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Apologie der Zwischenzustände

Das Geschlechterverhältnis bei Robert Walser

©2002 Diplomarbeit 122 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Obgleich der Schweizer Schriftsteller Robert Walser in der germanistischen Forschungsliteratur seit den 60er und 70er Jahren vermehrt behandelt wird, gehört er bis heute zu den am wenigsten gelesenen großen Schriftstellern der Moderne. Während Autoren wie Thomas Mann, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler oder Rainer Maria Rilke die ‚Erfolgsliteratur’ der Jahrhundertwende entscheidend bestimmten, wird Walser mit seiner eigenwilligen Kurzprosa, seinen kleinen, aus dem Alltag entnommenen Sujets und seinem arabesken und digressiven Stil schon früh zum literarischen Außenseiter. Seine Protagonisten sind Vagabunden, Schelme und rebellische Dienerfiguren, die die entfremdeten Arbeitsverhältnisse und den Traum vom selbstbestimmten Künstlerdasein demaskieren und sich als soziale Grenzgänger erweisen.
Auch das Motiv der Liebe ist bei Robert Walser von Grenzüberschreitungen bestimmt. Es spielt nicht nur in unzähligen Prosastücken, Dramoletten und Gedichten eine tragende Rolle, sondern durchzieht auch seine vier Romane. Da es bis heute keine Einzeluntersuchung zum Liebesdiskurs in Walsers Werk gibt, beschäftigt sich die vorliegende Arbeit in detaillierter Analyse mit seinen Konstellationen des Begehrens. Dabei dient – ausgehend von der zeitgleich entstandenen Psychoanalyse Freuds – das bürgerliche Familiendreieck als Ausgangspunkt für die Interpretation der Geschlechterbeziehungen. Neben Thesen von Sigmund Freud und Jacques Lacan werden auch Michel Foucaults Überlegungen zur Entstehung der bürgerlichen Sexualität herangezogen.
Um Walsers Auseinandersetzung mit dem Motiv der Liebe im literarischen Kontext seiner Zeit zu verorten, wird zunächst das Geschlechterverhältnis in zentralen Texten der Jahrhundertwende untersucht. Bei den exemplarisch behandelten Autoren Frank Wedekind, Arthur Schnitzler und Thomas Mann kann trotz Kritik an der bürgerlicher Prüderie und an traditionellen zwischengeschlechtlichen Beziehungen eine weitgehend dichotome Aufspaltung von männlichen und weiblichen Seinsbereichen festgestellt werden. Im Gegensatz dazu brechen Walsers Figuren jene scharfe Grenzziehung auf, lassen die Trennlinien verschwimmen und zeigen Möglichkeiten des flexiblen Rollenwechsels zwischen den Geschlechtern.
In der zwischen 1907 und 1909 erschienenen Berliner Romantrias „Geschwister Tanner”, „Der Gehülfe” und „Jakob von Gunten” kristallisiert sich die oszillierende Eigenart der von Walser entworfenen Frauen- und Männerbilder heraus. […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

I Einleitung

II Das Geschlechterverhältnis zur Zeit der Jahrhundertwende
II.1 Die Entwicklung des Geschlechterverhältnisses im 19. Jahrhundert
II.1.1 Polarisierung der Geschlechter
II.1.2 Regulierung der Sexualität
II.2 Drei literarische Beispiele zum Geschlechterverhältnis um
II.2.1 Frank Wedekind: Die Utopie einer ursprünglichen Sexualität
II.2.2 Arthur Schnitzler: Der unzulängliche Liebescode
II.2.3 Thomas Mann: Chiffrierte Homoerotik
II.3 Fazit: Das dichotome Denken

III Robert Walsers Berliner Romane
III.1 Die Familie als Urzelle zwischengeschlechtlicher Beziehungen
III.1.1 Mutter-Kind-Dyade
III.1.2 Vater-Mutter-Kind-Triade
III.2 „Geschwister Tanner“
III.2.1 Die Leerstelle des Vaters
III.2.1.1 Vater Tanner
III.2.1.2 Vaterersatz-Figuren
III.2.1.3 Bruderliebe und Homoerotik
III.2.2 Das unerreichbare Urbild der Mutter
III.2.2.1 Mutter Tanner
III.2.2.2 Schwester Hedwig
III.2.2.3 Klara
III.2.2.4 Die Herrin
III.2.2.5 Die Direktorin
III.2.3 Fazit: Zwischen Begehren und Identifikation
III.3 „Der Gehülfe“
III.3.1 Die bürgerliche Familie im Spannungsfeld von Sexualität und Hygiene
III.3.2 Herr Tobler: Vater, Herr und Gleichgesinnter
III.3.3 Frau Tobler
III.3.3.1 Verbotene und imaginär überformte Frau
III.3.3.2 Von erotischer Distanz zu familiärer Vertrautheit
III.3.4 Fazit: Wanderer zwischen den Geschlechtern
III.4 „Jakob von Gunten“
III.4.1 Hetero- und Homoerotik
III.4.2 Fräulein Benjamenta
III.4.3 Herr Benjamenta
III.4.4 Fazit: Zwischen Größen-Ich und Kleinheits-Ideal

IV Robert Walsers Mikrogramm-Roman „Der Räuber“ 90
IV.1 Institutionalisiertes Geschlechterverhältnis
IV.2 Experimentierfeld der Liebe
IV.2.1 Die Witwe und Selma
IV.2.2 Wanda und Edith
IV.3 Fazit: Mobilität statt Fixierung

V Schluss

VI Literaturverzeichnis
VI.1 Primärliteratur
VI.2 Sekundärliteratur
VI.2.1 Jahrhundertwende
VI.2.2 Liebe und Geschlechterverhältnis
VI.2.3 Zu Robert Walser

I Einleitung

Anknüpfend an Walter Benjamins Formulierung, dass bei Robert Walser „alles, was er zu sagen hat, gegen die Bedeutung des Schreibens völlig zurücktritt”,[1] konstatiert auch Rodewald ein „poetische[s] Prinzip der Destruktion” in Walsers Prosa, das einer „Vernichtung alles Thematischen” gleichkomme.[2] Die hier festgestellte Intransitivität des Walserschen Schreibens impliziert, dass eine Analyse von inhaltlichen Aspekten letztendlich seine Texte verfehle. Die Forschungsliteratur, die seit der ersten, von Carl Seelig zusammengestellten Gesamtausgabe[3] des lange verkannten Schweizer Schriftstellers erschien, versammelt jedoch neben zahlreichen Untersuchungen zu Sprachstil und Gattung, Poetik und Erzählstruktur auch eine nicht geringe Anzahl von Titeln, die sich zentralen Themenkomplexen widmen. Die auffällige Redundanz einiger Motive[4] in Walsers Werk legt eine thematische Annäherung durchaus nahe, zumal sprachliche und inhaltliche Analyse sich keineswegs ausschließen müssen, sondern produktiv erhellen können, wie beispielsweise Studien zur Figur des Flaneurs[5] oder des Rollenspielers[6] zeigen. Obgleich Walser das Motiv der Liebe nicht nur in allen Romanen, sondern in unzähligen Prosastücken, Dramoletten und Gedichten verarbeitet hat, obgleich eine Anthologie mit einer Auswahl seiner „Liebesgeschichten” erschien,[7] gibt es meines Wissens keine Einzeluntersuchung zum Liebesdiskurs und Geschlechterverhältnis in seinem Werk. Zwar gehen viele AutorInnen im Rahmen einer allgemeinen Textinterpretation auch auf die Konstellation und Interaktion der Figuren ein,[8] doch werden von den komplexen Beziehungsmustern selten mehr als einzelne Facetten beleuchtet. Eine größere Rolle spielen Liebesbeziehungen in den Untersuchungen von Pia Reinacher[9] und Anton Fischer[10], wobei beide auf sehr unterschiedliche Weise „Walsers Sprache der Liebe”[11] dekodieren und systematisieren. Während Reinacher das Geschlechterverhältnis unter dem Aspekt der vestimentären Ordnung fokussiert, versucht Fischer dem „Liebesverhalten” mit Hilfe des soziologischen Rollenbegriffs und des Begriffs der Rebellion beizukommen. Dass es sich bei Walsers Konstellationen des Begehrens keineswegs um einen völlig eigenständigen „Privatcode” handelt, der nur textimmanent auf seine „eigenen Normen und Gesetzmäßigkeiten”[12] hin untersucht werden kann, zeigt die frühe Studie Nagi Naguibs.[13] Vor dem Hintergrund der Psychoanalyse stellt Naguib ein Grundmuster der zwischengeschlechtlichen Beziehungen fest, das auf einer „unaufgelöste[n] Gefühlsbindung an die Mutter” basiere. Leider scheint die plausible Anwendung der etwa zeitgleich mit Walsers Texten entstandenen Erkenntnisse Freuds nicht nur bei Naguib zu einer nachträglichen Psychoanalyse des Autors selbst zu verführen.[14] Ohne den unfruchtbaren Umweg über Robert Walsers Biografie einzuschlagen, soll im Folgenden bei der Interpretation seiner Texte auf psychoanalytische Modelle von Freud und Lacan zurückgegriffen werden, um wiederkehrende Figurenkonstellationen zu erklären. Im Rahmen dieser Arbeit wird der Blick in erster Linie auf die vier Romane Walsers gerichtet. Von der zwischen 1907 und 1909 erschienenen Berliner Romantrias „Geschwister Tanner”, „Der Gehülfe” und „Jakob von Gunten” bis zum 1925 verfassten Mikrogramm-Roman „Der Räuber” lassen sich einige Entwicklungen und Schwerpunkte des Walserschen Liebesdiskurses aufzeigen, die auch in den hier nicht näher behandelten Prosastücken wiedergefunden werden können. Um Walsers Auseinandersetzung mit dem Motiv der Liebe im literarischen Kontext seiner Zeit zu verorten, geht der Analyse seiner Romane ein Kapitel voraus, in dem die Thematisierung des Geschlechterverhältnisses bei Frank Wedekind, Arthur Schnitzler und Thomas Mann beleuchtet wird.

Der Titel „Apologie der Zwischenzustände” formuliert das Interesse der Arbeit an jenem Element der Bewegung, das schon von vielen Seiten als Charakteristikum von Walsers Schreiben erkannt wurde: Seine flanierenden und wandernden Figuren verkörpern ebenso wie sein digressiver Schreibstil die Tendenz, Festschreibungen zu vermeiden. „Welches Begehren artikuliert sich im Beharren auf einem Zwischen der Zustände, Zwischen der Einstellungen...?”[15] Diese Frage soll im Folgenden in Bezug auf die Darstellung von Liebe und Sexualität gestellt werden. Der Begriff der „Apologie” darf hier nicht als streng rhetorische Verteidigungsrede verstanden werden, sondern als Möglichkeit, eine Existenz zwischen den anerkannten Codes und am Rande sozialer Normen immer wieder aufs Neue zu legitimieren, indem ihr in der Literatur ein Artikulationsraum geschaffen wird. Nicht nur für manch einen der Walserschen Protagonisten trifft die Feststellung zu, „daß er in nicht endenwollenden Sprachtiraden immer wieder aufs neue seine Lebensform zu rechtfertigen sucht”,[16] sondern sie kann auch auf den Autor selbst und dessen schriftstellerische „Desperadostimmung”[17] bezogen werden. Erwägt man die Frage Elias Canettis nach der Scham jener Akademiker, die sich mit Robert Walser beschäftigen,[18] oder das Schlusswort Daniela Mohrs, in welchem sie sich von ihrer überzeugenden Studie zu distanzieren scheint,[19] so gewinnt man fast den Eindruck, dass auch diejenigen, die über Walser schreiben, unter einem besonderen Legitimationsdruck stehen. Die folgende Untersuchung wurde in der Überzeugung verfasst, dass eine literaturwissenschaftliche Arbeit die Komplexität eines Textes zwar nie ganz zu erfassen vermag, aber auch nicht das Vergnügen des Lesens beeinträchtigen kann.

II Das Geschlechterverhältnis zur Zeit der Jahrhundertwende

II.1 Die Entwicklung des Geschlechterverhältnisses im 19. Jahrhundert

Die ökonomischen, politischen und sozialen Veränderungen, die den Verlauf des 19. Jahrhunderts entscheidend prägten, führten gegen die Jahrhundertwende zu jener „bürgerlichen Sinnkrise”,[20] die sich in vielen Diskursen äußerte. Gerade auch das Geschlechterverhältnis geriet in den Fokus des Interesses: Die Frage nach der Beziehung der Geschlechter untereinander und nach ihrer Stellung in der Gesellschaft schlug sich nicht nur in der neu entstehenden Sexualwissenschaft und Psychoanalyse nieder, sondern spiegelte sich besonders auch in der Literatur. Bevor auf einige exemplarische literarische Texte eingegangen wird, soll kurz die Entwicklung skizziert werden, die zu jener Struktur der bürgerlichen Familie führte, in der „die Sexualität ihre bevorzugte Brutstätte hat[te]”.[21]

II.1.1 Polarisierung der Geschlechter

Das Modell der Allianz, das Jahrhunderte lang die Verbindung von Männern und Frauen und das genealogische System reguliert hatte, war schon seit dem 18. Jahrhundert mehr und mehr vom Regelmechanismus der Sexualität überlagert worden. Emotion und Lust wurden vor allem vom Bürgertum als zentrale Aspekte der zwischengeschlechtlichen Beziehung kultiviert und gehütet. Die Vorstellung von einer Liebesheirat und die Idealisierung einer wechselseitigen Ergänzung der Geschlechter stand jedoch in schroffem Gegensatz zu dem sich verringernden gemeinsamen Erlebensbereich von Männern und Frauen. Die Ausdifferenzierung des kapitalistischen Arbeitsmarktes und die Reduzierung der zum Haus gehörenden Mitglieder hatte das vormoderne Modell des ‚Ganzen Hauses’ verdrängt. Während der Tätigkeitsbereich der Männer sich in dem entstehenden arbeitsteiligen Marktsystem noch stärker in die gesellschaftliche Öffentlichkeit verlagerte, blieben die Frauen an die private Sphäre des ‚Heims’ gebunden.. Die symbolische Annäherung des deutschen Bürgertums an die Aristokratie, mit der es die fehlende politische Macht zu kompensieren suchte, führte zum Anspruch einer luxuriösen Lebenshaltung. Um dieser gerecht zu werden, gab die bürgerliche Frau, deren traditionelles Arbeitsfeld der Haus- und Vorratswirtschaft sich im kapitalistischen System erheblich reduziert hatte, verbliebene Hausarbeiten so weit als möglich an Dienstpersonal ab.[22] Ihre Rolle beschränkte sich auf die Funktion der Repräsentation, der Reproduktion und der Reanimation des heimkehrenden Mannes: „An der Schwelle dieses Hauses aber steht die Frau. Ich weiß wohl, was ich dort von ihr erwarte; ich weiß, daß ihre weiche Hand mir die Stirne glättet und ihre freundlichen Worte wie frische Thautropfen auf die Mühen des Tages fallen [...], und wenn der starke, der arbeitsmüde Mann und sein Erfolg der Stolz des Hauses ist, so darf ich wohl sagen, daß die freundliche Frau der Schmuck desselben ist.”[23]

Der Ausschluss der Frauen vom öffentlichen Raum und die Verweigerung ihrer Teilhabe an der symbolischen Ordnung wurde im allgemeinen mit biologistischen und essentialistischen Argumenten begründet, die die weibliche Gebärfähigkeit mit Emotionalität und Naturhaftigkeit koppelten und im Gegenzug Vernunft und Kultur den Männern zuschrieben. Bis zu welchem Ausmaß die Polarisierung der Geschlechterbilder hinsichtlich privater und öffentlicher, emotionaler und rationaler Sphäre betrieben wurde, zeigt Otto Weiningers 1903 erschienener Band „Geschlecht und Charakter”, in dem Männlichkeit mit Geist und genialischen Bewusstsein, Weiblichkeit dagegen mit dem Sexuellen, dem Unbewusstem und schließlich mit dem Negativen per se gleichgesetzt wird: „Die Frauen haben keine Existenz und keine Essenz, sie sind nicht, sie sind nichts. Man ist Mann oder man ist Weib, je nachdem ob man wer ist oder nicht.”[24]

Das ‚Ergänzungsmodell’, das Öffentlichkeit und Privatraum, Ratio und Emotion, Mann und Frau komplementär aufeinander zu beziehen suchte, wird hier deutlich als asymmetrisches Modell erkennbar: „Die scheinbare Andersheit der Frau oder des Weiblichen ist im Grunde nur das komplementäre Negativ, die Kehrseite oder der Spiegel des männlich positiv Sichtbaren, und ihre Funktion besteht darin, die Identität einer fiktiven männlichen Einheit immer wieder aufs Neue zu gewährleisten und abzusichern.”[25] Die immer schärfer gezogene Demarkationslinie zwischen Männern und Frauen und die Spannung zwischen Rollenerwartung und -erfüllung führte um 1900 zu wachsender Unzufriedenheit und kritischer Reflexion. Die Suche nach alternativen Lebens- und Liebesformen brachte eine Reihe von Reformbewegungen hervor, die unter anderem mit Emanzipationsvereinen, Künstlerkolonien, Reformpädagogik und Freikörperkultur vom Wunsch nach Veränderungen im zwischengeschlechtlichen Verhältnis zeugten.

II.1.2 Regulierung der Sexualität

„Die Krise der Geschlechtsrollenmuster und der bürgerlichen Familie war vor allem auch eine Krise der Sexualmoral.”[26] Die im 19. Jahrhundert stattfindende „zunehmende Codierung von Lust als Sexualität”[27] fand ihren Niederschlag in einer neu entstehenden scientia sexualis, die Körper und Begehren zu erforschen und zu verwalten suchte. Paolo Mantegazza[28], Richard von Krafft-Ebing[29], Havelock Ellis[30] nahmen es in ihren Untersuchungen vor, eine normierte Sexualität von anderen Formen sexuellen Verhaltens abzugrenzen und letztere zu kategorisieren und zu pathologisieren. Mit der Benennung von ‚Perversionen’ erschien der Sex als bedrohliches Phänomen, das die Inquisition, der man ihn unterwarf, vice versa rechtfertigte. Mit der Spezifizierung von Perversen, der Regulierung der Bevölkerung, der Sexualisierung des Kindes und der Hysterisierung der Frau wurde Foucault zufolge die Sexualität als private und gesellschaftliche Triebkraft zu etabliert und gleichzeitig diskursiv gezähmt.[31]

Die „affektive Intensivierung des Familienraumes”[32] führte dazu, dass vor allem die bürgerliche Familie zu einem „Ort sexueller Kontrolle und Sättigung” wurde. Nicht zuletzt erhöhte die Emotionalisierung der innerfamiliären Beziehungen auch die Gefahr des Inzests, die man durch ein komplexes System von Ge- und Verboten zu kanalisieren suchte. Vor allem wurde im 19. Jahrhundert „die Sexualität der Kinder und Heranwachsenden zum ersten Mal problematisiert”.[33] Die Relevanz, die dem Sex und seinen Auswirkungen auf den Körper beigemessen wurde, führte zu Restriktionen, die die kindliche Sexualität, unter anderem die Masturbation, pathologisierte. Die Doppelung von Kultivierung und Tabuierung des Sexes erschuf jene charakteristische Doppelmoral, die das Bürgertum der Jahrhundertwende prägte: „In Wirklichkeit steigerte und verschwülte nichts unsere Neugier dermaßen wie jene ungeschickte Technik des Verbergens; und da man dem Natürlichen nicht frei und offen seinen Lauf lassen wollte, schuf sich die Neugier [...] ihre unterirdischen und meist nicht sehr sauberen Abflüsse.”[34] Diese Struktur der offenen und verdeckten Sexualität galt jedoch für männliche und weibliche Jugendliche nicht gleichermaßen. Während die Gesellschaft „bei den jungen Männern ein Auge zukniff und sie mit dem andern sogar zwinkernd ermutigte‚sich die Hörner abzulaufen’ [...], schloß sie den Frauen gegenüber beide Augen und stellte sich blind.”[35] Bei den Männern wurde die tolerierte Grauzone von Prostitution und Liebschaften streng von der Sexualität in der Ehe getrennt, die hauptsächlich zum Sichern der Nachkommenschaft diente. Die unterschiedliche Wertung der Verlobten oder Gattin auf der einen, der Geliebten oder Prostituierten auf der anderen Seite trug stark zu jenem Doppelbild des ‚Weiblichen’ bei, das viele Texte der Jahrhundertwende prägt. Ob es sich um die zur asexuellen Heiligen stilisierte Mutter oder um die willige Hure handelt, in beiden Fällen wird die Funktionalisierung des weiblichen Geschlechts deutlich. Während bei männlichen Jugendlichen die Sammlung von vorehelichen sexuellen Erfahrungen bestärkt wurde, wurde den jugendlichen Frauen jegliche Libido abgesprochen: „die weibliche Sexualität [war] mit Hilfe medizinischer, biologischer und moralischer Argumente gänzlich wegzudefinieren versucht worden”.[36] Das bevorzugte Erziehungsmodell, das das Mädchen dem Ehemann nicht nur körperlich, sondern auch geistig jungfräulich zuführen sollte, hatte zur Folge, dass für viele Frauen eine sexuelle Aufklärung erst in der Hochzeitsnacht erfolgte. „Der Altar des unbekannten Gottes stürzt zusammen und an die Stelle des Idols tritt das Bild eines verzerrten Scheusals und das ist der Mann, ihr Mann – jeder Mann ohne Ausnahme.”[37] Das paradoxe Bild einer entsexualisierten, aber zur Erfüllung der ‚ehelichen Pflichten’ jederzeit verfügbaren Frau führte auf weiblicher Seite zu defensiven und aggressiven Reaktionen. Die Übererfüllung der weiblichen Rolle und eine mit der geforderten Tugendhaftigkeit einhergehende Totalverweigerung sexueller Kontakte oder der Rückzug in die ‚hysterische’ Krankheit stellten gängige Auswege aus dem Dilemma der Rollenerwartungen dar. „Sie hielten sich an die Regeln, doch indem sie diese bis ins Extrem befolgten oder sich ihrer als Rechtfertigung bedienten, gelang es ihnen, ungestraft häusliche Pflichten zu verweigern [...] ob Leiden oder List – unter dem Schutz der ärztlichen Diagnose entwanden sich nicht wenige Frauen den Fesseln ihrer Familie und artikulierten in der Sprache der Hysterie ihre Unzufriedenheit, Überforderung und Aggression.”[38] Die Hysterisierung der Frau resultiert aus einer widersprüchlichen Definition des weiblichen Körpers als ent- bzw. übersexualisiertem Ort, wo sich das „Spiel des Sexes” als „Grund und Mangel” gleichzeitig manifestiert.[39] Vor diesem Hintergrund entstehen die Kippbilder zwischen femme fragile und femme fatale, jene charakteristischen Projektionen der Jahrhundertwende, die sich wechselweise mit Faszination und Bedrohung aufladen ließen.

II.2 Drei literarische Beispiele zum Geschlechterverhältnis um 1900

In allen literarischen Strömungen der Jahrhundertwende, vom Naturalismus bis zum Symbolismus, lassen sich Texte über das Verhältnis zwischen den Geschlechtern finden. Im Folgenden beschränke ich mich mit Texten von drei Autoren der ‚Höhenkamm’-Literatur, nämlich Frank Wedekind, Arthur Schnitzler und Thomas Mann, auf repräsentative ‚Knotenpunkte’ im komplexen literarischen Netzwerk um 1900. Dabei sollen drei Annäherungen an die Thematik von Liebe und Sexualität herausgearbeitet werden, die exemplarische Positionen markieren. Die Kritik an der bürgerlichen Reglementierung der Sexualität ist allen Texten ablesbar, wird jedoch unterschiedlich akzentuiert.

II.2.1 Frank Wedekind: Die Utopie einer ursprünglichen Sexualität

Die zentralen Texte Wedekinds denunzieren die bürgerliche Prüderie, wenden sich gegen die offizielle Ausgrenzung und Zähmung von Sexualität und rücken die Tabuzone des sexuellen Begehrens ins Zentrum der Betrachtung. Kritik an der repressiven Doppelmoral des Bürgertums wird im 1891 erschienenen Drama „Frühlings Erwachen” anhand der Artikulation von sexuellen Wünschen und Erlebnissen Jugendlicher in Szene gesetzt, die am Unverständnis und an der Ablehnung der Erwachsenenwelt zugrunde gehen. Der provokative Effekt, der hier unter anderem durch die Diskursivierung von Tabuthemen wie Onanie und Flagellation erzeugt wird, wird in anderen Texten durch pornographische Techniken herzustellen versucht. So werden die Leser der Erzählung „Mine-Haha oder Über die körperliche Erziehung junger Mädchen” (1903) zu einem voyeuristischen Schauspiel eingeladen und zur Projektion sexueller Fantasien herausgefordert: „Als Objekt der Schaulust vor dem männlichen Publikum auf Augenhöhe gehoben, wird das auch sprachlich unberührte weibliche Genitale zum Phantasma des Obszönen, des Tabubruchs.”[40] In den beiden Lulu-Dramen „Erdgeist” (1895) und „Die Büchse der Pandora” (1902)[41] werden die Themen der bürgerlichen Doppelmoral und des voyeuristischen Blicks gekoppelt. Die Publikationsgeschichte des Doppeldramas, das zahlreichen (Selbst)Zensurmaßnahmen unterworfen wurde, verdeutlicht, dass Wedekind einen ‚wunden Punkt’ der damaligen Gesellschaft berührte. Den teilweise bis zur Karikatur typisierten männlichen Repräsentanten der bürgerlichen Welt wird die weibliche Hauptfigur Lulu gegenüber gestellt. Lulus Name deutet in seiner „atavistischen, vormenschlichen Lautbildung”[42] auf eine Sphäre jenseits der bürgerlichen Welt; sie stammt aus der ‚Gosse’, einem undifferenzierten Bereich außerhalb der von Verboten und Normen regulierten Gesellschaft. Während den Männern Nachname und Beruf und damit ein sozial legitimierter Platz zugeordnet ist, beschränkt sich die Legitimation Lulus auf ihre sexuelle Ausstrahlung, auf ihren Körper, mit dessen Hilfe sie sich einen Platz innerhalb des Systems erkauft. Als Handlungsmöglichkeit verbleibt ihr allein das Ausspielen ihrer erotischen Reize mittels Mode, Pose und Tanz. Doch meist agiert Lulu nicht, sondern reagiert nur; in der ihr vom Autor zugeordneten, nicht selten tautologisch organisierten Rede artikuliert sich kein eigenes Begehren, sondern wird das Begehren der Männer gespiegelt: „Ich habe nie in der Welt etwas anderes scheinen wollen, als wofür man mich genommen hat, und man hat mich nie in der Welt für etwas anderes genommen, als was ich bin.”[43] Lulus Figur changiert zwischen kindlicher Naivität und erotischer Zügellosigkeit, zwischen vorweltlicher Unschuld und futuristischer Freizügigkeit, und wird damit an einen Ort gebunden, der jenseits der symbolischen Ordnung liegt.[44] Damit stilisiert Wedekind Lulu zu einem Ideal weiblicher erotischer Ganzheitlichkeit, zu einem Urprinzip jenseits sozialer Realität. Der dadurch ausgelöste Mechanismus des unaufhörlichen Projizierens wird im Drama selbst anschaulich vorgeführt.[45] Der Maler Schwarz sieht in Lulu seine Muse, der einflussreiche Schön die janusköpfige Kindfrau und Bestie, sein Sohn Alwa sublimiert sein Begehren durch künstlerische (Über-)Formung der Lulu-Figur in Tanz- und Theaterstücken, der Graf Escerny erblickt die ideale Gattin, der Prinz Casti-Piani die Luxus-Prostituierte. Diese Projektionen bestärken Lulus „Ausbürgerung aus der Realität in die imaginierte Weiblichkeit”.[46] Wedekinds Suche nach einer ‚unverfälschten’ weiblichen Sexualität beschränkt sich auf die positive Umdeutung konventionell negativ besetzter Stereotypen: Die mythischen Frauenfiguren Lilith, Eva und Pandora werden in Lulu aufgerufen und zu einer ursprünglichen und freien Verkörperung von Sexualität umgewertet. Lulu kann – interpretiert man sie innerhalb des von Wedekind abgesteckten Kosmos von Lustbejahung versus Lustfeindlichkeit[47] – als utopisches ‚Prinzip’ gelesen werden, als die Inkarnation eines befreiten Sexus, als Vertreterin einer selbstbestimmten Hetärenkultur, für die die verklemmte Gesellschaft noch nicht bereit sei: „Mit dem Einbrechen der Hetäre Lulu in die bürgerliche Gesellschaft beginnt ihre Passion. Es nimmt ein Leidensweg seinen Anfang, der schließlich tödlich endet, und der den Prozeß der Unterdrückung widerspiegelt, den Erotik innerhalb des Christentums und damit auch innerhalb unserer Gesellschaft erfährt.”[48] Das weibliche Geschlecht, auf das die metaphorische Formulierung „Büchse der Pandora” verweist, bleibt aber bis zuletzt die unbekannte Leerstelle, um die das Denken und Handeln aller Figuren kreist, ohne ihrer habhaft werden zu können. Die groteske letzte Szene des Dramas, in der Jack die herausgeschnittenen Geschlechtsorgane Lulus in Händen hält, markiert die Hilflosigkeit gegenüber der weiblichen Sexualität, die jenseits von Bildern und Projektionen nur in ihrer kruden Fleischlichkeit ergriffen und präsentiert werden kann. Die „Separation”, die Jack an Lulu vornimmt, kann durchaus als Pendant zur Freudschen Kastration interpretiert werden: Nicht das männliche, sondern das weibliche Geschlechtsorgan wird hier am eigenen Körper vermisst und damit zu einem Objekt, das sowohl eine Bedrohung darstellt als auch Begehren erzeugt: „Das männliche Sexualgeschlecht ist bedroht, nicht weil es auf Seiten der Frau verloren ging, sondern weil es dort nie war. Dort, wo der Phallus nie war, ist immer schon jenes ‚etwas’ gewesen, das Schwarz und Lulu in ihrem Dialog umkreisen.”[49]

Unter der Oberfläche einer progressiv wirkenden Lustbejahung zeigt sich bei Wedekind die Konstruktion eines reaktionären Geschlechterverhältnisses, das die Frau als stumme Repräsentantin von Sexualität wieder erfindet. Die Macht, die der weiblichen Sexualität zugesprochen wird, funktioniert nur über den Verlust von Vernunft, sozialer Einbindung und selbständiger Artikulation. Die Frau wird in einem Maskenspiel von mythischen Klischees und utopischen Bildern[50] eingefroren. Dieser Mechanismus des ‚Einfrierens’ wird gegen Ende des Dramas anschaulich vorgeführt, wenn Alwa den Verfall der gealterten Lulu verdrängt, indem er ihr das favorisierte Pierrot-Portrait gegenüberstellt. Die reduzierenden Projektionsmechanismen der männlichen Figuren werden von Wedekind zwar ausgestellt, doch bleibt es letztendlich von der Inszenierung abhängig, ”whether the individual production is aimed at titillating a voyeuristic audience for whom Lulu is a sexy femme fatale or at unmasking the sexual exploitation of women”.[51]

Während Wedekind gegen die Tabuisierung von Lust anschreibt, bleibt er der scharfen Polarisierung der Geschlechter verhaftet. Anschaulich wird dies unter anderem in der Charakterisierung der lesbischen Gräfin Geschwitz, deren hybride Sexualität sie komplett aus der menschlichen Gesellschaft ausschließt: „Du bist im Leib deiner Mutter nicht ganz fertig geworden, weder als Weib noch als Mann. Du bist kein Mensch wie wir anderen. Für einen Mann war der vorhandene Stoff nicht ausreichend, und zum Weib hast du zuviel Hirn in den Schädel bekommen. Deshalb bist du verrückt.”[52] Die polare Spaltung zwischen Männern und Frauen wird nicht hinterfragt, sondern bejaht: „Niemals wird es gelingen den Abgrund zwischen Mann und Weib auszufüllen, den Unterschied zu nivellieren und das ist gut so.”[53] Die scharfe Abgrenzung, die Wedekind hier zwischen den Geschlechtern zieht, verhindert die dialogische Auseinandersetzung mit einem anerkannten Anderen. Die Polarisierung ist eine zentrale Voraussetzung für Ausgrenzung und Reduzierung des anderen Geschlechts sowie für die Produktion sexueller Phantasmen.

II.2.2 Arthur Schnitzler: Der unzulängliche Liebescode

In seinen beiden Dramen „Anatol” (1893)[54] und „Reigen” (1900)[55] wirft Schnitzler einen kulturdiagnostischen Blick auf die Alltagswirklichkeit, indem er zentrale Problemkomplexe des Liebesdiskurses, unter anderem Eifersucht, Ehebruch und Prostitution thematisiert. Seine Texte klopfen jene Grenzbereiche zwischen Gesetz und Tabu, Bewusstsein und Unbewusstem, Code und Körper ab, in denen sich die Brüchigkeit der zwischengeschlechtlichen Beziehungsmuster manifestiert. Der tradierte Liebescode, der noch zur Jahrhundertwende entscheidend von der romantischen Vorstellung der idealen Ergänzung von Mann und Frau und der ‚ewigen Liebe’ bestimmt war, ließ sich nicht in Einklang bringen mit Alltagserfahrungen von der beliebigen Austauschbarkeit der Partner und der Flüchtigkeit der Gefühle. In „Anatol” dirigiert das unstillbare Begehren der gleichnamigen männlichen Hauptfigur die Handlung. Mit jeder Szene wechseln die Affären dieses zwischen Ennui und Sensationsgier schwankenden Dandys, dessen rascher ‚Konsum’ verschiedener Frauen mit seiner Selbstwahrnehmung korrespondiert, in der das Ich als flüchtige und instabile Instanz erfahren wird.[56] Erst nachträglich gewinnen die Affären für Anatol an Intensität, da sich die Frauen nun auf Stereotypen reduzieren lassen und seine Phantasmen nicht länger durch ihre reale Gegenwart stören: „Im Nachgeschmack erst ist der wirkliche Geschmack zwar verdünnt, aber auch gereinigt enthalten; am Nachgeschmack erst erweist sich die Idee des Menschen, des Dings, der Speise, die wir genossen haben.”[57] Das „wahre Geheimnis der Liebe”[58] liegt für Anatol vor allem in einer stimmungsvollen Inszenierung der Begegnung, die es ihm erlaubt, seine Fantasien auf das weibliche Gegenüber zu projizieren. Sein Freund Max, der für Anatol als eine Art „Resonanzboden”[59] fungiert, da er regelmäßig seine Affären mit ihm bespricht und reflektiert, diagnostiziert bezüglich dieser Inszenierungen: „ du sahst, was nicht an ihr war. Aus dem reichen und schönen Leben deiner Seele hast du deine phantastische Jugend und Glut in ihr nichtiges Herz hineinempfunden, und was dir entgegenglänzte war Licht von deinem Lichte.”[60] Damit wird nicht nur der narzisstische Prozess der Selbstbespiegelung treffend umschrieben, sondern gleichzeitig eine Fallhöhe zwischen dem „reichen” Innenleben des Mannes und dem „nichtige[n]” der Frau konstruiert. Denn obgleich die beiden Männer hinsichtlich ihres Charakters fast komplementär angelegt sind – Max spielt den Part des analysierenden Rationalisten, während Anatol von ruhelosem Begehren getrieben wird –, stimmen ihre Ansichten bezüglich der Einschätzung des anderen Geschlechts überein. Anatols Aussage: „Immer sind die Frauenzimmer uns untreu. Es ist ihnen ganz natürlich”, macht dies ebenso deutlich wie das Kommentar seines Freundes:“Eines ist mir klar: Daß die Weiber auch in der Hypnose lügen”.[61] Das traditionelle Klischee von männlicher Vernunft und weiblicher Unvernunft wird von Max in einem Aperςu zusammengefasst, mit dessen Hilfe er die überlegene Position des eigenen Geschlechts und damit auch die eingeschworene Gemeinschaft zwischen sich und Anatol formuliert: „Das Weib ist ein Rätsel: – So sagt man! Was für ein Rätsel wären wir erst für das Weib, wenn es vernünftig genug wäre, über uns nachzudenken?”[62] Mit Anatols Hochzeit in der letzten Szene unterminiert Schnitzler das klassische Aussöhnungsmotiv der Heirat, indem er verdeutlicht, dass Anatols Spiel der Reihung von Liebesobjekten fortdauern wird. Insgesamt wird in diesem Drama zwar die Differenz zwischen Liebesideal und Realität des Begehrens kritisch vorgeführt, aber die Kluft zwischen den Geschlechtern bleibt unhinterfragt. Mit Hilfe des symbiotischen Paares Anatol und Max inszeniert Schnitzler einen ‚männlichen’ Blick,[63] der den Frauen die Rolle austauschbarer Liebesobjekte zuweist: „Meine damalige Stellung zu Mann und Frau. Immer war ich auf seiner Seite.”[64]

In den zehn Dialogen des „Reigen” wird die Austauschbarkeit der Partner und die Flüchtigkeit des Begehrens anhand einer Reihe von Dialogen zwischen typisierten Figuren dargestellt. Durch alle Gesellschaftsschichten und Altersklassen manifestiert sich das sexuelle Begehren als eigentliches Triebrad der Handlung. Der Unterschied zwischen den Figuren scheint sich angesichts der monoton ablaufenden Struktur des prä- und postkoitalen Agierens zu nivellieren. Die Dialoge um Treue, Liebe, Schamgefühl und Eifersucht gleichen in der Wiederholung einem einstudierten Balz- und Rollenspiel, in dem sich immer wieder zeigt, wie sehr die zwischengeschlechtliche Begegnung auf beiden Seiten von Bildern und Projektionen geprägt ist.[65] In jeder Szene markiert eine Leerstelle die sexuelle Vereinigung der Paare. Sie bietet sich als Projektionsfläche für die Fantasien der Zuschauer bzw. Leser an, um so die Schnittstelle von Gesetz und Verbot, von Zensur und Wunsch zu problematisieren. Die ‚stummen’ Gedankenstriche, die die sexuelle Vereinigung symbolisieren, werden der Figurenrede symptomatisch entgegengesetzt, so dass der Eindruck entsteht, die eigentliche Kommunikation vollziehe sich nicht im Dialog, sondern in der Sprachlosigkeit der körperlichen Interaktion. Dass der Liebesdiskurs der Figuren der Realität nicht gerecht werden kann, wird besonders evident in der Szene „Die junge Frau und der Ehemann”. Das ängstliche Festhalten des Ehemanns an weiblichen Stereotypen wird bis zur Lächerlichkeit vorgeführt und veranschaulicht die Unzulänglichkeit der bürgerlichen Liebes- und Eheideologie. Schnitzler legt hier offen, wie wenig traditionelle Rollenklischees, sowohl jene vom harten Kämpfer[66] als auch jene von der asexuellen Ehefrau[67] oder der sittlich gefallenen Hure[68] der Realität gerecht werden. Nicht nur der herkömmliche Liebescode wird von Schnitzler radikal in Frage gestellt, sondern das Phänomen der ‚Liebe’ selbst wird hinterfragt: „Überhaupt gerade die Sachen, von denen am meisten g’red’t wird, gibt’s nicht ... z. B. Liebe.”[69]

Die Skepsis, die Schnitzler der tradierten Liebessemantik entgegenbringt, legt zwar die Brüchigkeit des Liebesdiskurses offen, blendet aber auch im „Reigen”, trotz gleichmäßiger Verteilung weiblicher und männlicher Rollen, das Problem des sozialen und kulturellen Ungleichgewichts zwischen den Geschlechtern aus. Zwar suggeriert der gemeinsame Handlungsantrieb, das sexuelle Begehren, hier eine Gleichwertigkeit der Geschlechter. Die soziale Differenz von Männern und Frauen, obgleich nicht expliziert, bleibt aber versteckt erkennbar. Die Berufsbezeichnung der Männer – Soldat, junger Herr, Ehegatte, Dichter, Graf – zeigt, dass diese alle einen anerkannten sozialen Platz besetzen, ob sie nun aus dem Milieu der Militärs, der Bürger oder Künstler stammen. Ihre Rollen zeichnen sich durch Beweglichkeit und durch die Freiheit zum Eingehen (außerehelicher) sexueller Verhältnisse aus. Die Frauen – Dirne, Stubenmädchen, junge Frau, süßes Mädel, Schauspielerin – danken ihren relativ großen Bewegungsfreiraum dagegen überwiegend ihrer Zugehörigkeit zu niederen sozialen Schichten, ihre ‚Berufe’ können nicht auf offizielle Anerkennung zählen. Die junge Frau bildet hier als gutbürgerliche Gattin eine Ausnahme. Doch während ihr Status als Bürgerliche ihr einen gewissen Respekt sichert, ist ihr Handlungsradius aufgrund ihres Geschlechts stark eingeschränkt. Da für sie eine Affäre außerhalb der Ehe nur schwer zu realisieren ist, steht sie bei den Männern auch höher im Wert als die Prostituierten oder „süßen Mädls”, bei denen der sexuelle Akt durch finanzielle Transaktionen geregelt werden kann.[70]

Im „Reigen” wird Schnitzlers Skepsis bezüglich einer funktionierenden Liebeskommunikation besonders deutlich. Die Maskerade von Männern und Frauen, ihre Beziehungsspiele und die diesen innewohnende Theatralik erscheinen als ein von der Struktur betonter Circulus vitiosus. So wird zwar die tragikomische Dynamik überkommener Rollenmuster offengelegt, doch bleibt, wie bei Wedekind, der Graben zwischen den konstruierten Geschlechterrollen unangefochten und unhinterfragt bestehen.

II.2.3 Thomas Mann: Chiffrierte Homoerotik

Dass „die Romankunst des Dichters bei der Gestaltung weiblicher Charaktere gänzlich zu versagen” scheint,[71] wurde Thomas Mann schon von mehreren Seiten vorgeworfen; unter anderem ist von seinem „reservierte[n] und wenig inspirierte[n] Umgang mit Frauenfiguren” die Rede.[72] In seinen Erzählungen[73] werden oft weibliche Stereotypen der Jahrhundertwende zitiert. Das Klischee von der Frau, die sich allein von ihrer Libido leiten lässt, vermittelt die seriös gezeichnete Figur des Dr. Selten in der Erzählung „Gefallen”. Seine Moral – „Wenn eine Frau heute aus Liebe fällt, so fällt sie morgen um Geld”[74] – bleibt ungebrochen stehen, da die Einwände des Emanzipationsbefürworters Laube durch dessen karikaturhafte Zeichnung entkräftet werden. Die Ehebrecherin Amra Jacoby in „Luischen” entspricht ebenfalls dem Klischeebild der rücksichtslosen, triebgeleiteten femme fatale. Mittels ihrer bis ins Groteske reichenden Charakterisierung, die wiederholt ihre „lüsterne Verschlagenheit” bzw. „grausame Lüsternheit” betont,[75] tritt sie den Lesern von Anfang an als Verkörperung jenes weiblichen Stereotyps entgegen, dessen „Natur” Nietzsche mit den Begriffen „ächte raubtierhafte listige Geschmeidigkeit [...] Naivetät im Egoismus, [...] Unerziehbarkeit und innerliche Wildheit”[76] umschrieb. Dunja Stegemann in „Gerächt” lässt sich dagegen am anderen Ende jener Skala verorten, auf der die Klischeebilder zwischen über- bzw. desexualisierten Frauen aufgespannt sind. Als hässliche Emanzipierte „mit vollkommen männlich gebildetem Hirn”[77] scheint sie frei nach dem nietzscheanischen Ausspruch entworfen: „Wenn ein Weib gelehrte Neigungen hat, so ist gewöhnlich etwas an ihrer Geschlechtlichkeit nicht in Ordnung.”[78] Dunjas ‚Triumph’ in der Auseinandersetzung mit dem männlichen Ich-Erzähler setzt ihrer stereotypen Charakterisierung letztlich nichts entgegen, sondern betont vielmehr die Überlegenheit jenes Aspektes, der auch an ihr als „männlich” apostrophiert wird: ihres Intellekts. Daneben gibt es, wie in „Tristan” oder „Der Wille zum Glück”, auch die femme fragile, deren körperliche Merkmale, so die „matte Weiße ihres Teints”[79], die „schönen, blassen Hände” oder blauen „Äderchen”[80], das Schönheitsideal der Décadence zitieren. Die Dichotomie von Geist und Körper, Kunst und Leben dient dem Erzähler bei Frauenfiguren zur Betonung ihrer Eindimensionalität, während er sie bei männlichen Protagonisten für eine differenzierte Charakterzeichnung nutzt, indem er deren Psyche zum Schauplatz für den Konflikt zwischen polaren Kräften macht. „Während die ‚Vermännlichung’ der Frauen selten über die bloße Aktivierung und ‚Verliederlichung’ ihres erotischen Auftretens hinausgelangt [...], sind die männlichen Protagonisten durchweg beides: denkende und (unglücklich) Liebende, aktiv Werbende und passiv Leidende.”[81]

In seinem Aufsatz „Über die Ehe” (1925)[82] koppelt Thomas Mann die heterosexuelle Beziehung mit Begriffen wie Nützlichkeit, Fruchtbarkeit, Pflicht und Maß und belegt sie dadurch mit Attributen des Realitätsprinzips, während das Lustprinzip sich in den Topoi der Schönheit, des Todes und der freien (homoerotischen) Liebe widerspiegelt. Exemplarisch führt der Protagonist Gustav von Aschenbach in „Der Tod in Venedig” den Widerstreit zwischen Norm und Wunsch, Geist und Körper, Bürger und Künstler vor. Mit anderen männlichen Hauptfiguren verbindet ihn das Erleben einer Liebe, die abrupt in sein geordnetes Dasein einbricht[83] und als Katalysator für den inneren Konflikt fungiert. Im Gegensatz zu anderen Helden artikuliert Gustav von Aschenbach das Motiv der Homoerotik offen. In den meisten Erzählungen wird dieses tabuisierte Thema, wie Karl Werner Böhm nachvollziehbar darlegt, nur versteckt verhandelt. Ein chiffrierter homoerotischer Diskurs wird beispielsweise erzeugt, indem die vom Protagonisten begehrte Frau mit männlichen Attributen ausgestattet wird. So resultiert in „Der kleine Herr Friedemann” die Faszination, die Gerda von Rinnlingen auf Friedemann ausübt, in erster Linie aus ihrem Verhalten, das sich nicht in die gängigen weiblichen Rollenmuster einordnen lässt: „Sie raucht, sie reitet – einverstanden! Aber ihr Benehmen ist nicht nur frei, es ist burschikos [...] man könnte sie sogar hübsch finden: und dennoch entbehrt sie jedes weiblichen Reizes”.[84] Ihr ungeniertes Benehmen gegenüber dem Ehemann und ihr provokatives Blickverhalten gegenüber Friedemann – „Sie hatte ihn mit ihrem Blick gedemütigt? War sie nicht eine Frau und er ein Mann?”[85] – sind Zeichen einer „irritierenden Andersartigkeit und einer gar nicht rollengerechten Rücksichtslosigkeit”.[86] Dass Friedemann „durchgängig ein substantielles Bedürfnis nach Unterwerfung” aufweise, dass er wie Sacher-Masochs Severin in „Venus im Pelz” (1870) „nach einer strafenden Actrice” verlange,[87] erscheint als Interpretation hier wenig überzeugend. Denn damit wird der Themenkomplex des sozialen Außenseiters ausgeblendet, der hier wie in vielen anderen Texten Manns eine zentrale Rolle spielt. Die Andersartigkeit Friedemanns, die sein verwachsener Körper überdeutlich markiert, verursacht erst seine Ausgrenzung aus dem ‚normalen’ Liebesleben.[88] Sein Entschluss, sich stoisch einer keuschen Lebensweise zu ergeben, stellt ein fragiles Lebenskonzept dar, das weniger Masochismus als vielmehr seinen unbedingten „Wille[n] zum Glück”[89] illustriert. Gerda, die mit ihrem Auftreten Friedemanns Glückskonzeption als Konstrukt entlarvt, erscheint weniger als Domina denn als eine Allegorie von Sexualität,[90] wobei diese Sexualität vor allem mit ‚männlichen’ Attributen ausgestattet wird. Die Krise, in die Friedemann durch seine Leidenschaft für die unweibliche Gerda stürzt, lässt sich als Zuspitzung eines Leidens lesen, das aus der sozialen Ausgrenzung resultiert. Das Leiden an dieser Außenseiterposition, das erst durch das sexuelle Begehren an die Oberfläche ‚gespült’ wird, codiert das Leiden an der Exterritorialisierung der Homosexualität.

Neben der Maskierung der geliebten bietet die Maskierung der liebenden Figur eine weitere Möglichkeit, einen homoerotischen Diskurs einzuflechten. Die Protagonistin, die Thomas Mann in „Ein Glück” entwirft, hebt sich hinsichtlich ihres Geschlechts zwar von den Helden der anderen Erzählungen ab, zeigt aber in allen anderen Eigenschaften deutliche Übereinstimmungen. Sie ist eine Außenseiterin und leidet an der Liebe zu einem Menschen, von dem sie nicht wieder geliebt wird. Wie bei den männlichen Protagonisten führt der Erzähler die inneren Konflikte und Reflexionen ausführlich vor: „Sie liebte ihn [...], liebte ihn feig und elend, obgleich er sie betrog und täglich ihr Herz mißhandelte wie ein Knabe, litt Liebe um ihn wie ein Weib, das seine eigene Zartheit und Schwäche verachtet und weiß, daß die Kraft und das starke Glück auf Erden im Rechte sind.”[91] Hier wird das passive und schicksalsergebene Leiden an der Liebe nicht wie bei männlichen Protagonisten durch die Einbindung in soziale Konflikte abgefedert.[92] Während Mann beispielsweise in „Der Bajazzo” versucht, den hypersensiblen Charakter und das passive Verhalten des Helden aus seiner Herkunft und seinem sozialen Werdegang zu entwickeln, bedarf es bei einer Frau keiner ausführlichen Erklärung, da sowohl marginalisierte Stellung als auch introvertierte Haltung dem geschlechtskonformen Bild entsprechen. Der gesellschaftlichen „Etikettierung jeglicher ‚Schwäche’ als ‚unmännlich’”[93] begegnet Thomas Mann hier mit einer Strategie der maskierten Geschlechter, die die heterosexuellen Normen nie offen provoziert. In den Erzählungen „Der Bajazzo” und „Die Hungernden” wird eine ähnliche Taktik der Maskierung eingesetzt. Die innerhalb einer Dreierkonstellation aufgespannten Beziehungen der Helden lassen sich als ,verschobenes’ Begehren lesen: „Aus der Rivalin wird eine Geliebte und aus dem Geliebten ein Rivale”.[94] Thomas Manns autobiografische „Leidenschaftsnotizen”, die zur Zeit dieser frühen Erzählungen entstanden (1900-1903) und seine Hassliebe zum Maler Paul Ehrenberg dokumentieren, lassen sich den literarischen Texten vielfach als Folie unterlegen.

Die schmerzhafte Erfahrung eines unerfüllbaren Begehrens bzw. eines unerreichbaren Liebesobjekts, die Koppelung von Erotik und Leiden, wird bei Thomas Mann mit einer Intensität vorgeführt, die weder in Wedekinds noch in Schnitzlers hier besprochenen Texten zu finden ist. Während sich bei letzteren die Thematisierung der Geschlechterbeziehung hauptsächlich auf die Kritik an der bürgerlichen Doppelmoral, an der Tabuisierung von Sexualität und am traditionellen Liebescode konzentriert,[95] führt sie bei Thomas Mann immer zu einer existentiellen Krise des Helden. Hinter der leitmotivischen Dichotomie von Bürger- und Künstlerdasein, die dieser Krise meist als Ursache unterlegt wird, lässt sich jene Spaltung zwischen sanktionierter Heterosexualität und tabuisierter Homosexualität mitlesen, die das Leben und Schreiben Thomas Manns entscheidend beeinflusste. Der Prozess gegen Oscar Wilde gegen Ende des 19. Jahrhunderts signalisierte die soziale Ächtung der gleichgeschlechtlichen Liebe. Vor diesem Hintergrund erscheint die Methode eines chiffrierten homoerotischen Diskurses[96] als adäquate Möglichkeit, eigene Erfahrungen und Vorstellungen zu artikulieren, ohne dafür belangt werden zu können.

II.3 Fazit: Das dichotome Denken

Alle drei der hier exemplarisch beleuchteten Autoren problematisieren in ihren Texten das zur Jahrhundertwende übliche Verständnis von Liebe und Sexualität. Offene Kritik wird bei Wedekind an der lustfeindlichen Einstellung des Bürgertums geübt, Schnitzler führt die Unzulänglichkeit traditioneller Liebesdiskurse vor und Thomas Mann thematisiert implizit die sozial tabuierte Homoerotik. Trotz der Skepsis bezüglich der bürgerlichen Liebeskonzepte, die in allen diesen Texten artikuliert wird, werden die traditionellen Geschlechterrollen nie offen hinterfragt. Die femme fatale, die in den „Lulu”-Dramen als erotische Utopie entworfen wird, wertet das negative Bild der übersexualisierten Frau auf, ohne aus den Mechanismen von Projektion und Stereotypisierung auszubrechen. Schnitzler präsentiert im „Reigen” die diskursiven Missverständnisse zwischen Männern und Frauen, ohne auf den Hintergrund der ungleichen sozialen Rollen hinzuweisen. Thomas Manns verdeckter homoerotischer Diskurs unterminiert zwar die heterosexuelle Definition von Begehren, das andere Geschlecht wird damit aber meist ausgeblendet oder klischeehaft gezeichnet. Obgleich also allen Texten eine unterschiedlich akzentuierte Kritik am bürgerlichen Sexualitätsdiskurs eingeschrieben ist, wird an keiner Stelle der Versuch unternommen, die Kluft zwischen den Geschlechterrollen zu überbrücken. Die scharfe Trennung von männlichen und weiblichen Aufgabenbereichen und die damit einhergehende Zuschreibung von angeblich geschlechtsspezifischen Eigenschaften wird einzig in Manns Texten – aber nur in sehr verdeckter Form und aus männlicher Perspektive – als grundsätzliches Problem der Identitätsstiftung behandelt. Letztendlich bleiben alle drei Autoren einem dichotomen Denken verhaftet; es zeigt sich weder das Interesse an einem Dialog zwischen Männern und Frauen, noch der Versuch, die Trennung der Welt in Natur und Kultur, Körper und Geist, Emotion und Ratio, Schwäche und Stärke sowie Frau und Mann zu subvertieren oder zu hybridisieren.

III Robert Walsers Berliner Romane

III.1 Die Familie als Urzelle zwischengeschlechtlicher Beziehungen

Um die verschiedenen Konstellationen zwischen männlichen und weiblichen Figuren in den Romanen Walsers zu untersuchen, bietet es sich zunächst an, die bürgerliche Familie als ‚Keimzelle’ zwischengeschlechtlicher Beziehungen zu fokussieren. Sigmund Freuds Theorien über die kindliche Libido, den Ödipuskomplex und die Mechanismen der Objektfindung, die Anfang des 20. Jahrhunderts das Bürgertum schockierten, entstanden vor dem Hintergrund der idealtypischen bürgerlichen Kleinfamilie. Die geringe Geschwisterzahl, das erhöhte pädagogische Interesse am einzelnen Kind und die enge Bindung an die für die Erziehung verantwortliche Mutter verstärkten im Laufe des 19. Jahrhunderts die Emotionalisierung der innerfamiliären Beziehungen. Der arbeitende und daher meist abwesende Vater verkörperte die oberste Machtinstanz, die symbolische Position von Gesetz und Verbot. Für Ich-Bildung und Objektfindung des Kindes ist in diesem Modell die anfängliche Dualunion mit der Mutter sowie die Erfahrung des Vaters als Instanz des Dritten von besonderer Bedeutung.[97]

III.1.1 Mutter-Kind-Dyade

Die Spiegelbeziehung, die zwischen primärer Bezugsperson und Kind, in der traditionellen bürgerlichen Familie also zwischen Mutter und Kind, besteht, stellt nach Lacan die erste Gelegenheit dar, über das Bild des Anderen das Bild vom eigenen Ich zu etablieren. Das Spiegelbild (der Andere) wird als eine Einheit erfahren, die im Gegensatz zu einer diffusen und zerstückelten Selbsterfahrung steht und daher begehrt wird. Hier bildet die narzisstische und libidinöse Besetzung des Spiegelbildes den Ausgangspunkt für ein Begehren, das erst durch die symbolische Vermittlung, durch die Sprache, seiner destruktiven Komponente enthoben werden kann.[98] In einer durch diese Vermittlung möglichen „Schaukelbewegung des Begehrens”,[99] wird der Andere als Ort erkannt, wo ebenfalls Begehren produziert wird, das Kind lernt sein Gegenüber als anderes Ich zu akzeptieren. Damit dem Kind die Lösung aus der anfänglichen symbiotischen Dualunion und aus dem narzisstischen Begehren gelingt, ist auf Seiten der primären Bezugsperson eine Absage an eigene narzisstische Bedürfnisse erforderlich.

Robert Walser thematisiert schon in seinen um 1900 entstandenen Dramoletten vielfach eine „versehrte Mutterbindung”,[100] deren Problematik weniger in einer mütterlichen Vereinnahmung oder Vernachlässigung des Kindes zu liegen scheint, als vielmehr in einem Schwanken zwischen diesen Extremen. Im Mundartstück „Der Teich” (entstanden 1900/1902)[101] gelingt es dem Knaben Fritz erst durch die Inszenierung seines Suizids, die Aufmerksamkeit und Zuwendung der Mutter zu erringen. Doch weist die Versöhnungsszene zwischen beiden auf eine tiefer greifende Kommunikationsstörung hin. Der Vorwurf von Frau M., Fritz habe seine Liebe ihr gegenüber ja nie artikuliert, schiebt die Schuld an der fehlenden Zuwendung Fritz selbst zu: „I cha di doch nit errate. Du hätsch solle rede. Mi mueß rede, we me wot verschtande si” (DT, 128). Damit negiert sie das existentielle kindliche Liebesbedürfnis, das sich nicht erst artikulieren muss, um vorhanden zu sein. Sie weist die mütterliche Verantwortung von sich, indem sie Fritz nicht als Kind behandelt, sondern ihm die Rolle eines erwachsenen Vertrauten, eines heimlichen Kameraden aufbürdet. Dadurch impliziert sie nicht zuletzt ein erotisches Verhältnis: „I schäme mi nit, mit dir Kameradschaft z’mache, sitdäm i weiß, wie ne starche Kärl de bisch. [...] Du bisch scho ne ganz große, große Ma” (DT, 128/129).[102] Diese Art der Zuneigung birgt nicht nur die Gefahr einer Überforderung des Kindes, im Zusammenhang mit der lieblosen mütterlichen Behandlung[103] bildet sie ein widersprüchliches Verhaltensmuster, das dem Sohn keine konstante Orientierung bietet.

In „Die Knaben” (1902)[104] werden von mehreren männlichen Jugendlichen Möglichkeiten einer beruflichen Verwirklichung und zukünftigen Karriere entworfen. Peter ist in seiner Liebe zur verstorbenen Mutter als einziger auf die Vergangenheit fixiert, seine Sehnsucht nach der schönen Toten treibt ihn in den Selbstmord: „Wenn ich so jung sterben will, so ist das Lust am Schlaf. [...] Man ist gewohnt, sich von der Müdigkeit traurig stimmen zu lassen; mich stimmt sie lustig; sie verspricht mir soviel, sie verspricht mir den Tod: einen Kuß von der Mutter” (DK, 12). Das Phantasma einer Identitätsstiftung durch Suizid geht hier mit dem inzestuös besetzten Begehren nach der Mutter einher.

In dem 1901 veröffentlichten Dramolett „Schneewittchen”[105] bietet das Grimmsche Märchen den Ausgangsstoff für die Darstellung einer Mutter-Kind-Konfrontation. Die Gespräche zwischen der Königin und Schneewittchen kreisen unentwegt um die Geschichte der Verstoßung und des geplanten Mordes an der Tochter. Dabei scheitern alle Versuche, diese Erzählung zu beglaubigen oder zu entkräften, da die Königin sie einmal als Spiel und Märchen, das andere Mal als Wahrheit bezeichnet. Durch die Uneindeutigkeit und Widersprüchlichkeit des mütterlichen Sprechens und Handelns wird Schneewittchen einer existentiellen Verunsicherung ausgesetzt: „Ihr sprecht so milde, wie Ihr könnt, / doch könnt Ihr noch nicht milde tun. / Das Auge, das so höhnisch blitzt, / unmütterlich herab zu mir / so drohend zuckt, lacht unheilvoll / zu Eurer Zunge Schmeichelton” (SW, 79). Die schizophrenogene Verhaltens- und Redeweise der Mutter führt zum Verlust eines gültigen Bezugsrahmens, wie er für jede Kommunikation notwendig ist. Für Schneewittchen verlieren alle Signale der Außenwelt an Eindeutigkeit, jedes Zeichen verfügt über einen doppelten Boden, beinhaltet seinen eigenen Widerspruch: „Die Mutter ist die Mutter nicht. / Die Welt ist nicht die süße Welt. / Lieb’ ist argwöhn’scher, stummer Haß. / Prinz ist ein Jäger, Leben Tod” (SW, 103). Schneewittchen, die immer wieder mit dem Bedürfnis nach Liebe an die Königin herantritt,[106] versucht durch die totale Bejahung aller zweifelhaften Aussagen den Teufelskreis der doppelbödigen Dialoge zu durchbrechen: „Ja sagen tut so wohl, ist so / unendlich süß. Ich glaube dir’s. / Ja, wenn du lögest, himmelhoch / die Märchen bautest, Lügen mir, / zum Greifen roh und tölpelhaft, / darstelltest, immer glaub’ ich dir ” (SW, 106). Die Kommunikationsproblematik wird hier noch um das Motiv der sexuellen Konkurrenz erweitert, indem die Figuren Prinz und Jäger als wechselnde Partner der Frauen auftreten. Selbst wenn am Schluss der König zur Versöhnung aufruft, tritt er nicht wirklich mit der Autorität einer Instanz des Dritten auf, denn der Konflikt zwischen Mutter und Kind schwelt weiter. „Der König, der mit dem Gefolge zum Finale kommt, ist, da er von allem bisher Vorgefallenen keine Ahnung hat, ein eher komischer Deus ex machina.”[107]

[...]


[1] Walter Benjamin: Robert Walser. In: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1977, Band II, 325.

[2] Dierk Rodewald: Robert Walsers Prosa. Versuch einer Strukturanalyse. Bad Homburg / Berlin / Zürich 1970, 140/141.

[3] Erschienen im Verlag Helmut Kossodo, Genf und Hamburg 1966-73.

[4] Ein Beispiel wäre hier das Motiv des Herr-Knecht-Verhältnisses, das u. a. untersucht wurde von: Dieter Borchmeyer: Dienst und Herrschaft. Ein Versuch über Robert Walser. Tübingen 1980; Lukas Rüsch: Ironie und Herrschaft. Untersuchung zum Verhältnis von Herr und Knecht in Robert Walsers Roman „Der Gehülfe”. Hain / Hanstein 1983; Karl Wagner: Herr und Knecht. Robert Walsers Roman „Der Gehülfe”. Wien 1980.

[5] Z. B. Claudia Albes: Der Spaziergang als Erzählmodell. Studien zu Jean-Jacques Rousseau, Adalbert Stifter, Robert Walser und Thomas Bernhard. Basel 1999.

[6] Z. B. Marion Gees: Schauspiel auf Papier. Gebärde und Maskierung in der Prosa Robert Walsers. Berlin 2001.

[7] Robert Walser: Liebesgeschichten. Hrsg. von Volker Michels. Zürich 1978.

[8] Z. B. Christian Angerer: Rollenspiele. Soziales Rollenverhalten und Identitätsverweigerung in Robert Walsers Texten der frühen und der Berliner Zeit. Stuttgart 1995; Hans Udo Dück: Strukturuntersuchung von Robert Walsers Roman „Der Gehülfe”. München 1968; Dagmar Grenz: Die Romane Robert Walsers. Weltbezug und Wirklichkeitsdarstellung. München 1974; Hans Holderegger: Robert Walser. Eine Persönlichkeitsanalyse anhand seiner drei Berliner Romane. Berlin 1973.

[9] Pia Reinacher: Die Sprache der Kleider im literarischen Text: Untersuchung zu Gottfried Keller und Robert Walser. Bern / Frankfurt am Main / New York / Paris 1988.

[10] Anton Fischer: Rebellische Formen des Liebesverhaltens in Robert Walsers „Räuber”-Roman. Norderstedt 1992.

[11] Pia Reinacher: Das zärtliche Knistern eines Stoffes. Robert Walsers Sprache der Kleider. In: Robert Walser. Hrsg. von Klaus-Michael Hinz und Thomas Horst. Frankfurt a. M. 1991, 213.

[12] Reinacher (s. Anm. 9), 213.

[13] Nagi Naguib: Robert Walser. Entwurf einer Bewußtseinsstruktur. München 1970, 166ff.

[14] So auch bei Peter von Matt: Die Schwäche des Vaters und das Vergnügen des Sohnes. Über die Voraussetzungen der Fröhlichkeit bei Robert Walser. In: Robert Walser (s. Anm. 11), 180-198. Schmidt-Hellerau versucht die biografische Rückbindung zwar zu umgehen, doch führt ihr ausführlicher Entwurf komplexer psychologischer Interaktionen ebenfalls von der Arbeit am literarischen Text weg. Vgl. Cordelia Schmidt-Hellerau: Der Grenzgänger. Zur Psycho-Logik im Werk Robert Walsers. Zürich 1986.

[15] Celine Degenhardt: Robert Walsers Roman „Geschwister Tanner”. Bremen 1988. 91.

[16] Grenz (s. Anm. 8), 67.

[17] Benjamin (s. Anm. 1), 326.

[18] „Ich frage mich, ob es unter denen, die ihr gemächliches, sicheres, schnurgerades akademisches Leben auf das eines Dichters bauen, der in Elend und Verzweiflung gelebt hat, einen gibt, der sich schämt.” Elias Canetti: Einige Aufzeichnungen zu Robert Walser. In: Über Robert Walser. Hrsg. von Katharina Kerr. Frankfurt a. M. 1978. II, 13.

[19] „Das Werk Robert Walsers entzieht sich in besonderem Maße einer systematisierenden Analyse, so daß der Versuch, seine Texte zu kategorisieren und zu klaren Aussagen über sie zu gelangen angesichts ihrer nicht annähernd auszuschöpfenden Komplexität eher kläglich ausfällt. Die Verlockung ist groß, ihr auf ihren verschlungenen Bahnen zu folgen und sich dem Reiz ihrer sprachlichen Virtuosität zu überlassen, anstatt sie zum Objekt literaturwissenschaftlicher Untersuchungen zu machen.” Daniela Mohr: Das nomadische Subjekt. Ich-Entgrenzung n der Prosa Robert Walsers. Frankfurt a. M. / Berlin / Bern / New York / Paris / Wien 1994, 297.

[20] „Es war eine bürgerliche Sinnkrise, die sich breit machte und einen Mangel an konsistenten Deutungs- und Orientierungsmustern ausdrückte. Insofern handelte es sich um einen klassischen Fall des cultural lag: die massiven sozialstrukturellen Veränderungen in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts legten ein Tempo vor, dem der kulturelle Überbau in seiner relativen Trägheit nicht synchron folgen konnte. Das Ergebnis war die angedeutete Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.” Ulrich Metzmacher: Das Geschlechterverhältnis in der Kultur des Bürgertums der Jahrhundertwende. Berlin 1990, 24.

[21] Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. In: Sexualität und Wahrheit. Frankfurt a. M. 1991. I, 131.

[22] „Bediente man sich in den oberen und mittleren Schichten des Bürgertums in umfangreicher Weise des Dienstpersonals, so war dies in weniger begüterten Familien nur eingeschränkt praktizierbar. Hier entstand beständig das Problem, den ökonomischen Mitteln nicht entsprechende bürgerliche Lebensstandards repräsentieren zu müssen. Das Ergebnis war die für das Leben im Kaiserreich so charakteristische Welt des Scheins.” Metzmacher (s. Anm. 20), 88/89.

[23] Lorenz von Stein: Die Frau auf dem Gebiete der Nationalökonomie. Stuttgart 1875, 24.

[24] Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung. München 1980, 383.

[25] Gertrude Postl: ‚Rationalität’ und ‚Gefühl’ im feministischen Diskurs. Zur Bewahrung und Überwindung eines Erklärungsmodells. In: Rationalität, Gefühl und Liebe im Geschlechterverhältnis. Hrsg. von Ursula Maria Ernst, Charlotte Annerl, Werner W. Ernst. Pfaffenweiler 1995. 117.

[26] Metzmacher (s. Anm. 20), 110.

[27] Metzmacher (s. Anm. 20), 158.

[28] Paolo Mantegazza: Die Physiologie der Liebe. 1873 (in Italien), 1888 (in deutscher Übersetzung).

[29] Richard von Krafft-Ebing: Psychopathia sexualis. Stuttgart 1894.

[30] Havelock Ellis: Die Gattenwahl beim Menschen mit Rücksicht auf Sinnesphysiologie und allgemeine Biologie. Würzburg 1906.

[31] Vgl. Foucault (s. Anm 21), 137.

[32] Foucault (s. Anm. 21), 132.

[33] Foucault (s. Anm. 21), 145.

[34] Stefan Zweig: Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt a. M. 1949, 92.

[35] Zweig (s. Anm. 34), 93.

[36] Metzmacher (s. Anm. 20), 124.

[37] Franziska zu Reventlow: Das Männerphantom der Frau. In: Franziska von Reventlow: Autobiographisches. München / Wien 1980, 453.

[38] B. Heintz / C. Honegger: Zum Strukturwandel weiblicher Widerstandsformen im 19.Jahrhundert. In: Zur Sozialgeschichte weiblicher Widerstandsformen. Hrsg. von Heintz / Honegger. Frankfurt a. M. 1981, 40/44.

[39] Foucault (s. Anm. 21), 182.

[40] Ortrud Gutjahr: Erziehung zur Schamlosigkeit. In: Frank Wedekind. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse. Hrsg. von Ortrud Gutjahr. Würzburg 2001. XX, 116/117.

[41] Frank Wedekind: Erdgeist. Die Büchse der Pandora. München 1980.

[42] Wilhelm Emrich: Frank Wedekind. Die Lulu-Tragödie. In: Protest und Verheißung. Frankfurt a. M. 1960, 206.

[43] Wedekind (s. Anm. 41), 80

[44] „Lulu besitzt keinen Zugang zu den materiellen Gütern und symbolischen Werten der Gesellschaft, in der sie lebt, und kann über diese Dinge ‚nicht mitreden’.” Johanna Bossinade: Wedekinds „Monstretragödie” und die Frage der Separation (Lacan). In: Frank Wedekind. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse. (s. Anm. 40), 148.

[45] Die je nach Belieben erfolgende Namensgebung durch die Männer bildet den Mechanismus des Projizierens exemplarisch ab, z. B.: „ Schwarz: Ich liebe dich, Nelli. / Lulu: Ich heiße nicht Nelli. / Schwarz küsst sie. / Lulu: Ich heiße Lulu. / Schwarz: Ich werde dich Eva nennen.” Wedekind (s. Anm. 41), 27.

[46] Peter Unger und Hartmut Vinςon: Nachwort. In: Erdgeist. Die Büchse der Pandora (s. Anm. 41), 182.

[47] Wedekinds Wunsch nach „unproblematische[m] ‚Geschlechtsgenuß’” führt nicht zuletzt zu einer Einordnung in lustfreundliche bzw. -feindliche Frauentypen: „Wie jedoch die schmalhüftigen, kurzgeschorenen, frauenvereinstiftenden Mädchen und die verkniffene Gesichtsbildung zeigten, stellen sich der Herrschaft des Geschlechts Widerstände entgegen. Rigide Moral und ihr entsprechende Körper verstellen vorerst den Weg zu freier Lustentfaltung”. Thomas Medicus: Die große Liebe. Ökonomie und Konstruktion der Körper im Werk von Frank Wedekind. Marburg 1982, 43.

[48] Josephine Schröder-Zebralla: Frank Wedekinds religiöser Sensualismus. „Die Vereinigung von Kirche und Freudenhaus?”. Frankfurt a. M. / Bern / New York 1985, 119. Diese auf binäre Formeln abzielende Interpretation läuft Gefahr, die polarisierenden Denkmuster und Klischeebilder, die sich in Wedekinds Texten finden lassen, zu reproduzieren.

[49] Bossinade (s. Anm. 44), 156.

[50] „Lulu may be a vivid dramatization of masculine sexual fantasies but she is an inadequate representation of female sexuality, to say nothing of women as full personalities.” Elizabeth Boa: The Sexual Circus. Wedekind’s Theatre of Subversion. Oxford / New York 1987, 75.

[51] Boa (s. Anm. 50), 76.

[52] Wedekind (s. Anm. 41), 123.

[53] Frank Wedekind: Prosa. In: Werke in drei Bänden. Hrsg. von Manfred Hahn. Berlin / Weimar 1969, III, 114.

[54] Arthur Schnitzler: Anatol. Anatols Größenwahn. Der grüne Kakadu. Stuttgart 1970.

[55] Arthur Schnitzler: Reigen. Liebelei. Frankfurt a. M. 1960.

[56] Die Skepsis gegenüber der Instanz des Ich war zur Jahrhundertwende ein brisantes Thema. Vgl. Machs Aussage: „Das Ich ist unrettbar” (Ernst Mach: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen. Jena. 1922, EA:1885, 20) bzw. Mauthners Feststellung: „das Ich-Gefühl ist eine Täuschung” (Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Leipzig 1923, EA: 1901/02. I, 662).

[57] Arthur Schnitzler: Aphorismen und Betrachtungen. Frankfurt a. M. 1993, 64. Ein ähnliches Konzept des intensivierenden ‚Aufhebens’ von Erlebnissen in der Erinnerung findet sich in Marcel Prousts „À la Recherche du temps perdu” (1913).

[58] Schnitzler: Anatol (s. Anm. 54), 36.

[59] Jenncke A. Oosterhoff: Die Männer sind infam, solang sie Männer sind. Konstruktionen der Männlichkeit in den Werken Arthur Schnitzlers. Tübingen 2000, 84.

[60] Arthur Schnitzler: Anatol (s. Anm. 54), 37.

[61] Schnitzler: Anatol (s. Anm. 54), 8 bzw. 18. „Trotz der Unterschiedlichkeit dieser männlichen Selbstdefinierungen gibt es einige für alle gleich verbindlich und sie untereinander bindende Prinzipien: die Bedeutung der Ehre [...] und die allgemeine Überzeugung unter Männern, daß diese Ehre jederzeit gegen feminisierende Einflüsse geschützt werden müsse.” Oosterhoff (s. Anm. 59), 127.

[62] Schnitzler: Anatol (s. Anm. 54), 66.

[63] Die letzten Worte von Max transportieren noch einmal jenen überlegenen Blick auf die Frau, der das gesamte Stück beherrscht: „Nun glauben Sie sich einen Dämon und sind eigentlich doch nur ein Weib! (Auf eine mißmutige Bewegung Ilonas.) ... Das ist aber auch gerade genug”. Schnitzler: Anatol (s. Anm. 54), 88.

[64] Arthur Schnitzler: Eintragung vom 24.4.1915. In : Tagebücher. Wien 1981ff. I-IX. Zitiert nach Oosterhoff (s. Anm. 59), 3.

[65] „Wenn zwei Menschen einander bis ins Tiefste verstehen wollen, so ist das geradeso, wie wenn zwei gegenüber gestellte Spiegel sich ihre eigenen Bilder immer wieder und von immer weiter her wie in verzweifelter Neugier entgegenwerfen, bis sie sich endlich im Grauen einer hoffnungslosen Ferne verlieren.” Schnitzler: Aphorismen (s. Anm. 57), 63.

[66] „Man ist nicht immer der liebende Mann, man muß auch zuweilen hinaus ins feindliche Leben, muß kämpfen und streben!” Schnitzler: Reigen (s. Anm. 55), 57.

[67] „Ihr tretet uns rein und ... wenigstens bis zu einem gewissen Grad unwissend entgegen, und darum habt ihr eigentlich einen viel klareren Blick für das Wesen der Liebe als wir.” Schnitzler: Reigen (s. Anm. 55), 52.

[68] „ihr kennt ja das Elend nicht, das die meisten von diesen armen Geschöpfen der Sünde in die Arme treibt [...] ein sittliches Elend, eine mangelnde Auffassung für das, was erlaubt, und insbesondere für das, was edel ist.” Schnitzler: Reigen (s. Anm. 55), 53.

[69] Schnitzler: Reigen (s. Anm. 55), 91.

[70]Er lächelt und sagt zu sich selbst: Also jetzt hab ich ein Verhältnis mit einer anständigen Frau.” Schnitzler: Reigen (s. Anm. 55), 50. Vgl. auch: „Ebenso erfüllt sich nur einigen besonders Glücklichen das damalige literarische Liebesideal [...], das Verhältnis mit einer verheirateten Frau.” Zweig (s. Anm. 34), 99.

[71] Claus Tillmann: Das Frauenbild bei Thomas Mann – der Wille zum strengen Glück. Frauenfiguren im Werk Thomas Manns. Wuppertal 1994, 7.

[72] Karl Werner Böhm: Zwischen Selbstzucht und Verlangen. Thomas Mann und das Stigma Homosexualität. Untersuchungen zu Frühwerk und Jugend. Würzburg 1991, 170.

[73] Thomas Mann: Die Erzählungen. Frankfurt a. M. 1997.

[74] Mann (s. Anm. 73), 40.

[75] Mann (s. Anm. 73), 148 bzw. 156.

[76] Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. Stuttgart 1988, 156.

[77] Mann (s. Anm. 73), 177.

[78] Nietzsche (s. Anm. 76), 82.

[79] Mann (s. Anm. 73), 46.

[80] Mann (s. Anm. 73), 213.

[81] Böhm (s. Anm. 72), 192.

[82] Thomas Mann: Reden und Aufsätze 2. In: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Frankfurt a. M. 1974. X, 191-207.

[83] „Erstmals in Der kleine Herr Friedemann habe er, so Thomas Mann on myself, ‚ein Grundmotiv’ [...] angeschlagen, das im Gesamtwerk die gleiche Rolle spiele wie die Leitmotive im Einzelwerk. Gemeint ist die ‚Idee der Heimsuchung, des Einbruchs trunkenzerstörender und vernichtender Mächte in ein gefaßtes und mit allen seinen Hoffnungen auf Würde und ein bedingtes Glück der Fassung verschworenes Leben.’ [...] Außer auf Friedemann verweist Thomas Mann auf Gustav von Aschenbachs letale Liebe zu Tadzio und Mut-em-enets Passion für den jungen Joseph.” Böhm (s. Anm. 72), 177.

[84] Mann (s. Anm. 73), 73.

[85] Mann (s. Anm. 73), 80. Die drei Blickduelle sind Schlüsselstellen der Erzählung: Indem der herausfordernde, hypnotische und suggestive Blick Gerdas Friedemann zum Niederschlagen der Augen zwingt, entsteht in ihm ein „seltsamer, süßlich beizender Zorn”, ein „ohnmächtige[r], wollüstige[r] Haß” (78), der den Beginn der ambivalenten Faszination markiert.

[86] Angelika Schaller: „Und seine Begierde ward sehend”. Auge, Blick und visuelle Wahrnehmung in der Prosa Thomas Manns. Würzburg 1997, 159.

[87] Holger Rudloff: P elzdamen. Weiblichkeitsbilder bei Thomas Mann und Leopold von Sacher-Masoch. Frankfurt a. M. 1994, 73.

[88] Vgl. Mann (s. Anm. 73), 68/69.

[89] Nach dem Titel der Erzählung „Der Wille zum Glück”. Mann (s. Anm. 73), 41-58.

[90] Vgl. Böhm (s. Anm. 72), 179.

[91] Mann (s. Anm. 73), 339. Bei einem ersten Lesen wirkt die Formulierung „litt Liebe um ihn wie ein Weib” so markant, dass der folgende Relativsatz fast nachträglich angehängt scheint.

[92] Dieser Konflikt wird hier auf den Avantgadeur verschoben, der ebenfalls ein Außenseiter und unglücklich Liebender ist, aber nur als Nebenfigur auftritt.

[93] Böhm (s. Anm. 72), 180.

[94] Böhm (s. Anm. 72), 180.

[95] Die Kritik an den prüden Normen und der Scheinmoral des Bürgertums dominiert auch in anderen bekannten Texten der Jahrhundertwende, wie z. B. in Heinrich Manns „Professor Unrat” (1905) oder in Robert Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törless” (1906).

[96] Ähnlich könnte auch die ästhetisch verschleierte Homosexualität in den Texten Stefan Georges interpretiert werden.

[97] In der Triangelstruktur Vater-Mutter-Kind muss die Beziehungsachse zwischen den beiden Elternteilen immer mitgedacht werden. Sie spielt vor allem auch hinsichtlich des Ödipuskomplexes eine wichtige Rolle.

[98] „Am Ursprung, vor der Sprache, existiert das Begehren nur auf der einzigen Ebene der imaginären Beziehung des Spiegelstadiums, projiziert, entfremdet im andern. Die Spannung, die es erzeugt, ist dann jeden Auswegs beraubt. Das heißt, sie hat keinen anderen Ausweg [...] als die Zerstörung des andern.” Jacques Lacan: Freuds technische Schriften. In: Das Seminar von Jacques Lacan. Hrsg. von Norbert Haas und H.-J. Metzger. Weinheim / Berlin 1990. I, 218.

[99] Lacan (s. Anm. 98), 209.

[100] Angerer (s. Anm. 8), 53.

[101] Robert Walser: Der Teich. In: Robert Walser: Komödie. Märchenspiele und szenische Dichtungen. Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Hrsg. von Jochen Greven. Zürich / Frankfurt a. M. 1986. XIV, 119-132. Im Folgenden als DT zitiert.

[102] Die Mutter reflektiert nach dem Abgang von Fritz selbst darüber, ob ihr Verhalten richtig war: „I bi doch öppe nit z’wit gange? – – Darf me de so rede zum e ne Chind? Nei, nei, da macht gwüß nüt. […] Hets de öpper gseh? Es hets jo niemer gseh und so öppis wot au nit vo öpperem gseh wärde.” DT, 129/130.

[103] Neben der mütterlichen Prügelstrafe in der 1. Szene verdeutlicht auch Fritz’ Kommentar gegenüber seinem Freund Ernst die fehlende Zuwendung seitens der Mutter: „I ha no nie gschpürt, dass i e Mueter ha. Höchschtens ufem Buggel.” DT, 123.

[104] Robert Walser: Die Knaben. In: Komödie (s. Anm. 101), 7-17. Im Folgenden als DK zitiert.

[105] Robert Walser: Schneewittchen. In: Komödie (s. Anm. 101), 74-115. Im Folgenden als SW zitiert.

[106] Z. B. „Ich will nur lieben, lieben Euch.”(SW, 90); „Haßt mich, damit ich lieben kann” (SW, 94).

[107] Urs Herzog: „goldene, ideale Lügen”. Zum „Schneewittchen”-Dramolett. In: Robert Walser (s. Anm. 11), 102.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2002
ISBN (eBook)
9783832459888
ISBN (Paperback)
9783838659886
DOI
10.3239/9783832459888
Dateigröße
884 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München – Sprach- und Literaturwissenschaften
Erscheinungsdatum
2002 (Oktober)
Note
1,85
Schlagworte
literatur jahrhundertwende roman moderne frauen- männerbilder sexualität familie grenzüberschreitung transgression
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Titel: Apologie der Zwischenzustände
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