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Dissoziative Identitätsstörung

Eine Strategie des (Über-)lebens und ihre Relevanz für die soziale Arbeit

©2004 Diplomarbeit 84 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Problemstellung:
Menschen, die an einer dissoziativen Identitätsstörung leiden, wurden bereits in frühster Kindheit fortgesetzt sexuellem und/oder körperlichem Missbrauch in einem unvorstellbaren Maß ausgesetzt. Kinder, die misshandelt werden und sexueller Gewalt ausgeliefert sind, erleiden extreme Schmerzen und sind gezwungen, ihre intimsten Körpergrenzen aufzugeben. Um ein psychisches Überleben zu sichern, ist es dann die einzige Möglichkeit dieser Kinder, sich während der Missbrauchssituation von ihrem Körper zu trennen, um die extrem angstauslösenden und schmerzhaften Reize abzuwehren.
Es gibt immer noch nicht genügend professionelle Hilfen für Betroffene mit dissoziativen Symptomen. Für solche Opfer scheint es besonders schwer zu sein, geeignete Unterstützung und Hilfen zu bekommen. Das kann daran liegen, dass ihnen aufgrund der extremen Lebensgeschichten, nicht geglaubt wird und erschwerend noch sehr viel Unwissen über dieses Störungsbild vorhanden zu sein scheint. Sozialarbeiter stehen in einer Verantwortung sowohl Rat- und Hilfesuchenden Menschen, wie auch der gesamten Gesellschaft gegenüber. Somit ist es Aufgabe dieser Berufsgruppe, im Bedarfsfall kompetent und professionell zu agieren, auch wenn es sich um so tabuisierte Themen wie die des sexuellen/rituellen Missbrauchs handelt. Aus diesem Grunde ist es für den Helfer unerlässlich sich theoretisches Wissen über diese Bereiche anzueignen.
Diese Diplomarbeit soll dementsprechend wichtiges Grundwissen über das Störungsbild der DIS beleuchten und den Zusammenhang zwischen der meist sehr extremen Gewalt, als mögliche Ursache von DIS aufzeigen. Darüber hinaus wird ein Bezug zur Sozialen Arbeit hergestellt, indem für die Soziale Arbeit relevante Fragen und Aspekte explizit bearbeitet werden. Welche besonderen Kompetenzen werden dem Sozialarbeiter bei der Fallbearbeitung abverlangt? Wie können die Hilfen und Unterstützung für Betroffene effektiv arrangiert werden? Können Sozialarbeiter Fälle mit DIS-Betroffenen Menschen alleine bearbeiten, oder bedürfen sie zusätzlicher Institutioneller Hilfe? Dies sind nur einige Fragen, die sich ein sachfremder Sozialarbeiter unweigerlich stellt, sobald er sich intensiv mit dieser Thematik auseinandersetzt. Diese Arbeit soll deutlich machen, inwieweit die gestellten Anforderungen für die Soziale Arbeit eine Herausforderung darstellt, die über ein übliches Maß hinausgehen. Darüber hinaus soll diese Arbeit dem Helfer eine Hilfe zur Orientierung […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 8533
Krakow, Melanie: Dissoziative Identitätsstörung -
Eine Strategie des (Über-)lebens und ihre Relevanz für die Soziale Arbeit
Hamburg: Diplomica GmbH, 2005
Zugl.: Katholische Fachhochschule Nordrhein-Westfalen, Abt. Aachen,
Diplomarbeit, 2004
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Diplomica GmbH
http:// www.diplom.de, Hamburg 2005
Printed in Germany

Naked Trust
In der Nacht hatte ein Sturm an der Küste gewütet. Am Morgen fand ich am Strand einen mächtigen
schwarzen Stein, von der Wucht der Sturmflut in zwei Teile zerbrochen.
Dicht daneben lag eine kleine Muschel, halb geöffnet, doch noch in beiden Hälften zusammenhängend.
Vorsichtig hob ich sie auf, spähte hinein ­ und fand eine noch kleinere Muschel darin, zartrosa schimmernd
und völlig unversehrt.
Auch Menschenkindern gelingt dieses Wunder manchmal. Vor der Wucht der erlittenen Gewalt beschützen
sie ihren zarten Wesenskern, indem sie ihn durch die Schaffung neuer ,,Personen" in sich umschließen.
Mögen multiple Persönlichkeiten mit Behutsamkeit und Respekt behandelt werden, wie es ihrem
bewundernswert kreativen Überleben gebührt.

Vorwort
Seht ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen,
Und ist doch rund und schön!
So sind wohl manche Sachen
Die wir getrost belachen
Weil unsere Augen sie nicht sehn.
(Matthias Claudius: Abendlied. 3. Strophe, 1779)
Es ist die dritte Strophe aus dem Lied: ,,der Mond ist aufgegangen" von Mathias Claudius.
Ich stelle diese Zeilen vor, um auf etwas aufmerksam zu machen, dass mit dem Thema der
dissoziativen Identitätsstörung (DIS) zusammenhängt. Viele Phänomene der DIS sind nur
,,halb zu sehen." Es gehört zum Wesen dieser Störung unmittelbar dazu, dass die
Betroffenen Schattenseiten von sich und ihrer Lebensgeschichte nicht, oder nur
unvollständig wahrnehmen können. Vieles liegt im Dunkeln oder scheint gar von jemand
anders gelebt worden zu sein. Dissoziative Symptome werden von den Betroffenen vor den
Mitmenschen und vor sich selbst verborgen oder verschwiegen. Somit ist die Krankheit
gekennzeichnet durch ein Nicht-Sehen-Können, ein Nicht-Glauben-Können und Nicht-
Wahrhaben-Wollen. Diese Dynamik prägt auch den wissenschaftlichen Diskurs über die
Erkrankung. Die dissoziative Identitätsstörung hat es nach wie vor schwer, in der Fachwelt
ernst genommen zu werden. Zwar belegt eine Fülle von Studien, dass die DIS regelhaft
und in klinisch relevanter Größenordnung von bis zu 5% bei psychiatrischen Patienten zu
finden ist. Trotzdem wird die Diagnose im klinischen Alltag nur selten gestellt. Um etwas
Licht ins Dunkel zu bringen, soll diese Arbeit beitragen.
Ende der 80ger Jahre wurde ich zum ersten Mal mit der Thematik der multiplen
Persönlichkeitsstörung konfrontiert. Durch Zufall fiel mir das Buch von Truddi Chase
,,Aufschrei" in die Hände. Dieses Buch erzählte die Geschichte von Truddi und ihren 99
Persönlichkeiten. Oftmals wurden Dinge beschrieben die mir so unglaublich schienen, dass
ich in diesen Augenblicken immer wieder zu den ersten Seiten zurückblätterte, auf denen
stand -eine wahre Geschichte-. In den darauf folgenden Jahren ließ mich diese Thematik

nicht mehr los, ich wurde wohl von dem Schicksal der Truddi Chase seltsam berührt.
Hinzukommend fühle ich mich tief beeindruckt von den hoch kreativen und vielfältigen
Möglichkeiten, die unserem Körper und unsere Seele zur Verfügung stehen um ein (Über-)
Leben zu sichern. Diese Faszination veranlasste mich, vermehrt über diese Strategie zu
forschen.
Bei dem Phänomen der dissoziativen Identitätsstörung handelt es sich um eine
Überlebensstrategie, die fast immer mit schwerem (sexuellen) Missbrauch im
Zusammenhang steht. Da wir in der sozialen Arbeit in nahezu allen Bereich mit (sexuellen)
Missbrauch konfrontiert werden können, ist es wichtig über ein umfassendes Wissen, eine
Vielzahl von Erkennungsmerkmalen und praktischen Leitlinien bescheid zu wissen. Dies
erst ermöglicht einen sensibilisierten, verstehenden, wertschätzenden und professionellen
Umgang des Sozialarbeiters mit den Betroffenen. Um dem Sozialarbeiter/Sozialpädagogen
ein solches Handwerkzeug zu reichen, soll meine Arbeit ebenfalls beitragen.
In der Literatur werden die Begriffe ,,Dissoziative Identitätsstörung (DIS) und ,,Multiple
Persönlichkeitsstörung" (MPD) verwendet. Während das DSM-IV 1994 den Begriff
,,Multiple Persönlichkeitsstörung" zugunsten des Terminus ,,Dissoziative
Identitätsstörung" aufgegeben hat, wurde die Bezeichnung ,,Multiple
Persönlichkeitsstörung" in der ICD-10 weiter beibehalten. Meines Erachtens liefert die
Bezeichnung DIS eine konkretere Beschreibung des Störungsbildes, da sie klarstellt, dass
sich nicht reale Personen zusammen einen Körper teilen, sondern dass sich verschiedene
Anteile eines Menschen so voneinander getrennt erleben, dass sie jeweils über eine eigene
Identität verfügen. Dennoch werde ich in dieser Arbeit nicht durchgehend von Menschen
mit einer ,,dissoziativen Identitätsstörung" sprechen, sondern auch die Begriffe ,,multiple
Menschen" oder ,,multipel" verwenden. Es soll zum einen zur Vereinfachung beitragen
und zum anderen dem subjektiven Empfinden Betroffener gerecht werden, die sich selber
oft als ,,multipel" oder ,,viele sein" bezeichnen.
Ebenfalls habe ich, um den Lesefluss der Arbeit nicht zu stören, weitgehend auf
Doppeldformen wie z.B. Therapeut/Therapeutin, Sozialarbeiter/Sozialarbeiterinnen
verzichtet und mich auf das grammatikalische Geschlecht beschränkt.

Inhaltsverzeichnis
1.
Einleitung... 1
2.
Die dissoziative Identitätsstörung... 3
2.1.
Zur Geschichte der dissoziativen Identitätsstörung ...3
2.2.
Verdacht der Iatrogenität ...6
2.3.
Definition im Zusammenhang des dissoziativen Kontinuums ...8
2.3.1. Allgemeine
Definitionen...8
2.3.2. Dissoziatives
Kontinuum...10
2.3.3.
Definitionen in der ICD-10...11
2.3.4.
Dissoziation nach dem DSM-IV...12
2.3.4.1. Dissoziative
Amnesie ...13
2.3.4.2. Dissoziative
Fugue...13
2.3.4.3. Dissoziative
Identitätsstörung...14
2.3.4.4. Depersonalisierungsstörung...16
2.3.4.5.
Nicht näher bezeichnete dissoziative Störungen ...16
3.
Entstehung ... 17
3.1. Sexueller
Missbrauch...17
3.2.
Rituell sexueller Missbrauch ...19
3.3.
Das vier Faktoren Modell ...21
4.
Täterkreis ... 25
4.1. Familie ...25
4.2. Bekanntenkreis...26
4.3. Organisiertes
Verbrechen ...27
4.4.
Frauen als Täter und Mittäter...29
4.5. Satanische
Kulte ...30

5.
Das multiple System... 32
5.1. Phänomenologie...32
5.2. Komorbidität...32
5.2.1. Depressionen...32
5.2.2. Dissoziative
Symptome ...33
5.2.3.
Angst und Phobiensymptome ...33
5.2.4. Substanzmissbrauch
und
-abhängigkeit...34
5.2.5. Halluzinationen...34
5.2.6.
Selbstverletzende Verhalten oder Selbstmordversuche...34
5.2.7. Kopfschmerzen ...35
5.3.
Personen und Persönlichkeiten ...35
5.3.1. Primär-Persönlichkeit ...36
5.3.2. Kind-Persönlichkeiten ...37
5.3.3. Verfolger-Persönlichkeit...37
5.3.4. Beschützer-Persönlichkeiten...38
5.3.5. Gegengeschlechtliche
Persönlichkeit ...38
5.3.6. Beobachter-Persönlichkeit ...39
5.3.7. Weitere
Persönlichkeitstypen ...39
5.3.8.
Kenntnis der Persönlichkeiten untereinander ...39
5.3.9. Switchen
(Umschalten)...40
5.4. Gehirnforschung ...40
6.
Diagnostik ...42
6.1. Spezifische
Merkmale...42
6.2. Unspezifische
Merkmale ...43
7.
Psychotherapie ... 46
7.1.
Aufbau der therapeutischen Beziehung und Stabilisierung...47
7.2.
Diskussion über Diagnose und Therapieziele...47
7.3. Vertrag ...48
7.4.
Förderung der inneren Kommunikation ...48
7.5. Traumabearbeitung ...49

7.6. Integration/Fusion...50
7.7. Postintegrative
Arbeit ...51
8.
Relevanz für die Soziale Arbeit ... 52
8.1.
Allgemeine sozialpädagogische Aspekte...52
8.2. Mögliche
Kontaktbereiche...52
8.3.
Grundhaltung und Anforderungen des Sozialarbeiters im Umgang mit
DIS-Betroffenen...53
8.4.
Qualitätsmerkmale der Informations-, Aufklärungs- und Beratungsarbeit ...56
8.5.
Kooperation von Helfer in Helfersystemen ...57
8.6. Krisenintervention ...58
8.7. Sozialpädagogischer
Tätigkeitsbereich...59
8.7.1. Prävention ...60
8.7.2.
Bereich der Beratung, Information und Begleitung...61
8.7.3. Professionell-therapeutischer
Bereich ...62
8.7.4. Bereich
der
Selbsthilfegruppen...64
9.
Rechtliche Rahmenbedingungen ... 67
10. Fazit... 68
Literaturliste... 71

1
1. Einleitung
Menschen, die an einer dissoziativen Identitätsstörung leiden, wurden bereits in frühster
Kindheit fortgesetzt sexuellem und/oder körperlichem Missbrauch in einem
unvorstellbaren Maß ausgesetzt. Kinder, die misshandelt werden und sexueller Gewalt
ausgeliefert sind, erleiden extreme Schmerzen und sind gezwungen, ihre intimsten
Körpergrenzen aufzugeben. Um ein psychisches Überleben zu sichern, ist es dann die
einzige Möglichkeit dieser Kinder, sich während der Missbrauchssituation von ihrem
Körper zu trennen, um die extrem angstauslösenden und schmerzhaften Reize abzuwehren.
Es gibt immer noch nicht genügend professionelle Hilfen für Betroffene mit dissoziativen
Symptomen. Für solche Opfer scheint es besonders schwer zu sein, geeignete
Unterstützung und Hilfen zu bekommen. Das kann daran liegen, dass ihnen aufgrund der
extremen Lebensgeschichten, nicht geglaubt wird und erschwerend noch sehr viel
Unwissen über dieses Störungsbild vorhanden zu sein scheint. Sozialarbeiter stehen in
einer Verantwortung sowohl Rat- und Hilfesuchenden Menschen, wie auch der gesamten
Gesellschaft gegenüber. Somit ist es Aufgabe dieser Berufsgruppe, im Bedarfsfall
kompetent und professionell zu agieren, auch wenn es sich um so tabuisierte Themen wie
die des sexuellen/rituellen Missbrauchs handelt. Aus diesem Grunde ist es für den Helfer
unerlässlich sich theoretisches Wissen über diese Bereiche anzueignen. Diese Diplomarbeit
soll dementsprechend wichtiges Grundwissen über das Störungsbild der DIS beleuchten
und den Zusammenhang zwischen der meist sehr extremen Gewalt, als mögliche Ursache
von DIS aufzeigen. Darüber hinaus wird ein Bezug zur Sozialen Arbeit hergestellt, indem
für die Soziale Arbeit relevante Fragen und Aspekte explizit bearbeitet werden. Welche
besonderen Kompetenzen werden dem Sozialarbeiter bei der Fallbearbeitung abverlangt?
Wie können die Hilfen und Unterstützung für Betroffene effektiv arrangiert werden?
Können Sozialarbeiter Fälle mit DIS-Betroffenen Menschen alleine bearbeiten, oder
bedürfen sie zusätzlicher Institutioneller Hilfe? Dies sind nur einige Fragen, die sich ein
sachfremder Sozialarbeiter unweigerlich stellt, sobald er sich intensiv mit dieser Thematik
auseinandersetzt. Diese Arbeit soll deutlich machen, inwieweit die gestellten
Anforderungen für die Soziale Arbeit eine Herausforderung darstellt, die über ein übliches
Maß hinausgehen. Darüber hinaus soll diese Arbeit dem Helfer eine Hilfe zur Orientierung
und zum Entwurf möglicher Handlungsstrategien mit Betroffenen bieten.

2
In Kapitel 2. erfolgt zunächst eine Erläuterung der historischen Wurzeln der dissoziativen
Identitätsstörung. Die Geschichte der dissoziativen Störungen, ist die Geschichte der
Besessenheiten und der Hysterie. Dissoziation ist das dahinter stehende Konzept, das
beschreiben soll, wie die Phänomene und Symptomatiken entstehen, für die wir heute im
klinischen Zusammenhang die Kategorien dissoziativer Störungen mit ihrer extremen
Ausprägung der dissoziativen Identitätsstörung anlegen. Im Anschluss erfolgt eine
Betrachtung der kontroversen Diskussion um die Iatrogenität der multiplen
Persönlichkeitsstörung. Abschließend wird das dissoziative Kontinuum ausführlich
beschrieben, es kann bis zur Ausprägung einer dissoziativen Identitätsstörung reichen.
Kapitel 3. beschäftigt sich mit der Entstehung von DIS. Es werden Studien aus den USA
aufgeführt, um im Anschluss anhand des vier Faktoren Modells von Kluft, den
Zusammenhang von schweren Missbrauch und der Entstehung von DIS aufzuzeigen.
Anschließend findet in Kapitel 4. eine Auseinadersetzung mit dem möglichen Täterkreis
statt. Dieser reicht häufig von der Familie bis zum organisierte Verbrechen. Diese Themen
sind noch weitgehend tabuisiert, da sich Privatpersonen und Öffentlichkeit oftmals Gewalt
in einem solchen Ausmaß und in derartiger Form nicht vorstellen können.
In Kapitel 5. wird eine ausführliche Erklärung des multiplen Systems erfolgen. Neben der
Phänomenologie wird die Komorbidität erläutert, da multiple Menschen meist nicht nur
unter der DIS, sondern auch unter einer Vielzahl psychiatrischer, neurologischer und
medizinischer Symptome leiden. Im Anschluss wird auf die Strukturierung eines multiplen
Systems und typische Persönlichkeitstypen eingegangen, die bei den meisten Betroffenen
vorzufinden sind. Den Abschluss dieses Kapitels bildet eine kritische Auseinandersetzung
mit neusten Erkenntnissen aus der Gehirnforschung.
Das Kapitel 6. befasst sich mit wichtigen diagnostischen Kriterien. Ein großes Problem der
Diagnostik bei DIS-Betroffenen entsteht dadurch, dass multiple Menschen oft eine Fülle
unterschiedlicher Symptome aufweisen und dies häufig zu unterschiedlichen
Fehldiagnosen führt.
In Kapitel 7. werden psychotherapeutische Schritte zur Behandlung von multiplen
Menschen vorgestellt.
Im abschließenden Kapitel 8. werden die Konsequenzen für die Sozialarbeit bzw. die
praktische Umsetzung der konzeptionellen Aspekte in der sozialen Arbeit aufgezeigt.
Leitlinien im Umgang mit DIS-Betroffenen werden ausführlich und praxisnah dargestellt.

3
2. Die dissoziative Identitätsstörung
2.1. Zur Geschichte der dissoziativen Identitätsstörung
Das Phänomen der multiplen Persönlichkeit ist laut Michaela Huber (2002) schon mehrere
hundert Jahre alt. Bereits seit den frühsten Höhlenmalereien gibt es die Grundformen
multipler Persönlichkeiten, etwa indem sich Schamanen in andere Wesen wie Tiere
verwandeln oder Geister verkörpern. Auch die Vorstellung, Menschen könnten von
Dämonen, Toten, Tieren etc. besessen bzw. deren spirituelle Medien sein, herrscht bis
heute vor. Ebenfalls weisen bestimmte Formen der Besessenheit ähnliche Parallelen zur
DIS auf. Ellenberg beschrieb die Grundzüge der Besessenheit als ,,der scheinbare
Identitätsverlust und die Übernahme einer anderen Persönlichkeit, die Veränderung der
Physiognomie, eine veränderte Stimme und erstaunliche Bewegungen sowie
ungewöhnliche Kraft."(Ellenberg, 1985, S.87). In diesem Zusammenhang rekonstruierte er
einige historische Fälle von Besessenheit und kam zu einer Unterscheidung von zwei
Formen:
1) Die luzide Besessenheit - Bei dieser Form der Besessenheit, nimmt der Mensch
wahr, wie zwei Seelen in seiner Brust miteinander ringen
2) Die somnambule Besessenheit - Bei dieser Form der Besessenheit verliert der
Mensch dass Bewusstsein, während ein mysteriöser Eindringling von seinem
Körper Besitz ergreift und als Individuum durch ihn spricht. Beim Wiedererlangen
des Bewusstseins hat der Mensch keinerlei Erinnerung an das Geschehen.
Mit dieser Unterscheidung zeigt Ellenberg (1985), die Parallelen der mythischen
Besessenheit und der multiplen Persönlichkeitsstörung auf. Freud sagte diesbezüglich
,,Was sagst Du übrigens zu der Bemerkung, dass meine ganze neue Hysterie-Urgeschichte
bereits bekannt und hundertfach publiziert ist, allerdings vor mehreren Jahrhunderten?
Erinnerst Du Dich, dass ich immer gesagt´, die Theorie des Mittelalters und der
geistlichen Geschichte von der Besessenheit sei identisch mit unserer Fremdkörpertheorie
und Spaltung des Bewusstseins? Warum aber hat der Teufel, der die Armen in Besitz
genommen, regelmäßig Unzucht mit ihnen getrieben und auf ekelhafte Weise? Warum sind
die Geständnisse aus der Folter so ähnlich den Mitteilungen meiner Patienten in der
psychischen Behandlung?" (Freud, 1897, S. 227).

4
Im 19. Jahrhundert nahm die Lehre der Hysterie einen großen Raum im
Forschungsinteresse vieler Wissenschaftler ein. Sie galt während des gesamten
Jahrhunderts als speziell weibliche Krankheit. Die Betroffenen litten unter Störungen, die
scheinbar keine organischen bedingten Krankheiten waren, sondern diese nur nachahmten.
Zu den typischen Symptomen zählten z.B. Lähmungen, Krämpfe und
Wahrnehmungsstörungen. James sagte dazu ,,Unter allen Opfern der medizinischen
Ignoranz, die sich hinter Autorität versteckten, hatten die armen Hysterikerinnen bislang
am meisten zu leiden. Ihre allmähliche Rehabilitierung und Rettung wird zu den großen
philanthropischen Leistungen unserer Generation zählen" (James, 1890, S. 22).
Von 1880 bis 1920 kam es dann zum Höhepunkt in der Multiplenforschung. Zahlreiche
Psychiater, Psychologen und Philosophen nahmen sich intensiv dieser Thematik an,
vermutlich auch dadurch bedingt, dass sich die Hypnose als Therapiemethode steigender
Beliebtheit erfreute (vgl. Huber, 2002). Besonders hervorzuheben sind die lange
verkannten Arbeiten des französischen Psychiaters Pierre Janet. Peter Schneider sagt über
ihn ,,Der größte Entdecker der Tiefenpsychologie - eben lange vor Freud, Adler und Jung
- und der wissenschaftlich korrekteste Theoretiker des Unbewussten wurde von der
psychiatrischen Disziplin einfach vergessen" (Schneider, 1997, S.16). Im Zentrum von
Janets Werken steht die Erforschung und Therapie dissoziierter, hypnotischer aber vor
allem multipler Zustände des menschlichen Bewusstseins. Laut Huber (2002) wird erst
durch Janet endgültig deutlich, dass die vielen vermeintlichen ,,Doppeltpersönlichkeiten"
seiner Vorgängerkollegen in Wahrheit multiple Persönlichkeiten sind. Unter anderem zeigt
er auf, dass das Bewusstsein des Menschen einer Matrix gleicht, auf dieser ganze Gruppen
von Unter-Persönlichkeiten auftauchen und sich differenzieren können. Die Dissoziation
bezeichnet Janet (1889) als einen Prozess, in dem eine Idee, ein Teilsystem von Gedanken
sich emanzipiert, selbständig wird und alleine weiterentwickelt. Verantwortlich für die
Dissoziation ist seiner Meinung nach ein Misslingen des synthetisierenden Prozesses, der
Integration und Anpassung an neue Informationen.
War die klinische Literatur über die Multiplen vor der Jahrhundertwende noch sehr weit
verbreitet, so hörte sie mit zunehmender Akzeptanz der Psychoanalyse fast schlagartig
wieder auf. Denn Freud behauptet jeglicher sexueller Missbrauch in der Kindheit sei
Phantasie. Dies erklärte er in der Verführungstheorie: Demnach wünschten die
Patientinnen, vom Vater ,,verführt" zu werden und wurden aufgrund der pathologischen
Verformung dieses Wunsches zu Hysterikerinnen. Ein Grund weshalb Freud diese Theorie

5
aufgestellt hat, könnte gewesen sein, dass er nicht wahrhaben wollte, dass die Perversion
gegen Kinder, aufgrund der zahlreichen Hysterikerinnen, so weit verbreitet gewesen sein
musste. Ein weiterer Grund könnte wohl gewesen sein, dass einige der Täter, von denen
seine Patientinnen berichten, zu Freuds Bekanntenkreis gehörten und er nicht glauben
konnte, dass sie zum Missbrauch imstande waren (vgl. Huber, 2002). Schneider sagte
hierzu ,,Ödipuskomplex und traumatisierende Sexualphantasien als Verleugnung der
tatsächlichen skandalösen Entdeckung - das wirkt bis heute, demütigend und katastrophal
für die Opfer sexueller Übergriffe in der Kindheit" (Schneider, 1997, S.19).
Die Psychoanalyse hatte sich nach Hacking (1995) gegen die selbständige Diagnose
gestellt und ist somit wahrscheinlich auch für das schwindende Interesse an der
Multiplizität in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verantwortlich.
Erst in den 70er Jahren nimmt die Bereitschaft zu, die Hysterie-Auffassungen dissoziativer
Störungen der Psychoanalyse kritisch zu betrachten und neugewonnene Auffassungen
deutlich zu vertreten. Psychiater und Forscher begannen - zunächst isoliert, dann durch
Zusammenschluss und Kooperation - in organisierter Form mit einer Re-Etablierung von
Diagnostik und Behandlungskonzepten für die dissoziative Identitätsstörung (vgl. Huber,
2002). Möglicherweise wurde die Rückbesinnung auf die dissoziative Identitätsstörung
durch die gesellschaftlichen Strömungen der Bürgerrechts- und Frauenbewegungen
beeinflusst. Beide Bewegungen sensibilisierten die Öffentlichkeit für die gesundheitlichen
Folgen von politischer, aber auch von familiärer und sexueller Gewalt.
Höhepunkt dieser Entwicklung war 1980 die Aufnahme einer separaten diagnostischen
Kategorie dissoziativer Störungen in das internationale Diagnostik-Handbuch für
psychische Störungen. Außerdem wurden in den 80er und 90er Jahren sehr viele
standardisierte Testverfahren und Fragebögen entwickelt um die dissoziative Störungen
adäquat von anderen Störungen abgrenzen und präzise erfassen zu können.
In den USA und in Kanada wurde eine Reihe von stationären Therapieprogrammen
entwickelt. Sehr viele Stationen und auch ganze Kliniken widmen sich speziell der
Behandlung und der Diagnostik von dissoziativer Identitätsstörung. Besonders
herausragend in Europa sind die Niederlande. In Amsterdam befindet sich eine Klinik in
der es zwei Stationen für multiple Patienten gibt, sowie etwa 100 fachspezifisch
ausgebildete Psychotherapeuten (vgl. Huber, 2002).

6
2.2. Verdacht der Iatrogenität
Einige Fachleute gehen laut Dunn (1994) davon aus, dass das Krankheitsbild der
dissoziativen Identitätsstörung iatrogen bedingt ist, d.h., dass die Störung während der und
durch die klinische Behandlung einer Klientin entsteht. Bei der dissoziativen
Identitätsstörung handelt es sich um ein seltenes Phänomen und es wird noch kontrovers
diskutiert, in welchem Ausmaß sie iatrogen ist oder nicht. Dennoch wurde die DIS offiziell
in der ICD-10 wie auch im DSM-IV als psychische Störung aufgenommen.
Deistler und Vogler (2002) vermuten, dass der Grund für den gerade bei der Dissoziation
vorhanden Verdacht der Iatrogenität, in der zum Teil unklaren Zuordnung dissoziativer
und hysterischer Symptome liegt. Viele der ursprünglich als hysterisch bezeichneten
Symptome, wie z.B. psychogene sensorische oder motorische Beeinträchtigungen, werden
heute den dissoziativen Störungen zugeordnet. Darüber hinaus gelten sowohl Menschen
mit einer hysterischen Persönlichkeitsstruktur als auch Menschen mit einer DIS als
überdurchschnittlich suggestibel.
Dulz und Lanconi (1996) sehen in der DIS kein eigenständiges Krankheitsbild, sondern die
Extremvariante dissoziativer Störungen mit dem Hintergrund einer Missbrauchsgeschichte,
die sich im Rahmen einer Borderlinestörung bewegt. Unter anderem behaupten sie, dass
sich gerade in das Konzept der Borderlinestörung die multiple Persönlichkeit, sowohl auf
deskriptiver als auch auf struktureller und genetischer Ebene, integrieren lässt.
Auch in der Presse wurde 1997 das Phänomen der Dissoziation in Frage gestellt. Z.B. im
Bericht ,,Floras Erzählungen" sagt der Psychologe Robert Rieben ,, Um die ,,Multiple
Persönlichkeitsstörung", den Psycho-Hit der frühen Neunziger, ist es still geworden. Jetzt
wird bekannt: Die 16 Persönlichkeitsabspaltungen im Paradefall ,,Sybil", auf den sich die
Psycho-Zunft gern berief, waren die Erfindung einer Therapeutin und einer Autorin." (Der
Spiegel 44/1998, S.230) Unter anderm behauptet er, dass die Psychiaterin Diana
Humenansky ihren Patienten massenhaft Medikamente verordnet hat, sie unter Hypnose
versetzt und zahlreiche falsche Erinnerungen an sexuelle und rituelle Gewalt induzierte.
Rieber sagt dazu ,,Schon in seinen Anfangszeiten begann das MPS-Symdrom sich mit
anderen der Hysterie verwandten Moden zu verbinden. Auf wundersame Weise erinnerten
sich Patienten, die sich wegen Essstörungen, Depressionen oder anderen Krankheiten in

7
psychologische Behandlung begeben hatten, plötzlich an sexuelle Misshandlungen in der
Kindheit." (Der Spiegel 44/1998, S.230-231).
Hier ist auch die FMSF (False Memory Syndrom Foundation) zu benennen. Diese wurde
1992 von Pamela und Peter Freyd gegründet, nachdem ihre erwachsene Tochter eine
Psychologin von wieder gefundenen Erinnerungen an innerfamiliären sexuellen
Missbrauch informiert hat. Jedoch zeigte die Tochter ihre Eltern nicht an. Die Eltern
beschlossen daraufhin, sich zu outen und zwar mit einer derartigen Wucht, dass die Freyd-
Familie als einflussreichste ,,dysfunktionale Familie" Amerikas bezeichnet wurde. In
wenigen Jahren verfügte die FMSF laut Fröhling (2002) über ein Jahresbudget von
$750.000 und 3.000 Mitglieder, die meisten von ihnen Eltern oder sonstige Verwandte, die
glauben/behaupten, zu Unrecht des sexuellen Missbrauchs beschuldigt zu werden.
Grob zusammengefasst sind die Thesen der FMSF nach Fröhling (1996):
a) Therapeuten reden ihren Klienten Missbrauch ein
b) Verzögert auftauchende Erinnerungen gibt es nicht
c) Wer etwas Schlimmes erlebt hat, erinnert sich immer
Hier muss kritisch angemerkt werden, dass bei normalen Menschen unter Hypnose
verschiedene Identitäten ,,generierbar" sind, die dann umso prägnantere
Charaktermerkmale annehmen, sobald man ihnen jeweils eigene Namen gibt. Aus diesem
Grunde legte bereits Janet (1989) sehr viel Wert darauf fast ausschließlich mit Betroffenen
zu arbeiten, die noch nicht mittels Hypnose behandelt wurden.
Diese radikale Sicht einer grundsätzlichen Negation der dissoziativen Identitätsstörung
findet sich heutzutage bei den ,,False Memory" Forschern nicht mehr. Die
Gedächtnisforscher weisen vielmehr auf das zusätzliche Problem der iatrogenen
Erzeugung falscher Erinnerungen hin, wenn sich Betroffene gar nicht an einen Missbrauch
erinnern können. Dies gilt inzwischen auch als weitgehend belegt (vgl. Fiedler, 2001). Die
radikale Sicht der Negation des Störungsbildes lässt sich aufgrund, der inzwischen vielfach
untersuchten Fälle auch nicht mehr aufrechterhalten (vgl. Braun, 1984; Grünewald, 1984;).

8
2.3. Definition im Zusammenhang des dissoziativen Kontinuums
2.3.1. Allgemeine Definitionen
Im DSM-IV wird als Hauptmerkmal der dissoziativen Störungen eine Unterbrechung der
normalerweise integrativen Funktionen des Bewusstseins, des Gedächtnisses, der Identität
oder der Wahrnehmung der Umwelt genannt (vgl. Saß, 1996).
In der ICD-10 wir die Dissoziation als, teilweiser oder völliger Verlust der normalen
Integration von Erinnerungen, des Identitätsbewusstseins, der Empfindungen sowie der
Kontrolle von Körperbewegungen benannt (vgl. WHO, 1993).
Fiedler bezieht sich in seinem Buch ,,Dissoziative Störungen und Konversionen" auf die
Definition von Spiegel und Cordena: ,,Die Dissoziation kann als strukturierte Seperation
mentaler Prozesse (von Gedanken, Bedeutungen, Erinnerungen oder der Identität)
aufgefasst werden, die zuvor in die ganzheitliche Wahrnehmung integriert waren.
Weitgehende Einigkeit besteht inzwischen darüber, dass Dissoziationen eine extreme
Spannbreite unterschiedlicher Phänomene einschließen." (Fiedler, 2001, S.55).
Eckhardt-Henn und Hoffmann, definieren die Dissoziation wie folgt:
,,Die Dissoziation (dissoziative Störung) wird als ein komplexer psychophysiologischer
Prozess bezeichnet, bei dem es zu einer teilweisen oder völligen Desintegration
psychischer Funktionen wie der Erinnerung an die Vergangenheit, des
Identitätsbewusstseins, der unmittelbaren Empfindungen, der Wahrnehmung des Selbst
und der Umgebung kommt. Im Vordergrund steht also eine Störung des Bewusstseins,
welche vielfältige Formen aufweisen. In der Dissoziation werden Teile des Erlebten von
anderen psychischen Inhalten getrennt, wenn es ein Übermaß an Angst, Schmerz und/oder
Trauer verursacht. Übermaß heißt hier ein schier unerträgliches Erlebnis mit dem Gefühl
des sich Auflösens, Verrücktwerdens oder innerer und äußeren Sterbens. Das
Bewusstwerden des Traumas erfolgt zuerst in Form von sensomotorischen Flashbacks."
(Eckhardt-Henn & Hoffmann, 2000, S.12).
Obwohl sich das Konzept der Dissoziation in den letzten Jahren als heuristisch wertvoll
erwies, wurde es doch stets von kritischen Stimmen begleitet. Die Kritik bezieht sich

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sowohl auf das Modell Dissoziation selbst als auch auf einzelne diagnostische Kategorien,
für die es als ätiologiescher Faktor gilt. Ein wesentlicher Einwand richtet sich gegen die so
genannte Überdeterminiertheit des Modells. Damit ist die Anwendung dissoziativer
Vorgänge als erklärendes, monokausal wirkendes Prinzip gemeint, welche auf zu viele
klinische Phänomene ausgeweitet wurde (vgl. Scharfetter, 1999).
Zudem bestehen Zweifel an dem rein passiven Charakter der Dissoziation, womit sich das
Problem stellt, wie Dissoziation z.B. gegen die Verdrängung oder andere
Abwehrmechanismen abzugrenzen ist (vgl. Spiegel&Cardena, 1991).
Ross (1989) kritisiert, dass die allgemeinen Definitionen der Dissoziation sich
ausschließlich auf Identität, Gedächtnis und Bewusstsein beschränken und kommt für sich
zu einer anderen Sichtweise. Für ihn stellt die Dissoziation das Gegenteil von Assoziation
da. Die Fähigkeit, sich mit dem eigenen Erleben unmittelbar zu verbinden (Assoziation),
wie auch, den Rückzug daraus (Dissoziation), scheint für Ross ein grundlegender
Mechanismus menschlichen Erlebens zu sein (vgl. Ross, 1989).
Die Strategie der Dissoziation kann demnach als Gegenpol zur Strategie der Assoziation
verstanden werden. Beide Strategien verwenden wir in unserem Alltag laufend, um unsere
Umgebung ordnen und begreifen zu können. Wenn wir z.B. einen Baum sehen, verknüpfen
(assoziieren) wir diese Wahrnehmung mit der Repräsentanz anderer Bäume, um ihn so als
Baum erkennen und einordnen zu können. Ebenso wesentlich ist es, Informationen, die uns
überfordern würden, von uns fern zu halten (dissoziieren). Zu diesen Phänomenen zählen
auch Tagträume und leichte Amnesien nach automatisierten Handlungen wie z.B. die
Erfahrung sich nach langen und vertrauten Autofahrten nicht mehr an bestimmte
Streckenabschnitte erinnern zu können. Fühlt sich ein Mensch von der schmerzhaften
Intensität einer Situation überfordert (z.B. beim rituellen Missbauch), kann ihn
Dissoziation nach Huber (2002) helfen, die Situation zu überstehen. Um den Vorgang der
Dissoziation zu verdeutlichen wird ein Tatsachenbericht aufgezeigt:
,,Stellen Sie sich vor, es ist kurz vor Mitternacht. Vater kommt, wie mehrmals in der
Woche, betrunken nach Hause. Ein kleines Mädchen liegt im Kinderzimmer in seinem Bett
und hält die Luft an. Es weiß, was gleich passieren wird, denn das gleiche ist schon so oft
passiert. Leise öffnet sich die Tür, ein Lichtschimmer lässt die Gestalt im Türrahmen riesig

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erscheinen. Das kleine Mädchen ist wie gelähmt vor Angst. Es kneift die Augen zu, spürt
Bier- und Nikotinatem, hört eine Flüsterstimme, halb zärtlich. Halb drohend durch das
Dröhnen des eigenen Herzschlags. Große Hände, streicheln, packen zu, dringen ein, tun
weh, halten fest, eine Hand auf dem Mund unterdrückt den Schrei, als das Mädchen nach
Luft ringt. Und dann liegt der Vater auf ihm, bewegt sich ruckartig, stöhnt - und dann...
Plötzlich hat das Mädchen ein merkwürdiges Gefühl. Ganz leicht fühlt es sich. Alle
Geräusche verblassen, alle Schmerzen sind fort. Von weit oberhalb des Bettes aus sieht
das Mädchen, nein, es spürt mehr, dass da unten etwas Furchtbares geschieht. Das kleine
Mädchen da unten, das so starr daliegt, mit geschlossenen Augen, kommt ihm bekannt
vor... Wieder wird dem Mädchen schwindelig.
Noch lange Zeit später wird sich das Mädchen an nichts mehr erinnern. Vielleicht hat es
hin und wieder Alpträume, in denen ein bedrohlich schwarzer Schatten vorkommt, oder es
kann schlecht einschlafen, oder es bekommt Essstörungen, Kopfschmerzen, später
vielleicht schwere Schmerzen bei der Menstruation oder sexuelle Probleme. Doch ob es
sich jemals an das Trauma wieder erinnern wird, ist fraglich" (Huber, 2002, S. 13f).
In diesem Tatsachenbericht wird beschrieben, wie ein traumatisches Erlebnis eine
Dissoziation auslösen kann. Jedoch reicht es nicht aus um eine multiple
Persönlichkeitsstörung auszulösen. Damit dies geschieht, muss sich der Missbrauch über
einen längeren Zeitraum regelmäßig wiederholten und um ein vielfaches traumatischer
sein.
2.3.2. Dissoziatives Kontinuum
Dissoziative Phänomene lassen sich einerseits auf ein Kontinuum der ,,Normalität"
einordnen. Dazu gehören Erlebnisse alltäglicher Art wie z.B. das Versinken in Bücher oder
Filmen, das automatische Autofahren oder das ,,Abschalten" bei langweiligen Vorlesungen
(vgl. Fiedler 2001). Plötzliche Tränenausbrüche oder das Funktionieren bei schweren
Autounfällen und anschließendem Schockzustand, können als hysterische Reaktion
aufgefasst werden. Nach diesen Situationen, wird das Geschehene als nicht wirklich zu
sich zugehörig empfunden oder gar völlig aus dem Bewusstsein verdrängt. Diese Fähigkeit
zu dissoziieren besitzt jeder Mensch und wird von jedem Menschen genutzt.

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Andererseits lassen sich dissoziative Phänomene auf ein pathologisches Kontinuum
einordnen. Den Abschluss des Kontinuums bildet die dissoziative Identitätsstörung, weil
sie die extremste Ausprägung der dissoziativen Störungen darstellt (vgl. Huber, 2002).
2.3.3. Definitionen in der ICD-10
Die ICD-10 verwendet nach wie vor den Begriff der multiplen Persönlichkeit, während
nach einer Empfehlung der ISSD im DSM-IV seit 1994 dieser Begriff durch die
Bezeichnung dissoziative Identitätsstörung ersetzt wurde. Viele Betroffene fühlen sich mit
der Bezeichnung DIS verletzt, sie erleben sich als eine Gruppe von Persönlichkeiten, es
stellt für sie eine Bezeichnung ihres ganzen Seins da und nicht etwa einer krankhaften
Störung.
Die ICD-10 ordnet die multiple Persönlichkeit F44.81 bei den neurotischen Störungen, den
dissoziativen Störungen (Konversionsstörungen) zu. Die allgemeinen Kennzeichen
dissoziativer Störungen sind:
N
der teilweise oder völlige Verlust der normalen Integration des Bewußtseins,
N
der sich auf Erinnerungen an die Vergangenheit, Identitätsbewußtsein und
unmittelbare Empfindungen sowie die Kontrolle von Körperbewegungen bezieht,
N
ohne daß dieses durch eine körperliche Erkrankung zu erklären wäre.
(Dilling H, Mombour,1991, S.17)
Die Hauptkriterien für die dissoziative Identitätsstörung in der ICD-10 sind:
N
das Vorhandensein von zwei oder mehr verschiedenen Persönlichkeiten in einem
Individuum,
N
mit eigenen Erinnerungen, Verhaltensweisen und Vorlieben,
N
von denen zu einem Zeitpunkt jeweils nur eine nachweisbar ist.
Die ICD-10 stellt, aufgrund der Forschungsergebnisse von Ross et al (1989), einen engen
Zusammenhang zu einem traumatischen Ereignis her, das als Auslöser für einen ersten
Wechsel, bzw. das Entstehen der ersten anderen Persönlichkeit gilt.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2004
ISBN (eBook)
9783832485337
ISBN (Paperback)
9783838685335
DOI
10.3239/9783832485337
Dateigröße
584 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Katholische Hochschule NRW; ehem. Katholische Fachhochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Aachen – Sozialwissenschaften
Erscheinungsdatum
2005 (Januar)
Note
1,3
Schlagworte
persönlichkeitsstörung missbrauch iatrogenität verbrechen psychotherapie
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Titel: Dissoziative Identitätsstörung
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