, in der Gesellschaft" (Luhmann 1997: 1118). Die Gesellschaft kann sich also
nur selbst beobachten; eine völlig objektive, externe, losgelöste Beobachtung ist deshalb nicht möglich.
Folglich sind alle Beobachtungen und Beobachtungsergebnisse nur Konstruktionen aus der Sicht beob-
achtender Systeme (vgl. Luhmann 1996: 18f). Somit sind auch alle politikwissenschaftlichen Theorien
Konstruktionen, die auf Unterscheidungen durch Beobachter beruhen. Andere Beobachter nehmen
mehr, weniger oder anderes in den Blick, jede Perspektive liefert andere Beobachtungen. ,,Das impli-
ziert die ständige Korrigier- und Kritisierbarkeit aller Beobachtungsergebnisse." (Berghaus 2003: 44).
Speziell in der häufig unter dem Einfluss normativer Prämissen stehenden Parteienforschung (vgl. Bey-
me 1983: 242) rückt dies die Frage nach der Perspektive des Beobachters in den Mittelpunkt:
,,Was somit Bedingung jeglicher Forschung ist, macht zugleich ihr Entscheidungsproblem aus: Denn
was soll nach welchen Maßstäben unberücksichtigt bleiben, was als wichtig hervorgehoben werden?
Wie soll vereinfacht werden, und wie weit kann Vereinfachung gehen? Für diese Fragen gibt es keine
verbindliche Antwort, wie es keine zwingenden Kriterien gibt, die eine Antwort vorschreiben könnten.
Der Forschung verbleibt also ein Entscheidungsproblem, dessen Lösung gegenüber der Wirklichkeit
unbefriedigend bleiben muss. (...) Soweit keine eingesetzte Methode und keine gewählte Perspektive für
sich allein den Anspruch des Richtigen beanspruchen kann, ist folglich der Methoden- und
Perspektivenpluralismus für die Parteienforschung konstitutiv. " (Wiesendahl 1980: 103)
Schon die Frage nach dem Parteibegriff ­ eine der ersten Unterscheidungen, die ein Forscher zu tref-
fen hat ­ lässt eine Vielzahl von unterschiedlichen Sichtweisen zu und verweist auf die Verzahnung der

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Parteientheorie als einer Bereichstheorie mit sozialwissenschaftlichen Großtheorien. Zum Beispiel wird
in modernen westlichen Industriegesellschaften ,,Partei" meist in Verbindung mit einem Parteiensystem
und einer demokratischen Ordnung gedacht und damit unter demokratietheoretischen Prämissen un-
tersucht. Doch politische Parteien sind keineswegs ein demokratisches Phänomen oder eine Erfindung
der neuzeitlichen Staatslehre (vgl. Steininger 1984: 90). Die Entscheidung für ein demokratisches Be-
griffsverständnis von ,,Partei" impliziert deshalb schon ein ganzes Arsenal an Leitideen, Prämissen und
Vorstellungen; gleichzeitig lenkt sie die Aufmerksamkeit auf ganz bestimmte Fragestellungen und blen-
det andere aus. Bei der Herausarbeitung von Forschungsperspektiven muss deshalb laut Wiesendahl be-
rücksichtigt werden, ,,mittels welcher analytischen Konzepte, Kategorien und Begriffe und welcher
Orientierungen ein Gegenstandsbereich" erschlossen wird (1980: 41), mit dem Ziel, durch bewusstes
Hinterfragen einen Beitrag ,,zur Entfrachtung der Parteienforschung von allen ihren Präskripten und
verkürzten Fragestellungen" zu leisten (1980: 17).
Wiesendahl geht davon aus, dass man in der Parteienforschung drei theoretische Grundpositionen un-
terscheiden kann, die er in Anlehnung an Kuhns Theorie der wissenschaftlichen Revolutionen als Para-
digmen bezeichnet: Das Integrations-, das Konkurrenz- und das Transmissionsparadigma (vgl. 1998: 29
und 1980: 107; s. unten). Doch selbst diese Zusammenstellung der Paradigmen erfolgt nicht neutral,
sondern aus einer ganz speziellen Perspektive: Wiesendahl interessiert sich in seiner soziologischen Un-
tersuchung der paradigmatischen Ansätze in der Parteienforschung für das Beziehungsverhältnis zwi-
schen Parteien und Demokratie. Er sieht die Parteienforschung als ,,spezielle Form von Demokratie-
forschung" und folgert daraus, dass ,,die Parteientheorie wesentliche Annahmen und Aussagen über ih-
ren Erkenntnisgegenstand aus dem Aussagenfundus der Demokratietheorie entlehnt" (1980: 19). De-
skriptive und präskriptiv-normative Elemente würden dabei eine unlösbare Verbindung eingehen.
Das Design meiner Untersuchung ­ das Testen von Hypothesen am Fallbeispiel der bundesdeutschen
Parteienlandschaft ­ lässt es nur zu, Theorien über Parteien in demokratischen Systemen zu prüfen.
Unter dieser Einschränkung scheint mir das Paradigmakonzept geeignet, den Bezugsrahmen und den
analytischen Kontext der verschiedenen Denkschulen in der Parteientheorie offen zu legen. Eine Par-
teientheorie, die für moderne Demokratien, vor-demokratische Staatswesen, staatssozialistische Re-
gimes und faschistische Diktaturen gleichermaßen gelten soll, könnte nur unter dem Dach einer umfas-
senden Theorie zur Funktion der Parteien im gesellschaftlich-politischen Zusammenhang entfaltet wer-
den (vgl. Stöss/Niedermayer 1993: 28). Eine sozialwissenschaftliche Theorie von solchem Allgemein-
heitsgrad würde in der Tat Gefahr laufen, als Beymes viel zitiertes ,,gestelztes Leerformelgebilde in die
Arena der Wissenschaft zu treten" (1983: 251).

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Die meisten modernen Parteientheorien sind allerdings nicht eindeutig einem Paradigma zuzuordnen.
Zum einen haben sich die scharfen Trennlinien zwischen den Denkansätzen in den letzten Jahrzehnten
stark verwischt. Zum anderen werden die paradigmatischen Wurzeln so gut wie nie explizit offen ge-
legt. ,,Sie müssen aus den konzeptionellen, kategorialen und methodischen Aussagen des Parteien-
schrifttums herausgefiltert und in ihrer logischen Sinnstruktur analysiert werden" (Wiesendahl 1998:
29). Die Ergebnisse dieser Sichtung sind nicht zwangsläufig eindeutig. Weil jedes Paradigma bei der
Analyse und Erklärung bestimmter Ausschnitte der Parteienwirklichkeit seine Stärken hat andere Aus-
schnitte vernachlässigt, wenden moderne Parteienforscher häufig eine komplementäre Strategie an und
nehmen ihren Gegenstand aus unterschiedlichen paradigmatischen Perspektiven in Augenschein. Den-
noch sind in der Regel Tendenzen zu einem der drei Pole erkennbar, die Rückschlüsse auf die Veranke-
rung einer Theorie in einer demokratietheoretischen Grundposition zulassen.
2.1 Das Integrationsparadigma
Ausgangspunkt des Integrationsansatzes ist die Frage nach den Funktions- und Bestandsbestimmungen
für eine stabile Demokratie. Der Integrationsansatz stellt ,,die Leistungen der Parteien für die Sicherung
der Konsensbildung, der Funktionserfüllung und der Überlebenssicherung des politischen Gesamtsys-
tems in den Vordergrund" (Beyme 1995: 519). Das Paradigma leitet also sein Parteikonzept aus den
Systemerfordernissen einer funktionierenden und stabilen Demokratie ab: Die Partei wird ,,als abhängi-
ge Variable politischer Systemfaktoren entworfen und normativ auf systemkonforme Dienstleistungen
verpflichtet" (Wiesendahl 1980: 145). Die Herstellung von Anerkennung und Unterstützung des aus
der Gesellschaft ausgelagerten politischen Systems durch die Umwelt einerseits und Abwehr von unzu-
mutbaren Umweltforderungen durch Konsensbildung andererseits wirken als funktionale Imperative
für die Parteien. Damit bildet das Parteiensystem quasi ein Puffergebilde zwischen dem politisch-admi-
nistrativen System und seiner gesellschaftlichen Umwelt:
,,Auf der Input-Seite des politischen Prozesses gewährleistet es die Systemimperative dadurch, dass es
bei gelenktem Wettbewerb Konflikte bändigt und formiert und Forderungen filtert und bündelt, so daß
nur lösbare und entscheidbare
Inputs in das politische Entscheidungs- und
Problemverarbeitungszentrum zu gelangen vermögen. Auf der Output-Seite des politischen Prozesses
trägt das Parteiensystem dazu bei, den politischen Entscheidungen die erforderliche
Annahmebereitschaft und Zustimmung durch die gesellschaftliche Umwelt zu besorgen" (ebd.: 146).
Die Entscheidungsbildung an sich siedelt der Integrationsansatz im politischen System an. Im Zentrum
stehen dabei die Parlamente als souveräne und autonome Entscheidungsorgane. Parteien nehmen aus
diesem Blickwinkel unbestritten Einfluss, sind aber nicht Träger, sondern Hilfsorgane politischer Wil-
lensbildung (vgl. ebd.: 310f). Dieser Vorstellung liegt ein repräsentatives Demokratiekonzept zu Grun-

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de, nach dem gewählte Politiker - prinzipiell unabhängig und nur ihrem Gewissen verantwortlich - auf
parlamentarischer Ebene an Volkes statt, aber mit dessen Zustimmung die politischen Entscheidungen
treffen. Parteien bilden in diesem Rahmen ,,Instrumente, die unter den Bedingungen moderner Mas-
sendemokratien einerseits Wahlen sicherstellen und andererseits die Entscheidungsunabhängigkeit und
-fähigkeit der politischen Eliten im politisch-administrativen Entscheidungszentrum gewährleisten kön-
nen" (ebd.: 115).
2.2 Das Konkurrenzparadigma
Das Konkurrenzparadigma rückt den Begriff ,,Wettbewerb" in den Mittelpunkt der Parteientheorie.
Als Anstoßgeber der Vorstellung von Demokratie als Wettbewerb um Wählerstimmen mit starken
Analogien zum ökonomischen Marktmodell gilt Joseph Schumpeter mit seinem Werk ,,Kapitalismus, So-
zialismus und Demokratie". Schumpeter nennt ,,die demokratische Methode (..) diejenige Ordnung der
Institutionen zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei welcher einzelne die Entscheidungsbefug-
nis vermittels eines Konkurrenzkampfs um die Stimmen des Volkes erwerben" (1972: 428). Die Wähler
tauschen also mit politischen Eliten in einem vertraglich geregelten Rahmen Stimmen gegen öffentliche
Güter. Das Volk bleibt zwar auch in diesem Modell der Souverän, es gestaltet aber den Prozess der po-
litischen Willensbildung nicht mehr selbst, sondern stimmt über die Politikangebote ab, die ihm auf Ba-
sis freier Werbung von politischen Unternehme(r)n angeboten werden. ,,Die eigentliche Aufgabe der
Wählerschaft besteht nicht darin, Fragen der Politik zu entscheiden, sondern zu bestimmen, welche
von zwei oder mehr Mannschaften die Entscheidung treffen soll" (McKenzie 1961: 386, zit. nach Wie-
sendahl 1980: 119). Auf diese Weise erfährt Elitenherrschaft eine demokratische Legitimation. Dabei
stellt der Stimmenkonkurrenzmechanismus sicher, dass sich die Politikangebote an der Wählernachfra-
ge orientieren ­ Adam Smith´ ,,unsichtbare Hand" lässt grüßen: Der Wettbewerbsdruck zwingt die an
Wahlerfolgen interessierten Gruppierungen, ihre Programme an den Bürgerpräferenzen zu orientieren
(vgl. Nullmeier 2000: 222).
Parteien sind aus dieser Perspektive reine Machterwerbsintrumente in der Hand eigennütziger Politiker.
Als rationale Mittel-Zweck-Organisationen gehorchen sie den Gesetzen unternehmerischer Logik: Alle
Strukturen, Entscheidungen und Maßnahmen der Parteien bilden eine Funktion rationaler Zielverwirk-
lichung (vgl. Wiesendahl 1980: 123). Nach Downs treten sie ,,mit politischen Konzepten hervor, um
Wahlen zu gewinnen; sie gewinnen nicht Wahlen, um mit politischen Konzepten hervortreten zu kön-
nen" (1968: 28). Und weiter: ,,In unserem Modell sind die politischen Parteien (..) nicht Vertreter be-
stimmter sozialer Gruppen oder Klassen, sondern autonome Organisationen, welche die führende Rol-

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le im Staate per se anstreben und sich zur Erreichung dieses Ziels der Unterstützung sozialer Gruppen
bedienen" (1968: 93). Um diese Unterstützung in Form von Stimmen ringen rivalisierende Politiker-
teams mit konkurrierenden Politikangeboten. Der Mitgliederorganisation der Partei fällt dabei nur eine
subsidiäre Rolle zu. Den Dreh- und Angelpunkt der konkurrenzparadigmatischen Analyse bilden die
Parteieliten und ihr Handlungskalkül in der Wettbewerbssituation: Während bei Schumpeter die politi-
schen Führer in der Lage sind, die Meinungen der Bürger entscheidend zu formen, verhalten sie sich
bei Downs als ,,Mengenanpasser" und verändern ihre Programme gemäß der Nachfrage (vgl. Nullmeier
2000: 222). Sie organisieren also Interessen nicht selbst, sondern makeln sie nur als exogen vorgegebe-
ne Größen.
2.3 Das Transmissionsparadigma
Während das Integrations- und das Konkurrenzparadigma die Funktion der Parteien tendenziell in der
Beschaffung von Konsens und Unterstützung für Eliten in der politischen Arena sehen (vgl. Beyme
1995: 518), sind Parteien aus der Perspektive des Transmissionsparadigmas ,,gesellschaftliche Instru-
mente des interessenspezifischen Konfliktaustrags" (Wiesendahl 1980: 149): In Parteien organisieren
Kollektive ihre Interessen, um sie im politischen Klassenkampf ins Spiel zu bringen und durchzusetzen.
Parteien sind somit das Werkzeug ihrer Anhänger und Mitglieder, deren Wünsche sie möglichst unver-
fälscht in die politischen Entscheidungszentren transmittieren. Über sie realisiert und praktiziert das
mündige Volk ­ und nicht autonome Eliten ­ sein Recht auf Selbstbestimmung. Das Verhältnis zwi-
schen Amtsträgern und Mitgliedern bzw. Wählern beruht nicht auf Vertrauen, Zustimmung oder
Tausch, sondern generell auf Weisung. Damit kommt der Mitgliederorganisation der Partei, also der or-
ganisierten Aktivbürgerschaft, die Schlüsselrolle bei der Steuerung und Kontrolle des politischen Pro-
zesses zu.
Hintergrund ist ein basisdemokratisches Leitbild politischer Willensbildung, bei dem das Volk seinen
Willen nicht veräußert, sondern lediglich delegiert, um in modernen Massengesellschaften Entscheidun-
gen überhaupt erst zu ermöglichen (vgl. ebd.: 130). Durch ihre Organisationsfähigkeit machen Parteien
den Bürger politisch aktionsfähig, meint Gerhard Leibholz, der prominenteste Vertreter der Parteien-
staatslehre: ,,Ohne die Parteien würde das Volk in der modernen Demokratie politisch ohnmächtig und
hilflos hin- und hervegetieren" (1974: 172f.). Als unentbehrliches ,,Sprachrohr des Volkes" avancieren
die Parteien in der Parteienstaatslehre gar zur ,,Quelle aller Staatlichkeit" (Stöss 1997: 19) mit monopo-
lartigem Einfluss. Weil sie eine herausragende Funktion bei der Ausübung der Staatsgewalt durch das

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Volk erfüllen, seien sie nicht mehr dem privaten, gesellschaftlichen Bereich zuzuordnen, sondern der
staatlichen Sphäre (vgl. ebd.: 18) ­ deshalb die Rede vom Parteienstaat.
Begreift man die Parteien als ,,bottom-up"-Willensbildungsinstrument von organisationsbedürftigen
Bürgern, dann sind ,,Parteiensysteme ein gebrochener Spiegel der gesamtgesellschaftlichen Konflikt-
struktur" - so beschreibt Raschke (1977: 20) mit einer häufig aufgegriffenen Metapher den Zusammen-
hang zwischen Parteien und gesellschaftlicher Umwelt. Auch die die innerparteilichen Strukturen und
Prozesse sind abhängig vom sozialen Kontext. Gleichzeitig zielen die Parteien aber darauf ab, über ei-
nen erfolgreichen Machtkampf die gesellschaftliche Situation selbst zu verändern. ,,Die Partei strebt in
Abhängigkeit von gesellschaftlichen Bindungen die Veränderung jener Herrschaftsverhältnisse an, de-
nen sie selbst unterworfen ist, was ihrem Handeln eine spezifische dialektische Struktur verleiht" (Wie-
sendahl 1980: 134). Auch wenn Stimmen- und Machterwerb dabei nur ein strategisches Mittel zum
Zweck sind, müssen sich gesellschaftliche Konfliktgruppen, die die Machtverhältnisse zu ihren Guns-
ten verändern wollen, der politischen Auseinandersetzung stellen. Dabei brauchen sie die politische
Partei, um durch organisatorische Bündelung und Massenmobilisierung Konfliktfähigkeit gegenüber
dem Konfliktgegner zu erlangen. Dahinter steckt eine Vorstellung von Demokratie, die nicht von Kon-
sens, sondern Dissens, nicht von Integration, sondern von Segmentierung als Folge von sozialer Un-
gleichheit ausgeht (vgl. ebd.: 135f.). Politik in diesem Sinne ist Klassenkampf, und Parteien sind
Kampforganisationen. Diese Funktion bedingt ihre innere Struktur: Soll die Partei den Willen ihrer An-
hänger, der an der Basis kreiert und von unten nach oben transmittiert wird, unverfälscht durchsetzen,
muss die innere Ordnung basisdemokratischen Prinzipien gehorchen. Eine funktionierende innerpartei-
liche Demokratie ist dafür zwingende Voraussetzung.
3 Ausgewählte Parteientheorien
Die wissenschaftliche Literatur über Parteien ist so umfangreich, dass ,,jeder Parteienforscher sich dem
Verdikt der Unglaubhaftigkeit aussetzen würde, gäbe er vor, die einschlägige Literatur insgesamt zu
kennen und gar 'verarbeitet' zu haben" (Mintzel 1987: 221). Es ist deshalb nur möglich, einen kleinen
Ausschnitt aus dem breiten Spektrum der Parteientheorien zu behandeln. Um den eingeschlagenen
Weg einer perspektivenbezogenen Untersuchung fortzuführen, orientiert sich die Auswahl weiterhin an
Wiesendahl (1998). Vorgestellt werden die Arbeiten von zwei Autorenpaaren, die Wiesendahl als beson-
ders exemplarisch bzw. originell hervorhebt. Allerdings verzichte ich in Abweichung von dessen Buch
auf eine Aufarbeitung der als überholt geltenden klassischen Parteientheorie. Stattdessen werde ich kurz
einen modernen konflikttheoretischen Ansatz vorstellen.

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3.1 Die funktionalistische Parteientheorie nach Beck und Sorauf
Die funktionalistische Parteientheorie übernimmt viele Elemente aus dem Gedankengut des Integrati-
onsparadigmas, hat aber einen anderen analytischen Ausgangspunkt. Ihr Parteikonzept leitet sich nicht
nur aus den Systemerfordernissen einer funktionierenden und stabilen Demokratie ab. Stattdessen ent-
werfen Sorauf und Beck in ihrem Standardwerk Party Politics in America (1988), exemplarisch für diese
Theorieströmung, ein umfassendes System-Umwelt-Modell der politischen Partei. In diesem Modell
werden Parteien als abhängige Variable ihrer gesamten ökonomischen, sozialen und politischen Um-
welt betrachtet (vgl. Hartmann 1979: 21). Parteien bilden ein Subsystem im politisch-administrativen
System; ihre Funktionen lassen sich aus den Systembedürfnissen und -erfordernissen der Umwelt dedu-
zieren. In einem demokratischen System gehören dazu natürlich auch die Funktionen, welche die De-
mokratie nach dem Integrationsparadigma den Parteien abverlangt. ,,The entire development of the
parties reflects (..) imperatives of democracy, and changes in the parties have mirrored changes in the
very nature of democracy and its electorates" (Beck/Sorauf 1988: 505). Die Anforderungen gehen aber
noch weit darüber hinaus; die Demokratie ist nur einer von vielen Umweltkontexten, welche die Partei-
en prägen. Die Autoren nennen insgesamt fünf Hauptkategorien von Umwelteinflüssen, die einen
komplexen Bedingungsrahmen der Funktionserfüllung von Parteien bilden (vgl. Beck/Sorauf 1988:
27ff., 498 und Wiesendahl 1980: 35):
·
Politische Institutionen
·
Parteiengesetzgebung (,,statutory regulation")
·
Wahlrecht und Wahlsystem (,,electoral processes")
·
die politische Kultur
·
Faktoren aus der nicht-politischen Umwelt (,,nonpolitical forces").
Da die Partei als offenes System gedacht wird, ist die Umwelt nicht nur Absender von ,,Inputs", son-
dern auch Adressat von ,,Outputs". ,,Although the direction of the relationship is, indeed, primarly
from environment to party, the parties do have some control over their environment. They participate,
for example, in the making of public policy on who votes (...). They also shape, by education and by
their own performace, public attitudes about the parties themselves and, more generally, about politics"
(Beck/Sorauf 1988: 498). Die Autoren unterstellen also kein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis. Doch
vorrangig bleibt die Partei ein Produkt ihrer Umwelt.
Auch den Ursprung und die Entwicklung von Parteien erklärt der Funktionalismus mit Systembedürf-
nissen. ,,Parties came into existance to perform certain critical functions for the system, and derived
their basic form in the process of implementing these functions. (...) Parties are merely a particular
structural response, therefore, to the needs of a social and political system in a particular milieu",
schreibt Eldersveld in seiner Richtung weisenden Pionierstudie (1964: 2). Nach Eldersveld (1982: 6) sind

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moderne Gesellschaften geprägt von Konflikten zwischen Individuen und sozialen Gruppen; gleichzei-
tig sind sie auf Kooperation angewiesen. Weil die Anzahl und die Verschiedenheit der Interessen in
Massengesellschaften zu groß werden, um sie über informelle Interaktion zu regeln, haben moderne
Gesellschaftssysteme Institutionen zur friedlichen Konfliktaustragung entwickelt. ,,Parties are groups
which are part of this conflict articulation, mediation, and resolution process" (ebd.). Laut Wiesendahl
(1998: 76) sind Parteien für die Funktionalisten intermediäre Konversionsmechanismen, ,,die ihnen äu-
ßerliche Wünsche und Erwartungen aufgreifen, umwandeln und als Inputs an das politische System
weitergeben." Beck und Sorauf formulieren pointiert: ,,[T]he political party (...) is first of all a conversion
mechanism for changing resources and demands into goal-seeking activities" (1988: 499). Die Parteien
sind in diesem Konzept nur eine Vermittlungsinstanz, sie haben folglich keinen Selbstzweck und auch
keinen Eigenwert. ,,Parteien sind unter diesem Blickwinkel die Antwort auf Probleme, die zwar nicht
die ihren sind, um deretwillen sie gleichwohl existieren" (Wiesendahl 1998: 77). Als ,,Service- und Mak-
lergebilde" (ebd.: 67) gehören sie nicht zu den aktiven Zentren der Politikentwicklung, sind weniger
,,Macher" als vielmehr ,,Handlanger". ,,Behind the attributions of a prime, central role to the parties is a
false theoretical assumption that the parties are causes rather than effects (...). The fact that they them-
selves are caused, shaped, and produced is overlooked" (Beck/Sorauf 1988: 497). In ihrer politischen
Dienstleistungsfunktion stehen die Parteien in Konkurrenz mit vielen anderen politischen Agenturen,
die gesellschaftliche Interessen in politisches Handeln bzw. politische Entscheidungen umsetzen.
,,[Not] only the parties can aggregate or mobilize political influence" (ebd.: 506).
Der Wettbewerb untereinander und mit anderen Interessenvermittlern wie den Verbänden oder den
,,neuen sozialen Bewegungen" zwingt die Parteien, sich dem gesellschaftlichen Wandel anzupassen, um
nicht von der Bildfläche zu verschwinden. In der modernen, pluralistischen Gesellschaft entspricht für
die Funktionalisten die Volkspartei als das Integrationsmodell einer Partei am ehesten den Systembe-
dürfnissen ,,strukturell eingeebneter und entideologisierter gesellschaftlicher Verhältnisse" (Wiesendahl
1980: 223).
2
Volksparteien verfolgen ,,keine Partikular-, Gruppen- oder Klassenziele und -interessen,
sondern das Interesse des Ganzen.(...) In der Verbindung von Gemeinwohlorientierung einerseits und
sozialer Umfassung andererseits strebt die Volkspartei danach, den interessenbestimmten Konfliktcha-
rakter zugunsten allgemeinen Konsenses aufzuheben. (...) [S]ie versteht sich als Partei der Mitte" (ebd.
223f).
Beck und Sorauf erklären die Ausrichtung der Partei an der breiten Wählerschaft ,,by its concentration
on the contesting of elections. (...) Since the party chooses to work toward its goals largely in elections,
2
Für den Begriff ,,Volkspartei" gibt es in der englischen Parteienliteratur keine wörtliche Entsprechung. Das anglo-
amerikanische Äquivalent der ,,multi-interest-party", ,,multi-policy-party" oder ,,catch-all-party" weist aber kaum
nennenswerte Merkmalsabweichungen auf (vgl. Wiesendahl 1980: 226f.).

13
it must recruit an enormous supportive clientele. (...) Party appeals must be broad and inclusive; the
party cannot afford either exclusivity or a narrow range of concerns. It is at the opposite pole from the
´single issue´ group or organization" (1988: 17f).
Die Überprüfung der funktionalistischen Parteientheorie
In Abschnitt 6.2 werde ich überprüfen, in wie weit mit diesen Annahmen das beobachtbare Verhalten
der Parteien im Politikfeld Rentenpolitik vereinbar bzw. erklärbar ist. Dazu leite ich aus der Theorie
folgende Hypothesen ab, welche die Fragestellung anleiten sollen:
Die Parteien stehen in der Rentenpolitik unter dem ,,Primat der Umwelt", d. h.:
·
Sie können die Rahmenbedingungen und Einflussfaktoren nur sehr begrenzt nach ihren Vorstel-
lungen formen. Vielmehr reagieren sie systemkonform auf extern vorgegebene Erfordernisse.
·
Sie sind keine aktiven Zentren der Politikentwicklung, sondern ein Konversionsmechanismus. Sie
greifen lediglich ihnen äußerliche Wünsche und Erwartungen auf, verarbeiten sie und geben sie
als Inputs an das politische System weiter.
·
Wandlungsprozesse in der Rentenpolitik der Parteien sind auf Veränderungen der Verhältnisse in
der Systemumwelt zurückzuführen.
Die Parteien verfolgen in der Rentenpolitik keine Partikular-, Gruppen- oder Klasseninteressen, son-
dern orientieren sich am Interesse der Mehrheit.
Parteien betreiben eine gemäßigte, pragmatische, verantwortungsvolle Politik.
Die Parteien konkurrieren in der Rentenpolitik mit anderen politischen Akteuren um Einfluss im
politischen Prozess. Sie haben im politischen Prozess keine dominierende Stellung, sind vielmehr
,,primus inter pares" (Beck/Sorauf 1988: 506).
3.2 Rational-choice-orientierte Parteientheorie nach Strøm/Müller
Unverzichtbares Kernelement aller RC-Theorien ist ein individualistisches Entscheidungsmodell ratio-
nalen und Nutzen maximierenden Handelns. Eine Parteientheorie, die darauf basiert, muss deshalb auf
der Akteursebene ansetzen. Im Mittelpunkt des Interesses der RC-orientierten Parteientheorie stehen
die Parteieliten
3
. Das Handeln von Parteien wird mit den Folgen von individuellen Entscheidungsakten
3
Die Anknüpfungspunkte an das Konkurrenzparadigma sind nicht zu übersehen. Bezugspunkt der RC-Analyse ist
aber nicht die Demokratie, sondern das Individuum. Das Verhalten der Parteien wird nicht aus den Bedingungen

14
der Parteiführer gleichgesetzt (vgl. Wiesendahl 1998: 105). Um Parteien zu verstehen und ihr Handeln
zu erklären, muss man deshalb die Entscheidungskalküle ihrer Spitzenfunktionäre erforschen. ,,How do
party leaders make decisions on behalf of their organizations?", so lautet folglich für Strøm und Müller
(1999: 1) das zentrale Problem der Parteienforschung.
Die Autoren fragen im Kern danach, wie der individuelle Entscheidungsprozess eines Parteiführers
aussieht, der dem Handeln vorausgeht. Über den Entscheidungsakteur (1), die Struktur des Entschei-
dungsproblems (2) und sein Selektionsverhalten gegenüber den zur Auswahl stehenden Handlungsal-
ternativen (3) treffen sie eine Reihe von Annahmen.
Erstens begreifen Strøm und Müller Parteiführer als politische Unternehmer. ,,We may think of such
leaders as entrepreneurs who get into their business out of self-interest rather than altruism. That is to say,
they become party leaders because they expect to benefit" (ebd.: 13; Hervorh. i. Orig.). Neben der Ei-
gennutzorientierung beinhaltet der Unternehmer-Begriff Rationalität und zielgerichtetes Vorgehen.
Zweitens sehen Strøm und Müller die Parteiführer im Parteienwettbewerb in einem Zielkonflikt zwi-
schen office seeking, policy seeking und vote seeking: Spitzenpolitiker haben Entscheidungen im
Hinblick auf Ämtergewinn, politische Gestaltungsmöglichkeiten und Stimmengewinn zu treffen und
aufeinander abzustimmen. ,,Denn mit dem Streben nach Stimmen, Ämtern und Politikgestaltung gehen
strategisch unterschiedliche Erfordernisse und Logiken einher, die die Zielgrößen zueinander nicht in
ein komplementäres, sondern in ein konkurrierendes, sogar konfligierendes Spannungsverhältnis brin-
gen" (Wiesendahl 2002: 195).
In diesem Zielkonflikt unterstellen die Autoren drittens den Spitzenpolitikern eine eindeutige Ämter-
präferenz. ,,Entrepreneurial party leaders primarily value office benefits, which they can convert into
private goods" (Strøm/Müller 1999: 14). Weil aber zwischen den drei Zielen ein verwickeltes Abhän-
gigkeitsverhältnis besteht, sind die Parteiführer gezwungen, auf allen drei Hochzeiten zu tanzen, um
ihre Karriere-Ambitionen zu realisieren. ,,Whe can think of vote-seeking, office-seeking, and policy see-
king as three independent forms of behaviour in which party leaders engage. The question is, what tra-
de-offs they make between these goods under what circumstances" (ebd.: 12). Wie die Politiker die drei
Ziele in einer bestimmten Situation gewichten, hängt im Ansatz von Strøm/Müller von einer Reihe von
Faktoren ab.
einer Wettbewerbsdemokratie deduziert, sondern aus den Entscheidungskalkülen rational handelnder Parteieliten in
einem Repräsentativsystem.

15
Zunächst einmal natürlich von den policy-Vorstellungen der Politiker selbst. Auch wenn das wich-
tigste Ziel der Parteiführer ihre Wiederwahl ist, sind sie keine prinzipienlosen Gesellen, sondern wollen
im Rahmen ihrer Möglichkeiten die Politik nach ihren eigenen Anschauungen gestalten. ,,[P]arty leaders
are typically more policy motivated than the average voter, since only policy-oriented individuals are li-
kely to become leaders in the first place" (ebd.: 14).
Desweiteren übt die Parteiorganisation Einfluss auf ihr Führungspersonal aus. Nach Strøm/Müller
sind Spitzenpolitiker auf außerparlamentarische Unterstützung angewiesen. ,,Party leaders therefore
build and maintain organizations to help them compete electorally by acquiring information, mobilizing
voters, raising funds, and implementing policy" (ebd.: 15). Die policy-orientierten freiwilligen Ehren-
amtlichen und Aktivisten sind für sie ,,cheap labor" (ebd.), die es gilt, mit möglichst wenig Aufwand bei
der Stange zu halten. Deshalb müssen die Berufspolitiker ihnen nicht-monetäre Anreize bieten. Mit die-
sem Anreizproblem erklären Strøm/Müller die innerparteiliche Demokratie. Ehrenamtliche ohne Inte-
resse an einer Polit-Karriere arbeiten nur dann freiwillig für die Partei, wenn sie sich sicher sein können,
,,dass die Partei als Gesinnungsgemeinschaft fest zu ihren Prinzipien steht und diese im Falle des Wahl-
erfolges auch politisch richtungsbestimmend durchsetzt" (Wiesendahl 2002: 196). Der Kontrollmecha-
nismus der innerparteilichen Demokratie motiviert die Mitglieder, weil er die Parteiführer an ihre Poli-
cy-Präferenzen bindet. Diese Fessel legen sich die Parteiführer nur an, um sich umgekehrt die (kosten-
lose) Unterstützung der Parteibasis für ihre Wiederwahl zu sichern.
Ein dritter Punkt, der auf das Verhalten von Berufspolitikern einwirkt, sind die institutionellen Arra-
gements des politischen Systems. Wie Strøm/Müller betonen, basiert der Konkurrenzmechanismus der
Demokratie zwar auf dem Tausch von Stimmen gegen öffentliche Güter. Doch Wahlergebnisse lassen
sich nicht 1:1 in Macht übersetzen. ,,A variety of political institutions shape the conversion of votes
into spoils and policy influence" (ebd.: 21). Zunächst werden in Repräsentativsystemen die Stimmen in
Parlamentssitze umgerechnet. Dabei spielt das Wahlsystem eine entscheidende Rolle. Ob nach dem
Verhältnis- oder Mehrheitsprinzip gewählt wird, macht für die Parteien einen signifikanten Unter-
schied. In der Arena der Legislative schließlich ist die Anzahl der Sitze nicht alleine ausschlaggebend
für die Verhandlungsmacht. Es kommt auf das Parteiensystem an. In Vielparteiensystemen können
zum Beispiel kleine Parteien als ,,Zünglein an der Waage" in einer Koalition häufig mehr Einfluss aus-
üben als zahlenmäßig weitaus stärker vertretene Oppositionsparteien. Auch solche Konstellationen flie-
ßen in das Entscheidungskalkül von Politikern ein. Nicht zuletzt hängt es von der Stellung der Regie-
rung im politischen System ab, wie sich das Wahlergebnis im Einfluss der einzelnen Parteien nieder-
schlägt. In einem föderalistischen System wie der Bundesrepublik zum Beispiel sieht sich die Regierung
in den meisten Politikfeldern mit zahlreichen potenziellen Veto-Spielern konfrontiert, die ihren Hand-

16
lungsspielraum einengen (vgl. Tsebelis 1995, Schmidt 2003). Über den Bundesrat regieren häufig auch
die Oppositionsparteien kräftig mit. Für die Wähler ist es deshalb meistens gar nicht nachvollziehbar,
wie eine Entscheidung zu Stande kam und welche politischen Akteure daran alles mitgewirkt haben.
Die Verantwortlichkeiten verwischen, und das wissen rationale Politiker.
Abhängig von ihrer Ausgestaltung lenken Institutionen das Verhalten von Spitzenpolitikern also in un-
terschiedliche Richtungen. Strøm/Müller stellen die Behauptung auf: ,,The more predictably votes trans-
late into intrinsically valued goods such as policy influence or office, the more slavishly party leaders
will follow their electoral incentives" (ebd.: 24). Umgekehrt orientieren sich die Politiker umso weniger
an vote getting-Zielen, je weniger zuverlässig sich das Wahlergebnis in politische Macht ummünzen lässt
und je intransparenter die Institutionen die Entscheidungen machen.
Viertens weisen Strøm/Müller auf die Situationsgebundenheit politischer Entscheidungen hin. ,,The
same party leaders may have different trade-off functions in different situations" (ebd.: 25). Unter den
situational determinants lassen sich praktisch alle Einflussfaktoren zusammenfassen, die nicht in die bereits
abgehandelten Kategorien fallen. Dazu zählen die Autoren:
,,(1) the set of parties involved in the relevant bargains and interactions; (2) the ,,endowments" of these
parties in terms of office, votes, and policy; (3) their specific leaderships, histories, and expectations; (4)
the constraints and expectations imposed by past events on the specific situation; and (5) the domesic
and international context in which bargaining takes place" (ebd.: 25).
Verallgemeinernde Aussagen über den Einfluss situationsgebundener Faktoren sind wegen ihrer Viel-
zahl und Verschiedenheit nur sehr eingeschränkt möglich. Strøm/Müller führen lediglich eine analytische
Trennung zwischen endogenen, also von den Politikern unmittelbar beeinflussbaren, und exogenen,
also außerhalb ihrer Macht stehenden Faktoren ein.
Die Überprüfung der RC-orientierten Parteientheorie
Bei dem von Strøm/Müller vorgelegten Ansatz handelt es sich nicht um eine Theorie im engeren Sinne.
Die Grundgedanken stellte Kaare Strøm (1990) zwar unter dem Titel ,,A Behavioural Theory of Compe-
titive Political Parties" vor. Diesen Anspruch relativieren Strøm/Müller aber in der überarbeiteten, 1999
erschienenen Version, die ich hier beschrieben habe. ,,Party Behaviour: A Unified Framework of Ana-
lysis" heißt es nun etwas bescheidener. Die Autoren wollen keine Theorie aufstellen, ja nicht einmal ein
Modell, sondern schlagen nur ein einheitliches Werkzeug zur Analyse des Verhaltens von Parteien vor
(vgl. ebd.: 11). ,,We have developed a framework in which (..) decisions can be analyzed and pointed to

17
the organizational, institutional, and situational conditions that can help explain them" (ebd.: 26). Sie
reklamieren also für ihr ,,analytical tool" (ebd.: 13) gar keinen empirischen Gehalt, sondern lediglich ei-
nen heuristischen Wert. Sein Nutzen zeige sich in der Anwendung.
Der RC-Ansatz von Strøm/Müller kann deshalb nicht durch das Testen von Hypothesen überprüft wer-
den. Die Annahmen, die sie treffen, sind nicht wahr oder falsch, sondern Erkenntnis fördernd, nutzlos
oder im schlimmsten Fall sogar hinderlich. Sie bewähren sich nicht, wenn sie mit der Wirklichkeit über-
einstimmen, sondern wenn sie helfen, Erklärungen zu finden, die zu einem besseren Verständnis des
Untersuchungsgegenstandes beitragen. Das ist der Maßstab, den man an RC-Ansätze anlegen kann,
auch wenn sie keinen empirischen Gehalt haben: Wenn sich ihre Anwendung als fruchtlos erweist oder
realitätsfremde Schlüsse nahe legt, müssen das Forschungsdesign und die ihm zu Grunde liegenden An-
nahmen hinterfragt werden.
4
Ich werde deshalb in Kapitel 6.1 ganz im Sinne des Erfinders vorgehen
und den Ansatz von Strøm/Müller an einem empirischen Fall, der Rentenpolitik in der Bundesrepublik,
testen, um sein Erkenntnispotenzial und seine Defizite herauszuarbeiten.
3.3 Der konflikttheoretische Ansatz von Richard Stöss
In der neueren Parteienforschung gewinnen Ansätze, welche in den unterschiedlichen Parteien einen
Ausdruck gesellschaftlicher Konfliktkonstellationen sehen, wieder an Bedeutung.
5
Richard Stöss sieht die
Frage nach der ,,gemeinsame[n] Klammer des auf den Namen Partei hörenden hochkomplexen Kon-
glomerats von unterschiedlichen Akteuren", nach den ,,Idendität und Orientierung stiftenden Faktoren
im Parteiwesen" (2002: 417) von der aktuellen Party-Change-Forschung nicht ausreichend berücksich-
tigt. Er greift deshalb auf die Tradition des Transmissionsparadigmas zurück und geht unter Berufung
auf Lipset und Rokkan (1967)
,,davon aus, dass Parteiensysteme die Konfliktstruktur einer Gesellschaft widerspiegeln, dass Parteien
relevante gesellschaftliche Konflikte in Politik übersetzen. Wir behaupten weiterhin, dass es sich bei den
gegenwärtig relevanten gesellschaftlichen Konflikten um grundlegende Wertekonflikte, um Konflikte
über leitende Prinzipien politischen Handelns bzw. um fundamentale politische Zielvorstellungen
handelt. Parteien stellen mithin Wertegemeinschaften dar, organisatorische Zusammenschlüsse von
Personen, die hinsichtlich ihrer Werthaltungen im Großen und Ganzen übereinstimmen. Und Bürger
neigen zur Präferenz derjenigen Partei, die ihren Wertorientierungen am ehesten entspricht. Das
bedeutet nicht notwendigerweise, dass sie diese Partei auch (immer) wählen, da das Wahlverhalten
durch weitere Faktoren (Personal- und Sachfragen, Kompetenzen, Sozialstruktur) beeinflusst wird.
Dennoch gehen wir davon aus, dass die Bindungen von Wählern an Parteien primär auf
übereinstimmenden Zielvorstellungen beruhen" (2002: 417).
4
Umgekehrt kann eine besonders erfolgreiche Anwendung Impulse zur Theoriebildung geben. RC-Ansätze spielen
deshalb in der Parteienforschung ­ trotz aller Kritik ­ seit Downs´ Schlüsselstudie von 1957 eine gewichtige Rolle
und nehmen auch in dieser Arbeit einen breiten Raum ein.
5
Ich werde diese Richtung wie angekündigt in meiner Arbeit aber nur der Vollständigkeit halber kurz vorstellen.

18
Im Unterschied zum Transmissionsparadigma sieht Stöss also keine Verteilungskonflikte zwischen star-
ren sozialen Klassen, sondern Konflikte zwischen mentalen Grundeinstellungen. Er nimmt zwei vonei-
nander unabhängige Konfliktdimensionen an, die sich zum einen auf die Gestaltung der ökonomisch-so-
zialen und zum anderen auf die Gestaltung der politischen Ordnung beziehen. In der ökonomisch-sozia-
len Dimension stellt er neoliberale Ziele (Freisetzung der Marktkräfte) staatsinterventionistischen Zie-
len (soziale Gerechtigkeit) gegenüber. In der politischen Dimension nimmt er einen Gegensatz von li-
bertären Prinzipien (Freiheit, Partizipation, Multikulturalität u.ä.) und autoritären Grundsätzen (Natio-
nalstaat, Sicherheit, Ordnung usw.) an. Diese Wertekonflikte sind nicht antagonistischer Natur, sondern
bestehen darin, ,,welches relative Gewicht den beiden Werten jedes Wertepaares zukommt: Sollen Ent-
scheidungen hinsichtlich der Gestaltung der politischen Ordnung eher an libertären oder eher an auto-
ritären Zielvorstellungen ausgerichtet werden? Soll sich die Lösung von wirtschafts- und sozialpoliti-
schen Problemen eher am Grundwert der sozialen Gerechtigkeit oder eher am Grundwert Marktfrei-
heit orientieren?" (ebd.: 418). Die Anhängerschaft der Parteien setzt sich aus Personen zusammen, die
zu diesen Fragen eine homogene oder zumindest ähnliche Haltung einnehmen. ,,[D]ie Wettbewerbssi-
tuation der Parteien, vor allem ihre Mobilisierungschancen, hängen davon ab, welchem gesellschaftli-
chen Konflikt sie politischen Ausdruck verleihen" (ebd.: 428). Um diese Thesen am Politikfeld Renten-
politik zu prüfen, werde ich in Abschnitt 6.3 untersuchen, ob den rentenpolitischen Entscheidungen
der Parteien eine in sich homogene, stabile Werthaltung zugrunde liegt und wie sie aussieht, ob die Par-
teien und ihre Anhänger in rentenpolitischen Fragen tatsächlich eine (dauerhafte) Wertegemeinschaft
bilden und ob der Erfolg der Parteien sich auf ihre Konfliktposition zurückführen lässt.
4 Exkurs: Parteien in der sozialpolitischen Literatur
Nicht nur die Parteienforschung, auch die Sozialpolitikforschung beschäftigt sich intensiv mit den poli-
tischen Parteien. Die Parteientheorien erfüllen in der sozialpolitischen Literatur aber lediglich eine
Hilfsfunktion. Das bedeutet nicht, dass die Sozialpolitikforschung die Rolle der Parteien gering schätzt.
Sie weist den Parteien sogar in der Regel eine zentrale Position im sozialpolitischen Entscheidungspro-
zess zu (auch wenn Art und Umfang ihrer Funktionen und ihres Einflusses unterschiedlich bewertet
werden). Aber die Parteien selbst sind nicht der eigentliche Gegenstand der Analysen. Sie stellen für die
Sozialpolitikforschung eine unabhängige Variable und nicht selten eine ,,black box" dar: Es interessie-
ren nicht die Parteien an sich, sondern nur die Auswirkungen ihres Handelns auf das untersuchte Poli-
tikfeld. In die ,,black box" wird nur geschaut, um dadurch Sozialpolitik zu erklären.

19
In dieser Untersuchung verhält es sich genau umgekehrt: Die Sozialpolitik, in unserem Fall das Teilge-
biet Rentenpolitik, ist die unabhängige Variable. Das erklärungsbedürftige Phänomen sind die Parteien:
Der rentenpolitische Entscheidungsprozess wird untersucht, um Erkenntnisse über das Wirken von
Parteien in einem wichtigen Regelungsbereich verfassungsstaatlicher Demokratien zu gewinnen und
mit diesen Erkenntnissen die Parteientheorie weiter zu entwickeln. Aber ebenso wie die Parteientheorie
für die Sozialpolitikforschung eine Hilfsfunktion erfüllt, können umgekehrt die Theorien der Sozialpoli-
tik für die Parteienforschung hilfreich sein. Wenn anhand der Rentenpolitik die Parteien erforscht wer-
den sollen, dann sind die Erkenntnisse der Sozialpolitikforschung über Parteien auch für die Parteien-
forschung interessant. Speziell sozialpolitische Theorieansätze, welche die Rolle der Parteien als wohl-
fahrtsstaatliche Schub- und Bremskräfte zum Gegenstand haben, stellen eine Brücke zwischen Sozial-
politikforschung und Parteienforschung her.
6
Zwar fragt die ,,demokratische" Parteientheorie nicht nach dem Zusammenhang zwischen Parteien
und Sozialpolitik, sondern nach dem Stellenwert politischer Parteien in der Demokratie (vgl. Kapitel 2).
Aber Sozialpolitik ist im modernen Wohlfahrtsstaat immer Gegenstand demokratischer Entscheidungs-
prozesse. Deshalb weisen die Annahmen, welche die verschiedenen Ansätze der Sozialpolitikforschung
über Parteien machen, deutliche Bezüge zu den paradigmatischen Grundpositionen der Parteientheorie
auf. Die Sozialpolitikforschung fußt also, auch wenn sie häufig ihre empirisch-analytische Ausrichtung
betont und ­ speziell in der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung ­ überwiegend mit quantitativem
statistischen Material arbeitet, implizit auf normativ beeinflussten Grundpositionen. Einige der Grund-
strömungen der Staatstätigkeitsforschung, die sichtbare parteientheoretische Implikationen aufweisen,
stelle ich anschließend kurz vor.
Sozio-ökonomischer Funktionalismus
Der sozio-ökonomische Ansatz rückt wirtschaftliche und sozio-demographische Bestimmungsfaktoren
und Wirkungen der Sozialpolitik ins Zentrum. Die verfügbaren Ressourcen und der gesellschaftliche
Bedarf an sozialer Sicherung prägen die sozialpolitischen Aktivitäten des Staates. Die Politik ist nach
dieser Vorstellung kein agierendes Subjekt mit weit reichender Entscheidungsautonomie, sondern rea-
giert auf Funktionserfordernisse gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse (vgl. Siegel 2002: 38). Diesen
Imperativen sind auch die Parteien unterworfen: Aus funktionalistischer Perspektive werden Parteien
strukturell als Mechanismen zur Erfüllung von Systemfunktionen begriffen. Ihre Struktur und ihr Ver-
halten entspricht den Erfordernissen, die aus der Umwelt an die Partei herangetragen werden ­ ein Ge-
6
vgl. z. B. Kitschelt (2001), der eine Theorie des Parteienwettbewerbs entwickelt, um damit sozialstaatlichen Rück-
bau zu erklären.

20
danke, der dem Integrationsparadigma (vgl. Abschnitt 2.1) bzw. der funktionalistischen Parteientheorie
(vgl. Abschnitt 3.1) nahe steht.
Machtressourcenansätze
Die Machtressourcentheorie erklärt die Sozialpolitik vor allem aus der Machtverteilung der wichtigsten
sozialen Klassen und politischen Gruppierungen, insbesondere der Verteilung politischer Macht zwi-
schen Links- und bürgerlich-konservativen Parteien sowie den Arbeitnehmern und Gewerkschaften
(vgl. Schmidt 1998: 20) und aus den Strukturen der Interessenvermittlung. Sozialpolitische Unterschie-
de resultieren aus den Kräfteverhältnissen zwischen großen politisch-gesellschaftlichen Strömungen.
Dieser Ansatz fand besonders in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung großen Widerhall (vgl.
Esping-Andersen 1990). Die Aufgabe von Parteien ist es in diesem Ansatz, die Interessen von Kollekti-
ven zu organisieren und in der politischen Arena durchzusetzen. Dies entspricht der transmissionspara-
digmatischen Vorstellung von Parteien als gesellschaftlichen Instrumenten des interessenspezifischen
Konfliktaustrags (vgl. Abschnitt 2.3).
Parteiendifferenztheorie
Die größte Affinität zu Parteientheorien weist die Parteiendifferenzlehre auf. Die nicht zuletzt von der
vergleichenden Staatstätigkeitsforschung aufgeworfene Frage ,,Do parties matter?" wurde auch von den
Parteienforschern breit diskutiert, wobei der Sozialstaat stets im Zentrum stand (vgl. Beyme 2000: 178).
Die Parteiendifferenztheorie behauptet, dass vor allem die parteipolitische Zusammensetzung von Re-
gierung und Opposition der Sozialpolitik ihren Stempel aufdrückt. Je größer (geringer) die programm-
atischen Differenzen zwischen den regierenden Parteien ausfallen, desto mehr würde sich die wohl-
fahrtsstaatliche Politik unterscheiden (ähneln). Die abweichenden Zielsetzungen von Links- und
Rechtsparteien können in erster Linie auf die unterschiedlichen Präferenzen ihrer Wähler und Mitglie-
der zurückgeführt werden (vgl. Zohlnhöfer 2003: 49). Die Parteien konkurrieren auf einem Wähler-
markt mit unterschiedlichen Politikangeboten um Stimmen. Die Wähler geben der Partei ihre Stimme,
von der sie sich den größten persönlichen Nutzen versprechen. Die Parteien wiederum orientieren sich
bei der Gestaltung ihrer Politik an den Präferenzen ihrer Anhänger, um sich deren Stimmen und damit
Macht zu sichern (vgl. Siegel 2002: 56ff.). Die Grundannahmen der Parteiendifferenztheorie speisen
sich damit offensichtlich aus dem Konkurrenzparadigma (vgl. Abschnitt 2.2) und der rational-choice-
theoretischen Sichtweise (vgl. Abschnitt 3.2) von Parteien.

21
Politisch-institutionalistische Theorie
Die institutionalistische Theoriefamilie hebt die Rolle von politischen, wirtschaftlichen und sozialen In-
stitutionen für sozialpolitischen Prozesse und Inhalte hervor. Institutionen sind nach Schmidt ,,interper-
sonale, formelle oder informelle Regeln und Normen, die historisch-kulturell kontingent und variabel
sind und nur begrenzt zur Disposition zweckrationalen Handelns stehen" (2001: 28). Dazu gehören
zum Beispiel die Regeln der politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse, die Art der Staat-
Verbände-Beziehungen oder die organisatorische Struktur des Staates. Alle diese Faktoren bilden den
Rahmen politischen Handelns, auch für die Parteien. Die Institutionen ,,kanalisieren Interessenartikula-
tion und -aggregation sowie Konfliktlösungsprozesse und können dadurch (mittelbar und unmittelbar)
Politikinhalte prägen" (Siegel 2002: 68).
Prinzipiell ist die institutionalistische Theoriefamilie mit allen parteientheoretischen Paradigmen verein-
bar, weil sie keine Annahmen über die Parteien selbst voraussetzt, sondern lediglich strukturelle Res-
triktionen für das Handeln politischer Akteure konstituiert. Diese Restriktionen wirken wie ein ,,erster
Filter", der das Handlungsfeld strukturiert und die Handlungskorridore definiert. Aus diesen Optionen
treffen die Akteure dann in einem zweiten Filterprozess ihre Auswahl (vgl. Merkel 1993: 8). Nach wel-
cher Selektionslogik der ,,zweite Filter" arbeitet, lässt der Institutionalismus zunächst offen. Das macht
die Theorie anschlussfähig zu den anderen Ansätzen der Sozialpolitikforschung mitsamt ihren parteien-
theoretischen Implikationen.
7
5 Die gesetzliche Rentenversicherung in Deutschland
Die in den letzten Kapiteln vorgestellten Parteientheorien werde ich im Hauptteil am Politikfeld Ren-
tenpolitik überprüfen. Zur Einführung stelle ich der Untersuchung einen kurzen Überblick über die
Gestalt und die Geschichte der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) in der Bundesrepublik, auf die
sich die Ausführungen beschränken, voran.
Die Rentenpolitik ist ein Teilbereich der Alterssicherungspolitik. Sie entscheidet darüber, wie die Men-
schen nach dem Ende ihrer aktiven Erwerbsarbeitsphase am Sozialprodukt der Gesellschaft teilhaben
sollen. In den ausgebauten Wohlfahrtsstaaten überlässt der Staat die Alterssicherung nicht alleine dem
Markt, sondern engagiert sich selbst als ,,Versicherer" (vgl. Blankart 2003: 392). Die gesetzliche Renten-
7
Auf Politikerbtheoreme und Globalisierungstheoreme (vgl. Siegel 2002: 81ff) gehe ich nicht ein. Sie befassen sich
lediglich mit Voraussetzungen und Randbedingungen parteipolitischen Handelns.

22
versicherung gilt in den OECD-Demokratien sogar als ,,das Kernprogramm der Wohlfahrtsstaaten
schlechthin" (Siegel 2002: 188; Hervorh. i. Orig.). Schon die schiere Größe des Ausgabenvolumens legt
diese Einschätzung nahe: Im Jahr 2001 umfasste das Budget der Rentenversicherung in Deutschland
225 Milliarden Euro, also deutlich über 11 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (Institut der deutschen
Wirtschaft Köln 2004: 73). Mit einem Anteil von über 30 Prozent des Sozialbudgets benötigt die ge-
setzliche Rentenversicherung zu ihrer Finanzierung den bei weitem höchsten Beitragssatz aller Sozial-
versicherungen (19,5 Prozent im Jahr 2004). Im Gegensatz zu den anderen Zweigen der Sozialversiche-
rung wie der Kranken- oder Arbeitslosenversicherung handelt es sich bei der GRV allerdings nicht um
eine Versicherung im eigentlichen Sinne, weil das ,,Risiko" des Alters jeden betrifft. Politische Ent-
scheidungen zur Alterssicherung sind deshalb nicht nur für aktuelle Beitragszahler und Rentner, son-
dern für alle hoch brisant.
5.1 Grundzüge
Die gesetzliche Rentenversicherung stellt die wichtigste Säule der Alterssicherung in Deutschland dar.
Etwa 90 Prozent der Bevölkerung sind in ihr versichert. Im Gegensatz zu privaten Versicherungen ist
die Mitgliedschaft in der GRV für alle abhängig Beschäftigten Pflicht. Wie bei den anderen Zweigen
der Sozialversicherung, so besteht die Funktion der GRV ,,im politisch gewollten Ausgleich sozialer Ri-
siken" (Nullmeier/Rüb 1993: 84). Der Staat sieht es als seine Aufgabe an, spezifische Unsicherheiten zu
reduzieren, und unterwirft deshalb die Arbeitnehmer einer Beitragspflicht. Um eine Versicherung han-
delt es sich also nur im technischen Sinne. Rechtlich ist die GRV keine Versicherung, weil nicht, wie in
der Privatversicherung, eine freiwillige Beitragsleistung den Entschädigungsanspruch begründet. ,,Die
Sozialbeiträge sind nur eine von verschiedenen Möglichkeiten zur Finanzierung, für den Rechtscharak-
ter sind sie nicht konstitutiv" (ebd.: 91). Der Umfang und die Gestalt des Risikoausgleichs sind nicht
Ergebnis eines frei verhandelten Marktprozesses, sondern Gegenstand politischer Entscheidungen. Da-
durch wird die Alterssicherung überhaupt erst zu einem Thema (partei-)politischer Erwägungen.
Die politische Funktion eines Risikoausgleichs muss über konkrete Finanz- und Verteilungsströme rea-
lisiert werden. Die GRV finanziert sich zum überwiegenden Teil aus Beiträgen, die sich gemäß dem
Äquivalenzprinzip nach dem Verdienst aus Erwerbsarbeit richten. Die wichtigsten Einflussfaktoren für
die Höhe der Rente sind das Einkommen und die Zahl der Versicherungsjahre. Das Rentenniveau
passt sich dynamisch dem Zuwachs der Nominaleinkommen an. Dadurch sollen der Lebensstandard
gesichert,
8
die Renten vor einer Entwertung durch Preissteigerungen geschützt und die Rentner an stei-
8
Dieses Ziel tritt spätestens seit der Rentenreform 2001 immer mehr in den Hintergrund.

23
gendem Wohlstand beteiligt werden (vgl. Stiglitz/Schönfelder 1989: 337). Die laufenden Renten wer-
den nach dem Umlageverfahren vor allem von den aktuell Beschäftigten gezahlt. Nicht beitragsgedeck-
te Leistungen begleicht der Bund durch Zuschüsse aus Steuermitteln.
Die organisatorischen Träger der GRV sind berufsständisch gegliedert in die Landesversicherungsan-
stalten für Arbeiter, die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte und kleinere Sonderorganisationen,
z.B. für Landwirte, Eisenbahner und Bergleute. Sie sind alle Körperschaften öffentlichen Rechts, wer-
den paritätisch von Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern, die aus Sozialwahlen hervorgehen, selbst
verwaltet und unterstehen staatlicher Aufsicht. Dieser ,,tripartistische Zusammenhang zwischen Staat,
Arbeitgebermonopolverband und dominierenden Gewerkschaften" (Nullmeier/Rüb: 307) überlässt
den einzelnen Selbstverwaltungen der Träger allerdings kaum Spielraum für eigene Entscheidungen.
Dafür gehört ihr Dachverband, der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR), zu den zen-
tralen Akteuren in der Rentenpolitik. Da in den Selbstverwaltungsspitzen ausnahmslos Verbandsfunk-
tionäre sitzen, fungiert der VDR als zentrales Verhandlungs- und Kompromissgremium zwischen den
Sozialpartnern in allen Rentenfragen. Über den VDR koordinieren die Sozialpartner ihr gemeinsames
Vorgehen in der Rentenpolitik. Darüber hinaus verleiht die ,,Datenhoheit" dem VDR ein besonderes
Gewicht in der rentenpolitischen Arena. Der VDR verfügt über das Monopol zur Aufbereitung und
Erstauswertung aller Daten zu Rentnern und Versicherten. Diese Wissensdominanz setzt der Verband
gezielt ein, um Einfluss auf den rentenpolitischen Entscheidungsprozess zu gewinnen (vgl. ebd.: 320f.).
5.2 Entwicklung von 1983 bis 2004
Die Wurzeln des deutschen Rentenversicherungssystems reichen zurück bis zur Sozialgesetzgebung des
Reichskanzlers Otto von Bismarck 1889; die Rentenreform 1957 unter der Kanzlerschaft Adenauers
schrieb die Grundlagen für die moderne GRV in der Bundesrepublik fest. Ihr Kernstück war bis in die
70er Jahre die beitragsäquivalente, einkommensbezogene Rente mit Lohnersatzfunktion. Die Entwick-
lung der Renten orientierte sich an den Bruttolöhnen der Versicherten. Über die zentralen Punkte
herrschte zwischen den großen Parteien und den Verbänden ein Basiskonsens (vgl. Rüb/Nullmeier
1991: 456).
Auf diesem aufbauend, dominierte fast zwei Jahrzehnte eine expansive Rentenpolitik. Vor dem Hinter-
grund von Wachstum und Vollbeschäftigung schienen die zusätzlichen Kosten tragbar. Doch im Laufe
der 70er Jahre geriet das Rentensystem von zwei Seiten unter Anpassungsdruck. Erstens erzeugte die
ökonomische Krise Probleme auf der Einnahmeseite, weil durch die zunehmende Arbeitslosigkeit die

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Beiträge in dramatischem Ausmaß wegbrachen. Zweitens rückte die Diskussion um die demographi-
schen Veränderungen der Bundesrepublik und ihre Folgen für die GRV in den Vordergrund. Schon
vor dem Regierungswechsel 1982 kam es deshalb zu einer Wende in der Rentenpolitik vom Expansi-
ons- zum Sparkurs. Die SPD-geführte Regierung versuchte mit verschiedenen kurz- und mittelfristig
angelegten Anpassungsmaßnahmen, die Rentenkassen zu konsolidieren. Als sich Anfang der 80er Jahre
abzeichnete, dass es sich bei der ökonomischen Krise aufgrund ihrer Länge nicht um eine konjunktu-
relle, sondern eine strukturelle handelt, wurde der Ruf nach einer umfassenden Reform mit langfristiger
Perspektive immer lauter (vgl. Nullmeier/Rüb 1993: 127).
Die neue christlich-liberale Koalition setzte ab 1982 die Stabilisierungsbemühungen fort, allerdings un-
ter anderen Vorzeichen. Die von der Regierung Kohl betriebene angebotsorientierte Wirtschaftspolitik
führte zu einer Neubestimmung der Sozialpolitik. Statt verteilungspolitischer Ziele wurden nun Solidi-
tät, Sicherheit und Stabilität bei stärkerer Gewichtung der Subsidiarität, insbesondere der Fähigkeit und
Initiative des Einzelnen, stärker gewichtet (vgl. Schmidt 1998: 102). In der Rentenpolitik ebnete die Re-
gierung mit den Haushaltsbegleitgesetzen 1983 und 1984 ,,über die Hintertür" den Weg für eine reine
Nettoanpassung der Renten; um den verpönten Begriff zu vermeiden, führte das Kabinett im Sozialbe-
richt 1983 den Grundsatz der ,,gleichgewichtigen Entwicklung von Renten und verfügbarem Einkom-
men" ein (vgl. Nullmeier/Rüb 1993: 134). Durch mehrere Verschiebungen der Rentenanpassung und
die Einführung eines Rentnerbeitrags zur Krankenversicherung erreichte die Regierung ,,im Rahmen ei-
ner bruttolohnorientierten Rentenformel bereits eine sich Nettogrößen weitgehend annähernde Ren-
tenanpassung" (Rüb/Nullmeier 1991: 448).
Die Reform des Hinterbliebenenrechts im Jahr 1985 markiert die Schnittstelle vom ,,muddling
through" zu einem Konzept langfristiger Stabilisierung (vgl. Nullmeier/Rüb 1993: 161). Anstelle von
Anpassungen einzelner Stellschrauben innerhalb des Systems wurden nun Änderungen am System der
Rentenversicherung selbst vorgenommen. Neben dem Hinterbliebenenrecht wurde auch die Stellung
von Zeiten der Kindererziehung in der Rentenversicherung neu geregelt. Die Anrechnung von Kinder-
erziehungszeiten als Renten erhöhende Beitragszeiten in der Altersversicherung stellt die Tätigkeit in
der Familie der außerhäuslichen Erwerbstätigkeit grundsätzlich gleich. Dadurch wurde das Prinzip der
Erwerbsarbeit als rentenleistungsbegründendes Prinzip aufgeweicht und das Versicherungsprinzip zu-
gunsten einer familienpolitischen Öffnung geschwächt (vgl. Jochem 2001: 200f).
Trotz gesamtwirtschaftlicher Erholung blieb die GRV aufgrund der Veränderungen ihrer sozio-ökono-
mischen und demographischen Basis unter Anpassungsdruck. ,,Anfang bis Mitte der 80er Jahre brach
der bisher fast alle Interessierten verbindende Konsens über zentrale Policy-Prinzipien der Rentenpoli-
tik quer zum Rechts-Links-Schema auf" (Nullmeier/Rüb 1993: 168). Im Jahr 1985 wurden gleich von

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mehreren Seiten und aus allen politischen Lagern alternative Rentenversicherungskonzeptionen vorge-
legt. Dadurch unter Zugzwang gebracht, kündigte die Bundesregierung für die 11. Legislaturperiode
eine grundlegende Strukturreform der Alterssicherung an und nahm nach ihrem knappen Wahlsieg
1987 in der Koalitionsvereinbarung die Planungen für deren Durchführung in Angriff. Der Bundestag
verabschiedete das ,,Rentenreformgesetz 1992" (RRG ´92; es trat am 1.1.92 in Kraft) am 9. November
1989, wenige Stunden vor der Maueröffnung, mit breiter parlamentarischer Zustimmung. Die Koaliti-
onsfraktionen hatten sich ein Jahr zuvor auf eine gemeinsame Position geeinigt und anschließend in ei-
ner Parteien übergreifenden Verhandlungsrunde einen Kompromiss mit der SPD ausgearbeitet, der in
einen gemeinsamen interfraktionellen Gesetzentwurf mündete.
Vordringlichstes Ziel der Reform war, die Alterssicherung ,,gegen Finanzierungsprobleme wetterfest"
(Schmidt 1998: 108) zu machen, die sich aus der ungünstigen demographischen Entwicklung ergaben.
Deshalb wurde die Rentenanpassung von der Bruttolohnentwicklung ab- und an die Nettolohnent-
wicklung angekoppelt. ,,In Zeiten steigender Sozial- und Steuerlast führt dies zu einer Dämpfung der
Rentensteigerung und trägt somit zur Stabilisierung der Rentenversicherung bei" (Blankart 1998: 380).
Darüber hinaus wurden die Altersgrenzen angehoben, die beitragsfreien Zeiten neu berechnet und der
Bundeszuschuss deutlich erhöht. Allerdings enthielt die Reform auch expansiv wirkende Elemente. So
wurden Kindererziehungszeiten stärker und Zeiten der häuslichen Pflege erstmals bei der Berechnung
der Rente berücksichtigt ­ eine ,,eigentümliche Umkehrung der sonst im RRG ´92 relativ strikt vertre-
tenen Beitrags-Leistungs-Proportionalität" (Nullmeier/Rüb 1993: 285). Echte ordnungspolitische Inno-
vationen fehlten allerdings weitgehend; vielmehr standen die Stabilisierungsbedürfnisse des Systems im
Vordergrund (vgl. Leisering 1992: 255). Der Sicherheitsgedanke stand auch Pate für die Einführung ei-
nes sich selbst steuernden Regelungsmechanismus zwischen Bundeszuschuss, Beitragssatz und Renten-
anpassung. Das RRG ´92 machte den Beitragssatz und, an ihn gebunden, den Bundeszuschuss zu einer
abhängigen Variable der Versicherungsrücklagen, koppelte ihn also an die schwankende Liquidität; zu-
vor hatte der Gesetzgeber einen für einen längeren Zeitraum konstanten Beitragssatz festgelegt. ,,Diese
Selbststeuerung ist aufs engste verbunden mit der Umstellung der Rentenanpassung und Beitragssatz-
festlegung vom normalen Gesetzgebungsgang auf die Feststellung per Rechtsverordnung", meinen
Nulllmeier/Rüb (1993: 252). Dadurch werde die Rentenversicherung den wankelmütigen Einflüssen der
,,Tagespolitik" entzogen, die Stabilisierung gehe jedoch auf Kosten einer Entpolitisierung (vgl. ebd.:
252ff).
Der zeitliche Horizont der Reform reichte bis ins Jahr 2010, wo die Modellrechnungen des Bundesmi-
nisteriums für Arbeit und Soziales (BMAS) bei einem Beitragssatz von rund 21,4 Prozent abbrechen
(vgl. Blankart 1998: 381). Bis dahin sollte die Reform alle Interventionen überflüssig machen (vgl. Hin-
richs 2000: 297). Doch die Tinte unter dem Gesetz war noch nicht trocken, da waren alle Planungen

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2004
ISBN (eBook)
9783832491321
ISBN (Paperback)
9783838691329
Dateigröße
1.1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg – Philosophische Fakultät III
Note
1,0
Schlagworte
parteientheorie parteienforschung sozialpolitik rational choice funktionalismus
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Titel: Rentenpolitik politischer Parteien in der Bundesrepublik
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