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Rollenspiele zwischen Autor, Text und Leser

Aspekte von Wirkung und Rezeption, gemessen an den Wirkungsstrukturen und der literaturkritischen Rezeption der Romane 'Scheintod' und 'Hotel Hölle, guten Tag...' von Eva Demski

©1997 Magisterarbeit 129 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
„Es könnte...sein, dass die Literaturwissenschaft kein guter Ort für Lektürelust ist.“
Das Erlebnis des Lesens, das zu beschreiben immer rasch in den sprachlichen Notstand oder in den Kitsch führe, habe in der Literaturwissenschaft keinen rechten Ort. Diese Mutmaßung Ulrich Greiners, scheint mir, drückt ein Stück Wahrheit aus. Zu viele Zeitgenossen legitimieren ausschließlich eine Literatur, die ernsthaft und anstrengend sein muss. Sie scheinen zu glauben, dass lustbetontes oder gar unterhaltsames Lesen nur in den Niederungen der Trivialität möglich ist. Ganz ohne Leseglück jedoch würde das Lesen wohl zu „einer dürren technokratischen Pflichtübung“ verkommen. Kurz und gut, dies war der Grund für mich, Fragen zu stellen, an Texte und an Leser.
Damit greife ich eine „Mode“ der siebziger Jahre auf, die Rezeptionsästhetik, die den Leser als Bestandteil der Theorie wieder und gewisserweise auch überhaupt erst salonfähig macht, und die sich hauptsächlich auf die beiden in Konstanz lehrenden Wissenschaftler Wolfgang Iser und Hans Robert Jauß gründet. Die Legitimationskrise, die die Literaturwissenschaft im Zuge von Empirisierung, Leistungsorientierung und Pragmatismus der Wissenschaften erfasst, scheint nach einem „Paradigmawechsel“ zu verlangen. Der Begriff des Paradigma wird dabei definiert als die wissenschaftliche Methode mit Systemcharakter, die den anderen Theorien überlegen erscheint. Das neue Paradigma soll der Literatur ihren Sinn und Zweck wiedergeben, indem es durch eine rezeptionsästhetische Fundierung die „gesellschaftsbildende Funktion“ der Literatur aufdeckt, die erst durch die Vermittlung des Lesers zustande kommt. Die neue Methode interessiert sich allerdings weniger für den empirischen Vorgang des Lesens als für die im Lesevorgang stattfindende kommunikative Sinnkonstitution sowie deren Vorbedingungen im polyvalenten literarischen Text.
Jauß interessiert sich dabei - ausgehend von der Gadamerschen Hermeneutik - vor allem für die historisch-hermeneutischen Zusammenhänge der Stoff- und Werkrezeption auf der Ebene der „kollektiven Erwartungen“ als Dispositionen des Lesers. Iser dagegen beschäftigt sich - gründend auf Roman Ingardens Phänomenologie - mehr mit den phänomenologischen Strukturen und Wirkungspotentialen von Texten im individuellen Leseprozeß, deren theoretische Beschreibung ein Raster für empirische und historische Forschung sein soll.
Das Problem ist nur, dass weder Jauß noch Iser ihre […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 8023
Struck, Sarah Ines: Rollenspiele zwischen Autor, Text und Leser ­
Aspekte von Wirkung und Rezeption,
gemessen an Wirkungsstrukturen und der literaturkritischen Rezeption der Romane
'Scheintod' und 'Hotel Hölle, guten Tag...' von Eva Demski
Hamburg: Diplomica GmbH, 2004
Zugl.: Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Magisterarbeit, 1997
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2004
Printed in Germany

3
3
Inhalt
1.
Einleitung 5
2.
Rollenspiele im Text
13
2.1.
Die Wirkung als das vom Text Bedingte
13
2.1.1.
Der implizite Autor oder Die vom realen Autor
übernommene Rolle im Text
13
2.1.2.
Der implizite Leser oder Die vom Autor geschaffene
Struktur der Leserrolle im Text
18
2.1.3.
Das Konzept des offenen Kunstwerkes
23
2.1.4.
Erkenntnis oder Gefühl?
29
2.1.5.
Zwischen Konkretisationsfreiheit und Lenkung
31
2.2.
Textinterne Verfahrensweisen
36
2.2.1.
Der implizite Autor oder die Elemente des Repertoires im
Text
36
2.2.2.
Der implizite Leser oder die Wirkungsstrategien und ihre
Funktionen im Text
40
2.3.
Die Textintention oder Die Rollen des impliziten Autors
und des impliziten Lesers bei Eva Demski
48
2.3.1.
Im Roman "Scheintod"
49
2.3.2.
Im Roman "Hotel Hölle, guten Tag..."
61
3.
Rollenspiele mit dem Text
70
3.1.
Rezeption als das vom Leser Bedingte
70
3.1.1.
Der Erwartungshorizont aus Literatur und Lebenswelt oder
Die vom Leser gegenüber dem Text eingenommene Rolle
70
3.1.2.
Horizonte zwischen Wandel und Verschmelzung
76
3.1.3.
Identifikation, Illusion und Interpretation oder Vom
Leser übernommene Rollen
79
3.1.4.
Zwischen Gefühl und ästhetischer Distanz
86
3.1.5.
Vom Text zum Virtuellen
93
3.2.
Wirkungsabsichten der realen Autorin?
96
3.3.
Konkretisation und Rezeption des Rollenangebotes durch
reale Leser
100
3.3.1.
In den Rezensionen zum Roman "Scheintod"
102
3.3.2.
In den Rezensionen zum Roman "Hotel Hölle, guten Tag..."
105
3.4.
Rollenspiele zwischen Autor, Text und Leser
109
4.
Literatur 114
4.1.
Primäres
114
4.2.
Sekundäres 114
4.2.1.
Rezensionen zu "Scheintod"
114
4.2.2.
Rezensionen zu "Hotel Hölle, guten Tag..."
116
4.3.
Theoretisches 118
5.
Anhang
127
5.1.
Lebenslauf 127
5.2.
Erklärung 128

4
4
"Ein eigenwilliger Autor
Ein Autor, der nur ein einziges
Theaterstück geschrieben hat, das nur ein
einzigesmal auf dem, seiner Meinung nach
besten Theater der Welt und genauso
seiner Meinung nach nur von dem besten
Inszenator auf der Welt und genauso
seiner Meinung nach nur von den besten
Schauspielern auf der Welt aufgeführt
werden durfte, hatte sich schon bevor der
Vorhang zur Premiere aufgegangen war, auf
dem dafür am besten geeigneten, aber vom
Publikum überhaupt nicht einsehbaren
Platz auf der Galerie postiert und sein
eigens für diesen Zweck von der Schweizer
Firma Vetterli konstruiertes Maschinen-
gewehr in Anschlag gebracht und nachdem
der Vorhang aufgegangen war, immer jenem
Zuschauer einen tödlichen Schuß in den
Kopf gejagt, welcher seiner Meinung nach,
an der falschen Stelle gelacht hat. Am
Ende der Vorstellung waren nur noch von
ihm erschossene und also tote Zuschauer
im Theater gesessen. Die Schauspieler und
der Direktor des Theaters, hatten sich
während der ganzen Vorstellung von dem
eigenwilligen Autor und von dem von ihm
verursachten Geschehen, nicht einen
Augenblick stören lassen."
Thomas Bernhard

5
5
1. Einleitung
"Es könnte...sein, daß die Literaturwissenschaft kein guter Ort für
Lektürelust ist."
Ulrich Greiner
1
Das Erlebnis des Lesens, das zu beschreiben immer rasch in den
sprachlichen Notstand oder in den Kitsch führe, habe in der
Literaturwissenschaft keinen rechten Ort. Diese Mutmaßung Ulrich
Greiners, scheint mir, drückt ein Stück Wahrheit aus. Zu viele
Zeitgenossen legitimieren ausschließlich eine Literatur, die
ernsthaft und anstrengend sein muß. Sie scheinen zu glauben, daß
lustbetontes oder gar unterhaltsames Lesen nur in den Niederungen
der Trivialität möglich ist. Ganz ohne Leseglück jedoch würde das
Lesen wohl zu "einer dürren technokratischen Pflichtübung"
2
verkommen. Kurz und gut, dies war der Grund für mich, Fragen zu
stellen, an Texte und an Leser.
Damit greife ich eine "Mode"
3
der siebziger Jahre auf, die
Rezeptionsästhetik, die den Leser als Bestandteil der Theorie
wieder
4
und gewisserweise auch überhaupt erst salonfähig macht, und
die sich hauptsächlich auf die beiden in Konstanz lehrenden Wissen-
schaftler Wolfgang Iser und Hans Robert Jauß gründet. Die Legitima-
tionskrise, die die Literaturwissenschaft im Zuge von Empirisierung,
Leistungsorientierung und Pragmatismus
5
der Wissenschaften erfaßt,
scheint nach einem "Paradigmawechsel"
6
zu verlangen. Der Begriff des
Paradigma wird dabei definiert als die wissenschaftliche Methode mit
Systemcharakter
7
, die den anderen Theorien überlegen erscheint. Das
neue Paradigma soll der Literatur ihren Sinn und Zweck wiedergeben,
indem es durch eine rezeptionsästhetische Fundierung
8
die "gesell-
1
DIE KRISE DER GERMANISTIK - VORBEI, Ulrich Greiner, in DIE ZEIT 28.3.1997, S.46
2
Bellebaum 1996, S.7
3
So bezeichnet von Walter Erhart (in PLÄDOYER FÜR MODEN, in JAHRBUCH DER DEUTSCHEN SCHILLERGESELLSCHAFT 1994), der Moden als
Anregungen zur Erneuerung einer pluralistischen Wissenschaft verstand.
4
Schon Aristoteles beschäftigte sich mit den Wirkungen des Dramas auf den Zuschauer.
5
Turk 1976, S.12: "Infragestellung der Kulturwissenschaft durch ...Pragmatismus".
6
Den Begriff übernahm Jauß aus Thomas S. Kuhns DIE STRUKTUR WISSENSCHAFTLICHER REVOLUTIONEN, engl.1962/dt.1967.
7
Jauß 1974, S.275
8
Jauß 1970, S.128

6
6
schaftsbildende Funktion"
9
der Literatur aufdeckt, die erst durch
die Vermittlung des Lesers zustandekommt. Die neue Methode interes-
siert sich allerdings weniger für den empirischen Vorgang des Lesens
als für die im Lesevorgang stattfindende kommunikative Sinnkonstitu-
tion sowie deren Vorbedingungen im polyvalenten literarischen Text.
Jauß interessiert sich dabei - ausgehend von der Gadamerschen Herme-
neutik - vor allem für die historisch-hermeneutischen Zusammenhänge
der Stoff- und Werkrezeption auf der Ebene der "kollektiven Erwar-
tungen"
10
als Dispositionen des Lesers. Iser dagegen beschäftigt sich
- gründend auf Roman Ingardens Phänomenologie - mehr mit den phäno-
menologischen Strukturen und Wirkungspotentialen von Texten im indi-
viduellen Leseprozeß, deren theoretische Beschreibung ein Raster für
empirische und historische Forschung
11
sein soll.
Das Problem ist nur, daß weder Jauß noch Iser ihre kommuni-
kativen Theorien in der Praxis durchhalten, da sie versäumen, die
traditionellen Methoden der Textanalyse
12
, mit denen sie arbeiten, an
ihre Theorien anzupassen und damit den Leser doch wieder zum bloßen
Erfüllungsgehilfen
13
machen. Die praktische Ausführung kommt letzt-
lich einer "Wiederaufnahme der Immanenz"
14
sehr nahe, da sie sich
fast ausschließlich an literarischen Texten - ohne die Auseinander-
setzung mit Rezeptionsdokumenten
15
- orientiert und es versäumt, "die
Differenzen zwischen belegten und prognostizierten Konkretisa-
tionen"
16
zu verdeutlichen.
Theoretisch jedoch haben sie einiges geleistet. Vor allem
haben sie eine Struktur von Begriffen geschaffen, auf der man
aufbauen kann, von der aus man terminologische Unklarheiten und
9
Jauß 1970, S.154
10
Ricoeur 1991, S.271
11
Iser 1975c, S.331 und Jauß 1984, S.9
12
Wünsch (1984, S.910) etwa bezeichnet die Rezeptionsästhetik als "verschleierte Interpretation".
13
Turk 1973, S.521
14
Bürger 1979, S.143, siehe auch bei Beiersdorf/Schöttker 1978, S.511, sowie bei Warning 1988, S.24: "Methodisch ungedeckt
ist...[das] Festhalten an >richtigem< und >falschem< Verstehen", weiters bei Weber 1984, S.10: "Inhalt der
Interpretation" ist "nur die Rhetorik des Textes", ebenso bei Zima 1995, S.227.
15
Zu den Ausnahmen gehört Jauß 1973, wo dieser allerdings auf den Seiten 1-29 "ziemlich unbefragt Zeugnisse zur Wirkung des
Dramas" heranzieht, die "nicht den Anspruch auf Repräsentativität erheben" können (Grimm 1975, S.51), und deren
Anspruch sich von der "traditionellen >Geschichte des Nachruhms<" (Jauß 1975, S.326) kaum unterscheidet, womit eine
positivistische Illusion geschaffen wird (Bürger 1979, S.140/41).
16
Gumbrecht 1977, S.522

7
7
Inkonsequenzen
17
beseitigen kann, neue Zusammenhänge herstellen und
angemessene praktische Umsetzungen versuchen kann. Man hat
verschiedentlich bemängelt, daß die Begriffe aus den verschiedensten
Methodiken und Disziplinen stammen, u.a. der Gadamerschen Hermeneu-
tik, des russischen Formalismus und Prager Strukturalismus, der
Soziologie, der Psychologie, der linguistischen Kommunikations-
theorie, der Ingardenschen Phänomenologie. Harding etwa meint
feststellen zu müssen, daß "wir wahrscheinlich ein ziemlich vages
Geschwätz mit etwas Psychoanalyse, etwas Soziologie und etwas
Literaturkritik" erwarteten, wenn "man uns zu einer Erörterung
der...Prozesse auffordert, die sich bei der Lektüre eines Romans
abspielen."
18
Ebenso scheint Bürger mir an die Integrierbarkeit
verschiedener Methoden
19
zu enge Maßstäbe anzulegen, da seine
Einwände mehr oder weniger schon die Benutzung der - wohlgemerkt
abgewandelten - Begrifflichkeiten fremder Disziplinen
20
monieren.
Wenig produktiv ist auch die Klage Engels, der sich darüber
beschwert, daß die Literaturwissenschaft die Begriffe der neuen
Methoden benutzt.
21
Systematische Neuformulierungen müssen in
Betracht ziehen, daß mit der Abwandlung der Begriffe und ihrer
Bezüge eine Akzentverschiebung
22
in der Terminologie stattfindet.
Dementsprechend hat man sich auch an der - der Rezeption inne-
wohnenden - Dialektik zwischen "Monosemie und Polysemie,
Bestimmtheit und Unbestimmtheit, Geschlossenheit und Offenheit"
23
wundgerieben.
Allgemein gesehen darf ein abstraktes Lesemodell heute nicht
mehr ganz und gar von empirischen Gegebenheiten absehen, so wenig
wie es verkennen darf, daß Lesen und Verstehen komplexe Handlungen
sind, die als Teil situierter Kommunikation immer schon "von
vielfältigen, lebensgeschichtlichen, psychischen und sozialen
17
Solche stellt etwa Gumbrecht (1977, S.524-34) in Iser 1984 fest, ebenso Zima 1995, S.250.
18
Harding 1961, S.72 - Harding spricht hier allerdings explizit von "psychologischen" Prozessen.
19
Bürger 1979, S.15/16
20
Auch in Zima 1995, S.292
21
Engel 1993, S.439/40 spricht von der Eingemeindung der Avantgarden und betrauert die Rezeptionsästhetik, von der nicht
mehr "als ihr Kernvokabular" geblieben sei.
22
Richter 1996, S.531
23
Zima 1995, S.293 und 379

8
8
Bedingungen"
24
mitbestimmt sind.
Mir scheint deshalb, daß Antworten auf literaturwissenschaft-
liche Fragestellungen
25
durchaus anderen Disziplinen entstammen
dürfen, ja sogar müssen. Um Einsichten in den Vorgang des Lesens, in
dessen Voraussetzungen, Resultate, "kommunikative Funktion"
26
und
Folgen zu gewinnen, reicht es nicht, den Leser ausschließlich im
Text zu suchen oder ihn zum Gegenstand der Geschichtsschreibung oder
der Datensammlung
27
zu machen. Als Basis bedarf die Lese- und
Rezeptionsforschung z.B. psychologischer Erkenntnisse.
28
Die ver-
schiedenen Aspekte und Funktionen des Lesens können nur aus den
Perspektiven verschiedener Methoden beschrieben und begründet
werden. Vom Wissenschaftler wird dabei gefordert, seine Kompetenzen
zu erweitern oder vielmehr seine Kompetenzen deutlich zu begrenzen
und zu klären.
29
In der Diskussion um ein neues Paradigma findet immer wieder
ein ideologisches Polemisieren der Verfechter der jeweiligen Me-
thoden gegeneinander statt: Die Vertreter der absoluten Werkauto-
nomie (u.a. Staiger, Kayser) und die der marxistischen Wider-
spiegelungstheorie (u.a. Weimann, Warneken, Träger)
30
gegen die
Rezeptions- und Wirkungsästhetiker (u.a. Jauß, Iser), von denen sich
wiederum die Empiriker (u.a. Groeben) und die Strukturalisten und
Semiotiker (u.a. Barthes) absetzen, und nicht zuletzt die Soziologen
und Systemtheoretiker, die sich über allen wähnen (u.a. Luhmann,
Schwanitz). Jeder will seine Methode als "neues Paradigma"
31
etablieren und muß deshalb die Methoden der anderen diskreditieren.
Es wäre sinnvoller, wenn die rezeptionsbetonten Methoden darauf
verzichteten, sich als Ablösung oder Alternative der nicht-
rezeptionsbetonten zu verstehen
32
, da Produktion und Rezeption doch
24
Richter 1996, S.533/34
25
Aust 1983, S.VII: Man bleibt "mit der Fragestellung zu Hause, aber die Antworten kommen vielfach aus der Fremde"
26
Beiersdorf/Schöttker 1978, S.504
27
Aust 1983, S.XIII
28
Heuermann/Hühn/Röttger 1975, S.14
29
Siehe Stierle 1975c, S.347.
30
Mit den Arbeiten dieser beiden Gruppen zur Rezeption beschäftige ich mich nicht weiter, da sie von gänzlich anderen
Voraussetzungen ausgehen, indem sie u.a. ein rein statisches Leserbild postulieren.
31
Z.B. in Schwanitz 1990
32
Aust 1983, S.258

9
9
letztlich zwei Seiten einer Medaille
33
sind.
Mir scheint, das seit dreißig Jahren von allen Seiten ersehnte
neue Paradigma bleibt fern, weil es schon da ist, jedoch unter einem
anderen Namen. Es ist der vielgeschmähte
34
Methodenpluralismus, als
Reflexion der Mehrdeutigkeit
35
. Er entspricht der zunehmenden Kom-
plexität der modernen Welt, der Mehrdeutigkeit des literarischen
Textes, der Vielfalt der Interpretations- und Rezeptionsmöglich-
keiten. Es geht nicht mehr darum, eine Methode gegen alle anderen
abzugrenzen, sondern darum, die Grenzen der Methoden zu erkennen, zu
klären und voneinander abzusetzen. Es geht auch darum zu erkennen,
daß die Ergebnisse von der Perspektive und ihren Prämissen
36
bestimmt
sind, weshalb wissenschaftliche Untersuchungen immer nur eine
Diskussion eröffnen
37
können. Selbst die "harten"
38
Wissenschaften
haben inzwischen erkennen müssen, daß wissenschaftliche Hypothesen
nie absolut gelten
39
können, da "jedes Hinsehen...von bestimmten
Annahmen...und bestimmten Vorstellungen"
40
, eben den Prämissen
ausgeht, in denen bereits, aufgehellt oder nicht, Theoriestücke
stecken. Blickwechsel, die sich ihrer Prämissen
41
bewußt sind, geben
also letztlich ein präziseres Bild verschiedener Aspekte der "black
33
Jauß (1973, S.30-46) Ausführungen über die "Partialität der rezeptionsästhetischen Methode", die die Rezeptionsästhetik
als "partiale, anbaufähige und auf Zusammenarbeit angewiesene methodische Reflexion" (S.31) bezeichnen, weisen
schon auf diese Tatsache hin. Siehe auch Stierle (1975a S.10), der von der "unaufhebbare[n] Dialektik von
Produktions- und Rezeptionsperspektive bei symbolischen Handlungen und ihre[r] Vermittlung durch ein gemeinsam
anerkanntes Schema" spricht.
34
Ulrich Greiner (in DIE ZEIT 28.3.1997, S.45) etwa meint, die Germanistik habe "sich aufgelöst in allerlei Parallelaktionen
und davongestohlen in diversen Fluchtbewegungen", siehe auch Iser 1992, S.28: Der Pluralismus wird solange
"mißverstanden..., als man glaubt, er entwickele sich nach der Devise 'everything goes'.
35
Die Einsicht des neuen Paradigmas in die Mehrdeutigkeit entspricht der Polyvalenz heutiger Literatur. Die alten
Paradigmen dagegen waren, wie die literarischen Texte selbst, der Repräsentanz verpflichtet.
Siehe dazu Zima 1995, S.379: Die "dialektische Aufgabe" einer Theorie besteht darin, "Monosemie und Polysemie
vermittelnd aufeinander zu beziehen..."
36
Siehe Zimas (1995, S.393/396/398) Definition des theoretischen Diskurses.
37
Siehe Eco, WIE MAN EINE WISSENSCHAFTLICHE ABSCHLUßARBEIT SCHREIBT, Heidelberg 1988, S.44, siehe auch Zima (1995, S.366),
der den interdiskursiven wissenschaftlichen Dialog dem intersubjektiven vorzieht.
38
"Hard sciences" bei Schwanitz 1990, S.33, und "harte Theorie" bei Iser 1992, S.10
39
Siehe die erkenntnistheoretischen Ansätze der Physiker Hans-Peter Dürr und Carl Friedrich von Weizsäcker. Erstens -
nichts ist absolut verifizierbar, weil es schon durch eine einzige Ausnahme falsifiziert werden kann. Zweitens - im
Einzelfall Falsifiziertes kann dennoch als statistische Wahrscheinlichkeit existieren. Drittens - "weite Bereiche
der Wirklichkeit" lassen sich nicht objektivieren, da sie sich nicht vom "Erkenntnisverfahren ablösen lassen" (in
Dürr, DAS NETZ DES PHYSIKERS, München 1990, S.141).
40
Bürger 1979, S.15
41
Aust 1983, S.258, siehe auch Iser 1992, S.27: "Interpretationen, die auf das Erschließen von Literatur zielen", gehen
immer "von Grundannahmen" (d.h. von Prämissen) aus.

10
10
box"
42
des komplexen Lesevorgangs, als der Anspruch eines - doch
immer einseitigen - Paradigmawechsels es vermag. Kritische Wissen-
schaft besteht eben nicht darin, den falschen traditionellen Kate-
gorien neue entgegenzusetzen, sondern in der Untersuchung der tradi-
tionellen Kategorien auf die Fragen, die mit ihnen gestellt oder
nicht gestellt werden können
43
und der daraus folgenden Abwandlung
44
.
Die Literaturwissenschaft ist damit nicht mehr "Gegenstandswissen-
schaft", sondern "Relationswissenschaft"
45
und kommt also nicht
umhin, sich "als Teil einer allgemeinen Kommunikationswissenschaft"
46
interdisziplinär
47
zu orientieren. Nur so kann sich die Wissenschaft
als "eine mit selbstreferentiellen Regeln behaftete Institution" auf
ihre "Gegeninstitution"
48
, die Literatur, einlassen. Das heißt, daß
Literaturwissenschaft sich auf die Dialektik zwischen methodischer
Reflexion und ästhetischer Erfahrung
49
einlassen muß. Die strenge
Methode reduziert das ästhetische Objekt oft zu sehr.
50
Da Kunst es
in letzter Konsequenz "mit dem Paradox der Beobachtbarkeit des
Unbeobachtbaren"
51
zu tun hat, muß es wohl abseits der Beobachtbar-
keit noch andere Wahrnehmungsformen geben, die literaturwissen-
schaftlichen Gegenständen adäquat
52
sind. Aber welche sind das? Es
sind wohl die Stufen der Adäquatheit "zwischen Rezeptionen, die das
Wahrgenommene unreflektiert nach privaten Erfahrungsnormen konkreti-
sieren"
53
, zwischen "hermeneutischen Verfahren, die den Text als
42
Aust 1983, S.235: "Die >black box<-Methode beruht auf einer Kombination empirischer Daten mit einem theoretischen
Konstrukt, ...in Gestalt eines Modells entworfen und erprobt", siehe auch Wünsch 1984, S.918: die black box kann
"nur durch Hypothesen aus dem Vergleich zwischen interpretiertem Text und Rezeptionsakt gefüllt werden".
43
Bürger 1979, S.148
44
Rusterholz 1989, S.51: "Der gegenwärtige Pluralismus...kombiniert auf freilich wieder neue Art alte Traditionen in neuer
Kombination und Funktion."
45
Begriffe von Geißler, PROLEGOMENA ZU EINER THEORIE DER LITERATURDIDAKTIK, Hannover 1970, zitiert nach
Heuermann/Hühn/Röttger 1975, S.12.
46
Schulte-Sasse, zitiert nach Beiersdorf/Schöttker 1978, S.503.
47
Siehe Iser 1992, S.32, und Warning 1975, S.25, ebenso Wünsch 1984, S.894, sowie Zima 1995, S.3/4.
48
Grimminger, zitiert nach Ulrich Greiner, in DIE ZEIT 28.3.1997, S.46, siehe auch Iser 1992, S.11: "Die Theorie ist ein
kognitiver Diskurs, der sich durch Bezugsrahmen bestimmt, dem das zu Erfassende unterworfen wird", Literatur
dagegen ist ein inszenierter Diskurs (S.30), der "ständig vorhandene Begrenzungen überschreitet, um zu
versprachlichen, was nicht ist..."
49
Rusterholz 1979, S.235
50
Rusterholz 1979, S.244
51
Luhmann 1990, S.20
52
Rusterholz 1979, S.246
53
Rusterholz 1979, S.249

11
11
Sinnpotential betrachten, dessen Konkretisationen nur beschränkt
objektivierbar sind, und analytischen Verfahren, die den Text auf
eine beschränkte Bedeutungsmenge fixieren und damit die Möglich-
keiten der Objektivierung mit dem Verlust der Komplexität des
ästhetischen Objekts bezahlen"
54
.
Es heißt bei Schöttker
55
, daß es bis heute keine Theorie der
literarischen Rezeption gebe, die über die Referierung von
Forschungsergebnissen hinausgehe oder die methodisch praktikabel
sei. Mein Anspruch geht nun nicht unbedingt dahin, eine solche
Theorie zu entwerfen. Ich will jedoch versuchen, - auf dem Hinter-
grund der bekannten Theorien - auf Zusamenhänge und Strukturen
56
hinzuweisen und das Raster ein wenig zu verfeinern. Dabei gehe ich
von der "systematischen Analyse im Werk selbst vertexteter Rezep-
tionslenkungen" aus, um von da zu den "vorliegenden Konkretisationen
und ihre[n] Subjekte[n]"
57
, den Lesern zu gelangen.
Entsprechend geht es in dieser Arbeit nicht um die Fixierung
der Rollen, die Autor, Text und Leser einnehmen, sondern um die
Darstellung der möglichen Rollen, die sie im Quadrat von Textinten-
tion, Wirkungsstruktur, Autorabsicht und literaturkritischer realer
Rezeption spielen. Das Konzept, das dem zugrunde liegt, fußt auf
einem System von Begriffen, die einander dialektisch gegenüber-
stehen, und deren Zwischenstufen das Bild präzisieren. So versuche
ich in der Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der Booth'schen
Rhetorik, der Phänomenologie und Kommunikationstheorie Isers und
Ecos, der Erkenntnisse von Platz und Aust über psychologische Vor-
gänge und Gefühle beim Lesen und deren Wirkung sowie mit Resultaten
der Jaußschen Hermeneutik u.a. zu Ergebnissen zu gelangen.
Methodisch weitgehend getrennt, bemühe ich mich, auf der einen Seite
die ROLLENSPIELE IM TEXT darzustellen, um die Dialektik zwischen der
Textintention - als Möglichkeitsstruktur - und der Konkretisation
theoretisch vorzuzeichnen, und dann in der Textanalyse der beiden
Romane Eva Demskis deren Möglichkeitsstruktur zu veranschaulichen;
54
Rusterholz 1979, S.249, siehe auch Rusterholz 1989, S.40.
55
Schöttker 1996, S.538
56
Struktur bezeichnet nicht etwas Vollständiges, sondern "die funktionale Wechselbeziehung zwischen Elementen" (Zima 1995,
S.193/94).
57
Warning 1975, S.25

12
12
auf der anderen Seite beschäftige ich mich mit der Darstellung der
ROLLENSPIELE MIT DEM TEXT, um mögliche Kommunikationsformen zu
skizzieren, die dann - u. U. auch mit Hilfe von Anregungen der
explizit geäußerten Autorabsichten
58
- an der Analyse von Rezeptions-
dokumenten
59
zu Eva Demskis Romanen exemplarisch gemessen werden, und
die dann schließlich - im Vergleich der Text- und Rezeptionsanalysen
- ein Bild der ROLLENSPIELE ZWISCHEN AUTOR, TEXT UND LESER zu
skizzieren suchen.
58
Das theoretische - nicht aber kritische - Experiment des Rückgriffs auf die explizit geäußerten Absichten des realen
Autors kann die Textintention nie erschöpfend fassen, sondern nur fragen, ob der Autor als reale Person "alle die
vielfältigen Deutungsmöglichkeiten" (Eco 1994, S.81) vor Augen hatte, zu denen sein Text anregt.
59
Rezensionen sind Dokumente wertenden (Werten = Verbindung eines objektiven Merkmals mit einem subjektiven Maßstab, Iser
1984, S.47) und geübten (nicht idealen) Lesens (siehe Iser 1984, S.53). Ich verzichte dabei auf eine weiterführende
soziologische Bestimmung der einzelnen realen Leser, da das den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde.

13
13
2.
Rollenspiele im Text
2.1.
Die Wirkung als das vom Text
Bedingte
60
2.1.1.
Der implizite Autor
61
oder Die
vom realen Autor übernommene
Rolle im Text
"The artist, like the god of creation, remains within or behind or
beyond or above his handiwork, invisible, refined out of existence,
indifferent, paring his fingernails."
James Joyce
62
Ein Modell, das sich im Spannungsfeld zwischen einem impli-
ziten Autor und einem impliziten Leser bewegt, scheint mir für die
Darstellung der Wirkungsstrukturen eines literarischen Textes inso-
fern angemessen, als es erlaubt, zwischen den Textkonstanten und den
Intentionen eines Autors einerseits und den Textvariablen und den
Bedingungen der Konkretisation eines Textes andererseits zu differ-
enzieren. In der Anwendung hilft es, die im Text verorteten Rollen
mit den Methoden literarischer Interpretation zu beschreiben.
63
Der Begriff des impliziten Autors meint die Intentionen des
Autors, womit sowohl bewußte als auch nichtbewußte
64
Intentionen ge-
meint sind. Schreibend löst sich der reale Autor von seinem Werk
65
.
60
Ich folge damit Jauß' (1973, S.33) Definition der Wirkung als dem "vom Text bedingte[n]...Element der Konkretisation";
die
Reflexion über Wirkungen befaßt sich also mit den Wirkungsstrukturen eines Textes und deren Abstimmung auf
vermutete
Leserdispositionen.
61
In der sonstigen Literatur ist oft auch vom 'implizierten' Autor die Rede, was eine unterschiedliche Bedeutung nahezulegen
scheint. Beide Wörter sind vom gleichen Stamm, nämlich lat. implicare, zu deutsch hineinverwickeln, mit
einschließen, einbegreifen. Sie unterscheiden sich nur insofern als die Form 'imlizit' adjektivisch ist und die
Form 'impliziert' die Perfektform des Verbes, deren Schwerpunkt - wenn sie adjektivisch benutzt wird - stärker auf
dem Handeln zu liegen scheint. Ich will diese Nuancen jedoch hier vernachlässigen und beides in einen Begriff
fassen. Um der einheitlichen Begrifflichkeit willen spreche ich deshalb sowohl vom impliziten Autor als auch vom
impliziten
Leser.
62
Joyce, THE PORTRAIT OF THE ARTIST AS A YOUNG MAN, London 1966, p.219, cit. Iser 1972, S.347
63
Weinrich 1971, S.28
64 Eco 1994, S.93: Bestimmte "textliche Lösungen" kommen "durch glückliche Fügungen oder infolge unbewußter Mechanismen
zustande".
65
Geäußert von Gadamer und Ricoeur, siehe Arnold/Detering 1996, S.129/134/136.

14
14
Als eine "implizierte Version"
66
des realen Autors und damit als die
Rolle
67
, die der reale Autor in einem bestimmten Text übernimmt, be-
trifft der implizite Autor diejenigen Informationen und Botschaf-
ten, die der reale Autor uns - willkürlich oder unwillkürlich -
vermitteln will.
68
Abstrakt mit Booth gesprochen, von dem der Begriff
des "implied author" stammt, ist der implizite Autor "die Summe
seiner eigenen Entscheidungen"
69
im Text. D.h. der implizite Autor
manifestiert sich in den selektierten Normen, d.h. den "herauslös-
baren Sinngehalte[n],...den moralischen und emotionalen Gehalt[en]
jeder kleinsten Handlung und Erfahrung jeder einzelnen Romanfigur"
70
.
Aus diesem Eindruck, der eine Art Allgegenwart des Autorurteils
71
in
einen Text einzeichnet und damit die Kompetenz des realen Autors
72
durchscheinen läßt, lassen sich natürlich auch Rückschlüsse auf den
realen Autor ziehen. Denn Weltvermittlung ist ja die Bedingung der
Selbstvermittlung
73
des realen Autors. Die Individualität des realen
Autors spiegelt sich im exemplarischen Geschehen des Textes, das in
die Allgemeingültigkeit des literarischen Textes mündet. Man sollte
dabei allerdings nie vergessen, daß ein Text immer nur eine impli-
zierte Version des realen Autors bietet, weshalb solche Schluß-
folgerungen nicht Grundlage einer methodischen Reflexion sein kön-
nen. Vergleiche zwischen dem realen Leben eines Autors und dem
impliziten Autor seines Textes können allerdings Anregungen zur
Interpretation bieten, insofern als sie noch unerkannte Möglich-
keiten des Bedeutungspotentials eines Textes ans Licht holen können.
Der reale Autor ist also nur als "Interpretationshypothese"
74
faßbar.
Der implizite Autor dagegen bewegt sich - wie oben beschrieben -
auf der Ebene des Textrepertoires, dessen Elemente im Kapitel
II.2.1. näher benannt werden.
75
66
Booth 1974, Bd.1, S.77
67
Von Ricoeur als "Maske des wirklichen Autors" bezeichnet, zitiert nach Arnold/Detering 1996, S.136.
68
Bürger (1980, S.59) spricht von einem Zentrum, in dem "wie in einem Fluchtpunkt alle vom Autor - bewußt oder unbewußt -
eingesetzten Mittel zusammenlaufen."
69
Booth 1974, Bd.1, S.81
70
Booth 1974, Bd.1, S.80
71
Booth 1974, Teil I, S.29
72
Link 1973, S.553
73
Hans Blumenberg zu Iser REDUKTIONSFORMEN DER SUBJEKTIVITÄT, in Jauß 1968, S.671
74
Eco 1987, S.76/77
75
Auch der Erzähler eines Textes z.B. ist nur eines der Elemente des Textrepertoires und ist - wie inzwischen, glaube ich,

15
15
Auch Eco klassifiziert - allerdings methodisch näher an der
Kommunikationstheorie Jakobsons - "Autor und Leser als Textstrate-
gien"
76
und sieht beide in der "Aktantenrolle des Ausgesagten"
77
. Er
stellt dadurch Bezüge her zu den analysierbaren Strukturen eines
Textes, was sein Modell legitimiert und die praktische Anwendung
erlaubt. Die Begriffe des impliziten Autors und des impliziten
Lesers bezeichnen - da stimme ich mit Eco überein - "strukturelle
Textphänomene"
78
. Leider klassifiziert er Autor und Leser einerseits
als Textstrategien
79
, personalisiert sie aber andererseits als exem-
plarischen Autor und Leser
80
und wirft sie damit auf die Ebene der
"Interpretationshypothese"
81
zurück. Eine solche Personalisierung
verleitet immer dazu, die Autorintention im Text leichtfertig mit
einer - als Interpretationshypothese fixierten - Vermutung der vom
realen Autor intendierten "authentische[n] Bedeutung"
82
gleichzu-
setzen. Das wiederum läßt den Interpretierenden im schlimmsten Fall
auf einer intendierten "absichtlich falsche[n]... >Einspurung<"
83
hängenbleiben. Oder es schafft einfach nur begriffliche Unschärfe,
da es sich bei dem "personalisierbare[n] Erfinder des Erzählers",
dem "Urheber des fiktiven Geschehens" und dem Urheber aller "Selek-
tions- und Entscheidungsprozesse" - wie Nünning ganz richtig sagt -
"nur um den realen Autor handeln kann."
84
Auch Booth läuft leider in
diese Falle, indem er den Erzähler als nur eines "der vom impli-
ziten Autor geschaffenen Elemente"
85
bezeichnet. Iser umschifft diese
Klippe, indem er den impliziten Autor nicht nur als "Selbst-
stilisierung" des realen Autors, sondern auch als Bedingung für die
allgemein bekannt - nicht mit dem realen und ebensowenig mit dem impliziten Autor zu verwechseln, siehe u.a. Booth
1974, Bd.1, S.80: Der "Sprecher in einem Werk" ist "nur eines der vom impliziten Autor geschaffenen Elemente".
76
Eco 1987, S.74
77
Eco 1987, S.75
78
Siehe Nünning 1993, S.10.
79
Eco 1987, S.74 und Eco 1994, S.73
80
Eco 1994, u.a. S.72
81
Eco 1987, S.76/77, siehe auch Nünning 1993, S.17
82
Wie Link 1973, S.563/581, siehe auch Gumbrecht (1975, S.392/93), der ziemlich naiv behauptet, die vom realen Autor
intendierte Sinngebung sei "leicht und unabhängig von den verschiedenen Voraussetzungen verschiedener
Literaturwissenschaftler
rekonstruierbar".
83
Maurer 1977, S.497
84
Nünning 1993, S.3/14/21
85
Booth 1974, Bd.I, S.80

16
16
Anlage des gesamten Romangeschehens
86
bezeichnet. Sein Fehler ist
allerdings der, nicht genügend zwischen implizitem Autor und der
Erzählerfigur zu differenzieren. Und was die Anwendung in der Inter-
pretation betrifft, laufen leider noch die meisten Autoren in die
Falle, indem sie den impliziten Autor mit dem Namen des realen
Autors ansprechen
87
. Jeder Leser ist eben doch zunächst ein "naiver"
Leser und nimmt Texte als Mitteilungen eines realen Subjektes wahr.
88
Ich möchte hier den impliziten Autor weder als exemplarische
Person noch als Textstrategie bezeichnen, sondern als Summe der
Selektionen des realen Autors aus dem Repertoire an Normen, die den
Text auf bestimmte Perspektiven
89
hin öffnen. Diese Definition soll
es erlauben, sich vom kommunikationstheoretischen Modell abzusetzen,
bei dem vorausgesetzt wird, daß "eine Botschaft...vom implied author
zum impliziten Leser wandert"
90
. Bedingt durch dieses kommunikations-
theoretische, aber eben nicht unbedingt dem fiktiven Text ange-
messene Modell kann auch Ricoeur sich dem personalierenden Akzent
91
,
der ja schließlich bei Booth selbst schon anklingt
92
, nicht ganz ent-
ziehen. Ich dagegen betrachte den impliziten Autor sozusagen als die
Botschaft selbst und den impliziten Leser als die Bedingungen der
Vermittlung, die zur Konkretisation führen. Es handelt sich beim
impliziten Autor dann nicht mehr um einen Sender im kommunika-
tionstheoretischen Sinne, sondern um "semantische und formale Aspek-
te des Gesamttextes"
93
. Auf diese Weise wird eine Unterscheidung
zwischen den Verfahrensweisen erleichtert. Und zwar diejenige Dif-
ferenz zwischen Textkonstanten und Textvariablen, d.h. die zwischen
86
Iser 1972, S.170
87
Nünning 1993, S.13
88
Platz 1986, S.50/51
89
Siehe Luhmann 1990, S.9.
90
Modell von u.a. Seymour Chatman, in COMING TO TERMS. THE RHETORIC OF NARRATIVE IN FICTION AND FILM, Ithaca/London 1990,
zitiert und kritisiert in Nünning 1993, S.8.
91
Ricoeur 1991, u.a.S.260, Anm.11, siehe auch S.277. Bei Ricoeur geraten außerdem Erzähler und Autor etwas durcheinander:
Einerseits werden Erzähler und impliziter Autor voneinander unterschieden (S.261/62), andererseits wird plötzlich
von den auf den impliziten Leser zielenden Überzeugungsstrategien des Erzählers gesprochen (S.277).
92
Booth 1974, S.81: "Wir sehen in ihm [dem impliziten Autor] eine ideale, literarische, gestaltete Version des wirklichen
Menschen."
93
Von Nünning (1993, S.7) nach Booth formuliert, siehe auch S.9/10, wobei ich Nünning in einer Sache allerdings nicht
zustimmen kann: Der implizite Autor als semantische Kategorie (S.9) ist nicht mit der "Gesamtbedeutung eines
literarischen Werkes" gleichzusetzen. Es handelt sich vielmehr, wie Nünning - sich selbst widersprechend - auf S.10
ausführt, um "einen Teil des semantischen Gehalts eines Werkes, um das Werte- und Normensystem des Gesamttextes".

17
17
dem impliziten Autor, der durch die Vermittlung des realen Autors
als selektiertes Normenrepertoire im Text nieder- und festgelegt
ist, und dem impliziten Leser, der als Strategie den individuellen
realen Leser dazu bringt, sich ein Bild zu machen, sich auseinander-
zusetzen, die vorgegebenen Botschaften zu konkretisieren.
Der implizite Autor ist also nicht "the text itself"
94
, eben-
sowenig wie er mit der Textintention gleichzusetzen
95
ist. Sondern
beide zusammen - der implizite Autor und der implizite Leser -
verbinden sich schließlich in der Textintention, die die Gesamtheit
der durch die Textstruktur von Botschaft und "Überzeugungsstrate-
gien"
96
möglichen Konkretisationen umfaßt. Der Begriff der Textinten-
tion stellt sich also hier nicht als "Reduktion der Komplexität
eines Textes auf eine Intention, die notwendig nichtssagend all-
gemein oder aber partikulär ausfallen müßte"
97
dar, sondern als
Kategorie, in der die textlichen Voraussetzungen und Bedingungen der
Textrezeption gefaßt werden sollen.
94
Wie Booth sich selbst widersprechend (in THE COMPANY WE KEEP. AN ETHICS OF FICTION, Berkeley 1988, p.91, cit. Nünning
1993, S.9) behauptet.
95
Wie bei Eco 1994, S.72
96
Ricoeur 1991, S.258
97
Rusterholz 1979, S.242

18
18
2.1.2.
Der implizite Leser oder Die
vom Autor geschaffene Struktur
der Leserrolle im Text
"An Leser denke ich beim Schreiben kaum."
Heinz Piontek
98
Wie schon angedeutet, betrachte ich den impliziten Leser als
die Summe der Textvariablen, welche den realen Leser lenken: Gemeint
sind damit die Wirkungsstrategien, d.h die Bedingungen der Vermitt-
lung, die diejenigen Bahnen vorzeichnen, die die Vorstellungstätig-
keit lenken
99
und sie auf dem Weg zur Konkretisation des Textes
leiten. Damit präzisiere ich Isers Definition, der den Begriff des
impliziten Lesers in Anschluß an Booth' implied author geschaffen
hat, der die Begriffe aber "in sehr weitem Umfang"
100
verwendet. Iser
beschreibt den impliziten Leser als die "Gesamtheit der Vororien-
tierungen, die ein fiktionaler Text seinen möglichen Lesern als
Rezeptionsbedingungen anbietet"
101
und als "eine Textstruktur, durch
die der Empfänger immer schon vorgedacht ist"
102
und die es ihm
ermög-licht, "die ihm vorgegebenen Ansichten
103
zu realisieren"
104
.
Diese, die ganze Textstruktur umfassende, Dimension des Begriffes
ließe keinen Platz mehr für den impliziten Autor. Oder aber die
Konstellation setzte den impliziten Autor, genauso wie sie den
impliziten Leser mit der Textstruktur identfiziert, mit "the text
itself" gleich, womit die "unterschiedenen Instanzen identisch
wären"
105
.
Stattdessen bezeichne ich mit der Kategorie des impliziten
Lesers diejenigen Bestandteile der Textstruktur, die auf den realen
98
Piontek auf die Frage, für welche Leser er seine Bücher schreibe, in Aust 1983, S.11.
99
Iser 1984, S.154
100
Wünsch 1984, S.906
101
Iser 1984, S.60
102
Iser 1984, S.61
103
Iser (1984, S.61) bezieht sich hier auf Ingardens Begriff der schematisierten Ansichten, die Iser in seinem Konzept
später
als Repertoireelemente bezeichnet, die zusammengenommen das Repertoire des Textes bilden und in meinem Konzept in
ihrer Gesamtheit den impliziten Autor bilden.
104
Iser 1984, S.61
105
Nünning 1993, S.9

19
19
Leser abzielen. In Frage kommen da nur die Wirkungsstrategien im
Text, die - als kommunikative Mittel - die Bedingungen für die
Konkretisation des impliziten Autors schaffen, und in denen der
wirkliche Leser erst Gestalt gewinnt
106
. Ich meine mit dem impliziten
Leser eine im Text ausmachbare "Wirkungsstruktur..."
107
, die hier
aber einzig eine Textstruktur ist und nicht - wie bei Iser - "aus
einer Textstruktur und einer Aktstruktur besteht"
108
. Ich bezeichne
den impliziten Leser also als eine "Wirkungsstruktur der Texte"
109
,
ver-zichte aber auf die irreführende Überfrachtung des Begriffes,
die den impliziten Leser in einem Zuge einerseits als
Texteigenschaft und andererseits als Quasi-Lesertätigkeit
beschreibt
110
. Der implizite Leser entwirft einen "Aktcharakter des
Lesens"
111
; er zeichnet ihn vor, ist also nicht identisch mit ihm,
sondern mit den Textstrate-gien, d.h. den Bedingungen, die den
realen Leseakt vorstrukturieren und Richtungen für mögliche
Konkretisationen angeben. D.h. die Text-strategien lenken den realen
Leser, auf daß er "selbst seine Rolle entdecke..."
112
Sie sind somit
die "Bedingungen möglicher Wirkung"
113
.
An diesem Punkt stoße ich bei Iser auf eine weitere termino-
logische Unschärfe. Der implizite Leser kann nicht mit der "Lese-
rolle" identisch
114
sein. Denn das bedeutete eine Gleichsetzung der
Möglichkeitstruktur mit der konkretisierten Möglichkeit selbst.
Dementsprechend neigt Iser dazu, in seinen Anwendungen zu ver-
gessen, daß auch er selbst immer nur e i n lesendes Subjekt
115
ist.
Er verabsolutiert
116
demgemäß seine Interpretationen als "objektive
Fest-stellung der >Appellstrukturen< eines Textes"
117
. Er vergißt,
106
Nach Ricoeur, in Rusterholz 1996, S.136: Der implizite Leser gewinnt "erst im wirklichen Leser Gestalt".
107
Iser 1984, S.66
108
Iser 1984, S.66
109
Iser 1984, S.67
110
Siehe Richter 1996, S.526, auch in Gumbrecht 1977, S.524.
111
Iser 1972, S.9
112
Iser 1972, S.10
113
Iser 1975b, S.463
114
Wie in Iser 1984, S.60-67
115
Maurer 1977, S.481
116
Z.B. in Iser 1975b
117
Maurer 1977, S.477

20
20
daß diese prinzipiell mit den gleichen Schwierigkeiten und
Gefahren
118
zu kämpfen hat wie eine "Interpretation alten Stils"
119
.
Differenzierend behaupte ich deshalb, daß die Textstrategien des
impliziten Lesers die selektierten Elemente des impliziten Autors
benutzen, so die Textintention erzeugen und damit erst das
"Rollenangebot des Tex-tes"
120
ermöglichen. Meine Begründung: Eine
Struktur von "Rezeptions-bedingungen" für verschiedene
Konkretisationsmöglichkeiten, d.h. für das Einnehmen verschiedener
Rollen durch den realen Leser, ist die Vorstrukturierung einer
Leserolle und unterscheidet sich folglich von der Leserolle selbst.
Die Leserolle selbst ist immer schon eine bestimmte Interpretation
aus dem Fundus codierter Lesarten
121
. Sie ist e i n e bestimmte
Rolle, auf die der Leser sich - auf dem Hinter-grund aller
Möglichkeiten des Rollenangebotes eines Textes - einläßt.
Das zeigt deutlich, daß sich der implizite Leser nicht im
klassischen kommunikationstheoretischen Modell als Empfänger ver-
orten läßt. Denn der Empfänger kann nur der reale Leser sein und der
Sender nur der reale Autor. Wenn ich das phänomenologisch sehe, ist
immer jeweils einer der beiden Kommunikationsteilnehmer realiter
abwesend, während der andere durch eine Struktur ersetzt wird.
Der implizite Leser spiegelt natürlich die Erwartungen, von
denen der reale Autor - bewußt oder unbewußt - annimmt, daß seine
realen Leser sie haben. Die Summe dieser Erwartungen und die Gesamt-
heit der zu Grunde liegenden Kompetenzen personifiziert Eco als den
"Modell-Leser"
122
. Solch ein - in der Vorstellung des Autors -
modell-haft 'realer' zeitgenössischer Leser mit seinen Erwartungen
und Kom-petenzen ist - wie der implizite Autor - nur als
"Interpretations-hypothese"
123
faßbar. Also ein weiterer Grund, mich
einer Personali-sierung nicht anzuschließen, sondern vielmehr auf
den Begriff des Erwartungshorizontes
124
zu verweisen. Auch auf
118
Z.B. "die Gefahr der >Überinterpretation<, des unbemerkten Anachronismus, der Projezierung eigener mentaler und
seelischer Strukturen..." (Maurer 1977, S.477).
119
Maurer 1977, S.477
120
Iser 1984, S.64
121
Ricoeur 1991, S.266
122
Eco 1987, S.67
123
Eco 1987, S.77, siehe auch oben S.12.
124
Siehe Kapitel III.1.1.

21
21
Erwartungen bezieht sich der implizite Leser nicht direkt. Diese
werden vielmehr ver-mittelt durch die Art und Weise der Benutzung
von Strategien, indem diese auf die - vom realen Autor vermuteten -
rezeptiven Fähig-keiten und Dispositionen der realen Leser
abgestimmt
125
werden. Das kann z.B. bedeuten, daß ein Text für die
Art von realen Lesern, auf die die Textstrategien nicht abzielen,
"unlesbar" wird oder "ein ganz anderes Buch"
126
. Genauso verhält es
sich mit der Perspektive des realen Autors, die sich in den
Textstrategien, d.h. "in der Art der Konstitution"
127
des Textes,
manifestiert. Man könnte mit Eco sagen, im impliziten Leser
realisieren sich diese Erwartungen und Perspek-tiven "in einer Reihe
von Textoperationen"
128
, wobei ich eher von einer Reihe von
Textstrategien sprechen würde.
Mein Konzept des impliziten Lesers übergeht bewußt das große
Potential an Leserkonzepten verschiedener Autoren, da diese sich aus
ganz anderen Erkenntnisinteressen als den hier angestrebten begrün-
den. Dazu gehören u.a. Riffaterres Archileser
129
, Fishs informierter
Leser
130
, Wolffs intendierter Leser
131
, ebenso wie die Vorstellung
eines fiktiven idealen Lesers
132
. Allein der fiktive Leser kann in
meiner Theorie eine gewisse Rolle spielen, ist er doch als fiktive
Figur - genauso wie die fiktive Erzählerfigur
133
- Teil der Wirkungs-
125
Siehe dazu etwa in Link 1976, S.63f die Ausführungen über die "esoterische und pädagogische Nichtanerkennung der
Ansprüche des Publikums"(S.63), aus denen folgt, daß der Autor entweder auf seiner Art kommunikativer Strategien
beharrt oder daß er "seine kommunikativen Strategien"(S.63) ändert und sich auf die rezeptiven Fähigkeiten der
Leser einstellt. Siehe auch Aust 1983, S.9/10: "Eine Erwartung... liegt vielmehr dann vor, wenn der Autor die
Sprache, in der er schreibt, deshalb gewählt hat,... weil es um der Verständigung willen sein Wunsch ist, genau in
der Sprache zu schreiben, die seine Leser beherrschen".
126
Eco 1987, S.72
127
Iser 1984, S.61
128
Eco 1987, S.77
129
Dieser soll als Testkonzept und heuristisches Konstrukt "empirisch nachweisbare... Leserreaktionen auf stilistische
stimuli" (in Warning 1975, S.26) erfassen.
130
Dieser beschäftigt sich als Lernkonzept - nach dem Vorbild der transformativen Grammatik - mit der Entwicklung der
Leserkompetenz (siehe Iser 1984, S.60).
131
Dieser meint als Rekonstruktionskonzept den (historischen) Leser, den sich der reale Autor ürsprünglich vorgestellt hat;
dazu können je nach Intention des realen Autors verschiedene Lesertypen gehören, u.a. der exemplarische Leser
(Wolff 1971, S.144), der immanente Leser (S.145), der idealisierte Leser (S.147), der geneigte Leser (S.149) und
der interessierte Leser (S.157).
132
Richter 1996, S.526: "Der implizite Leser ist aber auch nicht ein fiktiver idealer Leser, der bei seiner Lektür alles...
vollständig realisieren könnte."
133
Auch Goetsch (1983, S.200) behandelt die fiktive Leserfigur, stürzt sich allerdings bei der Einordnung von implizitem
Autor und implizitem Leser in alle aufgestellten Fettnäpfe der Personalisierung der Begriffe.

22
22
strategien, d.h. letztlich des impliziten Lesers.
Mein Ansatz zielt darauf ab, die verschiedenen Begriffe metho-
disch aufeinander abzustimmen, um eine Textanalyse zu ermöglichen,
die das Potential möglicher Interpretationen sichtbar macht. Erst
die Textstrategien des impliziten Lesers als unterschiedlich hand-
habbare Textvariablen öffnen den Text auf verschiedene Möglichkeiten
der Konkretisation durch reale Leser.

23
23
2.1.3.
Das Konzept des offenen
Kunstwerkes
"Nommer un objet c'est supprimer les trois quarts de la jouissance
du poème, qui est fait du bonheur de deviner peu à peu: le
suggérer...voila le rève..."
Stéphane Mallarmé
134
Die Textstrategie der Unbestimmtheit, die - als eine Prin-
zessin unter den Textstrategien - eine zentrale Rolle zu spielen
scheint, wird hier vorweggenommen.
Literarisches Schweigen - wie Bellebaum es nennt - kann
unterschiedlich eingesetzt werden, und zwar als "literarisches
Thema, literarisches Gestaltungsmittel, selbstverständlicher
Bestandteil unbeschwerten literarischen Sprachgebrauchs, oder
Ausdruck fundamentaler literarischer Sprachskepsis"
135
.
Im folgenden beleuchte ich diese verschiedenen Facetten und
Funktionen der Katagorie etwas genauer.
Die beiden Theoretiker, die das Modell des offenen Kunstwerkes
bzw. die Kategorie der Unbestimmtheit bekannt gemacht haben, sind
Umberto Eco und Wolfgang Iser. Beide haben, mehr oder weniger unab-
hängig voneinander und auf unterschiedlicher methodischer Basis, ihr
Modell entwickelt. Eco stützt sich auf die Kommunikationstheorie
136
des Linguisten Roman Jakobson. Iser legt die Unbestimmtheitskate-
gorie des Phänomenologen Roman Ingarden zugrunde.
Bei Eco, der als erster eine "Theorie der offenen, ständig
fortschreitenden Sinnkonstitution"
137
entwarf, gilt die Offenheit
weniger als Textstrategie denn als Teil der zentralen Dialektik
eines literarischen Werkes, das sich immer zwischen Offenheit und
Geschlossenheit, Unbestimmtheit und Bestimmtheit bewegt. Er
bezeichnet mit dem Begriff die dialektische Offenheit zwischen
134
Mallarmé (1842-1898), cit. Eco 1977, S.37, von mir frei übersetzt: Einen Gegenstand zu benennen gleicht der Abschaffung
der
drei Arten des Genusses von Dichtung, die das Glück des nach und nach Entdeckens ausmachen: es anzudeuten...macht
den
Traum...
135
Bellebaum 1992, S.165
136
Jacobson verfeinerte darin u.a. des Bühler'sche Kommunikationsmodell.
137
Jauß 1992, S.1002: in Eco 1962, OPERA APERTA, siehe Eco 1977.

24
24
Gesagtem und Nicht-Gesagtem
138
, zwischen Code und Inhalt
139
und damit
letztlich diejenige zwischen Text und Interpretation
140
. Eco bezieht
sich mit dem "hypothetische[n]... Modell"
141
des offenen Kunstwerkes
auf die besondere Struktur
142
fiktionaler Texte, deren Sinn im
Lesevorgang zwischen Konkretisationsfreiheit und Lenkung
143
konstituiert wird. Es heißt bei Anderegg, der fiktive Text sei "ein
Objekt, welches erst in der Kommunikation zu dem wird, was zu sein
es bestimmt ist"
144
. Folglich gibt ein Modell des offenen Kunstwerkes
nicht "eine angeblich objektive Struktur wieder, sondern die Struk-
tur einer Rezeptionsbeziehung"
145
, welche verschiedene Interpreta-
tionen erzeugt. Diese Struktur bewegt sich in einer Dialektik
zwischen Geschlossenheit und Offenheit und deren verschiedenen
Nuancen. Eco unterscheidet drei Intensitätsebenen. Erstens, das
"Kunstwerk... in Bewegung"
146
, das diese Offenheit besonders radikal
ausnutzt.
147
Zweitens, selbstreferentiell geschlossene Werke, die
jedoch - aus einer "Poetik des Andeutens"
148
heraus - "offen" sind
für "ständige Neuknüpfungen von inneren Beziehungen, die der
Rezipieren-de... entdecken und auswählen soll"
149
; dies kann sowohl
auf der Ebene "der unbestimmten Suggestion und der emotiven
Anregung"
150
geschehen als auch auf der Ebene der distanzierten
Verfremdung, die kritische Schlußfolgerungen erfordert
151
. Drittens,
die Spannung zwischen der geschlossenen Selbstreferentialität eines
Werkes und der Offenheit durch die individuelle Perspektive des
138
Eco 1987, S.61/62
139
Eco 1987, S.61
140
Eco 1994, S.29
141
Eco 1977, S.12
142
Eco (1977, S.12) schließt sich hier der Meinung anderer Autoren an, daß die Offenheit in Kunstwerken hauptsächlich eine
"Richtung der modernen Kunst" ist, im Gegensatz zu der geschlosseneren repräsentativen Kunst der vormodernen Zeit.
143
Siehe Kapitel II.1.5..
144
Anderegg 1973, S.97
145
Eco 1977, S.15
146
Eco 1977, S.42
147
Ein besonders radikales literarisches Beispiel ist hierfür Mallarmés unvollendetes LIVRE, das als freies Spiel "von
einzelnen, einfachen, beweglichen und untereinander austauschbaren Blättern" intendiert war, "jedoch so, daß bei
jeder Kombination ein fortlaufendes Lesen sinnvollen Zusammenhang ergeben hätte" (Eco 1977, S.44).
148
Eco 1977, S.37
149
Eco 1977, S.57
150
Eco 1977, S.40
151
Z.B. in Brechts Konzept des epischen Theaters, siehe Eco 1977, S.40/41.

25
25
Rezipienten
152
, auch in Werken die nach einer "ausdrücklichen oder
unausdrücklichen Poetik der Notwendigkeit"
153
produziert wurden.
Eine solche allgemeine Theorie der Offenheit bedeutet für
Iser, der die Offenheit - anknüpfend an Ingarden - Unbestimmtheit
nennt, eine Grundlegung seiner Rezeptionstheorie. Denn ein Text
erhält erst durch prinzipielle Offenheit, bei Iser als pragmatische
Umbestimmtheit bezeichnet, seine literarisch ästhetische Qualität.
Das bedeutet, der fiktionalen Rede fehlt die direkte Referenz auf
eine reale Kommunikationssituation
154
; sie ist "entpragmatisiert"
155
.
Iser bezieht sich dabei durchaus auch auf Ecos Konzept des offenen
Kunstwerkes.
156
Die pragmatische Unbestimmtheit als Selbstreferen-
tialität spiegelt sich in der semantischen, d.h. sie entsteht durch
Unbestimmtheitsstellen - als Strategie fiktionaler Texte - mittels
derer die Vorstellungstätigkeit des Lesers gelenkt werden soll. Die
allgemeine Kategorie der Unbestimmtheit, der bei Ingarden noch eine
metaphysische Qualität anhaftet
157
, wird nun im semantischen Bereich
zur spezifischen Kategorie der Negativität, gesplittet in die zwei
Bereiche der Leerstelle und der Negation.
Leerstellen befinden sich auf der "syntagmatische[n] Achse"
158
des Textes, d.h. sie bezeichnen eine "Kombinationsnotwendigkeit" und
fungieren strategisch als "Gelenke" und "gedachte Scharniere"
159
des
Textes. Eine Leerstelle ist also definiert als "ausgesparte Bezieh-
ung"
160
zwischen den selektierten Normen aus dem Textrepertoire. Sie
fordert den Leser auf, die Textelemente aufeinander zu beziehen und
152
Eco 1977, S.29/30
153
Eco 1977, S.57, siehe auch S.34: "Zugrunde liegt dieser Poetik der Eindeutigkeit und Notwendigkeit ein geordneter
Kosmos,
eine Hierarchie der Wesenheiten und Gesetzmäßigkeiten,... die Ordnung... einer herrscherlichen und theokratischen
Gesellschaft, die Leseregeln... einer autoritären Führung..."; Eco (1987, S.71) bezeichnet die Öffnung eines
solchen ideologisch geschlossenen Textes allerdings als Gewalt, d.h. "eine Art, den Text zu gebrauchen und nicht
sanft und selig sich von ihm gebrauchen zu lassen".
154
Iser 1984, S.104
155
Richter 1996, S.523, siehe auch Iser 1984, S.178.
156
Siehe Iser 1984, S.283.
157
siehe Iser 1984, S.267-80: und zwar metaphysisch insofern als Ingarden die Unbestimmtheitsstellen als Stellen reiner
Komplettierungsnotwendigkeit (S.284) einer metaphysisch vorgeschriebenen adäquaten Konkretisation betrachtet.
158
Iser 1984, S.327
159
Iser 1984, S.284
160
Iser 1984, S.284

26
26
so einen Sinn zu konstituieren
161
. D.h. sie regt den Leser zur
"semantischen Projektion"
162
an.
Im Rekurs auf Iser muß noch gesagt werden, daß die Bezeichnung
der Unbestimmtheitsstelle als "unformulierte Beziehung" oder "aus-
gesparte Anschließbarkeit"
163
sich leider leicht in Vagheit verlieren
kann, so daß sie schließlich nicht mehr bedeutet als das "Fehlen
expliziter Formulierung"
164
. Am Ende ist die Unbestimmtheit dann
selbst nur noch eine unbestimmte Kategorie. Soweit will ich es nicht
kommen lassen. Ich halte es deshalb für angebracht, hier die An-
regungen von Link aufzugreifen
165
, die durchaus zu Recht moniert, daß
"auch all das zur Formulierung" gehören kann, "was für Iser
schlechthin unbestimmt ist, weil es nicht ausdrücklich formuliert
ist"
166
. Link unterscheidet deshalb vier Fälle im Spannungsfeld
zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit
167
: erstens, explizit
formulierte Bestimmtheit; zweitens, unformulierte Unbestimmtheit;
drittens, explizit formulierte Unbestimmtheit; viertens, unformu-
lierte Bestimmtheit. Der erste Fall ist wohl eindeutig. Der zweite
Fall meint intendierte "echte Unbestimmtheit"
168
, wie etwa das
bewußte Erschweren der Rezeption in moderner Literatur
169
. Der dritte
Fall meint "scheinbare Unbestimmtheit"
170
, die erst durch
historischen und kulturellen Abstand oder fehlende Leserkompetenz
171
entsteht
172
, aber auch die - mehr oder weniger irrelevante - Art von
161
Iser 1984, S.349
162
Aust 1983, S.103, siehe auch Iser 1984, S.263.
163
Iser 1984, S.284 und S.302, auch in Iser 1975c, S.326
164
Richter 1996, S.530
165
Links Leistung besteht darin, den Begriff der Unbestimmtheit differenziert zu haben (Link 1973, S.545/46).
Mißverständnisse treten bei ihr dadurch auf, daß sie sich zu stark auf eine angeblich leicht entschlüsselbare
Absicht des realen Autors stützt.
166
Link 1973, S.544
167
Link 1973, S.545/56
168
Link 1973, S.581
169
Link 1973, S.566/573-76, siehe auch S.581: Diese Art von Unbestimmtheit ist "prinzipiell unentschlüsselbar", ebenso bei
Stierle 1975c, S.377: Solche Texte "lassen sich nicht mehr referentiell auflösen, sondern nur noch dann in ihrer
Bedeutung erfassen, wenn die referentielle Offenheit als Horizont einer thematischen syntaktisch-formalen
Organisation
erscheint".
170
Link 1973, S.580
171
Link 1973, S.557/58, 563 und 579/80
172
In diesem Fall kann es auch passieren, daß ein Leser, der mit dem ursprünglichen nicht mehr kongruent ist, "ursprünglich
vorhandene Bestimmtheiten in andere Bestimmtheiten verwandelt" (Link 1973, S.565).

27
27
Unbestimmtheit, wie sie in jeder Form von Kommunikation vorkommt,
bei Lotman be-zeichnet als das "Rauschen, das Information
verschlingt"
173
. Der vierte Fall meint Unbestimmtheiten, die auf
etwas allgemein Bekann-tes bezogen sind; diese Art von Bestimmtheit
kann sich durch historisch kulturellen Abstand zu der im dritten
Fall angesprochenen Unbestimmtheit wandeln.
Die Negation erzeugt "dynamische Leerstelle[n] auf der para-
digmatischen Achse" des Textes. Die in der Selektion der Textele-
mente gewählten Normen werden "aus ihrem ursprünglichen Funktions-
zusammenhang herausgelöst und in einen anderen Kontext hineinver-
setzt". Als gestrichene Geltung markiert die Negation so "eine Leer-
stelle in der selektierten Norm"
174
und erzeugt eine Spannung, die
das Verhältnis zwischen selektierten Normen und Kontexten
problemati-siert und den Leser auffordert, Ursache und Lösung dieses
Ungleich-gewichtes
175
zu formulieren.
Leerstellen und Negationen beziehen also "durch Aussparung und
Aufhebung nahezu alle Formulierungen des Textes auf einen unformu-
lierten Horizont"
176
. In der Negativität wird so das Formulierte des
Textes "modalisiert"
177
. Die Leerstelle als formaler
178
Aspekt und die
Negation als inhaltlicher
179
Aspekt machen zusammen den
kommunikativen Aspekt
180
der Negativität aus, durch den das "noch
Unbegriffene"
181
markiert wird und einen Bezug zwischen Text und
Leser herstellt. Negativität wirkt so als Reizsignal, das dem Leser
eine Aktivität aufbürdet.
182
Ausgesparte Anschlüsse können "in
nuancierter, viel-leicht sogar in verschiedener Weise"
183
hergestellt
173
Jurij M. Lotman, zitiert nach Link 1973, S.578; Zu dieser Art Unbestimmtheit zähle ich auch aus Nachlässigkeit
entstandene
"Unklarheiten" (Booth' 1974, Bd.II, S.40, im Rahmen seiner Ausführungen über die "Verwendungsformen auktorialen
Schweigens" (Bd.II, S.7)).
174
Iser 1984, S.328
175
Iser 1984, S.351
176
Iser 1984, S.348
177
Iser 1984, S.348
178
Iser 1984, S.349/50
179
Iser 1984, S.350-53
180
Iser 1984, S.353-55
181
Iser 1984, S.353, siehe auch Iser 1972, S.325.
182
Iser 1972, S.317
183
Iser 1975a, S.259

28
28
werden. Die Negativität erzeugt eine "Dialektik von Zeigen und
Verschweigen"
184
, durch den ein Kommunikationsprozeß in Gang gesetzt
wird. Eben daher nimmt die Strategie der Unbestimmtheit ihren
berechtigten Anspruch, eine der zentralen Textstrategien zu sein.
Ich sehe in ihr jedoch nicht - wie Iser - d i e zentrale Strategie
als "Orientierungs-rahmen"
185
textlicher Wirkungsstruktur, sondern -
wie im folgenden noch zu sehen sein wird - eine wichtige Strategie
neben anderen
186
. Mit den anderen Strategien hat sie gemein, daß
konkrete Aussagen über sie - wie jede Aussage über einen Text - "das
Weltwissen des Interpreten ins Spiel"
187
bringen und deshalb nur als
Struktur von Möglichkeiten analysiert werden können.
184
Iser 1984, S.265, siehe auch Warning 1988, S.32 zu Iser: "Die... Unbestimmtheit kann freilich ihre Appellwirkung nur in
dem Maße entfalten, wie sie für den Leser beziehbar bleibt auf einen Hintergrund des Vertrauten".
185
Iser 1975c, S.333, siehe auch Stierle 1975c, S.370/71, der das "Ungleichgewicht zwischen Bestimmtheit und
Unbestimmtheit"
als "Relevanzfigur" sogar mit dem impliziten Leser gleichzusetzen sucht.
186
Siehe auch Link 1973, S.577.
187
Richter 1996, S.530

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
1997
ISBN (eBook)
9783832480233
ISBN (Paperback)
9783838680231
Dateigröße
608 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Christian-Albrechts-Universität Kiel – Philosophische Fakultät
Note
2
Schlagworte
rezeptionsästhetik wirkungsstrategie interpretation literaturkritik literatur
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Titel: Rollenspiele zwischen Autor, Text und Leser
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