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Der Bürgerhaushalt als Ausweg aus der Schuldenfalle?

Porto Alegre: Chance für Berlin

©2003 Diplomarbeit 131 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Im Rahmen meiner Arbeit untersuche ich, inwieweit ein partizipatives Haushaltsmodell zur Besserung der Haushaltslage in deutschen Kommunen beitragen kann. Dabei stelle ich zwei Fälle gegenüber, anhand derer ich die Übertragung eines bereits erfolgreichen partizipativen Modells auf eine Stadt mit stark defizitärem Haushalt analysiere.
Auf der einen Seite steht die südbrasilianische Metropole Porto Alegre, wo bereits seit vierzehn Jahren ein partizipatives Haushaltsmodell erfolgreich angewandt wird, um u.a. die dortige Haushaltsmiesere zu bekämpfen. Auf der anderen Seite Berlin, wo die Einführung eines solchen Modells von verschiedenen Initiativen angestrebt wird.
Es stellt sich dabei die grundlegende Frage, ob ein auf die Grundprinzipien reduziertes Modell aus Porto Alegre in Berlin anwendbar ist und es dort zu einer Verbesserung der finanzpolitischen Situation führen kann. Die Frage nach der Übertragbarkeit des Modells von Porto Alegre wird bei den bisherigen Beschreibungen und Untersuchungen oft theoretisch diskutiert, ohne jedoch an einem konkreten Fallbeispiel detailliert durchgespielt worden zu sein.
Es geht in der Untersuchung darum, an einem Beispiel zu zeigen, dass eine Übertragung prinzipiell möglich ist und mit großer Wahrscheinlichkeit die beschriebenen positiven Effekte nach sich ziehen wird. Laut Wehling und Kost hängt dies von mehreren Faktoren ab: ein starker politischer Wille, weitreichende Strategien und starke Impulse von Außen gelten als entscheidende Umstände für die tatsächliche Implementierung eines überlegenen Problemlösungssystems. Die genannten Faktoren ergeben sich aus der Tendenz zur Beibehaltung des status quo in etablierten Systemen. Diese Tendenz zum status quo wiederum resultieren aus der Tatsache, dass die systemtragenden Personen, Parteien, Verbände und Interessengruppen auf Grund der gegebenen Institutionen in ihre Position gekommen sind und Veränderungen diese Position gefährden könnten. Folgt man dieser Argumentation, so sind bei der Umsetzung des Bürgerhaushaltes in Berlin schwerwiegende Hemmnisse zu erwarten, da ein partizipatives Politikmodell die bisherigen Entscheidungsstrukturen in Frage stellt.
Ob die notwendigen Faktoren – äußere Impulse, geeignete Konzepte und politischer Wille in ausreichendem Maße vorhanden sind, stellte sich im Zuge meiner Untersuchungen und der Arbeit von Berliner Initiativen zur Einführung eines Bürgerhaushalts […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Legitimationskrise der Demokratie und öffentliche Verschuldung
1.1 Legitimationskrise der Demokratie
1.1.1 Legitimationskrise durch Steuerungsverlust
1.1.2 Legitimationskrise durch Erosion des demokratischen Inputs
1.1.3 Legitimationskrise durch gesellschaftliche Modernisierung
1.1.4 Mit partizipatorischer Demokratie aus der Legitimationskrise
1.2 Problematik der öffentlichen Verschuldung
1.2.1 Haushaltslage in Deutschland
1.2.1.1 Ausmaß der Verschuldung
1.2.1.2 Wirkung von Staatsverschuldung
1.2.1.3 Die Schuldenfalle
1.2.1.4 Wege zur Schuldenbegrenzung
1.2.1.5 Gründe für Verschuldung
1.2.2 Neue Lösungsansätze
1.2.2.1 Aktive Versuche der Haushaltskonsolidierung
1.2.2.2 Reformen auf kommunaler Ebene
1.2.2.3 Neue Steuerungsmodelle und New Public Management
1.2.2.4 Von Binnenmodernisierung zur Staatsreform

2. Der Bürgerhaushalt von Porto Alegre und seine Übertragbarkeit
2.1. Die Wurzeln des Bürgerhaushaltes
2.2. Funktionsweise des Bürgerhaushaltes in Porto Alegre
2.3 Erfolge und Verbreitung
2.4 Rahmenbedingungen zur Übertragung
2.4.1 Rahmenbedingungen am Beispiel Porto Alegre
2.4.2 Rahmenbedingungen in Berlin
2.5 Funktionsbedingungen

3. Der Bürgerhaushalt Berlin
3.1. Haushaltslage
3.1.1 Ursachen der Berliner Finanzkrise
3.2.1 Lösungsansätze der Parteien
3.2. Lösungsansatz Bürgerhaushalt
3.2.1 Das Modell der AG Bürgerhaushalt
3.2.2 Haushaltsaufstellung der Bezirke als Ausgangspunkt
3.2.3 Modellgestaltung
3.2.3.1 Die Verfahrensschritte im Einzelnen
3.2.3.2 Unterschied zu Porto Alegre
3.2.4. Perspektiven zur Umsetzung
3.3 Der Bürgerhaushalt als Ausweg aus der Schuldenfalle?

Zusammenfassung und Schlusswort
I. Abkürzungsverzeichnis
II. Literatur- und Quellenverzeichnis
III. Tabellen und Abbildungen
IV. Anhänge 97ff
Anhang 1: Fallbeispiel zum Ablauf des Orçamento Participativo
Anhang 2: Senatsverwaltung für Finanzen (2003b): Perspektiven

Einleitung

Vom Süden lernen – Wie geht das konkret?

Die jüngere politische Entwicklung der brasilianischen Millionen-Metropole Porto Alegre ist eine Erfolgsgeschichte. Es war 1989, als die Arbeiterpartei Partido dos Trabalhadores die Macht in Porto Alegre erlangte und das System der politischen Entscheidungsfindung in der Hauptstadt des südlichsten Bundesstaats Brasiliens, Rio Grande do Sul, entscheidend umkrempelte. Die Wähler[1] sollten an der jährlichen Aufstellung des Investitionshaushaltes beteiligt werden. Sie sollten die Investitionsziele formulieren und in einem gerechten Abstimmungsverfahren durch- und umsetzen. Der Orçamento Participativo, zu deutsch Bürgerhaushalt, war geboren. Er brachte ein Moment der direkten Demokratie in eine Stadt, die zuvor unter erheblichen Schuldenlasten und Ämterpatronage bzw. Korruption gelitten hatte. Diese Probleme Porto Alegres sind bis heute fast völlig verschwunden, und sein Erfolg hat den Bürgerhaushalt zu einem mittlerweile weltweit vorbildlichen Projekt partizipativer Demokratie gemacht. Zu den vielfältigen Auswirkungen zählt, dass das Vertrauen in die Regierenden und sogar die Bereitschaft, Steuern zu zahlen, gewachsen ist, wie jüngstere Studien zeigen.[2]

Die Erfolge machten weltweit Kommunen Mut, den Teufelskreis von öffentlicher Verschuldung und wachsendem Vertrauensverlust in das politische System zu durchbrechen. „Vom Süden lernen“[3] könnte auch die deutsche Hauptstadt Berlin, die auf den ersten Blick zumindest finanziell die fast gleichen Sorgen wie Porto Alegre plagen. Das Verstricken in der Schuldenfalle nimmt nicht nur bundesweit, sondern vor allem im politischen Zentrum der neuen deutschen Republik Besorgnis erregende Ausmaße an. Berlin ist gar ein Sonderfall, in der finanzielle und politische Krise so stark zusammenfallen wie kaum woanders.[4] So gesehen liegt es nahe, die Idee in Porto Alegre als mögliche Vorlage für einen neuen „Berliner Weg“ aus der Schuldenfalle zu propagieren. In der Tat gibt es für diese Forderung bereits unterstützende Gruppen, so etwa die „Arbeitsgemeinschaft Bürgerhaushalt für Berlin“ (kurz: AG Bürgerhaushalt), der Experten aus Wissenschaft und Medien angehören. Sie fordern das, was in Porto Alegre längst Wirklichkeit ist, und daher die „alten“ westlichen Demokratien etwas rückschrittlich erscheinen lässt: die Teilhabe der Bürger an der Haushaltsaufstellung, also eine Aufwertung der größtenteils passiven „Demokratie-Konsumenten“ in ihrer gesellschaftlichen Rolle zu mündigen Bürgern. Die finanzpolitische These der AG ist so schlicht wie eingängig: Wer selbst für die Schulden, die er macht, zur Kasse gebeten wird – in diesem Fall die Bürger mit ihren Steueraufkommen – wird zusehen, dass er sie so gering wie möglich hält; wer für die Folgen von Missmanagement zur Kasse gebeten wird, wird darauf achten, riskante Finanzierungsvorhaben zu vermeiden und das Nötigste für seine direkte Umgebung zuerst zu tun.

Zur Fragestellung:

Bürgerhaushalte sind bislang Mangelware in der Praxis.[5] Verallgemeinernde Aussagen über ihre praktischen Auswirkungen zu treffen, ist angesichts ihrer kleinen Gesamtzahl und ihrer verschiedenartigen Interpretationsmuster nur schwer möglich. Die Debatte über die Wirkungspotenziale von Bürgerhaushalten ist bis zu diesem Zeitpunkt stark theoretischer Natur; zudem befassen sich die bisherigen Studien im deutschsprachigen Raum hauptsächlich mit der Analyse der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen der abstrakten Idee von Bürgerhaushalten. Mit dieser Arbeit soll die Frage der Wirkungen des Bürgerhaushaltes konkretisiert werden: Kann der Bürgerhaushalt in Berlin zu einer Verbesserung der Finanzlage oder sogar aus der Schuldenfalle führen? Und welche Hindernisse sind bei der Einführung des Bürgerhaushaltes zu erwarten?

Um diese Fragen zu beantworten, werde ich eine finanz- und demokratietheoretische Lageanalyse öffentlicher Körperschaften in Deutschland vorlegen und analysieren, inwiefern die Wirkungen des Bürgerhaushaltes diese Situation beeinflussen können. Abschliessend versuche ich einzuschätzen ob und wie weit sich diese Potenziale des Bürgerhaushaltes in einem auf die Berliner Situation angepassten Modell verwirklichen lassen.

Die Effekte von Bürgerhaushalten sind vielfältig. Im Verlauf der Untersuchung werde ich die sichtbarsten Wirkungen am Beispiel Porto Alegres aufzeigen. Alle bislang betrachteten Wirkungsweisen von Bürgerhaushalten wiesen folgende generelle Wirkungen auf:

- Partizipative Haushalte steigern durch Input und stärkere Kontrolle von Bürgerseite die Effizienz von Verwaltungen,
- sie mildern durch den Einfluss der Bürger auf die Formulierung der Haushalte Finanzkrisen zu und
- erhöhen gleichzeitig die Zufriedenheit der Bürger mit dem politischen Prozess durch die gesteigerten Beteiligungsmöglichkeiten.

Dieser grobe Überblick macht bereits deutlich, wie breit und Unterschiedlich die Wirkungspalette von Bürgerhaushalten ist, und dass sich diese Wirkungen auf unterschiedlichen theoretischen Ebenen abspielen. Analysieren lassen sich die genannten Auswirkungspotenziale je nach Schwerpunktsetzung unter Zuhilfenahme

I. verwaltungstheoretischer,
II. wirtschaftswissenschaftlicher und
III. demokratietheoretischer Modelle.

Da sich die vorliegende Arbeit der Frage widmet, ob sich die Finanzkrise in Berlin mittels eines Bürgerhaushaltes überwinden ließe, wobei er gleichzeitig zum Abbau der Politikverdrossenheit beitragen kann, stehen die in Punkt II und III genannten theoretischen Untersuchungsinstrumente im Vordergrund der Analyse. Die Frage, wie der Verwaltungsablauf durch den Bürgerhaushalt beeinflusst wird, soll hier nur am Rande in Verfahrensfragen eine Rolle spielen.

Schulden- und Legitimationskrise: Der Bürgerhaushalt als Mittel mit zwei Wirkungen

Das Hauptziel des Bürgerhaushaltes in Porto Alegre lautete: Die Legitimationskrise des politischen Systems mit einem neuen politischen Design eindämmen.[6] Die derzeitige Reform der Verwaltung ist aus der Perspektive dieses Bürgerhaushaltes nur eine Station auf dem Weg zu diesem Ziel. Die finanziellen Auswirkungen stehen in Fragestellung und Titel der Arbeit im Vordergrund, da dieser Aspekt – obwohl im ursprünglichen Sinn nur einer von vielen Effekten – bei der Umsetzungsentscheidung in Politik, Verwaltung und bei den Bürgern eine zentrale Bedeutung hat.

Legitimationskrise und neue Bürgerrolle, Finanzkrise und finanzieller Nutzen des Bürgerhaushaltes - diese Problem-Lösungs-Komplexe versucht diese Arbeit getrennt zu beleuchten um anschliessend ein auf Berlin passendes Design vorzuschlagen, dass in beiden Feldern gleichermassen erfolgreich sein kann.

Wann lässt sich von einer Legitimationskrise der Demokratie sprechen? In der wissenschaftlichen Literatur wird die zunehmende Entfremdung zwischen Repräsentanten und Repräsentierten im politischen System als deutliches Zeichen für eine Legitimationskrise gewertet.[7] An dieser Stelle setzt der Bürgerhaushalt an. Beispielhaft geschieht dies in Porto Alegre: Dort ist er zu einer Schule der Demokratie geworden, in der Partizipation gelebt wird. Die Bürger sind gleichzeitig Objekt und Subjekt des Entscheidungsprozesses, werden durch politische Übereinkünfte in die Formulierung, Verabschiedung und Umsetzung des öffentlichen Haushalts umfassend integriert. Der Bürgerhaushalt ermöglicht damit den direkten Dialog mit den politischen Entscheidern sowie die direkte Kontrolle deren Handlungen. Der Bürger wird so vom Objekt zum Partner der Verwaltung. Darüber hinaus erhöht er die Legitimität der Entscheidungen des politischen Systems durch die Unmittelbarkeit und die Unabhängigkeit bei der Entscheidungsfindung und verstärkt den demokratischen Input.[8]

Zu den Erfahrungen des Bürgerhaushaltes in Porto Alegre zählt neben den positiven politischen Effekten auch die Verbesserung der finanziellen Entwicklung. Ob diese Eigenschaft erfolgreich übertragbar ist, zählt zu den wichtigsten Fragen dieser Arbeit. Die Hinweise aus der empirischen Forschung sind nicht zahlreich, legen aber die Vermutung nahe, dass partizipatorische Systeme tendenziell bessere Haushaltsergebnisse in der Ausgabenseite vorweisen als rein repräsentative Systeme.[9] Der Bürgerhaushalt weist all die Merkmale dieser partizipatorischen Entscheidungssysteme auf, die empirisch nachweisbar zu Erfolgen geführt haben. Die Hoffnung ist daher berechtigt, dass das Modell des Bürgerhaushalts die Potenziale besitzt, die Krise der öffentlichen Haushalte zu mildern und ihre strukturellen Ursachen aufzubrechen. Die Krisenhaftigkeit öffentlicher Haushalte schränkt fast alle westlichen Industriestaaten in ihrer Handlungsfähigkeit seit Jahrzehnten ein und hat sich zu einem der drängendsten gesellschaftlichen Probleme entwickelt.

Dabei existieren die beiden genannten Problemfelder nicht unabhängig voneinander: Sie bedingen sich gegenseitig, da die öffentlichen Haushalte durch „nicht–nachhaltige“ Politik in die Krise gerieten und der Vertrauensverlust in die Regierenden durch die verschärfte Haushaltsproblematik verstärkt wurde. Beides lässt sich wiederum aus einem Sachverhalt heraus erklären: dem Auseinanderfallen von Verantwortung und Entscheidungsgewalt im politischen System. Die gewählten Entscheider finden Anreize vor, kostspielige und damit publikumswirksame Projekte umzusetzen. Werden diese Projekte zum Erfolg, ernten die politisch Verantwortlichen persönliche Vorteile (Wählerstimmen), bei Scheitern werden sie jedoch nicht für die finanziellen Auswirkungen (Regressforderungen, Schulden) verantworlich gemacht. Diese Kluft zwischen Entscheidung und Verantwortung kann der Bürgerhaushalt schließen, indem er die Verantwortung den letztendlich Verantwortlichen überträgt. Ein partizipativ gestalteter Haushalt kann diesen spiralförmigen Krisenprozess doppelt aufbrechen: Es erhöht einerseits die Problemlösungskapazität und Legitimität der lokalen Demokratie und führt andererseits zu effizienterem Verwaltungshandeln und dardurch – empirisch nachweisbar – zu geringerer Verschuldung der öffentlichen Haushalte.

Im Folgenden werde ich zunächst die beiden Problembereiche „Legitimationskrise der Demokratie“ und „Krise der öffentlichen Haushalte“ darlegen, um anschließend einen möglichen neuartigen Ansatz zur Bearbeitung beider Problemfelder näher zu beschreiben: das Bürgerhaushaltsmodell von Porto Alegre. An diesem Beispiel möchte ich aufzeigen, wie ein solch umfassender Lösungsansatz sich entwickelte und wie er in der Praxis funktionieren kann.

Das porto-alegrinische Modell wähle ich aufgrund von vier Aspekten als Vorlage der Untersuchung:

1. Es ist das erste Bürgerhaushaltsmodell in der Praxis,
2. es funktioniert seit mehr als 14 Jahren überaus erfolgreich,
3. es hat im Vergleich zu allen neueren Modellen die am weitestgehendsten Kompetenzen für die Bürger geschaffen und
4. es dient der Studie der AG Bürgerhaushalt als Grundlage ihres Beteiligungsmodells für Berlin, dessen finanziellen Potenziale ich untersuchen möchte.

Daran anschließend beschreibe ich die Übertragungsperspektiven auf die finanziell gebeutelte Stadt Berlin. Abschließend werde ich die Perspektiven eines Bürgerhaushaltes in Berlin umreißen und einen Ausblick auf dessen Möglichkeiten für Berlin und andere deutsche Kommunen geben.

1. Legitimationskrise der Demokratie und öffentliche Verschuldung

„Demokratie ist Diskussion“ Thomas G. Masaryk[10]

1.1 Legitimationskrise der Demokratie

Auf den ersten Blick erscheint es nicht unbedingt allzu angebracht, nach der Erneuerung der lokalen Demokratie durch den Bürgerhaushalt zu fragen – vor allem in Westeuropa. Dort haben sich demokratische Strukturen etabliert, und die repräsentative Regierungsform, eine europäische Erfindung, ist mittlerweile zum weltweiten Exportschlager geworden. Der Siegeszug der Demokratie scheint unaufhaltsam. Das zumindest suggeriert ein Blick in die Statistiken der vergangenen 30 Jahre.[11] Der weltweite Export der Demokratie, verstanden als parlamentarische Regime mit liberaler, marktwirtschaftlicher Grundordnung, hat in der jüngsten Vergangenheit eine außergewöhnliche Verbreitungsgeschwindigkeit erreicht, die vor dem Hintergrund der universellen Forderung von Menschenrechten diktatorische und autokratische Regime dauerhaft in Erklärungsnöte bringt. 1974 konnten knapp 30 Prozent der existierenden Staatswesen als Demokratien qualifiziert werden. Mittlerweile sind es weit über 60 Prozent. Es scheint, als sei die Kategorie der liberalen Demokratie alternativlos geworden, befindet auch der Soziologe Claus Offe.[12]

Doch der Schein kann mitunter trügen. Auf den Sieg der Demokratie, der spätestens mit dem Zusammenbruch der Sowjetsysteme augenscheinlich wurde, fallen bei genauerer Betrachtung mehr oder minder dunkle Schatten. Denn die Demokratie wird trotz ihrer „Exporterfolge“ von innen und von außen bedroht, „von der Aufweichung liberaler Strukturen und den Turbulenzen der globalisierten Ökonomie. Immer seltener gelingt es der Politik, Alternativen zu sich selbst zu entwickeln, ihr Programmprofil zu schärfen und ihre argumentative Substanz vor deren Medieninszenierung zu retten. Mehr noch beunruhigt die – von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkte – schleichende Entparlamentarisierung der Politik.“[13]

Wichtige politische Entscheidungen werden dabei immer seltener im Parlament getroffen; das klassische Regierungshandeln wandert in „Subpolitiken“ aus oder vernetzt sich zur Konsenserzielung mit außerparlamentarischen „Bündnissen“ und Verhandlungsrunden. Die Repräsentanten der Bürger können sich darüber nur schwerlich noch Aufklärung verschaffen, geschweige diese korrigieren.[14]

Wir haben es im Übergang zum 21. Jahrhundert mit einer widersprüchlichen Situation zu tun: Der offenbaren Alternativlosigkeit liberal-demokratischer Regimeformen steht die Tatsache gegenüber, dass die Bürger mit den aktuellen realen Leistungsbilanzen alles andere als zufrieden sind. Kurzum: Die westliche Demokratie steckt in einer Legitimationskrise. Der Anspruch der Politik, die Gesellschaft zu steuern, wird von vielen Seiten zunehmend in Frage gestellt.[15] Auf diese Krisensymptome haben Systemtheoretiker im Anschluss an die Arbeiten von Niklas Luhmann hingewiesen.[16] Vor allem seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes, das die integrativen Momente der Sicherung von Freiheit und Eigentum im Westen schwinden ließ, wird über die Legitimationskrise der repräsentativen Demokratie gesprochen. Es werden verschiedene Symptome der Legitimationskrise angeführt:

1.1.1 Legitimationskrise durch Steuerungsverlust

Die Kritik kommt jedoch nicht von ungefähr: Sie korreliert mit der Wahrnehmung realer Wandlungsprozesse politischen Regierens und politischer Teilhabe, die sich unter der These „ Globalisierung und Steuerungsverlust nationalstaatlicher Politik “ zusammenfassen lassen. Die Globalisierung hat mit ihren Tendenzen hin zur „Fragmentierung von Gesellschaften“[17] auch zu einer Auflösung traditioneller Legitimationsmuster geführt. So entstand im Laufe der vergangenen zwei Jahrzehnte in den modernen Massendemokratien der westlichen Welt eine widersprüchliche Konstellation, die mit dem Terminus „Zuschauerdemokratie“ belegt wurde.[18] Politik wird fortwährend über und durch die Medien, vor allem das Fernsehen, kommuniziert, und ist mit diesem System rückgekoppelt. Das bedeutet, dass sich die Verhandlungs- und Vermittlungsmechanismen der Politik an die Logiken der Medienwelt wenn nicht angepasst, so doch zumindest stark ausgerichtet haben. Ulrich Sarcinelli spricht in diesem Zusammenhang von der wachsenden Bedeutung „symbolischer Politik“, die es zwar seit jeher gibt, die in neuerer Zeit jedoch zu weitreichenden Veränderungen und Gefährdungspotenzialen für die demokratische Repräsentation führt.[19] Die Bürger stehen dem politischen System als etwas nicht unmittelbar Beeinflussbarem gegenüber. Die politische Kultur der meisten westlichen Gesellschaften reicht daher von einer gewohnten Distanz zur Politik bis zur Gleichgültigkeit oder Ablehnung gegenüber den Politikern und der Politik im allgemeinen.

Dabei konstatieren verschiedene Autoren die mangelnde Leistungsfähigkeit der westlichen Demokratien und den wachsenden Steuerungsverlust der nationalstaatlichen Politik.[20] Diese Diskussion wird auch vor dem Hintergrund der wachsenden Tendenz der „Denationalisierung“ aller gesellschaftlichen Subsysteme (z. B. Wirtschaft, Politik, Medien, Kultur, Religion, etc.) geführt.[21] Eine veränderte Politik muss dem Rechnung tragen, denn „gesellschaftliche Denationalisierung hebt generell die Kongruenz der sozialen und politischen Räume auf. Dies stellt aber die Effektivität des modernen Nationalstaats in Frage. Mehr denn je scheint das ‚bon mot’ zuzutreffen, wonach der Staat für die großen Probleme zu klein und für die kleinen Probleme zu groß ist.“[22] Die Antwort auf dieses Dilemma ist ein Projekt „komplexen Weltregierens, in dem der Nationalstaat eine neue Rolle zugewiesen bekommt.“[23] In neuen Konzepten politischer Steuerung, die die Wirkung der transformierenden Kräfte von Globalisierung nachvollzogen haben, wird von einer allmählichen Verlagerung von Herrschaftskompetenzen weg von der nationalstaatlichen auf höhere und tiefere Ebenen der gesellschaftlichen Regulierung gesprochen (das so genannte Subsidiaritätsprinzip). Herrschaft wird entgrenzt, entflochten, dezentralisiert. Der Staat wird zum Interdependenzmanager (Willke), zum Moderator der Interessen und kann nicht mehr in gewohntem Maße Steuerungsaufgaben übernehmen. Für das Fortbestehen demokratischer Strukturen wirft dies grundlegende Fragen auf, ist doch die demokratische Willensbildung und Kontrolle durch den Souverän, das Volk, historisch an den Nationalstaat und seine politischen Institutionen und Mechanismen gebunden.[24]

1.1.2 Legitimationskrise durch Erosion des demokratischen Inputs

Mit dem Wandel der gesellschaftlichen und technischen Bedingungen, der als wachsende Individualisierung und Kommerzialisierung, beschrieben wird, bemängeln verschiedene Autoren ein Absterben des demokratischen Inputs. Diese „Privatisierung des öffentlichen Lebens“ bedroht damit die soziale Basis demokratischen Regierens.

Die Kritiker fordern die Erneuerung der „Zivilgesellschaft“, etwa im Ansatz des Kommunitarismus.[25] Dieser theoretische Ansatz sieht die westlichen Herrschaftssysteme als „Regierung von Gruppen“[26], die weit von den Bürgern entfernt sind. Er appelliert daher an eine Wiederbelebung republikanischer Tugenden, die der Kommunitarismus aus dem Vorbild der politischen Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika bezieht.[27] Wenn mehr Bürger sich verstärkt engagierten, so die These, wäre die Demokratie und ihre Kontrollfunktionen wiederbelebt, die Gemeinschaft intakter.

1.1.3 Legitimationskrise durch gesellschaftliche Modernisierung

Der konstatierte Entfremdungsprozess zwischen Berufspolitik und Bürger lässt sich jedoch nicht nur auf einer normativen Ebene untersuchen, wie dies in der republikanischen Variante des Kommunitarismus der Fall ist. Aus modernisierungstheoretischer Perspektive sind die beschriebenen Symptome des Entfremdungsprozesses Teil der Professionalisierung der Politik und der Veränderung von Öffentlichkeit in den westlich-kapitalistischen Demokratien. In den modernen Gesellschaften differenzieren sich die einzelnen Subsysteme wie Politik, Wirtschaft, Medien, Kultur, Religion etc. fortschreitend aus, indem sie, ihren eigenen Logiken folgend, eigene Funktions- und Sinnzusammenhänge entwickeln.[28] Die Politik ist demzufolge der Bereich der gesellschaftlichen Sphären, der für die Herstellung und Durchsetzung allgemeinverbindlicher Entscheidungen über die Gestaltung der Gesellschaft zuständig ist.[29] Anhand dieser empirisch-deskriptiven Definition David Eastons ist nach systemtheoretischem Verständnis die Politik das gesellschaftliche Teilsystem, das sich im Prozess funktionaler Differenzierung moderner Gesellschaften auf eben diese Funktion spezialisiert hat. Dabei kommt dem politischen System gegenüber anderen gesellschaftlichen Subsystemen eine doppelte Sonderstellung zu: Zum einen hat Politik eine herausgehobene Position als zentraler Adressat für alle Probleme, die von anderen Teilsystemen nicht gelöst werden können. Der entsprechende Input erfolgt in Form von Ansprüchen beziehungsweise Erwartungen (demands) und Unterstützung (support). Zum anderen ist Politik das durch die Monopolisierung legitimer Gewalt zentrale Problemlösungssystem und somit der Steuerungsakteur der Gesamtgesellschaft, wobei der Output in Form von allgemein verbindlichen Entscheidungen (decisions) und Handlungen (actions) erfolgt.[30]

Im Zuge der Modernisierung gesellschaftlicher Teilsysteme haben sich weitere Ausdifferenzierungsprozesse ergeben, vor allem im vergangenen Jahrhundert. Das politische System hat unterschiedliche Leistungsrollen ausgebildet, die berufsförmig strukturiert und organisatorisch eingebunden sind. Der Berufspolitiker, den der Soziologe Max Weber bereits kurz nach dem 1. Weltkrieg beschrieben hat[31], wird zur zentralen Handlungsfigur im politischen Entscheidungsprozess. Allerdings erweisen sich die verschiedenen Publikumsrollen – Bürger und Wähler – als im Vergleich zu anderen Subsystemen als äußerst „machtvoll“, da sie über die Besetzung der Leistungsrollen im Rahmen von periodisch wiederkehrenden Wahlen entscheiden. Demokratisches Ziel der Berufspolitiker ist es somit, sowohl aus systemfunktionalen als auch aus rationalen Gründen die Unterstützung durch das Publikum – nicht nur, aber vor allem in Wählerstimmen – zu maximieren. Sie sind demzufolge in besonderem Maße auf die Zustimmung des Publikums angewiesen und orientieren sich in ihrem Handeln an den Bedürfnissen, Erwartungen und Zielen der Wähler. Die Gemeinwohlorientierung der Politik ist also nicht das eigentliche Ziel der Politik, sondern Mittel zur Befriedigung von Individualinteressen, ein Mittel zum Machterwerb.[32]

Vor diesem entwicklungstheoretischen Hintergrund erhält die Kommunikation zwischen Politik und Gesellschaft eine zentrale Bedeutung für den Fortbestand demokratischer Repräsentation. Sie bildet die Vermittlungsleistung zwischen den sich fortschreitend auseinander differenzierenden Subsystemen und der Politik. Mit der wachsenden Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Subsysteme und der technologischen Modernisierung findet in den repräsentativen westlichen Demokratien seit der Nachkriegszeit jedoch ein grundlegender Wandel statt, der das System der repräsentativen Demokratie verändert. Der Soziologe Jürgen Habermas spricht 1961 bereits von einem „Strukturwandel der Öffentlichkeit“[33] und zeichnet ein düsteres Bild der Transformation von Öffentlichkeit: Diese sei im Zuge der Herausbildung des interventionistischen keynesianischen Sozialstaates und der damit einhergehenden Verflechtung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft zunehmend vermachtet worden.

Habermas gelangt daher zu der Feststellung, dass der emphatische Begriff von Öffentlichkeit nicht mehr mit der gesellschaftlichen Realität übereinstimme. Die öffentliche Debatte, die noch im bürgerlichen Zeitalter des 19. Jahrhunderts als Mittel zur Herstellung rationaler Entscheidungsfindungen und des Fortschreitens von Freiheit und Gerechtigkeit gegen den feudalen Staat normativ und affirmativ gebraucht wurde, die als Fundament des demokratischen Rechtsstaates galt, war vor dem Hintergrund des zunehmenden Zusammenwachsens von Staat und Gesellschaft („Kolonialisierung der Lebenswelt“) längst vermachtet worden. Das Öffentlichkeitsgebot, so Habermas, müsse ausgeweitet werden, alle staatsbezogen agierenden Organisationen intern demokratisiert werden.[34]

Habermas’ Modell der deliberativen Demokratie setzt auf demokratische Beratungen als zentrale Dimension des Interessensausgleichs, die durch ein komplexes Geflecht sowohl formeller wie informeller Diskursarenen und Beratungsforen rationaler Meinungs- und Willensbildung ermöglicht werden soll.[35] Damit fällt ein guter Teil der Erwartungen, die mit deliberativer Politik verknüpft sind, auf die peripheren Strukturen der Meinungsbildung; die Qualität der Demokratie beruht auf einer liberalen Öffentlichkeit auf Basis einer vitalen Zivilgesellschaft. Verkürzt gesagt erfordert der Wandel und die Vermachtung der Öffentlichkeitsstrukturen als Gegenmittel eine Aktivierung und Beförderung basisdemokratischer Potenziale und direktdemokratischer Elemente.

1.1.4 Mit partizipatorischer Demokratie aus der Legitimationskrise?

Von einigen Autoren werden institutionelle Partizipationsanreize, die eine Dezentralisierung des politischen Lebens vorsehen und damit Akteuren auf kommunaler Ebene mehr Autonomie und politisches Gewicht verleihen, als mögliche Lösung der Politikverdrossenheit vorgeschlagen.[36] Direktdemokratische Elemente werden bislang allerdings zumeist in der Form von Bürgerbegehren und Volksentscheiden gedacht. Eine dauerhafte Beteiligung der Bürger an der Formulierung, Umsetzung und Kontrolle des politischen Prozesses ist zumeist nicht vorgesehen. In diesen punktuellen Eingriffen in das politische System ist jedoch keine dauerhafte neue Kommunikation zwischen Politik und Bürger zu sehen und deren gegenseitige Akzeptanz und Verständnis werden nicht zwingend befördert.

Dabei kann gerade am Beispiel Porto Alegre nachgewiesen werden, wie partizipatorische Beteiligung die Akzeptanz des Regierenden stärken kann.[37] Mehr noch: Mit dem Bürgerhaushalt von Porto Alegre gelang es, der kommunalen Verschuldung Herr zu werden und die Situation durch Beteiligung der Interessen der Bevölkerung zu entspannen. Als Reformvorlage für ein Modell der politischen Erneuerung in deutschen Kommunen diente Porto Alegre bislang nur punktuell. Vor allem bezüglich der Verwaltung zielen Reformschritte nicht auf ein Mehr an Partizipation, sondern lediglich ein Mehr an verwaltungsinterner Effizienz. Diese Idee, die bislang auch in Berlins Verwaltung und Politik favorisiert wird, geht einher mit dem Leitbild des „New Public Managements“. An eine Stärkung der Bürger durch partizipatorische Elemente wird dabei selten gedacht. Doch an dieser Stelle verbirgt sich Potenzial: Das Bürgerhaushaltsmodell in Porto Alegre funktioniert bereits in der Praxis, und das über einen längeren Zeitraum. Am Fallbeispiel Porto Alegre haben Zimmermann und Herzberg eindeutig gezeigt, wie Legitimations- und Finanzkrise durch Vertrauensbildung und langfristiges Empowerment der Bürger beherrschbar gemacht wurden.[38]

Ob durch eine stärkere Beteiligung der Bürger auch in Berlin die Schuldenfalle bald der Vergangenheit angehören könnte, ist hier zu prüfen. Aus demokratietheoretischer Perspektive allerdings eröffnen sich durch einen Bürgerhaushalt neue Potenziale für gesellschaftliche Gestaltungsräume. Diese stehen der oben beschriebenen Politik- und Politikerverdrossenheit diametral entgegen. Demokratietheoretisches Ziel eines Bürgerhaushaltes wäre es, die Entfremdung zwischen den Bürgern und der politischen Funktionsträgern, also der politischen Klasse, zu verringern. Denn „staatsbürgerliche Verantwortung ist nicht einfach da; sie entsteht vielmehr erst im Prozess der Beteiligung, die ihrerseits auch die Repräsentanten kontrolliert, in die Pflicht nimmt und ihnen ein Eintreten für das Gesamtwohl auch lohnend erscheinen lässt.“[39]

Zwischenergebnis (1):

- Spätestens seit Ende des Ost-West-Konfliktes sprechen Wissenschaftler und Demoskopen von einer Legitimationskrise der westlichen Demokratie bzw. der repräsentativen politischen Regime. Obwohl das Modell in den letzten drei Jahrzehnten weltweit exportiert wurde und als alternativlos erscheint, ist die Zufriedenheit der Bevölkerung mit ihrer politischen Führung im allgemeinen rückläufig.
- Als Symptome der Legitimationskrise werden je nach epistemologischer Perspektive erstens wachsender Steuerungsverlust der nationalstaatlichen Politik, zweitens Schwinden des bürgerschaftlichen Engagements und drittens Veränderungen durch gesellschaftliche Modernisierung (Professionalisierung und Medialisierung von Politik, dadurch Distanzierung vom Bürger) begründet.
- Partizipatorische Elemente in Form des Bürgerhaushaltes stellen vor diesem Hintergrund eine Möglichkeit dar, die Ursachen der Krise zu bekämpfen. Befürworter betonen in der Regel die Aktivierung und Beförderung basisdemokratischer Potenziale und direktdemokratischer Elemente als Schlüssel zur Erneuerung der Zivilgesellschaft.

1. 2 Problematik der öffentlichen Verschuldung

„Es ist für eine Regierung eine heikle Aufgabe, die vorhandenen Geldmittel einzuteilen. So wie im privaten Haushalt gibt es auch hier mehr Wünsche als Möglichkeiten, sie zu erfüllen. Aber Schulden machen stürzt auch den kleinen Haushalt ins Unheil, genau so wie den Staat“ Der österreichische Bundeskanzler Julius Raab in einer Radioansprache am 30.9.1954.[40]

Im vorigen Abschnitt habe ich dargelegt, wie der Bürgerhaushalt die Problematik der Legitimationskrise der Demokratie aufzugreifen vermag. Wie gezeigt wurde, ist die Legitimationskrise unter anderem der mangelnden Steuerungsfähigkeit des politischen Systems geschuldet. Diese äußert sich in schlechten ökonomischen Ergebnissen, die wiederum die Legitimationskrise der Politik verschärfen. Der Bürgerhaushalt hat positive Effekte auf alle Aspekte der beiden Problemmatiken und wird im Anschluss als gemeinsamer Lösungsansatz vorgestellt. Auf dem Weg zu den finanziellen Potenzialen des Bürgerhaushalts stelle ich zuerst dar, welches Ausmaß die Krise der öffentlichen Haushalte in Deutschland bereits angenommen hat und wie das politische System bislang darauf reagiert. Vor der Beschreibung der Haushaltslage in Deutschland definiere ich zuerst die zentrale Begrifflichkeit dieses Abschnitts: Was ist Staatsverschuldung? Manfred Schmidt definiert diese wie folgt: „Der Begriff Staatsverschuldung bezeichnet sowohl die Gesamtheit der in Geld zu begleichenden Schuldverpflichtungen, die der Staat bei der Inanspruchnahme fremder Mittel im Inland oder im Ausland eingegangen ist, als auch den Prozeß, der zur Anhäufung der Staatsschulden führt und diese aufrechterhält.“[41]

1.2.1 Haushaltslage in Deutschland

Wenn man die Literatur nach Einschätzungen zur Lage der öffentlichen Haushalte auf Bundes-, Länder- und Gemeindeebene in Deutschland durchforstet, bewegen sich die meisten Beschreibungen in der begrifflichen Spanne zwischen problematisch, kritisch, katastrophal, astronomisch schlecht.[42] Dabei gab es in der Geschichte der Bundesrepublik nur wenige Zeiträume, in denen nicht von einer Finanzkrise die Rede war.[43] Littmann spricht von der Krise als dem „finanzpolitischen Alltag“.[44]

1.2.1.1 Ausmaß der Verschuldung

Die gegenwärtige Situation stellt nach Littmann einen Ausbruch aus dem „alltäglichen“ dar: viele quantitative Indikatoren zeigen allzu deutlich, dass die Krise der öffentlichen Haushalte eine eigene Dynamik entwickelt hat.[45] Der aufgetürmte Schuldenberg ist mittlerweile gigantisch: ca. 1.283 Milliarden Euro[46], das sind pro Einwohner etwa 15.000 Euro, haben sich seit Bestehen der Bundesrepublik angehäuft. Die Entwicklung lässt sich anhand der folgenden Grafik anschaulich verfolgen:

Abbildung 1: Verschuldungsentwicklung

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Först (2003)

Besonders eindrucksvoll ist der Tatbestand des konstanten Anstiegs. In keinem einzigen Jahr wurde der Schuldenstand eingefroren oder reduziert. Die beiden auffallend steileren Anstiege (Ende der 70er und Anfang der 90er Jahre) lassen sich durch die außergewöhnlichen Haushaltsbelastungen durch Ölkrise und Wiedervereinigung erklären.[47] Betrachtet man die Entwicklung der Verschuldung in Relation zum Wirtschaftwachstum (hier anhand der Relation zwischen Schuldenstand und Bruttoinlandsprodukt), so zeigt sich, dass der Schuldenstand 2001 mehr als 28 Mal so hoch ist wie 1965 (von 43,2 Mrd. € auf 1.232,8 Mrd. €) während sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im gleichen Zeitraum von 234,8 Milliarden Euro (1965) auf 2.063 Milliarden Euro (2001) lediglich verneunfacht hat.[48] Die Schulden wuchsen also um ein Vielfaches schneller als die Wirtschaft und liegen wertmäßig bei mehr als 60% des BIP.[49]

Die Folgen dieses Trends sind verheerend: Schulden bringen Zinsen mit sich, die sich in Deutschland im Zeitraum von 1965 bis 2002 auf etwa 1.123 Milliarden Euro summierten. Im gleichen Zeitraum wurden neue Schulden von zusammengerechnet 1.051,7 Milliarden Euro aufgenommen.[50] Schuldendienst und Neuverschuldung halten sich im hier betrachteten langfristigen Mittel also in etwa die Waage. Meyer beschreibt das Missverhältnis dieser Summen: „Von der gesamten Neuverschuldung blieb in den vergangenen Jahrzehnten zur Finanzierung originärer Staatsausgaben, also zur eigentlichen Haushaltsdeckung, nicht ein EURO übrig. Im Gegenteil: ein Anteil von 71,5 Mrd. EURO der Zinsausgaben musste aus Steuermitteln bezahlt werden, weil die Neuverschuldung hierzu nicht ausreichte. Die Neuverschuldung diente also de facto der Deckung des von ihr selbst durch steigende Zinslasten erzeugten Defizits.“[51]. Von Kreditaufnahme als wirtschaftspolitisches Steuerungsinstrument kann keine Rede mehr sein.

1.2.1.2 Wirkung von Staatsverschuldung

Die theoretisch angenommene Wirkung von Staatsverschuldung hängt nach Bernheim vom betrachteten Zeithorizont ab und ist nicht abschließend klärbar, da die Wirkungszusammenhänge komplex sind und je nach Betrachtungsweise variieren. In der Theorie können hohe Schuldenniveaus normativ positive bis negative Effekte auf die Gesamtwirtschaft haben.[52] Ein kurzer Überblick:

Betrachtungen von Verschuldung vor kurzem Zeithorizont stellen die positiven Aspekte von Kreditaufnahme als fiskalpolitisches Steuerungselement heraus. Kreditfinanzierung – sprich: Schulden machen – kann demnach ein in volkswirtschaftlichem Sinne brauchbares Steuerungsinstrument und Handlungsoption des Staates sein.[53] Bedingung hierfür ist gemäß der antizyklischen Budgetpolitik, dass die aufgenommenen Kredite größtenteils in Investitionen fließen, die positive wirtschaftliche Impulse liefern. Der Investitionsbegriff ist in Deutschland relativ offen definiert, obwohl die Verschuldung durch das Grundgesetz an Investitionen gekoppelt ist.[54] Die Definition besagt, dass Investitionen zukünftige Werte schaffen und sich auf lange Sicht selbst finanzieren, sei es durch direkte Gewinne oder abgeleitete Steuereinnahmen. Darüber hinaus verlangt die Theorie antizyklischer Politik, dass die Schulden in Zeiten wirtschaftlichen Wachstums in gleichem Maße zurückgeführt werden, so dass am Ende eines Konjunkturzyklusses die Schulden abgebaut sind. Bleibt die Verschuldung bestehen, wie es jetzt der Fall ist, so spricht man gemäß der ökonomischen Theorie von struktureller statt konjunkturpolitischer Verschuldung.[55]

In den westlichen Industriestaaten wurde dieser Ansatz der Budgetbetrachtung seit den 70er Jahren praktisch umgesetzt (´Keynesianismus´) und führte ohne den notwendigen Schuldenabbau in wirtschaftlichen Aufschwungsphasen zur Anhäufung von Schulden. Dabei wurde den Bürgern in Deutschland erstmals seit der Weltwirtschaftskrise von der Politik vermittelt, dass Verschuldung positive ökonomische Wirkungen haben kann. Die These der vorteilhaften Auswirkung kreditfinanzierter Politik wurde dann erst im letzten Jahrzehnt mit dem sprunghaften Anstieg der Verschuldung und den daraus resultierenden Sparzwängen verworfen, und die Gegenthese der negativen Wirkung von Schulden rückte ins öffentliche Bewusstsein.[56] Der Grund für den Wandel im öffentlichen Bewusstsein liegt im wirtschaftlichen Scheitern des Keynesianismus. Die Keynesianische Theorie ist an der Anreizstruktur des politischen Systems gescheitert, das dazu verleitet, „eine bestehende Staatsverschuldung nicht in konjunkturell besseren Zeiten sofort zu tilgen, sondern weiterhin hohe Ausgaben für die eigene Wählerklientel zu tätigen“.[57] Das Schuldenniveau änderte sich deswegen immer nur in eine Richtung: nach oben.

Die derzeitige Mehrheitsmeinung in der ökonomischen Theorie, die als „orthodoxe Neoklassik“ bezeichnet wird, schreibt der Staatsverschuldung negative Wirkungen zu und betrachtet sie als langfristiges Problem.[58] Die Theorie stellt die Gefahr von strukturellen Defiziten, die Generationen weit wirken und dem Staat die Handlungsfähigkeit nehmen, in den Vordergrund. Besteht ein Defizit über einen vollständigen Konjunkturzyklus hinaus, so ist er als strukturelles Defizit einzustufen und hat negative ökonomische Auswirkungen.[59] Der Staat verliert seine Handlungsfähigkeit, da zunehmend Ressourcen zur Schuldentilgung gebunden werden. Der Weg des Staates führt ohne die Rückführung der Verschuldung in die Schuldenfalle.

1.2.1.3 Die Schuldenfalle

Baßeler weißt darauf hin, dass die Höhe der Staatsverschuldung bei ökonomischer Betrachtung immer mit dem Sozialprodukt in Beziehung gesetzt werden muss: „Steigt die Schuld in gleichem Maße wie das Sozialprodukt, bleibt die Belastung für die Volkswirtschaft als Ganzes gleich. Das mit steigendem Sozialprodukt ebenfalls – teilweise sogar überproportional – wachsende Steueraufkommen befähigt den Staat, die Zins- und Tilgungsleistungen (Schuldendienst) für die steigende Staatsschuld zu erbringen.“[60]. Für Baßeler, Heinrich und Koch wird die Situation also nur problematisch, wenn die Staatsschuld signifikant schneller wüchse als das Sozialprodukt und die Steuereinnahmen.[61] Dies ist in Zeiten konjunktureller Krisen immer noch für kurze Zeiträume für antizyklische Politik gerechtfertigt, da die steigenden Steuereinnahmen nach der Krise zur Schuldentilgung eingesetzt werden können. Aber auch Baßeler sieht die Entwicklungen mit Sorge: Sobald die Zins- und Tilgungszahlungen die Budgetgestaltungen merklich beeinflussen, sei die Grenze für weitere staatliche Kreditnahmen erreicht. In Einklang mit Meyer schließt er: „jede Mark, die für Zinsen ausgegeben werden muß, steht für andere Zwecke (Schulbau, Umweltschutz, Verwaltungsleistungen usw.) nicht zur Verfügung. Die Handlungsfähigkeit des Bundes wird zunehmend eingeschränkt“[62]. Daran, dass diese Situation mittlerweile gegeben ist, lässt Meyer keinen Zweifel. Er verweist auf die seit langem notwendige Kreditaufnahmen zur Finanzierung bestehender Kredite: „Die Kreditfinanzierung der öffentlichen Haushalte ist (…) zum fiskalisch nutzlosen Selbstzweck entartet. Sie dient nicht mehr der eigentlichen Haushaltsdeckung, sondern der Finanzierung der von ihr selbst erzeugten Tilgungs- und Zinsausgaben mit der Folge eines eigendynamisch immer schneller und steiler wachsenden Schuldenberges zu Lasten der nachfolgenden Generationen.“[63]. Daraus ergibt sich ein Kreislauf, den man als Schuldenfalle bezeichnet:

Abbildung 2: Die Schuldenfalle

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Först (2003)

Betrachtet man die Entwicklung der Verschuldungsstruktur der öffentlichen Haushalte zwischen 1980 und 2000[64], so zeigt sich Deutschland auf dem Weg in die Schuldenfalle.

1980 reichte die Neuverschuldung aus, um die entstandenen Zinszahlungen des damaligen Schuldenberges zu begleichen (!), sowie 12,5 Mrd. EUR zusätzlich an Investitionen zu tätigen. 20 Jahre später ist die Zinslast durch weitere Kreditaufnahmen des Staates auf 67,5 Mrd. EUR gestiegen. Die Neuverschuldung deckte diesmal nur noch einen Teil der anfallenden Zinsen. Der Hauptanteil wurde aus Steuereinnahmen gedeckt. Die Haupteinnahmequellen des Staates sind damit entweder ganz (Neuverschuldung) oder zum Teil (Steuereinnahmen) durch die Tilgung von Altlasten gebunden. Dadurch verlieren die öffentlichen Haushalte zum Einen ihre Handlungsfähigkeit. Zum Anderen wird der beschriebene Verschuldungsmechanismus in Gang gesetzt, der über Generationen weiter wirkt. Die öffentlichen Haushalte sind zunehmend in einem Refinanzierungskreislauf gefangen.

Es wird auf verschiedenen Wegen versucht, die Verschuldung auf Staatsebene zu begrenzen. Ob der ‚point of no return’ auf dem Weg in die Schuldenfalle bereits überschritten ist, ist aufgrund der Masse an Einflussfaktoren nicht genau abzuschätzen. Die Gefahr dieser Situation wird bereits seit längerem von offizieller Seite aus eingeräumt: „Da eine hohe staatliche Kreditfinanzierung das Zinsniveau und damit das Zins-Wachstums-Verhältnis in der Regel ungünstig beeinflusst, kann es durch sich gegenseitig verstärkende Wechselwirkungen zu einem 'circulus vitiosus' kommen"[65], schreibt die Bundesbank bereits 1997 in einem Monatsbericht.

1.2.1.4 Wege zur Schuldenbegrenzung

Die bisherigen institutionellen Ansätze zur Schuldenbegrenzung können in drei Gruppen unterteilt werden: absolute Defizitbegrenzung, relative Defizitbegrenzung und Bindung des Defizits an eine dritte (endogene) Größe.

Im Verfahren der absoluten Defizitbegrenzung legt der Gesetzgeber eine Summe fest, die die Neuverschuldung nicht überschreiten darf. Sollte die Neuverschuldung diesen Wert überschreiten, so werden alle Budgetposten automatisch linear gekürzt. Ein Versuch dieses Modells in den USA scheiterte am strategischen Verhalten der Minister aufgrund der Anreize dieses Systems. Die Entscheidungsträger setzten ihr Budget systematisch höher als notwendig an, um von den darauf folgenden Kürzungen relativ weniger stark betroffen zu sein. Tendenziell gewinnt der, der sein Budget am stärksten überhöht ansetzt.[66]

Die relative Defizitbegrenzung wurde im bekanntesten Fall in den EU-Konvergenzkriterien und dem Stabilitätspakt angewendet. Zum Eintritt in die Währungsunion durfte die jährliche Neuverschuldung der jeweiligen Teilnehmer 3% des eigenen BIP und der Schuldenstand 60% des BIP nicht überschreiten. Um die dadurch gezeigte wirtschaftliche Stabilität beizubehalten, wurden diese Werte im Stabilitäts- und Wachstumspakt als permanente Richtwerte festgesetzt und deren Überschreitung sanktioniert. Das System ist in diesem konkreten Fall jedoch von Ausnahmeregelungen und Diskretionismus in der Sanktionspolitik gekennzeichnet (ein strikteres System war politisch nicht durchsetzbar) und konnte bisher nicht entscheidend zur Konsolidierung der Staatsfinanzen beitragen.[67]

Die Bindung des Defizits an eine endogene Größe ist im deutschen Grundgesetz verankert: „Die Einnahmen aus Krediten dürfen die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten“[68]. Im Gegensatz zur Bindung an das BIP[69] handelt es sich bei den Investitionen um eine durch die Politik bestimmbare Größe.[70] Genau wie die relative Defizitbegrenzung scheitert das Prinzip der Bindung an die Investitionen am systemimmanenten Diskretionismus. So erlaubt die Grundgesetznorm Ausnahmen, wenn Störungen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts drohen. Eine Regel, die ebenso anfällig für Abweichung vom Postulat der Schuldenbegrenzung macht wie der zugrundeliegende Investitionsbegriff, der den jeweiligen Umständen entsprechend dehnbar ist.[71]

Allen drei Defizitbegrenzungen ist gemein, dass es mit ihnen nicht geschafft wurde, die Nettoneuverschuldung langfristig wirksam zu senken. Jedes der Verfahren enthält Ausnahmeregelungen für eine Ausweitung der Verschuldung, jedoch keinen Zwangsmechanismus zum Abbau des Schuldenberges bei Überschüssen. Die bisherigen Antworten der Politik auf Schuldenkrisen – meist in Form von Budgetkürzungen – führen nach Ansicht von Finger nicht zur Zustimmung der Bürger. Dies gelänge nur mit dem Hinweis, dass die Kürzungen Teil eines neuen Staatsverständnisses sind und die Staatsaufgaben generell neu zur Disposition stehen. Fehlende Zustimmung zu Sparmaßnahmen gibt den Politikern keinen Anreiz gibt, die Ausgaben einzuschränken und dadurch möglicherweise Wählerstimmen einzubüßen.[72]

1.2.1.5 Gründe der Verschuldung

Um aus dem Weg in die Schuldenfalle auszubrechen, muss die strukturelle Ursache der ständig wachsenden Verschuldung betrachtet werden. Strukturelle, d.h. dem inneren Aufbau des politischen Systems geschuldete, Verschuldungszusammenhänge sind der analytisch zu wählende Ansatzpunkt, um nicht bei der Behandlung der Symptome stehen zu bleiben. Die Bekämpfung der Ursache muss im Mittelpunkt der Diskussion stehen. Für diese Arbeit sind die strukturellen Ursachen interessant um später zu prüfen, ob der Bürgerhaushalt an den Strukturproblemen ansetzen kann.

Eine in der ökonomischen sowie politikwissenschaftlichen Literatur oft angeführte strukturelle Begründung für öffentliche Verschuldung ist die Ausweitung der Staatstätigkeit.[73] Im Falle Deutschlands vollzog sich diese mit dem Übergang vom Nachtwächterstaat zum Wohlfahrtsstaat seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Gemäß der Untersuchungen von Wagschal besteht ein Kausalzusammenhang zwischen der Staatsverschuldung und dem Wachstum des Staatssektors in Form einer positiven Korrelation: Je größer der Staatssektor wird, umso größer wird auch das staatliche Defizit.[74] Das ist dem Umstand geschuldet, dass der Finanzbedarf eines sich vergrößernden Staatssektors durch konstante oder sogar sinkende Steuereinnahmen nicht mehr gedeckt ist und somit durch Kredite finanziert werden muss.[75] Die staatliche Aktivität in Deutschland wurde in den vergangenen Dekaden kontinuierlich ausgeweitet, da dem Staat immer neue Aufgabenfelder durch die Gesellschaft zugewiesen wurden (z.B. Umweltschutz), oder das politische System diese selbst erschlossen hat.[76] Die Ausweitung der Staatstätigkeit erfolgte schneller als dessen Einnahmen durch Steuereinnahmen mitwuchsen. Die Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben wurde zum Teil kreditfinanziert und die Lösung des Finanzierungsproblems und die Verantwortung somit in die Zukunft verlagert.

Das Wachsen des Staatssektors kommt nicht von ungefähr. Zwei Verhaltensannahmen der Public-Choice-Theorie bieten den Akteuren in Politik und Verwaltung persönliche Anreize zu expansivem Ausgabenverhalten: das Auseinanderfallen von Verantwortung und Entscheidung in der Politik und die Prinzipal-Agent-Beziehung der Akteure. Ersteres wurde von Hans Herbert von Arnim auf anschauliche Weise dargelegt: „Kann der Politiker die politischen Kosten einer Maßnahme auf andere abwälzen, aber gleichzeitig den politischen Vorteil aus der Maßnahme voll für sich verbuchen, wird seine Entscheidungsgrundlage unausgewogen. Er wird dann leicht auf dem Kostenauge blind mit der Folge, daß er auch Maßnahmen beschließt, wie er es nie täte, wenn er auch für die Kosten verantwortlich gemacht würde.“[77] Der Anreiz besteht, Schulden zu machen und damit gesellschaftlich populäre Projekte zu fördern. Die Verantwortung für den Schuldenberg kann den nachfolgenden Generationen zugeschoben werden, die wiederum im gleichen Anreizsystem gefangen sind.

[...]


[1] Im Folgenden wird grammatikalisch vom Geschlecht der Akteure abstrahiert, obschon sich der Autor über geschlechtsrelevante Unterschiede bewusst ist.

[2] Vgl. Abers (2000), Herzberg (2002), Zimmermann (1999).

[3] Vgl. Misereor (2002).

[4] Weinzen (2003).

[5] In dieser Arbeit werden die Begriffe „Bürgerhaushalt, partizipatorischer Haushalt, partizipativer Haushalt und Beteiligungshaushalt“ synonym verwendet. Die hier diskutierte Form eines Bürgerhaushaltes definiert Klaus Brake mit: „Ein Bürgerhaushalt ist ein Element partizipativer Kommunalpolitik. In Kooperation mit Legislative und Exekutive artikulieren (diskutieren und formulieren) BürgerInnen ihre Vorstellungen vom Umgang mit den kommunalen Finanzen.“ Vgl. Brake (2003).

[6] Vgl. Abers 2000

[7] Arnim (1995).

[8] Abers (2000).

[9] Vgl. Kirchgässner/Feld

[10] Pelzer (1974), S. 104.

[11] Vgl. Sandschneider 2003

[12] Offe in Perger / Assheuer (2000). Die Zahl der Demokratien hat sich weltweit seit 1985 von 44 auf 82 fast verdoppelt. Im gleichen Zeitraum schrumpfte die Zahl der Autokratien von 67 auf 26. Vgl. Bericht des UN-Entwicklungshilfeprogramms nach Sandschneider (2003).

[13] Perger / Assheuer (2000), S. 8.

[14] Vgl. Ebd.

[15] Vgl. Jäger / Hoffmann (1995).

[16] Luhmann (1984), vgl. Willke (1996).

[17] Menzel (1998).

[18] Vgl. Wassermann (1989).

[19] Sarcinelli (1987).

[20] Vgl. Beck (2000), Streeck (1998), Willke (1996).

[21] Zürn (1998).

[22] Ebd., S. 10.

[23] Ebd., S. 10.

[24] Vgl. Beck (2000), S. 36, Anderson (1993), Streeck (1998).

[25] Etzioni (1993), Walzer (1992), vgl. Giddens (1997).

[26] Giddens (1997).

[27] Etzioni (1993), Tocqueville (1985).

[28] Luhmann (1984).

[29] Easton (1979), S. 21.

[30] Ebd.

[31] Weber [1919] (1992).

[32] Vgl. Gerhards (1994).

[33] Habermas [1961] (2001).

[34] Habermas [1961](2001).

[35] Habermas (1992).

[36] Touraine (2000), Dettling (1996), De-Shalit (1996), Cochrane (1986).

[37] Vgl. Herzberg (2002).

[38] Santos bestätigt die Ergebnisse dieser Literatur aus dem Blickwinkel der Institutionenökonomie. Vgl. Santos (2003).

[39] Arnim (1993), S. 361.

[40] SenFin (1996): Finanzplanung 1996-2000.

[41] Schmidt (1992), S. 420.

[42] Exemplarisch: Meyer (2003), Först (2003), Ipsen (1995), Noll/Ebert/Meier (1996), Schwarting (1995).

[43] Noll nach Lang (1996). S. 9.

[44] Littmann (1993).

[45] Littmann (1993), noch immer aktuell, vgl. Meyer, Dieter (2003). Seit Juli 2003 steigen die Staatsschulden mit 2.241 € pro Sekunde und werden am Ende des Jahres die Höhe von 1.330.167.209.149 € erreicht haben. (Webseite Bund der Steuerzahler).

[46] Meyer. S. 6. Daten nach Maastricht-Erhebungskriterien.

[47] Vgl. Meyer (2003). Das Abflachen der Kurve zwischen 1999 und 2001 ist nicht auf eine Trendwende in der Kreditpolitik, sondern auf die einmaligen Gewinne für den Staatshaushalt aus der UMTS Versteigerung zurückzuführen.

[48] Vgl. Meyer (2003).

[49] Ebd.

[50] Daten des Statistischen Bundesamtes. Aufbereitet in Meyer (2003).

[51] Meyer, Dieter (2003), S. 9.

[52] Bernheim nach Finger (2001), S. 19: nach der Theorie von Ricardo hat Verschuldung unter Betrachtung von unendlichem Zeithorizont gar keine realwirtschaftlichen Effekte. Diese Meinung spielt in der ökonomischen Theorielandschaft eine untergeordnete Rolle. Vgl. Finger (2001), S. 19.

[53] Vgl. Baßeler, Heinrich, Utecht (2002), Rittenbruch (1995) , Finger (2001), u.a.

[54] Art. 115 (1), Satz 2, GG. Die genaue Definition findet sich in der Haushaltssystematik des Bundes: „Ausgaben für Investitionen sind Ausgaben, die bei makroökonomischer Betrachtung die Produktionsmittel der Volkswirtschaft erhalten, vergrößern oder verbessern. (…) Investitionen sind Käufe und die Selbsterstellung (Bauten) dauerhaft unbeweglicher oder beweglicher Sachen (…) mit dem Ziel, die Produktion von Leistungen und Gütern und damit die Verbrauchsmöglichkeit in einem späteren Zeitpunkt zu steigern.“ Ministerialblatt des Bundesministers der Finanzen und des Bundesministers für Wirtschaft mit Veröffentlichungen des Bundesministers für Raumordnung und Städtebau 24 (1973), Nr. 26, S. 618. Zitiert nach Weinzen (2003), S. 16.

[55] Vgl. Finger (2001), S. 19ff .

[56] Ebd. S. 231f.

[57] Ebd. S. 231 sowie S. 81, ähnlich Arnim (1993).

[58] Vgl. Finger (2001), S. 36f, S. 83.

[59] Vgl. Ebd., S. 19ff.

[60] Baßeler (2002), S. 416.

[61] Vgl. Ebd.

[62] Ebd.

[63] Meyer, Dieter (2003), S. 1.

[64] So im Beispiel von Först (2003). Die Zeitspanne kann beliebig zwischen 1950 und dem heutigen Tage beliebig gewählt werden. Vgl. Meyer (2003).

[65] Deutschen Bundesbank in ihrem Monatsbericht März 1997, nach Meyer (2003).

[66] Finger (2001), S. 85f.

[67] Finger (2002), S. 88.

[68] Art. 115 (1), Satz 2 GG.

[69] Des BIP ist die exogene Bindungsgröße bei der relativen Defizitbegrenzung.

[70] Vgl. Finger (2001), S. 89 siehe Definition “Investition” in Anmerkung 51.

[71] Vgl. Anmerkung 51.

[72] Finger (2001), S. 94.

[73] Zimmermann (1994), Baßeler / Heinrich / Utecht (2002), Kromphardt (1991), S. 165.

[74] Wagschal (1996).

[75] Velthoven / Verbon / Winden (1993), S. 19, ebenso Noll / Ebert / Meyer (1996).

[76] Gemäß dem Sachverständigenrat “Schlanker Staat” entscheidet prinzipiell der Gesetzgeber nach eigenem Ermessen darüber, welche Aufgaben und gegebenenfalls in welcher Form er diese wahrnehmen will. Sachverständigenrat “Schlanker Staat” (1998).

[77] Arnim (1993), S. 291.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2003
ISBN (eBook)
9783832480837
ISBN (Paperback)
9783838680835
Dateigröße
1.8 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Freie Universität Berlin – Philosophie und Geisteswissenschaften
Note
1,0
Schlagworte
partizipative demokratie direkte beteiligungsmodell partizipatorischer haushalt öffentlicher
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Titel: Der Bürgerhaushalt als Ausweg aus der Schuldenfalle?
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