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Mensch und Technik

Beispiele antizipatorischer Texte im Vorfeld und während der industriellen Revolution in Frankreich

©2001 Magisterarbeit 120 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Technik ist seit Menschengedenken und in den verschiedensten Gesellschaften benutzt worden. Die Antizipation der Zukunft, das Fortschrittsdenken, die Industrialisierung, das Eindringen von technischen Vorrichtungen in alle Bereiche der Lebens- und Arbeitswelt des Menschen sowie die Thematisierung von realen und möglichen sozialen Veränderungen infolge des Technikeinsatzes in Kunst und Literatur sind jedoch „Errungenschaften“ der modernen westlichen Kultur.
Dabei haben nach einer Einschätzung von SUVIN die Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert die literarische Phantasie eingeholt und überflügelt. Genau in diese Epoche fällt jedoch die Geburtsstunde der Fortschrittsutopie und der modernen Science Fiction.
Anhand der antizipatorischen Texte L’An 2440, rêve s’il en fut jamais (1771) von Louis-Sébastien MERCIER, Voyage en Icarie (1840) von Étienne CABET und Le Monde tel qu’il sera (1845) von Émile SOUVESTRE wird in der vorliegenden Arbeit fachübergreifend gezeigt, wie real stattfindende Veränderungen infolge einer Technisierung der menschlichen Lebenswelt in einem mit literarischen Mitteln konstruierten Wirklichkeitsbild, das in die Zukunft projiziert ist, reflektiert werden.
Folgende Annahmen wurden dabei zugrundegelegt:
„Technik wird von der Literatur der Moderne in ihren unterschiedlichen Bereichen zum Thema gemacht: theoretische Ansätze, Erfindungen und ihre Umsetzung in die Praxis, industrielle Produktion, die Person des Technikers und des Industriellen, die Auswirkungen auf Leben, Kultur, Wissenschaften und Medizin, die Verwendung als Metapher.“
Nach LENK „drückt sich in Einstellungen zum Umgang mit technischem Gerät, im unmittelbaren Verhalten bei der Anwendung von Geräten und Verfahren sowie in der Einstellung zur Technik, zu technischen ‚Sachen’ und Systemen sowie zum technischen Fortschritt besonders deutlich die soziale Verzahntheit des Technischen aus [...].“ Mit anderen Worten: Die sozialen Beziehungen des Menschen nehmen, je stärker Technik in die Lebenswelt eindringt und „je stärker gesellschaftliche Subsysteme ausdifferenziert werden, um so mehr die Form von Ritualen und unhinterfragten Routinen an. Dieser Prozeß wird so weit vorangetrieben, dass zwischenmenschliche Beziehungen, soziale Figurationen schließlich ganz auf Maschinen übertragen werden können. In diesem Zusammenhang lassen sich deshalb auch drei soziale bzw. soziotechnische Figurationen unterscheiden: Beziehungen neben der Technik, Beziehungen […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 5266
Scheminski, Heike Silvia: Mensch und Technik: Beispiele antizipatorischer Texte im Vorfeld und
während der industriellen Revolution in Frankreich / Heike Silvia Scheminski - Hamburg:
Diplomica GmbH, 2002
Zugl.: Jena, Universität, Magister, 2001
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2002
Printed in Germany

1
Inhalt:
1 Einleitung ... 4
1.1 Problemstellung ... 5
1.2 Zentrale Konzepte der Problemstellung (terminologische Grundlagen)... 6
1.2.1 Antizipation... 6
1.2.2 Technik ... 8
1.2.3 Fortschritt (progrès) ... 10
1.2.4 Industrialisierung und ,,Industrielle Revolution"... 12
2 Zur Textauswahl ... 15
2.1 Auswahlkriterien... 15
2.2 Anmerkungen zur Gattungsproblematik... 16
2.3 Quellenlage... 19
2.4 Kurzporträts der ausgewählten Beispieltexte... 21
3 Louis Sébastien MERCIER: L'An 2440, rêve s'il en fut jamais. ... 23
3.1 Weltanschauliche Konzeption MERCIERs ... 24
3.1.1 MERCIER als ,,héritier des Lumières" ... 24
3.1.2 Exzentrizität als Image und Methode... 26
3.1.3 Deistische Religionsauffassung... 26
3.1.4 Politische Grundkonzeption ... 28
3.2 Gesellschaftskritik und Antizipation ... 29
3.2.1 Kritik an der empirischen Welt ... 29
3.2.2 Antizipation des Jahres 2440... 32
3.2.2.1 Leitmotiv ... 32
3.2.2.2 Mittel zur Konstruktion der Vision des Jahres 2440 ... 33
3.3 Mensch und Technik bei MERCIER... 34
3.3.1 Wissenschaftsbild ... 34
3.3.2 Technikbild ... 38
3.3.3 Zusammenfassung ... 42
4 Étienne CABET: Voyage en Icarie ... 43
4.1 Weltanschauliche Konzeption CABETs... 45
4.1.1 Politisches Engagement ... 46
4.1.2 Quellen und Vorbilder für Voyage en Icarie ... 47
4.1.3 Menschenbild CABETs ... 49
4.1.4 Deistische Religionsauffassung... 51
4.1.5 Vom utopischen Roman zum kommunistischen Siedlungsprojekt ... 53
4.2 Zur Struktur des Textes Voyage en Icarie ... 54

2
4.2.1 Formale Gliederung durch CABET... 54
4.2.2 Fiktionaler vs. programmatischer Charakter des Textes ... 56
Fiktionaler Charakter ... 56
Programmatischer Charakter... 59
4.3 Mensch und Technik bei CABET ... 60
4.3.1 Technik als grundlegendes Hilfsmittel zur Verwirklichung Ikariens... 61
4.3.2 Beispiele für den Technikeinsatz in Ikarien ... 62
4.3.2.1 Transportmittel ... 62
Eisenbahn... 63
Aspekt der Sicherheit und des Komforts ... 64
Antriebskräfte der technischen Entwicklung... 66
4.3.2.2 Technik in der Arbeitswelt ... 66
4.3.2.3 Technik in der privaten Lebenswelt ... 69
4.3.3 Zukunftsweisende Energien ... 70
4.3.4 Zusammenfassung ... 70
5 Émile Souvestre: Le Monde tel qu'il sera ... 72
5.1 Weltanschauliche Konzeption SOUVESTREs ... 73
5.1.1 Stoizismus und Moralphilosophie ... 74
5.1.2 Christliche Religionsauffassung und ,,romantische Gegenposition"... 75
5.1.3 Literarische Beeinflussung SOUVESTREs ... 76
5.2 Le Monde tel qu'il sera als hypothetisches Konstrukt... 77
5.2.1 Basisannahmen... 78
5.2.2 Romantischer Charakter des Textes Le Monde tel qu'il sera ... 80
5.2.3 Kritische und ironisch-satirische Züge des Textes ... 83
5.3 Mensch und Technik bei SOUVESTRE... 85
5.3.1 John Progrès... 85
5.3.2 Wissenschaft ... 87
5.3.3 Technik in der hypothetischen Arbeits- und Lebenswelt ... 88
5.3.3.1 Fiacres volants, omnibus-ballons, tilburys ailés und andere Fortbewegungs- und Transportmittel
... 89
5.3.3.2 Maschinen und Technik in Ersatzfunktionen... 93
5.3.3.3 Technische Hilfsmittel und technische Darstellungen als Schmuckelemente... 99
5.3.4 Zusammenfassung ... 100
6 Vergleich des Verhältnisses Mensch und Technik in den untersuchten antizipatorischen Texten... 102
6.1 Funktionen, die der Technik zugewiesen werden, im Vergleich... 102
6.2 Im Zusammenhang mit der Beschreibung von Technik bzw. der Darstellung des Verhältnisses Mensch -
Technik eingesetzte Stilmittel im Vergleich... 106
6.3 Zusammenfassung: Veränderungen der Sichtweise des Verhältnisses Mensch und Technik mit der
industriellen Revolution und Tendenzen in der Entwicklung des Genres Utopie ... 108

3
7 Bibliographie ... 113
7.1 Primärliteratur... 113
7.2 Sekundärliteratur... 113
7.3 Wörterbücher und Lexika ... 116
7.4 HTML-Dokumente ... 117

4
1 Einleitung
,,Im 19. Jahrhundert haben die Naturwissenschaften die literarische Phantasie eingeholt und überflügelt [...]."
1
Zu diesem Urteil gelangt SUVIN in seiner Poetik der Science Fiction.
Nichtsdestotrotz entwickelt sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur das Genre der
Fortschrittsutopie, sondern auch das der Science Fiction, das im 20. Jahrhundert einen vorderen Rang im
,,Literaturkonsum" breiter Bevölkerungsschichten der westlichen industrialisierten Welt einnehmen sollte, wobei
als Pioniere der Science Fiction Jules VERNE (Voyage au centre de la terre (1864), De la terre à la lune (1865),
Autour de la lune (1870)) und H. G. WELLS (The time machine (1895), The war of the worlds (1897))
2
gelten.
Die genannten Werke zeichnen sich dadurch aus, daß wissenschaftliche und technische Fragestellungen insofern
eine Rolle spielen, als zukünftige Entwicklungen, meist technischer Art, aus dem zeitgenössischen Wissen
extrapoliert werden
3
. Nach Ansicht SUVINs handelt es sich bei dieser Extrapolation um einen ,,erzählerischen
Kunstgriff"
4
, der das Aufeinandertreffen von Verfremdung und Erkenntnis
5
der Realität in einem imaginativen
Rahmen
6
ermöglicht. Eine wissenschaftlich fundierte Antwort auf die Frage, welche Bedingungen zu einer
veränderten Wahrnehmung der Realität sowie zur Ausprägung eines solchen ,,erzählerischen Kunstgriffs"
geführt haben, kann er leider nicht geben. Es muß davon ausgegangen werden, daß hier komplexe
Wirkungszusammenhänge und Interdependenzen vorliegen.
Technik ist seit Menschengedenken und in den verschiedensten Gesellschaften beispielsweise in Form von
Werkzeugen und Kriegsgerät genutzt worden. Die Antizipation der Zukunft, das Fortschrittsdenken, die
Industrialisierung, das Eindringen von technischen Vorrichtungen und Maschinen in alle Bereiche der Lebens-
und Arbeitswelt des Menschen sowie die Thematisierung von realen oder möglichen sozialen Veränderungen
infolge des Technikeinsatzes in Kunst und Literatur sind jedoch ,,Errungenschaften" der modernen westlichen
Kultur.
,,Solange es an ausreichend gegründeten empirischen Daten zur Bestimmung der Herkunft und der Verläufe
,sozialer Bewertungen von Technik' mangelt, haben die Aussagen des literarischen Materials auch außerhalb der
Literaturwissenschaft durchaus Aufmerksamkeit verdient."
7
Oder anders ausgedrückt: Literaturwissenschaftliche
Arbeiten können einen wichtigen Forschungsbeitrag leisten, wenn hinterfragt wird:
- welche kulturellen
8
Voraussetzungen zu dem naturwissenschaftlich-technischen Denken der Moderne
geführt haben,
- wie sich dieses neuartige Denken in der literarischen Produktion manifestiert,
- wie Veränderungen der Arbeits- und Lebenswelt während einer Umbruchsituation, wie sie die
industrielle Revolution darstellt, wahrgenommen, bewertet und künstlerisch verarbeitet werden,
1
SUVIN, 1979, S. 32
2
Vgl. SCHWEIKLE, 1990, S. 422
3
Vgl. ebd.
Anmerkung: ,,Extrapolation"/ ,,extrapolieren" wird hier wie im folgenden Text im umgangssprachlichen und nicht im mathematischen Sinne
verstanden. D. h. diese ,,Extrapolation" führt nicht zu einem eindeutigen Ergebnis.
4
Vgl. SUVIN, 1979, S. 52
5
Vgl. ebd., S. 27
6
Vgl. ebd.
7
SEGEBERG, 1987, S. 6
8
,,Kultur" wird hier wie im folgenden Text als ein System verhaltenssteuernder Werte und Normen, die von den Mitgliedern einer sozialen
Gruppe erlernt und geteilt werden, verstanden.

5
- welche Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge (Kausalketten) aus einer solchen Situation heraus
wahrgenommen werden,
- welche Erwartungen an eine (mögliche) Technik der Zukunft gerichtet werden,
- welche sozialen Probleme in diesem Zusammenhang verdrängt und welche thematisiert werden,
- ob, wie, in welchen konkreten Ausprägungen und von wem diese Zukunft gestaltet wird usw.
Für die Untersuchung des Verhältnisses, das Menschen ,,im literarisch konstruierten Wirklichkeitsbild" mit der
Technik eingehen, stützt sich die vorliegende Arbeit auf antizipatorische Texte (vgl. Abschnitt 2.2), da diese
über ein hohes Potential verfügen, real empfundene Mängel, Wunschträume und Hoffnungen durch Projektion in
eine hypothetische Zukunft deutlich zum Ausdruck zu bringen.
1.1 Problemstellung
Anhand von ausgewählten Beispielen antizipatorischer Texte, die vor bzw. während der industriellen Revolution
in Frankreich entstanden sind, wobei sie aufgrund ihrer Struktur, der verwendeten Stilmittel und ihres Anspruchs
der Literatur zugerechnet werden, und die Aussagen zu dem Verhältnis von Mensch und Technik in der Hinsicht
treffen, daß dem Menschen ein Platz in einer technisierten Gesellschaft wie auch der Technik bestimmte
Funktionen in einer menschlichen Lebenswelt zugewiesen werden, soll gezeigt werden, inwieweit real
stattfindende Veränderungen in einem mit literarischen Mitteln konstruierten Wirklichkeitsbild, das in die
Zukunft projiziert ist, reflektiert werden.
Dieser Zielsetzung liegen folgende Annahmen zugrunde:
1. ,,Technik wird von der Literatur der Moderne in ihren unterschiedlichen Bereichen zum Thema
gemacht: theoretische Ansätze, Erfindungen und ihre Umsetzung in die Praxis, industrielle Produktion,
die Person des Technikers und des Industriellen, die Auswirkungen auf Leben, Kultur, Wissenschaften
und Medizin, die Verwendung als Metapher."
9
2. Nach LENK ,,drückt sich in Einstellungen zum Umgang mit technischem Gerät, im unmittelbaren
Verhalten bei der Anwendung von Geräten und Verfahren sowie in der Einstellung zur Technik, zu
technischen ,Sachen' und Systemen sowie zum technischen Fortschritt besonders deutlich die soziale
Verzahntheit des Technischen aus [...]."
10
Mit anderen Worten: Die sozialen Beziehungen des
Menschen nehmen, je stärker Technik in die Lebenswelt eindringt und ,,je stärker gesellschaftliche
Subsysteme ausdifferenziert werden, um so mehr die Form von Ritualen und unhinterfragten Routinen
an. Dieser Prozeß wird so weit vorangetrieben, dass zwischenmenschliche Beziehungen, soziale
Figurationen schließlich ganz auf Maschinen übertragen werden können. In diesem Zusammenhang
lassen sich deshalb auch drei soziale bzw. soziotechnische Figurationen unterscheiden: Beziehungen
neben der Technik, Beziehungen mittels der Technik und Beziehungen in Gestalt der Technik."
11
Diese
Beziehungen bilden das Verhältnis von Mensch und Technik, das in der vorliegenden Arbeit zur
Disposition steht.
9
ENGELHARDT, 1994, S. 428
10
LENK, 1982, S. 23
11
http://www.techno.net/pcl/media/kurtk/techint.htm

6
3. Aufgrund der Tatsache, daß Antizipationen bewußt oder unbewußt die Wahrnehmung der realen
Lebenswelt, persönliche Erfahrungen, Kenntnisse, Wünsche, Sehnsüchte, Ansprüche, Befürchtungen
und Ängste widerspiegeln, kann im Zusammenspiel mit zusätzlichen Informationen (z. B. aus externen
Dokumenten) auf diese zurückgeschlossen werden.
Werden mehrere Texte betrachtet, die von verschiedenen Autoren zu verschiedenen Zeitpunkten verfaßt
worden sind, müßten sich neben individuellen (meist weltanschaulich determinierten) Standpunkten
auch generelle Tendenzen bezüglich des Untersuchungsgegenstandes, des Verhältnisses Mensch -
Technik im oben angegebenen Sinn sowie ein Wandel des menschlichen Selbstverständnisses infolge
sozialer, politischer und wirtschaftlicher Einflüsse (Revolution von 1789, politisch bewegte
nachrevolutionäre Periode, Industrialisierung, Etablierung der bürgerlichen Ordnung, Formation einer
Arbeiterbewegung usw.) sowie hinsichtlich der Genre-Entwicklung zeigen.
Es soll insbesondere gezeigt werden,
·
mit welchen stilistischen Mitteln (sekundären Ordnungsmustern der textuellen Mikrostruktur wie der
bewußten Verwendung von Periphrasen, Metaphern, Personifikationen, Vergleichen usw.) eine
Konkretisierung fiktiver Technik bzw. eine Präsentation des Verhältnisses von Mensch und Technik
erfolgt,
·
welche Argumentationsstrukturen für oder wider die Technik verwendet werden,
·
welche technikbezogenen Themen (auf Makrostrukturebene) Variationen erfahren,
·
wie mit Technik-Symbolen umgegangen wird,
·
welche Bezüge im Zusammenhang mit der Darstellung des Verhältnisses zwischen Mensch und Technik
zu anderen (literarischen und nichtliterarischen) Texten hergestellt werden,
·
inwieweit sich generelle Tendenzen der Genreentwicklung auch in der Struktur der untersuchten Texte
widerspiegeln.
1.2 Zentrale Konzepte der Problemstellung (terminologische Grundlagen)
In diesem Abschnitt sollen keine Begriffsdefinitionen mit Allgemeingültigkeitsanspruch vorgenommen werden,
sondern vielmehr soll der Inhalt von zentralen Konzepten, die in unmittelbarem Zusammenhang zur
vorliegenden Problemstellung stehen, ausgelotet werden.
1.2.1 Antizipation
In Abgrenzung zur Prophetie, die ein religiöses Moment enthält, ,,der Prophet sieht etwas kommen, was ohne
und auch gegen seinen Willen kommen muss, weil es heilsgeschichtlich notwendig ist"
12
, und zum
Vorherwissen (Prognose), das von Betrachtungen und Strukturanalysen der jeweiligen Gegenwart ausgeht, um
auf die nächst folgende Epoche zu schließen, dabei jedoch die Momente des Wünschens, des Hoffens, des
Fürchtens usw. außer acht läßt
13
, wird in der vorliegenden Arbeit unter Antizipation eine Extrapolation aus
12
HUNTEMANN, 1953, S. 17
13
Vgl. ebd., S. 18

7
einem ,,Jetzt und Heute" im Sinne SUVINs verstanden. Es handelt sich dabei um einen ,,erzählerischen
Kunstgriff"
14
, der das Aufeinandertreffen von Verfremdung und Erkenntnis der Realität in einem imaginativen
Rahmen
15
ermöglicht, der in die Zukunft projiziert ist. Diese Extrapolation geht dabei von einer individuellen
Wahrnehmung der Gegenwart, den ihr innewohnenden Mängeln und Möglichkeiten aus, die Projektionsfunktion
ist jedoch durch ,,nicht-rationale" Elemente wie Idealvorstellungen, Wünsche, Ängste oder Befürchtungen
wesentlich bestimmt.
Die französischen Termini littérature d'anticipation
16
bzw. roman d'anticipation
17
(vgl. Abschn. 2.2) umfassen
literarische antizipatorische Texte, wie sie in dieser Arbeit zugrunde gelegt werden.
SUVIN führt die Entstehung der littérature d'anticipation auf eine veränderte Lebensweise zurück, ,,die einer
kapitalistischen Wirtschaft entspricht, deren finanzielle Belohnungen, Profite und progressive Ideale immer in
einer künftigen Uhren-Zeit erwartet werden"
18
. TROUSSON
19
gibt jedoch folgende Beispiele für
antizipatorische Texte an, deren Entstehung vor der Ausprägung kapitalistischer Produktionsverhältnisse liegt:
·
GUTTIN Jaques: Epigone, histoire du siècle futur (1665, Frankreich),
·
MADDEN S.: The Memoirs of the twentieth century (1733, England),
·
eine Artikelserie im Mercure de France (1755-1756, Frankreich): ,,L'auteur anonyme d'une série
d'articles dans le Mercure de France dans les années 1755 et 1756 argumente aussi dans une perspective
uchronique. Il présente aux lecteurs un résumé des Mémoires d'une ,société de Gens de lettres' (juillet
1755, p. 159) de l'an 2355 qui s'occupe d'architecture, de peinture, de sculpture et de musique."
20
·
MERCIER Louis-Sebastién: L'An 2440, rêve s'il en fut jamais (1771, Frankreich, Uchronie).
Tatsächlich entstand bereits mit Francis BACONs New Atlantis
21
, wie SCHULTE-HERBRÜGGEN ausführt, ein
literarischer Typus, bei dem aus dem prinzipiellen Nirgendwo Thomas MOREs Utopia
22
(siehe Abschn. 2.2) ein
potentielles, durch Fortschritt und Perfektion (in der Zukunft) erreichbares Irgendwo geworden war
23
.
Das bedeutet, die Denkstruktur der Antizipation liegt weder in der ,,kapitalistischen Lebensweise" noch im
,,technischen Fortschritt" begründet, sondern gelangt mit der Aufklärung und der philosophischen Strömung des
Positivismus
24
zu einer größeren Bedeutung.
14
Vgl. SUVIN, 1979, S. 52
15
Vgl. ebd., S. 27
16
Vgl. CARME, 1970, S. 40
17
Vgl. HUDDE, 1988, S. 109-122
18
SUVIN, 1979, S. 103
19
TROUSSON, 1999, S. 162
20
KRAUSS, 1988, S. 97
21
Die von Francis BACON, Baron Verulam, Viscount of St. Alban (1561-1626) in englischer Sprache verfaßte Utopie ,,New Atlantis" (etwa
1624 entstanden) wurde von seinem Sekretär erst posthum (1627) als Fragment herausgegeben. Bei der Darstellung seines auf einer fernen
Insel angesiedelten idealen Gemeinwesens stellt BACON, wie SCHULTE-HERBRÜGGEN mit Verweis auf die Unvollständigkeit des
Werks ausführt (der ,,frame of laws of the best State" war nicht fertig geworden), sozial-ethische und politische Argumente hinter
naturwissenschaftliche zurück. ,,In Bacons New Atlantis sind [...] erstmals die ungeheuren Möglichkeiten des durch empirisch-
naturwissenschaftliche Methoden erzielten Fortschritts [in den Vordergrund] getreten. Die Macht der Wissenschaft im Dienste der Technik
bildet hier die geistige Mitte der Utopie. An der Stelle der ,contemplatio' steht die praktische ,utilitas', die ,realitas an der Stelle der
,veritas'." [SCHULTE-HERBRÜGGEN, 1960, S. 57]
22
Zur Wortbildung des Neologismus Utopia vgl. beispielsweise SCHULTE-HERBRÜGGEN, 1960, S. 3-6; FUNKE, 1985, S. 193f
23
Vgl. SCHULTE-HERBRÜGGEN, 1960, S. 57
24
Der Begriff des Positivismus wurde erst durch die Schriften Augustes COMTEs geprägt. Die damit bezeichnete philosophische Strömung,
die Erkenntnis ausschließlich aus Erfahrung und empirischem Wissen über Naturphänomene ableitet und Metaphysik und Theologie als zur
Erkenntnisgewinnung unangemessen betrachtet, geht auf HUME, SAINT-SIMON und KANT zurück.

8
,,Seit der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts häufen sich zahlreiche Indizien, die auf den
Begriff einer neuen Zeit im emphatischen Sinne hinweisen. Die Zeit bleibt nicht nur die Form, in
der sich alle Geschichten abspielen, sie gewinnt selber eine geschichtliche Qualität. Die Zeit wird
dynamisiert zu einer Kraft der Geschichte selber."
25
Als (interdependente) Voraussetzungen für die Entstehung einer littérature d'anticipation können demnach
angenommen werden:
·
eine veränderte Raumauffassung infolge der Ablösung des geozentrischen Weltbildes, der geographischen
Entdeckungen und Erkundungen (während der Renaissance),
·
eine lineare Zeitauffassung und ein verändertes Geschichtsbewußtsein
26
:
,,Die Vergangenheit wird nicht mehr als ein goldenes Zeitalter betrachtet, sondern die Gegenwart
wird aufgrund ihres materiellen und intellektuellen Fortschritts als erfolgreicher und positiver
empfunden. Der Geschichtsverlauf erhält eine Dynamik und weckt die Hoffnung, die Menschen in
Zukunft auf immer bessere und fortschrittlichere Entwicklungsstufen führen zu können."
27
·
die Loslösung von heilsgeschichtlichen Erwartungen,
·
ein verändertes Selbstbild des Menschen infolge der Herausbildung der modernen Naturwissenschaften
28
,
insbesondere der Glaube an einen Fortschritt und an die unendliche Vervollkommnungsfähigkeit des
Menschen (indéfinie perfectibilité de l'homme), an seine Kreativität und Intelligenz (pouvoir de
l'intelligence) und damit einhergehend eine ,,Veränderung der Wunschziele und der Funktion des
Wünschens"
29
.
BLOCH unterscheidet ferner zwischen Nah-Antizipation und Fern-Antizipation:
,,Nah-Antizipation ist, daß das Erwünschte von uns auch noch erfahren werden kann. [...] Das
andere ist das Antizipierende schlechthin, das das ,Reich der Freiheit' politisch-soziologisch im
Sinn hat und, wie man fälschlich sagt, die säkularisierte Form der Freiheit der Kinder Gottes.
Populär gesagt: der fern-antizipierende Vorgriff hat es mit dem sogenannten Himmelreich auf
Erden zu tun."
30
Eine in die erlebbare Zukunft projizierte Lebenswelt wird jedoch zur Handlungsmotivation und zum
Programm
31
.
1.2.2 Technik
,,Der Begriff ,Technik' stammt vom griechischen ôÝ÷íç ab."
32
Wie LENK betont, umfaßte der Techne-Begriff
bereits im klassischen Altertum nicht nur die handwerkliche Erfahrenheit, Geschicklichkeit und Kunstfertigkeit
in der Herstellung von Objekten, ,,sondern bereits bei Platon [...] und Aristoteles [...] unterscheidet sich der
25
KOSELLECK, 1979, S. 321
26
Vgl. TROUSSON, 1998, S. 173
27
TODROWSKI, 1996, S. 35
In diese Richtung weist auch die Fortschrittskonzeption TURGOTs, wonach sich das Denken von der Mythologie über die Metaphysik zur
positiven Wissenschaft entwickelte. Vgl. dazu: SIEFERLE, 1984, S. 40
28
Vgl. ROGER, 1969, S. 266
sowie TROUSSON 1998, S. 61: ,,Ainsi, jusqu'à la fin du XVII
e
siècle, sciences et techniques peuvent ouvrir la compréhension du monde
plutôt que révéler à l'homme ses possibilités d'action sur le monde. La science instruit, elle éclaire, elle dissipe les brumes de la superstition,
mais ne transforme ni l'environnement, ni le mode de vie."
sowie SCHWONKE, 1957, S. 24: ,,Gleichzeitig mit der Entheiligung des Himmelsraumes erschüttert die neue Astronomie die christliche
Vorstellung, daß der Mensch Zentrum, Sinn und Krone der Schöpfung sei."
29
Vgl. SCHWONKE, 1957, S. 3
30
BLOCH, 1973, S. 26
31
Vgl. TODROWSKI, 1996, S. 59
32
LENK, 1982, S. 16

9
ôå÷íßôçò vom Handwerker dadurch, daß er um die Gründe, die Rechtfertigung, die Gesetzmäßigkeiten weiß,
denen ein Verfahren folgt. Der Techniker hat Überlegungen, systematisches Denken für sein Herstellen, Machen
anzuwenden."
33
Während Platon das Wissen und das Wissenschaftliche in der Technik betonte, rückte
Aristoteles praktische Überlegungen in den Vordergrund und nahm damit eine Unterscheidung zwischen
Wissenschaft und Technik vor. Sowohl für Platon als auch für Aristoteles gilt: ,,Die Techniken bedienen sich
begründender, also wissenschaftlich-systematischer Methoden, die auf die praktische Weltbewältigung
ausgerichtet sind [...]."
34
Von der Philosophie wird Technik ­ unabhängig von den herrschenden sozialen Bedingungen ­ verstanden als:
- Realwerden aus Ideen
35
(konstruieren, herstellen, machen, schaffen, bauen, vergegenständlichen...),
- ein System von Mitteln, die zur Erreichung beliebiger Zwecke und Ziele eingesetzt werden können,
insbesondere zur Deckung des wirtschaftlichen Bedarfs, zur Daseinsentlastung und zur Abwendung von
Not sowie für eine verbesserte Lebensqualität (Existenzvorsorge und Naturbeherrschung)
36
,
- Ausdruck menschlichen Ausbeutungs- und Machtstrebens
37
,
- ein System von Mitteln, um die Lebensverhältnisse fortwährend zu verbessern und der Vollkommenheit
zuzuführen
38
,
- sich in Verwirklichung befindliche oder angestrebte Selbsterlösung des Menschen durch sein eigenes
Handeln
39
, durch ,,werktätiges Gestalten der Wirklichkeit"
40
.
LENK und ROPOHL führen zum Bedeutungsumfang der Technik aus:
,,Technik umfaßt weit mehr als die Welt der künstlich gemachten Gegenstände. Diese
Gegenstände nämlich gehen aus einem vielschichtigen Geflecht menschlicher Entwürfe,
Entscheidungen und Handlungen hervor. Und wenn die technischen Gegenstände genutzt werden,
sind es wiederum menschliche Handlungen, in denen sie eine Rolle spielen. Zum einen Teil
ersetzen die technischen Gegenstände menschliche Handlungs- und Arbeitsfunktionen und
überlassen den Menschen nur mehr die Zielsetzung und Kontrolle; zum anderen Teil schaffen sie
neue Leistungsmöglichkeiten, die menschliches Handeln und Erleben ergänzen und ausweiten.
Wohl sind es immer Individuen, die ihre Beiträge zur Herstellung der technischen Gegenstände
leisten, und Individuen sind es, die aus dem Gebrauch ihren Nutzen ziehen."
41
Damit ist Technik jedoch geschichtlich determiniert (d. h. technische Neuentwicklung knüpfen immer an schon
Vorhandenes an), sozial bedingt (d. h. abhängig von den Entscheidungen, die Menschen treffen, um auf
gegebene Bedingungen zu antworten) und mit allen anderen Lebensbereichen der menschlichen Gesellschaften
verflochten.
42
,,Anwendungsbereiche waren in vorindustrieller Zeit neben der Produktion als dem bedeutendsten
Technikanwender Wissenschaft, Militärwesen und Festungsbau, Verkehrswesen, Landesausbau, Landwirtschaft,
höfische Repräsentation und Alltag."
43
33
LENK, 1982, S. 16
34
Ebd., S. 49f
35
Ebd., S. 21
36
Vgl. ebd., S. 19f
37
Vgl. ebd., S. 156
38
Vgl. HÖFFE Otfried, 1993, S. 70
39
Vgl. LENK, 1982, S. 20
40
Vgl. ebd., S. 156
41
LENK, ROPOHL, 1993, S. 6
42
Vgl. LENK, 1982, S. 19
43
AAGARD Herbert, 1993, S. 89-91

10
Bis zum 18. Jahrhundert hatte sich im Zusammenhang mit einer entsprechenden Technikentwicklung in Europa
der Durchbruch der modernen Naturwissenschaft vollzogen. Nach HÖFFE liegt dieser modernen
Naturwissenschaft eine utilitaristische Ethik zugrunde. ,,Diese erhält ihre gültige Form zwar erst durch Jeremy
Bentham (1789) und John Stuart Mill (1861); der Sache nach und erstaunlich klar finden wir sie aber schon bei
Bacon [...]."
44
(Vgl. Anmerkungen auf S. 7)
In diesem Zusammenhang ist zu beachten, daß Technik und Moral
45
voneinander unabhängige soziale bzw.
kulturelle Kategorien darstellen, Technik an sich weder moralisch noch unmoralisch sein kann.
,,Die Amoral ergibt sich aus dem Zusammenspiel verschiedener Formen von Neutralität oder
Indifferenz, die zwar im Prinzip längst bekannt sind, in ihrer Vielfalt und in ihrem Gewicht aber
gern unterschätzt werden.
Neutral bzw. indifferent ist die nutzenorientierte Wissenschaft, sprich: Technik, zunächst einmal in
personaler Hinsicht; ihrer Instrumente und Verfahren kann sich jedermann bedienen. Dazu kommt
die Möglichkeit des Mißbrauchs bzw. der Zweckentfremdung."
46
,,Seit Aristoteles wissen wir, daß die Techne eines Korrektivs bedarf, einer Gegenmacht, die mehr
als bloß der Machtbalance dient; sie beansprucht die Hegemonie; es bedarf einer pouvoir
directeur. [...] Festhalten läßt sich aber [...], daß die strukturelle Amoral weder durch eine neue
Technik aufgehoben wird noch durch eine neue Moral, sondern durch die Einbindung der Technik
in eine moralische Praxis."
47
Die Frage nach dem Verhältnis, das Menschen in einem ,,literarisch konstruierten Wirklichkeitsbild" mit der
Technik eingehen, schließt demnach eine Bewertung unter ethisch-moralischem Aspekt sowie ein Hinterfragen
der Definition von Gemeinwohl einer Gesellschaft mit ein.
Wie bereits erwähnt, wird der Technik u. a. die Funktion zugeordnet, die Lebensverhältnisse fortwährend zu
verbessern und der Vollkommenheit zuzuführen
48
. Es handelt sich hierbei, wie HÖFFE herausstellt, um ein
Denkmuster mit Bezug auf den ,,Sündenfall", wie er den jüdisch-christlichen Religionen bekannt ist.
,,Die darauf [auf den Sündenfall] erfolgende Strafe, die Vertreibung aus dem Paradies, könnte man
glauben, werde durch die Technik zurückgenommen, so daß eine Auflehnung gegen Gott denn
doch stattfinde. Die Anstrengung der Arbeit, die Beschwerlichkeit der Geburt, der Zwist unter den
Menschen ­ gegen all diese von Gott auferlegte Mühsal richtet sich das Unternehmen Technik in
der Tat."
49
1.2.3 Fortschritt (progrès)
Der Fortschrittsgedanke bzw. der Glaube an einen Fortschritt ist deshalb eine zentrale Kategorie entsprechend
der Problemstellung der vorliegenden Arbeit, weil in ihm die Suche des Menschen nach Sinn sehr gut zum
Ausdruck kommt, weil er deutlich macht, an welchen Denkfiguren der Mensch seine Weltsicht und sein eigenes
Selbstverständnis orientiert
50
.
44
HÖFFE, 1993, S. 69
45
Zur Begriffsbestimmung vgl. LENK, ROPOHL, 1993, S. 8: ,,Eine Moral ist das System von Regeln, die in einer Gesellschaft verbindlich
festlegen, welches Handeln sittlich gut ist."
46
HÖFFE, 1993, S. 128
47
Ebd., S. 132
48
Vgl. ebd., S. 70
49
Ebd., S. 134
50
Vgl. WUKETIS, S. 39ff

11
,,In der christlichen Tradition bedeutet Fortschritt Glaube an die Erlösung der Menschen durch Christus. Nach
Augustinus [354-430] bewegt sich die Menschheit in der Zeit auf das himmlische Reich zu."
51
Während anhand des Wörterbucheintrages im Dictionnaire de l'Académie Française
52
über den Zeitraum von
1694 bis 1835 keine Veränderung der Grundbedeutung von progrès (,,toute sorte d'Avancement,
d'accroissement, d'augmentation en bien ou en mal") nachzuweisen ist, erhält nach NISBET
53
der moderne
Fortschrittsgedanke in der westlichen Welt vor allem in der Zeit zwischen 1750 und 1900 seine Ausprägung,
indem er sich vom Konzept zum Kontext für eine neue Geisteshaltung entwickelt:
,,From being one of the important ideas in the West it became the dominant idea, even when one
takes into account the rising importance of other ideas such as equality, social justice, and popular
sovereignty - each of which was without question a beacon light in this period.
However the concept of progress is distinct and pivotal in that it becomes the developmental
context for these other ideas."
54
Als Ursachen für diesen Bedeutungswandel werden in der Literatur genannt:
·
ein neues Geschichtsbewußtsein im Ergebnis der französischen ,,Querelle des Anciens et des Modernes"
55
:
,,Libéré de l'oppression théologique qui interdisait une conception de l'histoire fondée sur le
développement autonome de l'homme, un Fontenelle, dès les premières années du siècle [XVIII
e
siècle],
parle de ,progression' [...]"
56
. Geschichte wird als unwiederholbar aufgefaßt.
·
ein Wandel des sozialen Status der Wissenschaften, der sich in Frankreich im Laufe des 18. Jahrhunderts
vollzieht
57
:
,,Jusqu'à la fin du XVIII
e
siècle, sciences et techniques peuvent ouvrir la compréhension du monde
plutôt que révéler à l'homme ses possibilités d'action sur le monde. La science instruit, elle
éclaire, elle dissipe les brumes de la superstition, mais ne transforme ni l'environnement, ni le
mode de vie."
58
Mitte des 18. Jahrhunderts wird, wie aus Zeitdokumenten bekannt ist, im öffentlichen Diskurs ein
Zusammenhang zwischen der Leistungsfähigkeit der Wissenschaften und der wirtschaftlichen Stärke
Frankreichs hergestellt. Angewandte Wissenschaft und Technik werden als Produktionsfaktoren
wahrgenommen: ,,A partir du milieu du siècle [...] il devient de plus en plus évident que le progrès
scientifique conditionne le développement économique et la puissance industrielle ou militaire d'une
nation."
59
·
die Säkularisierung des Fortschrittsgedankens im Zuge der Aufklärung:
,,What we also find in the period [...] is the beginning and development of secularization of the
idea of progress - detaching it from its long-held relationship with God, making a historical
process activated and maintained by purely natural causes. From Turgot's notable lectures and
discourses in 1750-51 through Condorcet, Comte, Marx, Mill, Spencer, and others, there is a
51
Vgl. Microsoft®Encarta®Enzyklopädie 2000, Eintrag unter Stichwort Fortschritt
52
Vgl. http://hera.inalf.fr/dictionnaires
53
NISBET, 1980
54
Ebd., S. 171
55
Vgl. KRAUSS, 1963, S. 176
56
TROUSSON, 1998, S. 173
57
Vgl. ROGER, 1969, S. 269
58
Vgl. TROUSSON, 1998, S. 61
59
ROGER, 1969, S. 268

12
manifest desire to liberate progress from any crucial relationship with an active, guiding, ruling
Providence."
60
Infolge einer veränderten naturwissenschaftlichen Grundlage (Rationalismus) wurde die Natur nicht mehr
als unantastbare, nicht verbesserungsfähige Schöpfung Gottes betrachtet, sondern als etwas, was der
Mensch nach seinen Bedürfnissen umgestalten und verändern durfte und sollte.
61
,,Le nouveau schéma rationaliste du monde s'était arrondi et il ne lui restait plus qu'à trouver le
sens ou la finalité de l'histoire. [...] Le genre humain est devenu une vaste entreprise de
l'intelligence: il agit comme une société anonyme, dont le but est de multiplier les bénéfices et
d'en dépenser judicieusement une partie en investissements et en améliorations du train de vie."
62
Damit wurde Fortschritt (progrès) nicht nur zur prospektiven Erwartungskategorie
63
, sondern Fortschritt
wurde auch mit einer ,,moralischen Weiterentwicklung" des Menschen gleichgesetzt.
·
die nationalökonomischen Theorien Adam SMITHs (1723-1790)
64
, die zur Folge hatten, daß um 1800 das
Fortschrittsdenken um die Idee fortschrittsorientierter Planung ergänzt wurde:
,,Stand bis zum Beginn des Industriezeitalters die Höherentwicklung des Menschen zum frei
entscheidenden Vernunftwesen im Mittelpunkt der Hoffnungen, so erhielt der Fortschrittsbegriff
fortan eine veränderte Zielrichtung: Die Weiterentwicklung naturwissenschaftlicher und
technischer Erkenntnisse sollte den Menschen zur Beherrschung der Natur befähigen. Durch die
Befreiung des Menschen von natürlichen Zwängen erhoffte man sich die Entfaltung positiver,
humaner Eigenschaften; die Beherrschung und Instrumentalisierung der Natur sollte physische Not
und Elend beseitigen und sowohl zur politischen Gleichheit führen als auch Unwissenheit und
kulturellen Verfall beseitigen. Das Zentrum des Denkens und Handelns hatte eine neue
Zielrichtung bekommen, die Zukunft."
65
Damit wurde in den 1830er Jahren Fortschritt zu einem Schlagwort, mit dem unterschiedliche
Bestrebungen und Reformabsichten belegt wurden, wie beispielsweise AFFELD-SCHMIDT
66
formuliert:
,,Der Ablauf von Zeit allein wurde bereits als Garant für das Eintreten von Veränderungen
angesehen. Durch die Absichten und Handlungen des Menschen versprachen diese Veränderungen
einen systematischen Charakter zu bekommen. Jeder politisch Engagierte konnte eine Chance
sehen, sein Konzept der Zukunft zu verwirklichen. Das politisch gemünzte Schlagwort beschreibt
das zeitgenössische Möglichkeitsdenken, enthält konkrete Verwirklichungserwartungen oder
-absichten und beansprucht, per se ein Positivum zu sein."
67
1.2.4 Industrialisierung und ,,Industrielle Revolution"
Nach WALTER
68
wird in der Literatur der Terminus ,,Industrielle Revolution" nicht nur in einem engen
technisch-ökonomischen Sinne als Revolution von Produktionsprozessen verstanden, sondern auch als ein
komplexer Wandel, in dessen Verlauf technisch-wirtschaftliche Entwicklungen mit gesellschaftlichen und
sozialen Veränderungen einhergehen. Letztgenannte Bedeutung wird auch in der vorliegenden Arbeit zugrunde
gelegt.
60
NISBET, 1980, S. 172
61
Vgl. TODROWSKI, 1996, S. 2
62
CIORANESCU, 1972, S. 192
63
Vgl. AFFELDT-SCHMIDT, 1991, S. 40
64
SMITH betrachtete als Quelle des nationalen Reichtums die vom Volk geleistete Arbeit.
65
TODROWSKI, 1996, S. 2
66
Vgl. AFFELDT-SCHMIDT, 1991, S. 39
67
Ebd., S. 41
68
WALTER, 1995, S. 39

13
Hingegen werden unter ,,Industrialisierung" im allgemeinen die Vorgänge verstanden, ,,die mit dem Aufkommen
und der schließlichen Durchsetzung des Fabriksystems zusammenhängen. Industrialisierung bedeutet die Frage
nach der Entwicklung und dem Wachstum der Gewerbe und der Industrie selbst und den Veränderungen der
Gesamtwirtschaft und Gesellschaft, soweit sie durch die Industrie bestimmt sind."
69
,,Beim Begriff der ,Industriellen Revolution' handelt es sich seinem Ursprung nach um einen von französischen
Publizisten, Wissenschaftlern und Sozialutopisten in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts geprägten [...]
Terminus"
70
, wie MÜLLER herausstellt. Nach WALTER
71
wurde die Wortverbindung révolution industrielle
erstmals im Zusammenhang mit den sozio-politischen Ereignissen der französischen Revolution verwendet. Sie
diente dazu, ,,sowohl technische Erfindungen als auch sozio-ökonomische Veränderungen im Gefolge dieser
technisch-betriebsorganisatorischen Neuerungen zu charakterisieren"
72
. Der Begriff wurde dann von ENGELS
aufgegriffen und auf die soziale Situation der Arbeiterklasse Englands bezogen
73
, später von MARX
entscheidend geprägt, ehe er 1887 von TOYNBEE als Bestandteil eines Buchtitels den Status einer
,,Standardformel" erlangte.
74
WALTER
75
gibt folgende Zusammenfassung der Charakteristika der industriellen Revolution:
Quelle: WALTER, 1995, S. 42
69
ADELMANN, 1966, S. 162
70
MÜLLER H.-P., 1990, S. 49
71
WALTER, S. 40
72
SALIN, 1963, S. 346
73
Vgl. RIOUX, 1971, S. 8
74
Vgl. WALTER, 1995, S. 40 und MÜLLER H.-P., 1990, S. 49
75
Vgl. WALTER, 1995, S. 42

14
Hervorzuheben ist die Vorreiterrolle des protestantisch geprägten Englands
76
sowie der enge Zusammenhang,
der zwischen Industrialisierung und wissenschaftlich-technischem Fortschritt besteht. Mit den Worten von
RIOUX: ,,L'âge moderne commence en Angleterre à la fin du XVIII
e
siècle avec l'industrie nouvelle. Et la
révolution industrielle, c'est d'abord une révolution technique."
77
Bei einer genaueren Betrachtung des Verlaufs der industriellen Revolution wird ersichtlich, daß jeder neue
wirtschaftliche Aufschwung durch technische bzw. technologische Innovationen verursacht wurde. Mechanische
Webstühle, eine neue Kohle- und Eisentechnologie, die Dampfmaschine... leiteten den Industrialisierungsprozeß
ein und führten schließlich zur Durchsetzung des Fabriksystems. Das Wirtschaftswachstum setzt sich fort, da
neben neuen Technologien, Apparaten und Maschinen auch neue Energiequellen (z. B. Elektroenergie) zum
Einsatz gelangen. ,,A la première révolution industrielle, celle du charbon et de la vapeur, succède une seconde,
celle de l'électricité, du pétrole et du moteur à explosion."
78
In Frankreich war während der bürgerlichen Revolution mit den Droits de l'homme und dem Code civil zwar
eine tragfähige Gesetzesgrundlage für eine kapitalistische Entwicklung geschaffen worden, jedoch führten die
instabilen politischen Verhältnisse im Zuge der revolutionären und nachrevolutionären Ereignisse zunächst zu
einem Rückgang der industriellen Produktion.
79
Hinzu kommt, daß in Frankreich aufgrund der vorhandenen
Sozialstrukturen, der vorherrschenden Mentalität und des Katholizismus der take-off wesentlich langsamer als in
England vonstatten ging.
,,Il faudra attendre la décennie 1800-1810 pour que la croissance française soit lancée. Mais sans le
bel élan anglais : sur le marché européen du grand Empire, les produits français doivent rivaliser
avec les belges, les rhénans, les italiens ; la bourgeoisie se détourne de l'activité industrielle
lorsque les guerres reprennent. Après 1815, face à un marché extérieur qui est à peu près fermé,
l'industriel français doit se réadapter, miser sur le marché intérieur, employer une surabondante
main-d'oeuvre rurale à bas prix, s'orienter vers des productions de biens de consommation, aux
dépens des productions de base, monopoles anglais."
80
Die Situation Frankreichs änderte sich entscheidend in den Jahren 1840-1850:
,,Une nouvelle vague des inventions déferle, qui va occuper des zones nouvelles, consolider les
positions acquises et lier le progrès technologique à celui des sciences. On assiste d'abord à des
perfectionnements, en puissance et en rendement, des machines existantes. [...] De multiples
inventions plus mineures modifient radicalement les conditions de travail de secteurs nouveaux de
la production. [...]. Une série de machines assure de nouvelles percées du secteur moderne : la
presse hydraulique, les filetages de précision, le marteau-pilon, le marteau-piqueur pneumatique,
les machines-outils (fraiseuses, raboteuses, aléseuses) avec ou sans tourelles, la machine à coudre,
les rotatives d'imprimerie, les machines à écrire, les moissonneuses, les batteuses. Pêle-mêle, elles
triomphent après 1860 et généralisent le système industriel de production de masse."
81
Die angeführten Erfindungen stützten sich, wie RIOUX
82
betont, wesentlich auf neue wissenschaftliche
Erkenntnisse und Untersuchungen. Außerdem entstand eine Technik, welche den Bedürfnissen nach modernen
76
Vgl. dazu: RIOUX, 1971, S. 51: ,,Mais il est évident que les églises réformées, avec leur sens de l'individu, de l'effort solitaire vers la
perfection, de la valeur du travail et de la réussite bénie par Dieu, entretiennent chez les fidèles le goût de l'initiative et de la nouveauté
économique et sociale."
77
RIOUX, 1971, S. 9
78
Ebd., S. 10
79
Vgl. ebd., S. 55
80
Ebd., S. 55f
81
Ebd., S. 68f
82
Ebd., S. 69

15
Kommunikationsformen Rechnung trug: Telegrafie (1809), Schreibtelegraf (1837), Fotografie (1839),
Morseschrift (1840), Zeigertelegraf (1846), Telefon (1861)
83
.
Damit wird deutlich, daß von den Auswirkungen der industriellen Revolution alle Lebensbereiche betroffen
waren; ,,peu à peu, tous les domaines de la vie sont atteints et transformés: travail quotidien, mentalités,
cultures."
84
2 Zur Textauswahl
2.1 Auswahlkriterien
Aus der Problemstellung wurden folgende Kriterien für die Auswahl von Beispielen antizipatorischer Texte
abgeleitet:
·
Der ausgewählte Beispieltext sollte konkret auf die reale Situation (soziale Schichten, Politik, Revolutionen,
Entwicklungsstand der Produktivkräfte und der Wissenschaften, Industrialisierungsmuster, wirtschaftliche
Doktrin...) in Frankreich vor bzw. während der industriellen Revolution Bezug nehmen.
·
Der antizipatorische Charakter des Textes sollte explizit (beispielsweise im Titel oder durch die Situierung
des fiktiven Rahmens) oder implizit (anhand von Textelementen nachweisbar) zum Ausdruck kommen.
,,Antizipatorisch" ist dabei im Sinne des im Abschnitt 1.2.1 vorgestellten Konzepts zu verstehen und umfaßt
die Idee eines mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in der Zukunft realisierbaren ,,Anders-Seins" der
Lebenswelt, in welcher jedoch die aus der empirischen Welt (Realität) bekannten physikalischen und
naturwissenschaftlichen Gesetze nach wie vor Gültigkeit besitzen.
·
Technik bzw. die Rolle, die Technik und Naturwissenschaften in bezug auf soziale Veränderungen (d. h.
Veränderungen im Zusammenleben der Menschen in Gruppen, das Alltagshandeln betreffend und/oder das
Selbstbild des Menschen betreffend) spielen (könnten), sollte thematisiert werden.
·
Damit die getroffenen Aussagen nachvollziehbar bleiben, sollte ein ausgewählter Beispieltext gut
zugänglich sein. Dies setzt selbstverständlich seine zeitgenössische Popularität sowie seine Rezeption über
einen längeren Zeitraum hinweg voraus.
Nun sind aber, wie SCHWONKE betont, ,,Naturwissenschaft und Technik [...] ihrer Natur nach dankbare
Objekte der utopischen Phantasie, denn sie sind wirksame Mittel, um ,andere Möglichkeiten` zu entdecken oder
zu schaffen."
85
Wie TODROWSKI feststellt, nahm der Anteil der Technik in den utopischen Entwürfen mit
Beginn der Industrialisierung sprunghaft zu:
,,Die zunehmende Bedeutung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und ihrer praktischen
Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung der Nationen nährte die Hoffnung, die Technik
könnte auch auf die gewünschten Veränderungen der legislativen und judikativen Verhältnisse
83
Vgl. AFFELDT-SCHMIDT, 1991, S. 43
84
RIOUX, 1971, S. 7
85
SCHWONKE, 1957, S. 92

16
Einfluß nehmen. Entsprechend der noch in den Kinderschuhen steckenden realen Entwicklung war
der gesellschaftsverändernde technische Einfluß in den Utopien zu Beginn gering, nahm jedoch
analog zum technischen Fortschritt an Bedeutung zu."
86
Damit stellen Utopien
87
in ihrer ,,verzeitlichten" Form (Uchronien) eine geeignete Textsorte dar, zeigen sie doch
am deutlichsten die Faktoren, die das utopische Denken antreiben, die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit,
das Infragestellen von Althergebrachtem, die Emanzipation vom religiösen Denken sowie eine Veränderung des
Zeit- und Zukunftbewußtseins
88
. Utopien in ihrer ,,verzeitlichten" Form erfüllen die aufgestellten Anforderungen
an den Untersuchungsgegenstand in hinreichender Weise, wobei jedoch die Konstruktion einer vollständigen
Lebenswelt (entsprechend der Utopiedefinition im weiteren Sinne) oder eines idealen Staates (entsprechend
einer Utopiedefinition im engeren Sinne) im Grunde genommen nicht erforderlich ist, ein ausgewählter
Beispieltext also nicht notwendig der literarischen Gattung Utopie angehören muß.
2.2 Anmerkungen zur Gattungsproblematik
Da die Begriffe littérature d'anticipation
89
, roman d'anticipation
90
, utopie, uchronie, anti-utopie in der
französischen Literaturwissenschaft nicht einheitlich verwendet werden und wurden, ist an dieser Stelle eine
Spezifizierung notwendig.
Wie FUNKE
91
nachgewiesen hat, beginnt die Bedeutungsgeschichte des Wortes utopie in Frankreich im 16.
Jahrhundert mit der Rezeption von Thomas MOREs Utopia
92
(1516 zunächst in lateinischer Sprache unter dem
Titel Libellus vere aureus nec minus salutaris quam festivus de optimo reipublicae statu deque nova Insula
Vtopia
93
veröffentlicht, 1550 in einer ersten französischen Übersetzung von Jean LEBLOND erschienen mit dem
Titel La Description de l'Isle d'Vtopie, ou est comprins le Miroeur des republicques du monde, & l'exemplaire
de vie heureuse
94
), die Geschichte der literarischen Gattung Utopie in der französischen Literatur hingegen erst
im 17. Jahrhundert mit der Entstehung der Reiseutopie (récit de voyage utopique)
95
. ,,Im 18. Jahrhundert bildeten
sich die Haupttendenzen heraus, welche die semantische Entwicklung des Begriffes utopie seither bestimmt
haben: die Bedeutungserweiterung zum literarischen Gattungsbegriff sowie die Wandlung zum politisch-
sozialen Begriff [...]."
96
Der Erstbeleg für die Verwendung von utopie als literarische Gattungsbezeichung
stammt aus der in französischer Sprache geschriebenen Théodicée (1710) von LEIBNITZ
97
. Bis zum Ende der
1750er Jahre lassen sich wenige Belege für das Wort utopie finden, das meist in der Bedeutung ,,fiktiver Ort",
,,fiktives Land", ,,fiktiver Idealstaat" gebraucht wird
98
. ,,Im 18. Jahrhundert, dem ,Goldenen Zeitalter der
Utopie', begünstigten Produktion und Rezeption, Gattungsentwicklung und zeitgenössisches
86
TODROWSKI, 1996, S. 28f
87
,,Utopie" wird hier als Gattungsbezeichnung gemäß der Definition von TROUSSON gebraucht (vgl. Abschnitt 2.2).
88
Vgl. SCHWONKE, 1957, S. 5
89
Vgl. CARME, 1970, S. 40
90
Vgl. HUDDE, 1988, S. 109-122
91
FUNKE, 1991
92
Zur Wortbildung und Wortbedeutung von Utopia vgl. z. B. SCHULTE-HERBRÜGGEN, 1960, S. 3-6, FUNKE, 1985, S. 193ff.
SCHULTE-HERBRÜGGEN weist darauf hin, daß aus der Art der Wortbildung des Neologismus eindeutig hervorgeht, daß MORE unter
Utopia ein räumliches Nirgendwo verstand, einen prinzipiell nonexistenten Ort der Handlung.
93
Vgl. FUNKE, 1991, S. 9
94
Vgl. ebd., S. 16
95
Vgl. ebd., S. 9
96
Ebd.
97
Vgl. ebd., S. 24
98
Ebd., S. 27

17
Gattungsbewußtsein die Ausbildung eines ganzen Systems konkurrierender Gattungsbezeichnungen der
literarischen Utopie und ihrer Untergattungen [...]."
99
Als Beispiele seien hier genannt: roman politique (belegt:
1721, 1734, 1735, 1763), voyage imaginaire (belegt: 1735), voyage allégorique (belegt: 1763), voyage
imaginaire romanesque (belegt: 1787), roman moral, allégorique (belegt: 1754).
100
1798 definiert die fünfte
Ausgabe des Akademiewörterbuchs utopie als allgemein üblichen Gattungsbegriff:
,,UTOPIE s.f. se dit en général d'Un plan de Gouvernement imaginaire, où tout est parfaitement
réglé pour le bonheur commun, comme dans le Pays fabuleux d'Utopie décrit dans un livre de
Thomas Morus qui porte ce titre. Chaque rêveur imagine son Utopie."
101
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts findet das Wort utopie Eingang in die Sprache der Politik. ,,Es wird
emotionalisiert und [durch die Gleichsetzung von utopie und chimère] ambivalent mit pejorativer oder (seltener)
mit positiver Konnotation verwendet."
102
Schließlich wird utopie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im
Zusammenhang mit der Herausbildung des Frühsozialismus ,,zu einem Leitbegriff der politisch-sozialen
Sprache, der schließlich als Synonym der Neologismen socialisme (1831) und communisme (1840) zum
politischen Schimpfwort degradiert wurde"
103
(Hervorhebung der Unrealisierbarkeit). Daneben wurde der
literarische Gattungsbegriff erweitert, ,,so daß er die literarischen Utopien von Platon bis Morus und die
politisch-sozialen Theorien der Frühsozialisten einschließt [...]."
104
Damit verwischen jedoch auch die Grenzen zwischen (hoher) Literatur, Unterhaltungslektüre und politischem
Programm. Wie SCHULTE-HERBRÜGGEN angibt, ist die Utopie literarisch, ,,d. h. sie gestaltet mit
sprachlichen Mitteln eine Welt sui generis, die in dem durch das Wort evozierten Bezirk der Phantasie den
einzigen Ort ihrer Existenz besitzt. Die sprachlichen Mittel, die sie zu ihrer Weltgestaltung einsetzt, sind vor
allem die erzählerischen Grundformen des Beschreibens und Berichtens"
105
, sehr häufig in Form eines
Raumromans
106
:
,,In detaillierter Gegenständlichkeit rundet sich langsam in mosaikhafter Addition einzelner Bilder
der utopische Raum, während die für den Geschehnisroman so wichtige Kausalität der
Szenenfolge hier in den Hintergrund tritt und treten darf. So gibt es keinen streng zeitlichen Ablauf
der Szenen, der zu Klimax, Katastrophe oder Lösung einer Handlung drängte."
107
Die neuere Utopiedefinition von TROUSSON, auf die sich im weiteren bezogen wird, umfaßt sowohl positive
Utopien (Eutopien, durch die Realisierung eines Idealzustandes oder eines Idealstaates gekennzeichnet) als auch
Gegenutopien (Anti-Utopien, apokalyptische Darstellungen):
,,Nous proposerons donc ici de parler d'utopie lorsque, dans le cadre d'un récit (ce qui exclut les
traités politiques), se trouve décrite une communauté (ce qui exclut la robinsonnade), organisée
selon certains principes politiques, économiques, éthiques, restituant la complexité de l'existence
sociale (ce qui exclut le monde à l'envers, l'âge d'or, Cocagne ou l'arcadie), qu'elle soit présentée
comme idéal à réaliser (utopie positive) ou comme la prévision d'un enfer (l'anti-utopie), qu'elle
soit située dans un espace réel, imaginaire ou encore dans le temps, qu'elle soit enfin décrite au
terme d'un voyage imaginaire vraisemblable ou non."
108
99
FUNKE, 1991, S. 30
100
Vgl. ebd., S. 30f
101
http://hera.inalf.cnrs.fr/cgi-bin/quick_look.new.sh.fr?word=utopie oder FUNKE, 1991, S. 32
102
FUNKE, 1991, S. 34
103
Ebd., S. 43
104
Ebd., S. 97
105
SCHULTE-HERBRÜGGEN, 1960, S. 7
106
Ebd., S. 8
107
Ebd., S. 8f
108
TROUSSON, 1999, S. 24

18
Als Uchronie wird eine in die Zukunft verlagerte Utopie entsprechend der oben angegebenen Definition von
TROUSSON bezeichnet.
Bezüglich der gattungskonstituierenden Merkmale verweist TROUSSON
109
auf die Äquivalenz der
detaillierteren Utopiedefinition von RACAULT
110
, die jedoch Gegenutopien nicht mit umfaßt:
,,Comme son nom l'indique, l'utopie narrative implique le recours au récit (ce qui exclut les
exposés purement didactiques des utopies-programmes). Représentation d'un monde fictif,
l'utopie cherche à susciter par l'écriture le tableau détaillé et concret (ce qui implique le recours à
la description) d'un monde imaginaire complet (ce qui exclut les descriptions portant seulement
sur des points particuliers), plausible (ce qui implique la recherche d'un `effet de réel'), autonome
(cette autonomie étant manifestée par la clôture spatiale et l'autarcie d'un univers autosuffisant),
cohérent (ce qui exclut la fantaisie pure) et soumis aux lois physiques du réel (ce qui exclut la
féerie et le merveilleux). Le monde utopique est habité par une collectivité (ce qui exclut la
robinsonade purement individuelle) nettement individualisée et particularisée (ce qui exclut les
tableaux d'une humanité abstraite et générale), formée d'êtres raisonnables. Cette collectivité est
régie par une organisation explicite détaillée (ce qui exclut la pastorale), saisie dans son
fonctionnement concret (ce qui exclut les codes législatifs et projets politiques, dont l'organisation
est seulement programmatique) et rationnellement justifiée par le bonheur qu'elle apporte aux
citoyens, la puissance qu'elle assure à l'Etat, ou encore par sa conformité à quelques grandes
valeurs fondatrices: Nature, Raison, Justice."
111
Die Gegenutopie (anti-utopie) entsteht während der industriellen Revolution. Von TROUSSON wird sie wie
folgt charakterisiert:
,,En effet, si l'anti-utopie fonctionne sur les mêmes thèmes que l'utopie, c'est cependant en
prenant le contrepied des conclusions optimistes des utopistes du passé; il s'agit maintenant [...]
non plus d'espérer, mais d'éviter sa réalisation. Ce qu'elle remet en cause, c'est précisément
l'idéal du bonheur collectif et standardisé, où l'individualité est dissoute, où l'identité se substitue
à la diversité, où la stabilité est obtenue au détriment de toute création, de tout excentrisme."
112
SCHULTE-HERBRÜGGEN formuliert bezüglich der Entwicklungsbedingungen der Gegenutopie (von ihm als
Anti-Utopie bezeichnet):
,,Die Anti-Utopie erwächst aus dem Bewußtsein der Diskrepanz zwischen Sollen und Sein,
zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen ethischer Norm und historischer Erfahrung, doch
entwirft sie nicht mehr das Bild einer paradiesischen Welt vor dem Sündenfall. Sie berücksichtigt
bei der Gestaltung ihres potentiellen Zukunftsstaates die negativen Erfahrungen der gefallenen
Menschheit und zeichnet das Bild einer Welt, wie sie nicht sein soll."
113
Nach HOWE geht die Gegenutopie - im Gegensatz zur Utopie - davon aus, ,,daß die Vervollkommnung des
Vollkommenen mit einem ,Fehler' behaftet ist. Dieser ,Fehler', die Schwäche einer noch in der Erinnerung
lebenden oder sonst irgendwie ersehnten Menschlichkeit, hat im anti-utopischen Roman die gleiche dramatische
Funktion wie anderswo in der erzählenden Dichtung die Vorstellung der Erbsünde oder eine
gesellschaftsbedingte Neigung zum Bösen. Er schafft die Möglichkeit für den Konflikt und dessen nähere
Umstände, während er gleichzeitig garantiert, daß dieser Konflikt mit einer Katastrophe endet."
114
Der
Wunschtraum ist zum Alptraum geworden.
115
109
TROUSSON, 1999, S. 25
110
RACAULT, 1991
111
Ebd., S. 20f
112
TROUSSON, 1998, S. 35
113
SCHULTE-HERBRÜGGEN, 1960, S. 199
114
HOWE, 1973, S. 352
115
Vgl. ebd., S. 354

19
Die Begriffe littérature d'anticipation bzw. roman d'anticipation werden sowohl umgangssprachlich als auch
fachsprachlich verwendet, wobei jedoch, wie die Lemmata des TLF und des Petit Robert,
,,CRIT. Roman, littérature d'anticipation, film d'anticipation (cf. Hist. gén. des sciences, t. 3, vol.
2, 1964, p. 579. Qui cherche à imaginer l'avenir et à le décrire"
116
,
,,Littérature, roman, film d'anticipation, dont le fantastique est emprunté aux réalités supposées de
l'avenir. à science-fiction"
117
,
zeigen, das wesentliche Moment der Bezug auf die Zukunft ist. Der TLF gibt zusätzlich noch den Hinweis, daß
die genannten Begriffe wesentlich jüngeren Datums sind als die literarischen Produktionen, die sie bezeichnen.
Der Petit Robert verweist dabei auf die Science Fiction-Literatur. Littérature d'anticipation ist jedoch nicht
deckungsgleich mit dem umstrittenen Begriff der Science Fiction
118
, der generell auf nach 1860 entstandene
Werke Anwendung findet, ,,die sich spekulativ mit künft. Entwicklungen der Menschheit befassen:
Weltraumfahrten und Reisen in zukünft. (und vergangene) Zeiten, Entdeckung und Besiedlung ferner
Himmelskörper, Begegnung und Auseinandersetzung mit deren mehr oder weniger fremdart. Bewohnern; [...]
Veränderungen der Lebensbedingungen der Erde in polit., sozialer, biolog., ökonom. und bes. technolog.
Hinsicht."
119
KRYSMANSKI verweist explizit auf den Unterschied zwischen Science Fiction-Literatur, die er
als typisch amerikanisches Phänomen betrachtet, das keiner echten europäischen geistesgeschichtlichen
Tradition entspräche
120
, und dem technischen Zukunftsroman. Das wichtigste Kriterium, anhand dessen sich
Science Fiction von Utopie und technischem Zukunftsroman abgrenzen läßt, wird jedoch von SCHWONKE
angegeben: Der Science Fiction fehlt der uneingeschränkte ,,Glaube an die Dauerhaftigkeit natürlicher Zustände
und an die dogmatische Geltung naturwissenschaftlicher Gesetze"
121
.
Und die Encyclopédie Larousse läßt ihre Leser wissen: ,,La science fiction a accompagné la révolution
industrielle et constitue un phénomène essentiellement moderne."
122
Littérature d'anticipation hingegen umfaßt
unstrittig auch Werke älteren Datums.
2.3 Quellenlage
Die Quellenlage ist wesentlich durch die Rezeption und den aktuellen Forschungsstand bestimmt.
Es kann davon ausgegangen werden, daß heutzutage nur ein Teil der Texte, die den im Abschnitt 2.1 genannten
Auswahlkriterien genügen würden, erschlossen ist. In der Regel fehlt eine kontinuierliche Rezeption von
Technik thematisierenden antizipatorischen Texte über die Jahrhunderte hinweg, da zum einen im Laufe der Zeit
der aktuelle gesellschaftliche Bezug dieser Texte verloren ging und zum anderen die Realität die Antizipationen
überholte, die vorgestellte Technik obsolet wurde, manche Grundannahmen durch die Wissenschaften widerlegt
wurden oder Entwicklungen in völlig anderen als den vorgedachten Bahnen verliefen, so daß die Texte an
Unterhaltungswert einbüßten und nach und nach zu ,,historischen Dokumenten" wurden.
116
http://zeuss.inalf.fr/tlf.htm
117
[Petit Robert], 2000, S. 102
118
Vgl. DIDIER, 1994, S. 3439: ,,Le terme de ,science-fiction' apparaît aux Etats-Unis d'Amérique dans les années 1920 pour désigner un
courant de revues de littérature populaire animées par des amateurs de formation scientifique (Gernsback et Amazing Stories ; T. O'Conor
Sloane et Wonder Stories, etc.)."
119
SCHWEIKLE, 1990, S. 421
120
Vgl. KRYSMANSKI, 1963, S. 90
121
SCHWONKE, 1957, S. 43
122
[Encyclopédie Larousse], 1976, S. 10914

20
In der betrachteten Epoche wurden entsprechende Werke von der Literaturkritik häufig der Trivialliteratur
zugeordnet, da sie den vorherrschenden literaturästhetischen Kriterien widersprachen oder sich gattungsmäßig
nicht einordnen ließen; ein wissenschaftlicher Diskurs über diese Art von Literatur fehlte.
Was den aktuellen Stand der Forschung anbelangt, so gibt es eine kaum zu überblickende Vielzahl von Arbeiten,
die von unterschiedlichen Fachbereichen (Literaturwissenschaft, Philosophie, Soziologie, Politikwissenschaft
usw.) ausgehend das Textkorpus der französischen Utopien unter den verschiedensten Blickwinkeln untersucht
haben. FUNKE
123
gibt eine Übersicht zur Begriffsgeschichte der Gattungsbezeichnung im Französischen, zu
Textausgaben, Bibliographien, früheren Forschungsberichten und monographischen Studien. Wie er feststellt, ist
die Utopieforschung meist durch inhaltsorientierte Fragestellungen motiviert
124
, so daß neben Einordnungen in
literaturgeschichtliche Gesamt- und Epochendarstellungen thematische Studien (vorwiegend zu Staat,
Gesellschaft, Wirtschaft, Religion, Erziehung, Stellung der Frau) den größten Teil der vorliegenden Arbeiten
ausmachen. Probleme der sprachlichen Form der Utopie, denen nach Einschätzung von FUNKE
125
relativ wenig
Aufmerksamkeit zuteil wird, werden ausführlich beispielsweise von RACAULT
126
behandelt.
Hingegen gibt es vergleichsweise wenige wissenschaftliche Untersuchungen, die sich mit der Thematisierung
der Technik in der französischen utopischen Literatur auseinandersetzen. Auch wenn, wie TODROWSKI
feststellt, mit Beginn der Industrialisierung der ,,Anteil der Technik"
127
in den utopischen Entwürfen sprunghaft
zugenommen hat, darf nicht außer acht gelassen werden, daß Technik nur ein Aspekt ­ neben anderen ­ darstellt,
auf den sich utopisches Denken richtet. Als wegweisend sind hier die Arbeiten von HUNTEMANN
128
,
SCHWONKE
129
, AFFELDT-SCHMIDT
130
und TROUSSON
131
zu nennen.
HUNTEMANN
132
nimmt anhand von ausgewählten Utopien des 19. und 20. Jahrhunderts eine Untersuchung
zum utopischen Menschenbild und zum utopischen Bewußtsein vor. Dabei sieht er die Technik als eine den
Menschen determinierende Komponente an. Der utopische Mensch ist ein ,,technischer Mensch"
133
.
,,Technischer Mensch, das bedeutet nicht Mensch im Sinne des homo faber im hergebrachten Sinne, sondern
technischer Mensch bedeutet der durch etwas dem Menschen Gegenüberstehendes, eben der technischen Welt
(Dampf, Maschine) bedingte Mensch."
134
SCHWONKE
135
untersucht die Bedeutung von Naturwissenschaft und Technik für die Entwicklung der Utopie,
insbesondere für die Herausbildung der Subgattung der naturwissenschaftlich-technischen Utopie. Während, wie
er feststellt, keine der Utopien des 18. Jahrhunderts Vorwegnahmen enthält, welche die kommende Entwicklung
der Technik oder die industrielle Revolution ahnen lassen, welche der Naturwissenschaft und der Technik eine
die Gesellschaft bestimmende oder verändernde Funktion zugestehen
136
, gewinnt im 19. Jahrhundert die Einsicht
123
FUNKE, 1985, S. 192 - 220
124
Vgl. ebd., S. 211
125
Vgl. ebd., S. 201
126
RACAULT, 1991
127
Vgl. TODROWSKI, 1996, S. 28
128
HUNTEMANN, 1953
129
SCHWONKE, 1957
130
AFFELDT-SCHMIDT, 1991
131
TROUSSON, 1998
132
HUNTEMANN, 1953
133
Vgl. ebd. S. 53
134
Ebd., S. 53f
135
SCHWONKE, 1957
136
Vgl. ebd., S. 93

21
in die verändernde und schöpferische Macht von Naturwissenschaft und Technik das utopische Denken: Technik
wird zum wesentlichen Faktor, sogar zur Voraussetzung der utopischen Gesellschaft
137
. SCHWONKE zieht
nicht nur eine unmittelbare Verbindung zwischen industrieller Revolution und Ausprägung der
naturwissenschaftlich-technischen Utopie, sondern auch zwischen industrieller Revolution und Uchronie: ,,Die
Transformation des Zeiterlebnisses, die Verlagerung des Gewichts der Interessen und Hoffnungen in die Zukunft
hat sich erst allmählich und unter dem Eindruck der industriellen Revolution und des ständigen Fortschreitens
von Wissenschaft und Technik vollzogen"
138
, schreibt er.
AFFELDT-SCHMIDT
139
konzentriert sich auf ,,Fortschrittsutopien" als Zeugnisse des Wandels der utopischen
Literatur des 19. Jahrhunderts. Wissenschaft und Technik stellen nur einen Aspekt ihrer Analyse vorwiegend
deutschsprachiger Texte dar.
TROUSSON
140
widmet ein Kapitel seiner entwicklungsgeschichtlichen Betrachtungen von den Anfängen der
Utopie bis zur Moderne der Thematik Wissenschaft und Technik, wobei er sich jedoch im wesentlichen darauf
beschränkt, die großen Entwicklungslinien aufzuzeigen. Nach seinen Untersuchungsergebnissen ist die Idee, daß
die Wissenschaft zu einem sozialen Fortschritt gereichen könne, bereits seit dem 16. Jahrhundert vorhanden,
wobei jedoch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts eine Verbesserung der Lebensverhältnisse (conditions sociales)
vor allem durch andere Faktoren als Wissenschaft oder Technik, nämlich durch Moral und geeignete
gesellschaftliche Institutionen erwartet wurde
141
. Mit der Loslösung von religiösen Vorstellungen und einer
damit einhergehenden Abkehr von der Eschatologie werden Wissenschaft und Technik als Hilfsmittel entdeckt,
um das Glück (bonheur) der Menschen zu realisieren. Die technischen ,,Pseudo-Antizipationen" des 18.
Jahrhunderts, wie z. B. Flugapparate oder technische Hilfsmittel, um Krankheiten zu heilen, reflektieren uralte
Menschheitsträume oder philosophische Überlegungen. Eine Änderung der Sichtweise setzte in der 1. Hälfte des
19. Jahrhunderts ein ­ ,,grâce à la révolution industrielle et aux progrès du machinisme"
142
.
2.4 Kurzporträts der ausgewählten Beispieltexte
Gemäß den im Abschnitt 2.1 angegebenen Kriterien wurden folgende Beispieltexte ausgewählt:
·
Louis Sébastien MERCIER: L'An 2440, rêve s'il en fut jamais. (1768-1771 entstanden)
,,L'An 2440, rêve s'il en fut jamais (1771) de Louis-Sebastién Mercier fut, presque dès sa parution, un véritable
,bestseller'. En 1782 l'oeuvre avait atteint vingt éditions et était en vente dans toute l'Europe, soit en version
française, soit dans les traductions italienne, anglaise et allemande."
143
Der vor der französischen bürgerlichen Revolution entstandene Text, der zu den ersten Uchronien zählt, wurde
vor Neuauflagen mehrfach ergänzt.
In Tableaux, die durch den Rahmen eines Traums lose miteinander verbunden sind, präsentiert MERCIER
einen reformierten Staat in Form einer aufgeklärten Monarchie in Opposition zur französischen Realität. Die
Wirtschaft dieses Staates ist physiokratisch geprägt (vgl. Abschn. 3.1.4), der Technikeinsatz in der
Güterproduktion unterliegt dem Bedarfsdeckungsprinzip.
137
SCHWONKE, 1957, S. 94
138
Ebd., S. 97
139
AFFELDT-SCHMIDT, 1991
140
TROUSSON, 1998
141
Vgl. ebd., S. 55
142
TROUSSON, 1998, S. 61
143
HOFMANN LA TORRE, 1988, S. 99

22
,,Merciers Welt im Jahre 2440 stellt nicht eine Fernstzukunft vor, sondern eine reformierte Gegenwart"
144
,
urteilt GNÜG über das Werk.
·
Étienne CABET: Voyage en Icarie (in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts entstanden, 1840
veröffentlicht)
Nach WINTER ist CABETs Ikarien eine verdeckte Zeitutopie
145
. CABET selbst hebt den programmatischen
Charakter des Textes in seinem Vorwort
146
hervor, AFFELD-SCHMIDT spricht von einer ,,Verortung" der
Zukunft bei Cabet
147
. ,,In einem qualitativ größeren Maße als bei Mercier spielt die Zeit in ihrer
Zukunftsdimension eine entscheidende Rolle, nämlich als technologische Fortschrittsmöglichkeit, die die
menschliche Arbeit immer mehr erleichtern könnte."
148
CABET kleidet sein Modell einer ,,glücklichen
Gesellschaft auf der Grundlage von Gemeineigentum" in Romanform (Typ: roman de voyage imaginaire).
Bedingung und Voraussetzung der präsentierten kommunistischen Republik, deren Wirtschaft zentralistisch,
planwirtschaftlich gelenkt ist, ist der technische Fortschritt, der eine Erhöhung der allgemeinen Wohlfahrt über
die Bedarfsdeckung hinaus ermöglicht.
·
Émile SOUVESTRE: Le Monde tel qu'il sera (1845 veröffentlicht)
Um kein einseitiges, zweckoptimistisches Bild der Technik- und Fortschrittsbewertung im 19. Jahrhundert
entstehen zu lassen, wurde der technikkritische Text Le Monde tel qu'il sera von Émile SOUVESTRE in das
Textkorpus mit einbezogen.
Auf der ökonomischen Basis der freien Marktwirtschaft entwirft SOUVESTRE das Bild einer zukünftigen
Gesellschaft, die durch Ware-Geld-Beziehungen, die Suche nach einem individuellen Glück, die Technisierung
der Arbeits- und Lebenswelt, den Verlust von traditionellen Werten und schließlich den ,,Ersatz des Menschen"
bestimmt ist. Den Rahmen dieser Erzählung, die Elemente verschiedener Gattungen und Stile enthält, bildet
eine Reise in das Jahr 3000 (voyage imaginaire).
Le Monde tel qu'il sera gehört zu den Gegenutopien (anti-utopies).
Die ausgewählten Texte sind auch im Korpus von SCHWONKE enthalten.
144
GNÜG, 1999, S. 118
145
Vgl. WINTER, 1986, S. 130. WINTER begründet dies wie folgt: ,,Beschrieben wird ein exotisches Land irgendwo am fernöstlichen Rand
des eurasischen Kontinents und dessen unmittelbare geschichtliche Vergangenheit. Deutlich zeichnet sich hinter dem traditionellen
erzählerischen Beiwerk des utopischen Romans die idealisierte Geschichte Frankreichs von den Revolutionen zwischen 1789 und 1830 in die
Zukunft eines kommunistischen Gemeinwesens ab. Die Revolutionen werden zu einem einzigen, fast unblutigen Ereignis von zwei Tagen,
das von Ikar, dem Staatsgründer und Nationalhelden veranstaltet wird, zusammengezogen und in das Jahr 1782 verlegt. Die ikarische
Geschichte vor der Revolution trägt Züge der Geschichte des Ancien Regime, der Restauration und Englands.[...]
Die ikarische Geschichte erfüllt die mit der Juli-Monarchie gescheiterten Hoffnungen der radikaldemokratischen Republikaner. Frankreich
wird einst den Weg Ikariens gehen. Ikarien wird Europa von der Knechtschaft des Eigentums befreien. Cabets Text versteht sich als ein
Aufruf an alle ,Einsichtigen', das ikarische Prinzip auf friedlichem Weg zu realisieren. Er ist ein Teil seines Propagandafeldzugs für ein
gleichheitskommunistisches System in Frankreich. [...] Der Text beginnt mit der detaillierten Beschreibung der utopischen Errungenschaften
vom Großüberblick bis zu den Einzelheiten des Alltagslebens. Cabet bewegt sich hier vollkommen im Rahmen der utopischen
Erzähltradition seit Thomas Morus. Sein Ikarien ist eine zeitbefangene, aber gigantische Extrapolation der zeitgenössischen politischen,
zivilisatorischen, technologischen und naturwissenschaftlichen Tendenzen."
146
CABET, 1848, Préface, S. V
147
Vgl. AFFELDT-SCHMIDT, 1991, S. 130
148
GNÜG, 1999, S. 138

23
3 Louis Sébastien MERCIER: L'An 2440, rêve s'il en fut jamais.
(1768-1771 entstanden)
1771, also einige Jahre vor der französischen bürgerlichen Revolution, wurde MERCIERs L'An 2440 erstmals
veröffentlicht. Obwohl das Werk in der Literatur mehrheitlich als erste publizierte Uchronie
149
bezeichnet wird
(vgl. dazu Abschn. 1.2), bereitet seine Einordnung in die etablierten literarischen Gattungen Probleme.
Stark beeinflußt durch das Gedankengut der Aufklärung
150
, insbesondere durch FÉNELON, L'ABBÉ DE
SAINT-PIERRE, ROUSSEAU, MONTESQUIEU und VOLTAIRE, von denen er Ideen aufgreift und Zitate
übernimmt, entwirft MERCIER das Bild einer zukünftigen möglichen Lebenswelt, in welcher die dem Leser
explizit geschilderten kritikwürdigen Zustände in Frankreich wie in der gesamten ,,zivilisierten Welt"
überwunden sind. Im Anschluß an eine Unterredung mit einem ,,vieil Anglais"
151
führt ein Traum den Erzähler
in das Jahr 2440. MERCIER wählt eine konkrete Jahresangabe ­ zum einen, um ausdrücklich in die Zukunft zu
weisen, die Realisierbarkeit der entwickelten Ideen und Modelle zu unterstreichen, zum anderen, um der
Beschreibung der geträumten (utopischen) Welt jenen Hauch von Authentizität zu verleihen, die der Leser
erwartet. Da die Zukunft aus der Vergangenheit und der Gegenwart nicht mit Sicherheit vorherbestimmt werden
kann, hätte MERCIER mit gleicher Berechtigung auch jedes andere Datum wählen können, vorausgesetzt, es
wäre weit genug von der Gegenwart entfernt, um alle beschriebenen Veränderungen glaubwürdig erscheinen zu
lassen.
Nach den Ereignissen der bürgerlichen Revolution in Frankreich soll MERCIER von sich selbst behauptet
haben: ,,Je suis le véritable prophète de la Révolution, je le dis sans orgueil."
152
Gewiß ist, daß MERCIER in
L'An 2440 seine Unzufriedenheit, seinen Mißmut und seine Kritik an den politischen und sozialen Zuständen
Frankreichs unter absolutistischer Herrschaft zum Ausdruck bringt. Er hält jedoch aufgrund seiner
Weltanschauung (vgl. Abschnitt 3.1) die soziale Ordnung für gottgegeben und stellt demzufolge
Zentralstaatlichkeit, Monarchie
153
, Standesunterschiede
154
sowie Unterschiede zwischen Stadt und Land nicht in
Frage. Veränderungen erfolgen über Reformen, eine bessere Organisation, eine kontinuierliche
Weiterentwicklung. In diesem Sinne hat er in L'An 2440 sicherlich Ergebnisse der Revolution
vorweggenommen, nicht jedoch den Weg, um diese Ergebnisse zu erreichen.
,,L'An 2440, considéré comme une satire du gouvernement d'alors, fut défendu [...]."
155
Kurze Zeit später wurde
das Werk jedoch in mehrere Sprachen, darunter auch ins Deutsche, übersetzt
156
und erschien 1786, um einige
Kapitel erweitert, in einer Neuauflage. Dies war aufgrund der besonderen Struktur des Werks in der Tradition
149
Vgl. MERCIER, 1999, S. 9 (Vorwort): Charakterisierung als ,,première uchronie publiée"
150
Vgl. ebd., S. 10 (Vorwort)
151
Ebd., S. 35
152
[Dictionnaire Larousse], 1873, S. 58
153
Vgl. MERCIER, 1999, S. 56
154
Vgl. ebd., Kap. XXIV
155
[Dictionnaire Larousse], 1873, S. 58
156
Vgl. HOFMANN LA TORRE, 1988, S. 99: ,,En 1782 l'oeuvre avait atteint vingt éditions et était en vente dans toute l'Europe, soit en
version française, soit dans les traductions italienne, anglaise et allemande."

24
der Essays möglich, die gestattet, Kapitel in beliebiger Weise zu erweitern, neue Kapitel ein- oder anzufügen
oder in Fußnoten von einem neuen Standpunkt aus zu kommentieren. Eine weitere Neuauflage folgte 1799.
In der vorliegenden Arbeit wird zum einen auf die von MARCANDIER-COLARD und CAVE 1999 erschienene
kommentierte Ausgabe, die auf die ursprüngliche Fassung MERCIERs von 1771 zurückgeht, sowie auf die
Ausgabe von 1786, die in den von MERCIER hinzugefügten Kapiteln technische Entwicklungen reflektiert, die
seit der Ersterscheinung Eingang in das Bewußtsein der Menschen gefunden haben, beispielsweise die
Luftschiffahrt, zurückgegriffen.
3.1 Weltanschauliche Konzeption MERCIERs
MERCIER (1740-1814) paßte nicht in seine Epoche: ,,Louis-Sébastien Mercier compte au nombre des
anticonformistes de race qui descendent en ligne droite de saint Paul"
157
, wie RUFI feststellt.
,,Il ne se conforma pas à son siècle, et il en paya le prix. [...] il aurait passé toute sa vie en première
ligne, en lutte contre tout et tous: comédiens, libraires, architectes, censure, peinture, [...], police,
gouvernement monarchique et gouvernement révolutionnaire, église, gloires nationales (Racine,
Boileau, Descartes, Voltaire, Napoléon), autorités scientifiques (Copernic, Newton), académies,
etc..."
158
Seine Fähigkeit, neben die real existierende Gesellschaft, der er ja angehörte, treten zu können, um ihre
Grundsätze und Prinzipien, die normalerweise nicht in Frage gestellt wurden, öffentlich zu hinterfragen und zu
kritisieren, ist eng mit der ihm eigenen Exzentrizität und einer Weltanschauung auf der Grundlage der
christlichen Religion verbunden.
159
Diese weltanschauliche Konzeption ist insbesondere geprägt durch
·
die Ideen der Aufklärung, die Vorbildwirkung der écrivains-philosophes,
·
eine ausgeprägte Exzentrizität seiner Persönlichkeit,
·
eine deistische Religion, in der wissenschaftliche Erkenntnisse dazu dienen, bestimmte christliche
Glaubensgrundsätze zu stützen,
·
eine eng mit seiner Religionsauffassung zusammenhängende politische Grundkonzeption, nach welcher
er eine aufgeklärte Monarchie als ideale Regierungskonzeption ansieht,
wie im einzelnen erläutert wird.
3.1.1 MERCIER als ,,héritier des Lumières"
160
Insbesondere das frühe Schaffen MERCIERs ist von Konzeptionen geleitet, die er der Literatur der Aufklärung
zu verdanken hat.
,,Il s'agit de l'Histoire naturelle générale et particulière de Buffon, du De l'esprit d'Helvétius, des
Mélanges de d'Alembert, de L'Ami des hommes du marquis de Mirabeau, de l'Histoire
philosophique des établissements et du commerce des Européens dans les deux Indes de l'abbé
157
RUFI, 1995, S. 3
158
Ebd.
159
Vgl. ebd.
160
MERCIER, 1999, S. 10

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2001
ISBN (eBook)
9783832452667
ISBN (Paperback)
9783838652665
DOI
10.3239/9783832452667
Dateigröße
1.3 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena – Philosophische Fakultät
Erscheinungsdatum
2002 (März)
Note
1,1
Schlagworte
technik fortschrittsidee revolution literatur antizipation
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