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Generalisierte Adaption und Interferenz

Mechanismen der motorischen Adaption

©2001 Doktorarbeit / Dissertation 103 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Zusammenfassung:
Der Lernprozess des Menschen ist vielfältigen neurophysiologischen Veränderungen unterworfen. Die sensomotorische Adaptation stellt dabei eine Methode dar, die Funktionsweise der am motorischen Lernprozess beteiligten Mechanismen und Strukturen zu erkennen und zu verstehen. Generalisierte Adaptation bzw. 'learning to learn' und Interferenz sind zwei dieser Mechanismen. Vorangegangene Arbeiten, insbesondere der Arbeitsgruppe um Reza Shadmehr, zeigten, daß das Erlernen zweier sukzessiver sensomotorischer Störungen (Diskordanzen), in Abhängigkeit von der Zeitdauer zwischen beiden Lernprozessen, zu Interferenz führt. Begründet wurde dieses Phänomen mit ablaufenden Konsolidierungsprozessen, die eine folgende Adaptation aufgrund besetzter Ressourcen erschwerten.
Harlow beschreibt 1949 als einer der ersten, das Phänomen der generalisierten Adaptation auf einer kognitiven Ebene, eine Übertragung auf die sensomotorische Adaptation erfolgte bisher jedoch methodisch nur sehr unzureichend, zeigte sich eine schnellere Adaptation an eine zweite Diskordanz doch nur dann, wenn zuvor an eine Diskordanz kleineren Ausmaßes, jedoch derselben Art, adaptiert wurde.
Der erste Teil der vorliegenden Arbeit beschäftigte sich mit der Adaptation von manuellen Folgebewegungen an zwei sensomotorische Diskordanzen und den daraus entstehenden Wechselwirkungen in zwei aufeinander folgenden Sitzungen. Die teilnehmenden Probanden führten Folgebewegungen mit visuell geändertem Feedback (links-rechts bzw. oben-unten Umkehr) unter verschiedenen methodischen Ansätzen durch. Dabei zeigte sich, dass das ZNS in der Lage ist, einen adaptierten Zustand über einen längeren Zeitraum - bis hin zu einem Monat - ohne nennenswerte Verluste zu speichern, zwei nicht-kompatible adaptierte Zustände miteinander interferieren, selbst wenn beide Diskordanzen in einem Abstand von einem Monat gelernt werden, es hingegen zu keiner Interferenz, sondern vielmehr zu generalisierter Adaptation ('learning to learn') kommt, wenn zwei unabhängige Diskordanzen sukzessiv gelernt werden, was nicht dadurch erklärt werden kann, daß die Adaptation an die Kombination beider Diskordanzen einfacher fällt, beide Phänomene, sowohl Interferenz als auch 'learning to learn', selbst nach einem Monat noch nachgewiesen werden können und Interferenz einen zentralen Prozess widerzuspiegeln scheint, da sich ein intermanueller Transfer von Interferenz findet.
Interferenz scheint damit nicht, wie […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 5501
Schneider, Stefan: Generalisierte Adaption und Interferenz: Mechanismen der motorischen
Adaption / Stefan Schneider - Hamburg: Diplomica GmbH, 2002
Zugl.: Köln, Sporthochschule, Dissertation / Doktorarbeit, 2001
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2002
Printed in Germany

Vorwort
An erster Stelle möchte ich meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Otmar Bock für die Überlassung des
Themas danken. Durch all die Zeit war er stets Ansprechpartner für Ideen und Probleme und hat durch
seine Motivation und in ständiger Erwartung neuer Ergebnisse die Arbeit nach vorne getrieben.
Auch danken möchte ich allen Kollegen des Physiologischen Instituts für viele Hilfen. Insbesondere
was die technische Seite betrifft, haben sich Herr L. Geißen und Herr H. Schnick immer wieder groß-
artig eingebracht. Danken möchte ich Frau I. Benick für die Programmierung und fachkundige Einfüh-
rung in Pascal, für eine detaillierte Beschreibung sämtlicher Fehlerarten und möglicher Ursachen gilt
ein besonderer Dank noch einmal Herrn L. Geißen. Für ein exzellentes Arbeitsklima, viele konspirati-
ve Ideen und für eine schöne Freundschaft geht mein Dank an Herrn Dr. cand. U. Eversheim, Frau Dr.
cand. M. Girgenrath und Frau Dr. N. Wenderoth.
Ein Dank gilt auch allen Probanden, die sich im Verlaufe dieser Untersuchungen zur Verfügung ge-
stellt haben. Auch gilt mein Dank Frau Dipl. Sportlehrerin J. Kirchhoff und Frau stud. sportwiss. H.
Sprick für die Hilfe bei der Datenerhebung. Ihrer beiden Diplomarbeiten im Fache Sport streiften eini-
ge der in dieser Dissertation dargestellten Ergebnisse. Ein spezieller Dank gilt Herrn A. Molzberger
für das Korrekturlesen. Damit sind alle Fehler ausgeschlossen.
Teile dieser Arbeit sind bereits mit Einverständnis des Vorsitzenden des Promotionsausschusses Herrn
Prof. Dr. H.-D. Horch im Journal E
XPERIMENTAL
B
RAIN
R
ESEARCH
(2001) unter dem Titel "Conditi-
ons for interference versus facilitation during sequential sensorimotor adaptation" sowie im
B
ULGARIAN
J
OURNAL OF
N
EUROSCIENCE
(2001
-
"Acquisition of a sensorimotor skill in younger and
older adults") erschienen bzw. unterliegen zur Zeit einem Reviewprozeß ("Sensorimotor Adaptation in
Younger and Elderly Subjects", in P
SYCHOLOGY AND
A
GING
). Weiterhin sind aus dieser Arbeit meh-
rere Kongressbeiträge erwachsen, u.a. auf dem 5th I
BRO
W
ORLD
C
ONGRESS
1999 in Jerusalem (IS),
dem N
EUROSCIENCE
Meeting 1999 in Miami (USA), der Tagung der F
EDERATION OF
E
UROPEAN
N
EUROSCIENTISTS
(FENS) 2000 in Brighton (GB) sowie dem E
UROPEAN
C
OLLEGE OF
S
PORT
S
CIENCE
(ECSS) 2001 in Köln (D).
Last but not least sei meinen Eltern gedankt. Dafür, daß sie mich meinen Weg haben gehen lassen.
Meinen Großeltern für stetige Ermahnungen ­ und Petra. Wofür, weiß sie selbst am besten. Danke.

I
NHALTSVERZEICHNIS
V
ORWORT
...I
I
NHALTSVERZEICHNIS
...II
1
EINLEITUNG ... 1
1.1
M
OTORISCHES
L
ERNEN UND
A
DAPTATION
... 2
1.1.1
Definition und Abgrenzung ... 2
1.1.2
Lernkurven ... 5
1.1.2.1
Die kognitive Phase... 6
1.1.2.2
Die assoziative Phase... 7
1.1.2.3
Die autonome Phase... 7
1.1.3
Ressourcen ... 8
1.2
N
EUROPHYSIOLOGISCHE
G
RUNDLAGEN DES
L
ERNENS
... 8
1.2.1
Bewegungsprogrammierung, -entwurf und -gestaltung ... 8
1.2.2
Kortikale Veränderungen im motorischen Lernprozeß ... 11
1.2.3
Synaptische Veränderungen ... 11
1.3
S
ENSOMOTORISCHE
A
DAPTATION
... 13
1.3.1
Modularität und Retention ... 15
1.3.2
Interferenz ... 16
1.3.3
Generalisierte Adaptation ('learning to learn')... 17
1.3.4
Sensomotorische Adaptation an eine dynamische Transformation... 19
1.3.5
Transfer ... 21
1.4
L
ERNEN UND
A
LTER
... 22
1.5
I
NTENTION DIESER
A
RBEIT
... 25
2
WECHSELWIRKUNGEN BEI DER SUKZESSIVEN ADAPTATION AN ZWEI SENSOMOTORI-
SCHE, STATISCHE DISKORDANZEN ... 27
2.1
A
LLGEMEINE
M
ETHODEN UND
M
ATERIAL
... 27
2.2
E
XPERIMENT
I
-
U
NTERSUCHUNG ZUR
A
DAPTATION UND
R
ETENTION EINER
A
CHSENSPIEGELUNG
... 30
2.2.1
Methode... 31
2.2.2
Ergebnisse und Diskussion... 31
2.3
E
XPERIMENT
II
-
W
ECHSELWIRKUNG ZWEIER
A
CHSENSPIEGELUNGEN
(I
NTERFERENZ
)... 34
2.3.1
Methode... 34
2.3.2
Ergebnisse... 35
2.3.3
Diskussion ... 37
2.4
E
XPERIMENT
III
-
W
ECHSELWIRKUNG ZWEIER
A
CHSENSPIEGELUNGEN
(
GENERALISIERTE
A
DAPTATION
).. 38
2.4.1
Methode... 39
2.4.2
Ergebnisse... 39
2.4.3
Diskussion ... 41
2.5
E
XPERIMENT
IV
-
K
ONTROLLEXPERIMENT ZUR GENERALISIERTEN
A
DAPTATION
... 42
2.5.1
Methode... 42
2.5.2
Ergebnisse und Diskussion... 43
2.6
E
XPERIMENT
V
-
I
NTERMANUELLER
T
RANSFER VON
I
NTERFERENZ
... 45
2.6.1
Methode... 45
2.6.2
Ergebnisse... 46
2.6.3
Diskussion ... 47
2.7
A
BSCHLIEßENDE
D
ISKUSSION
-
I
NTERFERENZ UND GENERALISIERTE
A
DAPTATION BEI ZWEI
AUFEINANDERFOLGENDEN
D
ISKORDANZEN
... 49
3
GENERALISIERTE ADAPTATION IM VERGLEICH ZWISCHEN JUNGEN UND ALTEN
MENSCHEN. ... 52
3.1
M
ETHODE
... 52
3.2
E
RGEBNISSE
... 54
3.3
D
ISKUSSION
... 57

4
WEITERFÜHRENDE EXPERIMENTE ZUR SUKZESSIVEN ADAPTATION AN KOMPLEXERE
DISKORDANZFOLGEN... 60
4.1
A
LLGEMEINE
M
ETHODEN UND
M
ATERIAL
... 60
4.2
S
UKZESSIVE
A
DAPTATION AN
D
ISKORDANZEN UNTERSCHIEDLICHEN
T
YPS
... 62
4.2.1
Methode... 62
4.2.2
Ergebnisse... 64
4.3
S
UKZESSIVE
A
DAPTATION AN MEHRERE STATISCHE
D
ISKORDANZEN
... 68
4.3.1
Methode... 69
4.3.2
Ergebnisse... 71
4.4
A
BSCHLIEßENDE
D
ISKUSSION
-
W
EITERFÜHRENDE
E
XPERIMENTE ZUR
A
USWEITUNG EINER
GENERALISIERTEN
A
DAPTATION AUF STATISCHE UND DYNAMISCHE
T
RANSFORMATIONEN
... 73
5
GENERELLE DISKUSSION ... 76
6
ZUSAMMENFASSUNG ... 80
7
LITERATUR... 83
ANHANG A: MITTELWERT UND SIGNIFIKANZTABELLEN ... 91
ANHANG B: BERECHNUNG DER TRAJEKTORIENBAHNEN... 93

E
INLEITUNG
1
1 Einleitung
Als David im Alten Testament Goliath niederstreckte (D
IE
B
IBEL
, 1.Samuel 17,49f), gelang
ihm dies mit einem einzigen, gezielten Wurf, was um so bemerkenswerter war, als es sich bei
dem Wurfgeschoß um einen beliebigen Stein "aufgelesen auf dem Felde" handelte. Es war
also nicht allein die motorische Fähigkeit Davids, eine alttestamentliche Wurfschleuder zu
bedienen, was an sich schon ein gewisses Maß an Lernen und Übung erforderte, sondern auch
seine Fähigkeit, die Schleuderbewegung an ein bis dato unbekanntes Steingewicht zu adaptie-
ren, was Goliath besiegte. Angesichts dieser Tatsache ist davon auszugehen, daß David ent-
weder eine Menge Glück, vorher viel geübt oder Gottes Beistand auf seiner Seite hatte. Ob-
wohl ich mich als angehender Theologe gerne auf letzteres festlegen möchte, kommt mir, im
Rahmen dieser sportwissenschaftlichen Arbeit, doch eher die Aufgabe zu, die theoretische
Grundlage der Lern- und Adaptationsvorgänge Davids an eine alttestamentliche Wurfschleu-
der zu erforschen und zu beschreiben
- auch wenn dies aus theologischer Sicht quasi irrele-
vant erscheint
1
.
Im Alltag des ausgewachsenen Menschen stehen, im Vergleich zum heranwachsenden Kind,
weniger reine Lernprozesse, als vielmehr Adaptationsvorgänge im Mittelpunkt. Die meisten
Sportarten, ausgenommen solche, die in konstanten Umgebungsbedingungen stattfinden, er-
fordern beispielsweise immer wieder die Fähigkeit, das motorische System an veränderte
Umweltbedingungen zu adaptieren (z.B. Skifahren). Aber auch die zunehmende Technisie-
rung (Maussteuerung) oder Modeerscheinungen (Plateauschuhe) stellen für viele ältere Men-
schen bzw. für Jugendliche eine Herausforderung dar, an die es zu adaptieren gilt. Momentan
nur für wenige Menschen von Bedeutung, doch mit Blick auf die Zukunft sicherlich von Re-
levanz, ist die Auseinandersetzung des Menschen mit der Schwerelosigkeit, die, und das kann
ich aus eigener Erfahrung bestätigen, ebenso wie ein Übermaß an Schwerkraft, das zentrale
Nervensystem (ZNS) zu recht umfassenden Lern- und Adaptationsprozessen zwingt.
Eine inhaltliche Trennung dieser beiden Begriffe, Lernen und Adaptation, fällt meist sehr
schwer. Nachdem es in den siebziger und achtziger Jahren Bestrebungen gab, zwischen bei-
den Begriffen zu differenzieren, verwendet die aktuelle Literatur beide Begriffe größtenteils
wieder synonym.
1
Daß David einfach nur Glück gehabt hat, erscheint aus Sicht beider wissenschaftlicher Disziplinen äußerst
unwahrscheinlich (p
vermutet
> 0.05) und wird daher aus der weiteren Betrachtung ausgeschlossen.

E
INLEITUNG
2
1.1 Motorisches Lernen und Adaptation
1.1.1 Definition und Abgrenzung
Def.: (1) Motorisches Lernen (zentralnervös-koordinative Anpassung) bezeichnet den Auf-
bau (Erwerb), den Erhalt und die Veränderung von spezifischen, primär sensorischen
und motorischen, aber auch kognitiven und emotionalen Strukturen und Funktionen
sowie deren jeweilige Koordination hinsichtlich individueller Ziele sowie externer
Umwelt- und Aufgabenanforderungen (Mechling 1992).
Oder kürzer:
(2) Motorisches Lernen bezeichnet die Formation neuer Bewegungssequenzen unter
den Gesichtspunkten Geschwindigkeit, Präzision und Effizienz (Donoghue, Hees et al.
1996).
Def.: Adaptation bezeichnet die Fähigkeit des Individuums, eine motorische Efferenz in
Abhängigkeit einer veränderten sensorischen Afferenz zu modifizieren (Leonard
1997), d.h. es kommt zu einer Neukalibrierung afferenter, meist visueller oder propri-
ozeptiver, Signale.
In der Praxis letztlich wird es jedoch sehr schwer fallen, beide Prozesse voneinander zu diffe-
renzieren. Lerne ich beispielsweise Inline-Skaten oder adaptiere ich nur an Rollen unter den
Füßen und daran, daß ich schneller falle? So werden beide Begriffe in der folgenden Arbeit
oftmals synonym verwendet werden.
Lernen kann in unterschiedlichen Formen stattfinden. Grundsätzlich wird, auch beim motori-
schen Lernen, unterschieden zwischen deklarativ-explizitem und prozedural-implizitem
Lernen. Die Adaptation ist dem deklarativ-explizitem Lernen zuzuordnen.
Unter prozedural-implizitem Lernen wird zumeist konditioniert-assoziatives Lernen,
nichtassoziatives Lernen (Habituation und Sensibilisierung), klassische Konditionierung und
das Lernen von Fertigkeiten (Skill-Lernen) summiert. Es findet diese Form des Lernens unter
Ausschluß des Bewußtseins und damit auch ohne Zugriff auf bereits bestehende Gedächtnis-
bzw. Lerninhalte statt. Die Methode der Wahl ist die kontinuierliche Wiederholung ein und
derselben Bewegung, um so die Bewegung zu "verinnerlichen". Eine kognitive Auseinander-

E
INLEITUNG
3
setzung mit der Bewegungsaufgabe ist nicht nötig, sondern es geht allein um das Zusammen-
spiel der an der Bewegung beteiligten Muskeln. Dies impliziert natürlich, daß die zu lernende
Bewegung kein komplexes Bewegungsmuster darstellen darf, sondern es sich um eine relativ
klar umrissene, einfache Bewegung, beispielsweise eine Zeigebewegung, handeln muß. Je-
doch zeigte sich bei dieser Form des Lernens durch lediglich repititive motorische Aktivitäten
keine funktionelle Reorganisation zentraler Strukturen (Plautz, Milliken et al. 2000).
Anders sieht es beim deklarativ-explizitem Lernen aus. Diese Form des Lernens erfordert
eine bewußte, kognitive Auseinandersetzung mit dem Lerninhalt. Während und nach der Be-
wegung erfolgen Analyse, Bewertung und ggf. Korrektur. Die Schema-Theorie von Schmidt
(Schmidt 1975) beschreibt dabei die vier Informationen, die dem Individuum zur Analyse und
Korrektur des Bewegungsprogramms innerhalb eines konzeptuellen Bewegungsmodells, von
dem insbesondere in der Sportwissenschaft ausgegangen wird, und wie es vereinfacht in Ab-
bildung 1.1a dargestellt ist, zur Verfügung stehen:
a) Informationen über die initialen Zustände der Bewegung
(Körperposition, Geräteeigenschaften)
b) Informationen über die Parameter der programmierten Bewegung
(Efferenzkopie)
c) Informationen über das Ergebnis der Bewegung auf die Umgebung
- extrinsisches Feedback (Knowledge of Results [KR])
d) sensorische Informationen über das Bewegungsgefühl
- intrinsisches Feedback (Propriozeption, Audition, Vision)
Eine zentrale Rolle innerhalb des Lernprozesses stellt das Feedback dar, denn ohne extrinsi-
sches und intrinsisches Feedback gäbe es keine Möglichkeit, das Bewegungsprogramm zu
modifizieren. Erreichen propriozeptive, auditive und vor allem visuelle Feedbackinformatio-
nen die zentralen Analysatoren erst nach Bewegungsende, wie es beispielsweise bei schnel-
len, azyklischen Bewegungen (z.B. Tennisaufschlag) der Fall ist, spricht man von einem
"open-loop"-Kontrollsystem. Eine eigentliche Modifikation der Bewegung im Sinne des Ler-
nens kann dann erst mit Beginn einer neuen Bewegung einsetzen. Handelt es sich jedoch um
eher kontinuierliche und nicht zwangsläufig abgeschlossene Bewegungen, können Feedback-
informationen noch während der Bewegung zentrale Analysatoren erreichen; es erfolgt ein
Vergleich mit der Efferenzkopie und einer entsprechenden Modifikation noch im Bewe-
gungsablauf. Man spricht hier von einem "closed-loop"-Kontrollsystem. Hierzu gehört ein

E
INLEITUNG
4
Großteil der Sportarten, die in hohem Maße eine Gleichgewichtsregulation erfordern, bei-
spielsweise das Surfen.
Abbildung 1.1a: Konzeptuelles Bewegungsmodell als Kombination von "open-loop" und "closed-loop"
Theorie, modifiziert nach Schmidt (Schmidt 1991). Entscheidend für die Bezeichnung "open" oder "clo-
sed" ist der Zeitpunkt, an dem die Feedbackinformationen zentrale Analysatoren erreichen. Geschieht dies
innerhalb der Bewegungssequenz, mit der Option diese aufgrund der Feedbackinformation zu modifizieren,
spricht man zumeist von "closed-loop" Bedingungen (z.B. kontinuierliche Folgebewegungen), wohingegen
Bewegungssequenzen, deren Analyse erst nachträglich erfolgt, als "open-loop" bezeichnet werden (z.B.
Zeigebewegungen).
Auch für den Adaptationsprozeß spielt das Feedback eine entscheidende Rolle, denn auch
eine Neukalibrierung sensorischer Afferenzen erfordert eine solche Analyse der Beschaffen-
heiten: "Funktioniert" eine bereits erlernte Bewegung auf einmal nicht mehr so, wie sie ge-
lernt wurde, kommt es aufgrund der Analyse des veränderten sensorischen Feedbacks zu kog-
nitiven Überlegungen und Strategien, die "gestörte" Bewegung zu korrigieren und das
motorische System zu adaptieren. Oftmals geht dies damit einher, die "alte" Bewegung zu
Bewegungs-
antrieb
Bewegungs-
entwurf
Bewegungs-
programm-
gestaltung
Bewegungs-
programm-
verarbeitung (MI)
Efferenzen
Muskeln
Bewegung
Umwelt
Feedback
F
eedb
ack
Fehler
Feedback
Feedback
Efferenzkopie
Soll-Ist
Vergleich
Vision/Audition
Muskelspannung/-länge
Gelenk-/Körperposition

E
INLEITUNG
5
hemmen bzw. zu "entlernen" (z.B. vertauschte Lenkrichtung an einem manipulierten Fahr-
rad).
Adaptationsvorgänge, aber auch alle anderen Formen des motorischen Lernens, werden übli-
cherweise in Lernkurven beschrieben.
1.1.2 Lernkurven
Lernkurven sind oftmals die Methode, Lernfortschritte über die Zeit zu quantifizieren. Auf
der Abszisse abgetragen ist jeweils die Zeit bzw. die Anzahl der Wiederholungen, auf der
Ordinate der entsprechende Lernfortschritt. Lernkurven können ansteigend oder abfallend
dargestellt werden, was abhängig von der gemessenen Variable ist. Ansteigende Kurven fin-
det man beispielsweise, wenn die Anzahl von Erfolgen, z.B. die Anzahl von erreichten Korb-
würfen im Basketball, gemessen wird. Absteigende Lernkurven zeigen meist eine Abnahme
der Fehlerhäufigkeit bzw. eine Zunahme der Antwortschnelligkeit (vgl. Abb. 1.1b). Augen-
scheinlich ist, daß der Lernprozeß meist exponentiell verläuft: Einem relativ großen Lernfort-
schritt zu Beginn steht nur noch eine geringe Verbesserung pro Zeiteinheit am Ende entgegen.
Entscheidend für die Betrachtung von Lernkurven ist ihre subjektive Variabilität, d.h. ver-
schiedene Personen können, trotz identischer Aufgabe, recht unterschiedliche Lernkurven
aufzeigen
- was die Interpretation erschwert, hierauf aber wird in der Methodik noch einzu-
gehen sein.
Üblicherweise wird der Verlauf eines Lernprozesses in Phasen unterteilt. Eine recht einfache
Einteilung stellt dabei ein zweiphasige Modell dar, wie es u.a. von Snoddy vorgeschlagen
wird (Snoddy 1926; Adams 1971): Die erste Phase dieses Modells ist gekennzeichnet durch
Prozesse der selektiven Aufmerksamkeit und der Entwicklung eines Bewegungsplanes, die
zweite durch die Stabilisation der Bewegung ("fixation") bzw. durch die Entwicklung einer
Variabilität in Abhängigkeit von verschiedenen äußeren Bedingungen ("diversification")
(Gentile 1972). Neuere Modelle gehen mittlerweile sehr differenziert von bis zu fünf Phasen
des Lernens aus (Pöhlmann 1986 - aktualgenetische Lernphasenabschnitte, S. 56), beschrei-
ben aber damit meines Erachtens sehr spezielle und vor allem individuelle Phänomene, so-
wohl bezüglich des Bewegungsmusters als auch des Klientels. Die derzeit wohl gängigste und
aus meiner Sicht umfassendste Einteilung des motorischen Lernprozesses ist die nach Fitts
(Fitts 1964) bzw. nach Meinel und Schnabel (Meinel und Schnabel 1998) in drei Phasen:

E
INLEITUNG
6
a) die (frühe) kognitive bzw. grobmotorische Phase
b) die (mittlere) assoziative bzw. feinmotorische Phase
c) die (späte) autonome Phase bzw. Phase der Stabilisierung und variablen Verfügbarkeit
0
10
20
30
0
5
10
15
Wiederholungen
F
ehl
er
[
cm
]
Abbildung 1.1b: Typischer Verlauf einer absteigenden Lernkurve. Auf der x-Achse abgetragen ist die
Anzahl der Wiederholungen, auf der y-Achse der Fehler. Mit zunehmender Wiederholungszahl kommt
es typischerweise zu einer einphasigen, exponentiellen Abnahme des Fehlers (schwarze Linie [Fit]).
Andere Autoren präsentieren ähnliche Modelle, beispielsweise ein gröberes, zweiphasiges
Modell, meist mit kleinen Änderungen bezüglich der Anzahl und der Charakteristik der ein-
zelnen Phasen (Pew 1966; Adams 1971; Anderson 1982). Im weiteren möchte ich aber auf
das Phasenmodell von Fitts, ergänzt durch Aspekte von Meinel und Schnabel, näher eingehen.
1.1.2.1 Die kognitive Phase
Kennzeichen der kognitiven Phase ist die eigentliche Erfassung der Lernaufgabe durch die
Verarbeitung visueller (Demonstration) oder verbaler Informationen. Die Bewegungsaufgabe
ist unbekannt, zentrale Frage ist: "Was tun" bzw. "was nicht tun"? Der Lernfortschritt in die-
ser Phase ist groß, die Aufmerksamkeit richtet sich auf die Erfassung und Bewältigung der zu
lernenden Aufgabe. Bildgebende Verfahren erbrachten den Nachweis, daß in dieser frühen
Phase des motorischen Lernens häufig das Sprachzentrum aktiviert wird (Jenkins, Brooks et
al. 1994; Seitz und Roland 1991): Es wird versucht, dem eigenen Körper Anweisungen zu
geben, die die Bewegung unterstützen sollen (Selbstverbalisierung). Weiterhin kann es in die-
ser Phase zu einer Zerlegung der eigentlichen Aufgabe in Teilaufgaben kommen, so daß der
Bewegungsfluß noch sehr grob ist. Räumlich-zeitliche und dynamisch-statische Anteile sind

E
INLEITUNG
7
jedoch in ihrer Grobform schon erkennbar. Aus diesem Grund wird diese Phase auch die
grobmotorische Phase genannt. Für die Praxis ist es hilfreich, ggf. auf schon bekannte, ähnli-
che Bewegungsmuster bzw. zuvor gelernte Teilaspekte zurückzugreifen.
1.1.2.2 Die assoziative Phase
In der assoziativen Phase, die gekennzeichnet ist durch Versuch und Irrtum, beginnt der Ler-
nende, die in der kognitiven Phase erworbenen motorischen Programme zu verfeinern bzw.
alternative Bewegungsmuster zu entwickeln. Verschiedene Strategien werden erarbeitet, aus-
probiert und wieder verworfen, um die Bewegungsaufgabe zu lösen. In dieser Phase des Ler-
nens finden sich die motorischen und sensomotorischen Assoziationsareale des Hirns aktiv
(Grafton, Mazziotta et al. 1992; Seitz und Roland 1991). Der Lernfortschritt erfolgt primär
durch eine Verbesserung der intra- und intermuskulären Koordination (Feinkoordination). Es
kommt zu einer Eliminierung überflüssiger Mitbewegungen und einer Verbesserung sensori-
scher, vor allem kinästhetischer Rückmeldungen. Die kognitiven Anteile der Bewegung wer-
den mehr und mehr in den Hintergrund geschoben und es finden sich vermehrt unwillkürliche
Bewegungskorrekturen.
Ein verbessertes "Timing" und eine verbesserte Antizipation ermöglichen es, die Bewegung
"runder" und "glatter" zu machen. Die Aufmerksamkeit ist nicht mehr nur auf die eigentliche
Ausführung der Bewegungsaufgabe gerichtet, sondern durchaus auch auf Details. Der Lern-
fortschritt reduziert sich in dieser Phase drastisch.
1.1.2.3 Die autonome Phase
Die autonome Phase führt zu einer zunehmenden Automatisierung und Stabilisierung der Be-
wegung. Die Verarbeitung sensorischer Informationen und die damit verbundenen Bewe-
gungskorrekturen geschehen größtenteils unbewußt. Die Kontrolle der Bewegung erfolgt
nicht mehr in assoziativen Arealen des Gehirns, sondern auf niederen Ebenen, wie Basal-
ganglien und Kleinhirn (Jenkins, Brooks et al. 1994; Seitz und Roland 1991). Die Adaptation
an verschiedenartige äußere Einflüssen wie z.B. Bodenbeschaffenheit oder Wetterverhältnisse
ist ohne weiteres möglich (Entwicklung der variablen Verfügbarkeit).
Die Aufmerksamkeit in dieser Phase ist nicht mehr auf die Bewegungsaufgabe an sich gerich-
tet, sondern kann sich an strategischen, taktischen oder auch stilistischen Aspekten orientie-
ren. Der eigentliche Lernfortschritt wird minimal.

E
INLEITUNG
8
1.1.3 Ressourcen
Eine Methode, die Existenz und die Eigenschaften der Phasen des motorischen Lernprozesses
zu erforschen, ist der Zweitaufgaben-(Dual-Task-) Ansatz. Die primär-motorische Lernauf-
gabe wird hier mit einer Zweitaufgabe, die mental-kognitive (z.B. Kopfrechnen) oder räum-
lich-kognitive (z.B. räumliche Rotation) Fähigkeiten verlangt, kombiniert. Es wird im allge-
meinen davon ausgegangen, daß die Kombination einer primär-motorischen Lernaufgabe mit
einer Zweitaufgabe zu einem Wettstreit um denselben limitierten zentralen Ressourcenpool
führt, was sich in einer Abnahme der Lernleistung in Abhängigkeit von der Art der Zweitauf-
gabe und der aktuellen Lernphase manifestieren sollte.
Tatsächlich zeigten Eversheim und Bock (Eversheim und Bock 2001), daß es, bezüglich des
Fittsschen Phasenmodells, zu einer phasenspezifischen Abnahme der Leistung kommt. Bei
der Adaptation an eine manuelle Trackingaufgabe unter gespiegeltem visuellen Feedback
fanden sie insbesondere in der ersten Phase, die nach Fitts (Fitts 1964) charakterisiert ist
durch kognitive und verbale Prozesse, eine Abnahme der Trackingleistung, wenn die
Zweitaufgabe aufmerksamkeitsbezogene Ressourcen band, wohingegen eine Abnahme der
Trackingleistung zu späteren Zeitpunkten des Lernprozesses die Interferenz mit kognitiv-
räumlichen Zweitaufgaben und bewegungsvorbereitenden Ressourcen reflektierte. Auch dies
würde mit der Phasentheorie Fitts` einhergehen, treten doch kognitive Prozesse der ersten
Phase in der assoziativen, zweiten Phase des Lernens hinter Mechanismen der Bewegungsop-
timierung und -korrektur zurück. Die letzte, autonome Phase des Lernens, die geprägt ist von
zunehmender Feinkoordination und Automatisation, scheint hingegen von allen Zweitaufga-
bentypen in gleichem Maße beeinträchtigt zu werden, wobei zu berücksichtigen ist, daß die
Antwort der Zweitaufgabe im beschriebenen Experiment, ebenso wie die Primäraufgabe, mo-
torisch war
- und damit per se schon eine mögliche Fehlerquelle für die Primäraufgabe dar-
stellte.
1.2 Neurophysiologische Grundlagen des Lernens
1.2.1 Bewegungsprogrammierung, -entwurf und -gestaltung
Forschungsarbeiten der letzten Jahre legen die Vermutung nahe, den cerebralen Kortex als
primären Ort des deklarativen und proceduralen Gedächtnisses anzusehen. Was läge also in
der Betrachtung von Motorik näher, als am Motorkortex (MI) zu beginnen. Auf dem MI
findet sich eine somatotope Repräsentation des gesamten Körpers (Homunculus), d.h. jeder

E
INLEITUNG
9
Muskel des Körpers findet hier ein entsprechendes Innervationsareal, wobei die Repräsentati-
on der Hände und der Sprachmuskeln überproportional ausfällt. Auch finden sich auf dem MI
Verbindungen zwischen den Repräsentationsarealen synergistisch arbeitender Muskeln
(Leonard 1997).
Neurone im Motorkortex zeigen vor als auch während einer Bewegung Aktivität und sind
damit sowohl an der Bewegungsvorbereitung als auch an der Ausführung selbst beteiligt, wo-
bei ihr Aktivitätsmuster über Kraft und Richtung der Bewegung entscheidet (Georgopoulos,
Ashe et al. 1992; Georgopoulos, Schwartz et al. 1986).
Die Fähigkeit, erlernte Bewegungen, und dazu gehören auch ganz einfache Alltagsbewegun-
gen wie Gehen und Greifen, zu reproduzieren (Bewegungsgedächtnis) bzw. die Fähigkeit,
überhaupt Bewegungen ausführen zu können, wird jedoch nicht repräsentiert durch einzelne
Zellen, sondern durch Zellverbände (Engramme), die während einer Bewegung nahezu syn-
chron aktiviert werden (Armstrong 1988; Porter und Lemon 1993). Diese Engramme sind
flexibel und unterliegen einer durch Erfahrung und Wiederholung geprägten Modifikation
(s.u.), sind jedoch nicht allein auf den MI beschränkt. Vielmehr bestehen diese Engramme aus
einer Vielzahl kleinerer Zellgruppen (Engramme), die einzeln für sich an der Bewegungsaus-
führung beteiligt sind. Auch überlappen einzelne Engramme und können sich gegenseitig
aktivieren, um somit beispielsweise eine gleichzeitige Regelung von Bewegung und Gleich-
gewicht zu gewährleisten. Beide Systeme bestehen für sich aus "einzelnen" Engrammen, die
aber wiederum Teile eines großen Bewegungsengrammes sind. Dessen Koordination erfordert
dementsprechend eine entsprechende Kommunikation der zentralen Systeme untereinander:
Eine komplexe, detaillierte Darstellung dieser Systeme und ihrer Kommunikationsprozesse
würde, vor allem inhaltlich und thematisch, den Rahmen dieser Arbeit sprengen, weshalb ich
mich hier auf die Darstellung grundlegender Systeme beschränken möchte:
Vom MI aus ziehen direkte oder indirekte (via motorische Zentren des Hirnstamms) Aus-
gangsneurone direkt zum Rückenmark und von dort weiter zur Muskulatur. Der weitaus grö-
ßere Teil dieser Efferenzen projiziert jedoch zu anderen kortikalen Arealen (somatosensori-
sche und sekundär-motorische). Diese Signale sind als Efferenzkopie des eigentlichen moto-
rischen Befehls anzusehen und gewährleisten über eine Feedbackschleife und einen Soll-Ist-
Vergleich (vgl. Abb. 1.1a) eine Optimierung der Motorik unter Bezugnahme des motorischen
Gedächtnisses sowie extrinsischer und intrinsischer Feedbackmechanismen.
Insbesondere beim motorischen Lernen spielt diese Remodulation der motorischen Aktivität
durch weitere kortikale Zentren eine große Rolle: Sensorische Areale wie der somatosensori-

E
INLEITUNG
10
sche Kortex (Areale SI und SII) und Teile des sensorischen Thalamus projizieren afferente
Informationen von Propriozeption, Vision und Audition an bewegungsgestaltende und
-programmierende Strukturen zurück und sind damit beteiligt an Bewegungskorrekturen und -
modifikationen. Ähnliches gilt für eine große Zahl kortikaler Afferenzen aus sekundär-
motorischen Arealen wie dem prämotorischen Kortex (PM), der vor allem am Erlernen von
visuell-räumlichen Bewegungen beteiligt ist, und der supplementär-motorische Area
(SMA), die hauptsächlich auf propriozeptive Reize reagiert, und deren Aktivität sich erst spä-
ter im Lernprozeß beim Ausführen bereits vorgelernter Bewegungen zeigt (van Mier, Tempel
et al. 1998).
Darüber hinaus findet man zwei interne Schleifen vom MI über das Cerebellum und die Ba-
salganglien, die vor allem integrative Aufgaben der Bewegungsvorbereitung und -kontrolle
übernehmen. Hauptaufgabe des linken Anteils des Cerebellums scheint die Efferenz-
Afferenz-Korrektur (error processing van Mier, Tempel et al. 1998), d.h. die Anpassung
des motorischen Befehls an neue Situationen, wobei Informationen aus sämtlichen kortikalen,
an der Bewegung beteiligten und sensorischen Modalitäten zur Verfügung stehen. Die rechten
Anteile des Cerebellums hingegen scheinen, zusammen mit dem dorsalen Anteil des primär
motorischen Kortex, mit zeitlichen Aspekten der Bewegungsausführung beschäftigt zu sein
(van Mier, Tempel et al. 1998). Die Basalganglien erhalten von fast allen beteiligten Struktu-
ren bereits hochverarbeitete Informationen; sie scheinen eine wichtige Rolle in der Verarbei-
tung komplexer mentaler Prozesse, wie der kognitiven Wahrnehmung, der Langzeitplanung
und der Motivation, einzunehmen. Beide Schleifen führen über den motorischen Teil des Tha-
lamus zurück zum MI. Dem MI bleibt letztlich "nur" die Koordination und Übersetzung die-
ser Engramme in motorische Aktionen.
Bildgebende Verfahren zeigen, daß es in Arealen, die unmittelbar an der Bewegungspro-
grammierung beteiligt sind (MI), zu einer Verschiebung der Lateralisation kommt, je nach-
dem, ob die linke oder die rechte Hand die Bewegung ausführt, wohingegen eine Aktivität in
anderen kortikalen Arealen unabhängig von der benutzten Hand registriert wurde, was darauf
schließen läßt, daß diese Areale Informationen codieren, die von der eigentlichen Bewe-
gungsprogrammierung zu differenzieren sind (van Mier, Tempel et al. 1998). Die Repräsenta-
tion von Bewegungsentwurf und -gestaltung scheint damit eher abstrakt als muskelspezifisch
zu sein (Keele 1981; van Mier, Tempel et al. 1998) und sequentielle, temporäre und/oder
räumliche Aspekte zu beinhalten.

E
INLEITUNG
11
1.2.2 Kortikale Veränderungen im motorischen Lernprozeß
Eine ausgedehnte neuronale Aktivität zu Beginn des motorischen Lernvorgangs im primär-
motorischen Kortex (MI), im Cerebellum und im präfontalen Kortex, dessen Regionen
u.a. für die zielorientierte Planung des Verhaltens wichtig sind, wird im Laufe des Lernpro-
zesses mehr und mehr fokussiert (Grafton, Mazziotta et al. 1992; Jenkins, Brooks et al. 1994;
Karni, Meyer et al. 1995; Seitz und Roland 1991). Bewegungsalternativen werden erprobt und
verworfen, bis sich ein neuronales Muster herauskristallisiert und eine unnötige Aktivierung
irrelevanter Neurone ausbleibt: Es entsteht ein kortikales Engramm. Dieser Vorgang wird als
Konsolidierung bezeichnet und ermöglicht es, nach dem Lernprozeß Informationen gezielter
und vor allen Dingen schneller im Zentralnervensystem (ZNS) zu verarbeiten.
Der Prozeß des Erlernens motorischer Bewegungsmuster, bei dem sensorische wie auch mo-
torische Areale beteiligt sind, bezeichnet man als konditionierte Langzeitpotenzierung (long
term potentiation). Sowohl auf der motorischen als auch auf der sensorischen Seite kommt es
durch die wiederholte Aktivierung afferenter Neurone (Feedback) zur Vergrößerung der an
der Bewegung beteiligten Muskeln auf dem motorischen bzw. dem sensorischen Kortex
2
(Xerri, Merzenich et al. 1999), was zu einer verbesserten Regulierung der (Fein)Motorik bzw.
einer differenzierteren Analyse sensorischer Informationen und damit der an der Bewegung
beteiligten Muskeln beiträgt
3
. Auch bewirken lang anhaltende afferente, sensorische Informa-
tionen eine aktivitätsabhängige Änderung der synaptischen Plastizität (long term potentiation)
durch eine Veränderung in der Erregbarkeit des prä- und postsynaptischen Neurons und dem
Herauswachsen neuer Zellverbindungen (Synapsen).
1.2.3 Synaptische Veränderungen
Lernprozesse sind Ausdruck der Plastizität des Nervensystems, wobei Plastizität die Fähigkeit
des Gehirns bezeichnet, assoziativ-synaptische Verbindungen von Nervenzellen (Neuronen)
durch die Aktivierung von prä- und postsynaptischen Elementen derselben zu verändern und
ggf. auch neu zu formieren. Die Stärke einzelner Synapsen, d.h. ihre Fähigkeit Informationen
- bzw., grundlegender ausgedrückt, Aktionspotentiale - weiterzuleiten, kann durch verschie-
dene Prozesse, auf die im weiteren einzugehen sein wird, geschwächt oder gestärkt werden.
2
Auch auf dem sensorischen Kortex finden sich, ähnlich der somatotopen Zuordnung des motorischen Homun-
culus, rezeptive Felder, welche definierte Körperregion sensorisch repräsentieren.
3
Neuere Untersuchungen legen jedoch den Schluß nahe, daß diese Phänomen nur temporär zu sein scheint und
ebenso schnell durch neue Bewegungsmuster wieder überlagert werden kann (Classen, Liepert et al. 1998).

E
INLEITUNG
12
Einer der ersten, der auf diesem Gebiet forschte, war der Psychologe Donald Hebb (1904 -
1985). Nach ihm benannt ist ein fundamentales Prinzip neuronaler Plastizität, die Hebb-
Regel: Liegen zwei Zellen so dicht beieinander, daß eine Aktion in Zelle A zu einer Erregung
von Zelle B führt, so wird es bei wiederholter Aktivierung von Zelle A zu einem Wachstums-
prozeß, gekennzeichnet durch eine Stoffwechseländerung, zwischen den beiden Zellen kom-
men und damit die Effizienz von Zelle A für die Erregung von Zelle B größer werden. Die
Verbindungsstärke zwischen beiden Synapsen wird erhöht. Man spricht auch von einer Zu-
nahme des "Nervenwachstumsfaktors" (nerve growth factor, NGF), die meist zu Kosten be-
nachbarter Synapsen geht, die dadurch geschwächt werden.
Da die meisten Verbindungen schon vor dem Lernen bestehen, ist davon auszugehen, daß
Lernen vor allem eine Veränderung der Synapsenstärke bewirkt bzw. bis dato stumme Sy-
napsen aktiviert werden. Notwendig für eine solche Veränderung der Synapsenstärke (Pro-
teinbiosynthese) ist eine intensive, afferente Stimulation über eine längeren Zeitraum. Dies
geschieht durch die Erhöhung der Amplitude des exzitatorischen postsynaptischen Potentials
(EPSP), verursacht durch eine erhöhte Freisetzung von Neurotransmittern in den Synapsen-
spalt und der damit verbundenen erhöhten Verfügbarkeit von neurotransmitterspezifischen
Rezeptoren an der postsynaptischen Membran. Eine solche wiederholte, nicht zwingender-
weise intensive, afferente Stimulation führt zu einer Verbesserung der synaptischen Effizienz,
d.h. die Fähigkeit eines Neurons, ein erhöhtes synaptisches Potential zu erzeugen. Selbst meh-
rere Stunden, nachdem die afferente Stimulation beendet ist, läßt sich noch eine erhöhte Emp-
findlichkeit der Synapse nachweisen (Atwood und MacKay 1989; Bliss und Lomo 1976).
Entsprechend wird dieser Prozeß als long term potentiation (Langzeitpotenzierung (LTP) be-
zeichnet. Eine entsprechende Schwächung von Synapsen, ein im Lernprozeß nicht zu ver-
nachlässigender Faktor, als long term depression (LTD). Letztendlich kommt es zu einer Art
Wettkampf an den Synapsen: Eine benutzte Synapse wird gestärkt (LTP), eine nicht benutzte
geschwächt.
Neben dieser Änderung an der postsynaptischen Membran durch afferente Einflüsse findet
man aber auch Änderungen an der präsynaptischen Membran: Neurophysiologisch als long
term facilitation (LTF) bezeichnet, wird die Anzahl der Neurotransmitter, die vom präsynapti-
schen Neuron freigesetzt werden, erhöht und damit die Effektivität auf das postsynaptische
Neuron verbessert. Konkret kommt es zu einer verstärkten Einlagerung von Ca
++
, welches
essentiell für die Transmitterfreigabe im präsynaptischen Neuron ist. Erreicht nun ein Akti-

E
INLEITUNG
13
onspotential das Neuron, steht mehr Ca
++
zur Verfügung, so daß mehr Neurotransmitter frei-
gesetzt werden können.
Darüber hinaus können sowohl LTP als auch LTF zur Neubildung von Synapsen beitragen
(Engert und Bonhoeffer 1999; Bear, Connors et al. 1996; Kandel 1991), was wiederum ent-
scheidend ist für die Speicherung neuer Informationen, seien es kognitive, emotionale oder
motorische. Jedoch muß es für die Neubildung von Synapsen zusätzlich noch zu einer Syn-
these neuer Proteine durch den Zellkörper kommen. LTP, LTF und LTD führen zwar zu lang-
fristigen, jedoch nicht zu permanenten Änderungen.
Speziell die Synapsen zwischen sensorischen und motorischen Neuronen, also solche, die für
die Kontrolle des motorischen Bewegungsablaufs von großer Bedeutung sind, scheinen für
oben genannte aktivitätsabhängige Veränderungen extrem ansprechbar zu sein (Iriki, Pavli-
desw et al. 1989) und es wird vermutet, daß plastische Veränderungen ortsspezifisch dort
stattfinden, wo sich sensorische und motorische Nervenzelle treffen (sensomotorische Ver-
bindung).
Es bleibt also festzuhalten, daß motorisches Lernen abhängig von der Änderung der synapti-
schen Funktion ist, welche wiederum aktivitäts- bzw. wiederholungsabhängig ist. Je häufiger
ein neuronaler Weg passiert wird, desto leichter fällt die Weiterleitung von Aktionspotentia-
len (APs) auf diesem Weg (Engramm). Eine Verbesserung unserer motorischen Leistung ist
damit zum großen Teil über den Faktor "Wiederholung" möglich. Dies ist, insbesondere im
Lernprozeß, immer wieder herauszustellen.
1.3 Sensomotorische Adaptation
Trotz eines weitgehenden Konsenses um die neurophysiologischen Parameter des Lernpro-
zesses, gestaltet sich eine inhaltlich-methodische Definition des Begriffs "motorisches Ler-
nen" schwer. Der Grund dafür dürfte zum einen in der hohen Komplexität des Prozesses und
der beteiligten Strukturen, aber auch in der Beteiligung und Kombination sowohl kognitiver
als auch motorischer Aspekte liegen.
So bezeichnen einige Autoren schon die motorische Reaktion auf eine kognitive Entschei-
dung, beispielsweise das klassisches "go or no go"-Verhalten (Drewe 1975; Leimkuhler und
Mesulam 1985, Gemba 1993), als motorischen Lernprozeß. Andere Autoren hingegen schal-
ten die kognitive Ebene hingegen gänzlich aus und wollen den motorischen Lernprozeß als
reine Ausführung von Bewegungssequenzen, ohne eine bewußt-kognitive Auseinanderset-
zung, definiert wissen (Prozedurel-implizit, s.o.). Hierzu zählen Sequenzaufgaben, bei denen

E
INLEITUNG
14
es allein um die Reproduktion einer festgelegten Bewegungssequenz oder eines Bewegungs-
musters geht, quantifiziert beispielsweise durch die Reaktionsgeschwindigkeit (Heuer,
Schmidtke et al. 2001). Mehr praktisch orientierte Vertreter fassen lediglich komplexe Bewe-
gungsabfolgen, wie beispielsweise den Tennisaufschlag, unter den Begriff des motorischen
Lernens.
In dieser Arbeit soll hingegen die sensomotorische Adaptation im Vordergrund stehen. Kenn-
zeichen dieser Form des motorischen Lernens ist nicht das Erlernen eines grundsätzlich neuen
Bewegungsablaufes, sondern bereits Erlerntes aufgrund eines veränderten sensorischen Feed-
backs zu modifizieren (siehe Definition 1.1.1). Diese Form des Um-Lernens beinhaltet in der
Analyse und der Verarbeitung sensorischer Informationen sowohl eine kognitive Komponente
(Phase 1) als auch eine rein motorische Komponente, wenn es nämlich darum geht, Erlerntes,
bzw. in diesem Fall Modifiziertes, zu perfektionieren und
automatisieren
(Phase 3). Spätes-
tens hier werden bewußt-kognitive Aspekte nur noch eine sehr untergeordnete Rolle spielen
und evtl. sogar als störend empfunden werden.
Zwei klassisch-methodische Ansätze zur Erforschung sensomotorischer Adaptation sind die
visuelle Transformationen durch z.B. Prismengläser, oder propriozeptive Veränderungen,
beispielsweise durch den Einsatz externer Kraftfelder (Shadmehr und Brashers-Krug 1997).
In dieser Arbeit sollen beide behandelt werden, Hauptaugenmerk wird aber auf der visuellen
Transformation liegen.
Stratton (1897) war vor mehr als 100 Jahren einer der ersten Wissenschaftler, der eine senso-
motorische Adaptation an eine 180°-Rotation durch Prismengläser beschrieb. Sieben Tage
lang trug er selbst eine Prismenbrille und beschreibt in seinem Tagebuch recht ausführlich
und amüsant die Adaptationsvorgänge. Seitdem hat es eine Vielzahl von Studien gegeben, die
sich mit der Adaptation an visuelle (McGonigle und Flook 1978; Welch, Bridgeman et al.
1993; Imamizu und Shimojo 1995; Imamizu, Uno et al. 1998; Bock 1992; Pine, Krakauer et
al. 1996) oder dynamische Transformationen (Diskordanzen) (Brashers-Krug, Shadmehr et al.
1996; Conditt, Gandolfo et al. 1996; Flanagan, Nakano et al. 1999; Lackner und Dizio 1994;
Shadmehr und Mussa-Ivaldi 1994) beschäftigten und die bestätigten, daß es möglich ist, an
diese sensomotorischen Diskordanzen zu adaptieren. Kennzeichen einer solchen sensomotori-
schen Adaptation ist, daß es nach einer initialen Störung des Bewegungsablaufs im Verlaufe
des Lernprozesses zu einer allmählichen Normalisierung desselben kommt (vgl. Abb. 1.1b).

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INLEITUNG
15
Typischerweise erfolgt mit der Adaptation ein Transfer auf ungeübte Orte im Raum, Bewe-
gungskategorien und ggf. Gliedmaßen.
Eine einmal erlernte sensomotorische oder dynamische Diskordanz wird repräsentiert durch
ein sogenanntes internes Modell (IM), welches die Programmierung der motorischen Efferenz
durch das ZNS ermöglicht. Es ist davon auszugehen, daß schnelle und koordinierte Bewegun-
gen nicht allein aufgrund afferenter, intrinsisch-propriozeptiver Informationen über Lage und
Stellung der Gliedmaßen bzw. Spannung der Muskulatur ausgeführt werden können, sondern
ein solches internes Modell des Arms zur Berechnung von Bewegungen nötig ist. Als internes
Modell ist ein neurales System zu verstehen, daß das Verhalten des sensomotorischen Sys-
tems im Zusammenspiel mit Objekten der externen Umwelt imitiert, um die Konsequenzen
motorischer Befehle zu antizipieren und die an der Bewegung beteiligten Strukturen mit adä-
quaten, efferent-motorischen Signalen zu versorgen. Oftmals wird in der Literatur auch von
einem inversen dynamischen Modell gesprochen (Kawato und Wolpert 1998). Ein IM be-
zeichnet damit die Verbindung einer geplanten Bewegung zu einem Muster von Kräften und
Drehmomenten, die auf die beteiligte Muskulatur wirken (Wolpert, Ghahramani et al. 1995;
Shadmehr und Mussa-Ivaldi 1994).
1.3.1 Modularität und Retention
Die Fähigkeit, an eine Reihe von Diskordanzen zu adaptieren und zwischen gewohnten, d.h.
adaptierten Diskordanzen zu wechseln, wird als Modularität bezeichnet und läßt vermuten,
daß das ZNS in der Lage ist, die dynamischen und kinematischen Besonderheiten (IM's) einer
Diskordanz nicht nur zu lernen, sondern auch zu speichern (Flanagan, Nakano et al. 1999)
und ggf. bereits erlernte Diskordanzen zu kombinieren (Ghahramani und Wolpert 1997;
Kawato und Wolpert 1998; Wolpert, Goodbody et al. 1998; Shelhamer, Robinson et al. 1992;
Welch, Cohen et al. 1993). Würde man Personen nach dem Erlernen einer Diskordanz, bei-
spielsweise einer prismatischen Verschiebung, in einer zweiten, zeitlich getrennten Sitzung
der selben Diskordanz aussetzen, würde sich der zuvor erworbene Adaptationszustand ohne
eine erneute initiale Zunahme des Fehlers wieder einstellen. Dies spricht jedoch nicht dafür,
daß die Probanden in dieser zweiten Sitzung schneller adaptierten, sondern weist vielmehr
darauf hin, daß das ZNS in der Lage ist, einmal Gelerntes zu speichern und nach einer freien
Zeitspanne zu reproduzieren. Man spricht hier von Bewahrung (Retention). Mehrere Autoren
(Klapp, Nordell et al. 1974; Lackner und Lobovitz 1977; Brashers-Krug, Shadmehr et al.

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INLEITUNG
16
1995; Krakauer, Ghilardi et al. 1999; McGonigle und Flook 1978) zeigten darüber hinaus, daß
nach der Adaptation an zwei Diskordanzen beide adaptierten Zustände (prismatische Links-
und Rechtsverschiebung) im Langzeitgedächtnis parallel vorhanden, d.h. abrufbar waren, und
mit entsprechendem Training sogar ein nahezu fehlerfreier Wechsel zwischen beiden adap-
tierten Zuständen möglich war. Auch daß die Adaptation an eine Diskordanz, die eine Kom-
bination einer visuomotorischen (60°-Rotation) und einer dynamischen (viscuous curl fields)
Diskordanz darstellte, dann leichter fiel, wenn beide Diskordanzen zuvor separat gelernt wur-
den, ebenso, wie an beide Diskordanzen einzeln schneller adaptiert wurde, wenn sie zuvor
kombiniert gelernt wurden, spricht für die Annahme multipler interner Modelle.
Die (sport-)praktische Bedeutung ist groß, ermöglicht sie es uns doch Tätigkeiten auszufüh-
ren, deren Erlernen lange zurück liegt bzw. beim Neulernen von Bewegungsaufgaben auf
Vorerfahrungen zurückzugreifen. Eines der klassischen Beispiele ist das Fahrradfahren: Ein-
mal gelernt
- immer gekonnt. Das heißt natürlich nicht, daß es nach einer längeren Pause
nicht zu Leistungseinbußen kommt. Jedoch lassen die Ergebnisse von Krakauer et al.
(Krakauer, Ghilardi et al. 1999), die sich mit Zeige-, also feinmotorischen Bewegungen be-
schäftigten und die die Retention einer 30°-Rotation über 24 Stunden nicht zu 100% nachwei-
sen konnten, vermuten, daß diese Leistungseinbußen lediglich die Feinkoordination betreffen,
das eigentliche Bewegungsprogramm aber nicht betroffen ist (vgl. Fahrradfahren).
1.3.2 Interferenz
Normalerweise interferieren komplexe motorische Fähigkeiten nicht miteinander (vgl. z.B.
Kartoffelschälen und Briefe schreiben). Erst wenn Aufgaben sich in Stimulus und Antwort
überschneiden und die Zuordnung (Mapping) zwischen beiden verändert wird, kann es zu
einer Störung (Interferenz) kommen.
Die Arbeitsgruppe um Shadmehr zeigte beispielsweise, daß die Adaptation von Zeigebewe-
gungen an eine durch ein Kraftfeld initiierte Linksverschiebung in Abhängigkeit von der Pau-
sendauer zu einer zuvor gelernten entgegengesetzten Rechtsverschiebung zu signifikant
schlechteren Ergebnissen führte (Shadmehr und Brashers-Krug 1997; Shadmehr und Hol-
comb 1999), wobei davon auszugehen ist, daß die in der ersten Sitzung (Rechtsverschiebung)
erlangte Adaptation eine negative Auswirkung auf den Lernfortschritt in der zweiten Sitzung
(Linksverschiebung) hatte. Entscheidend für diese Interferenz scheint, zumindest was das
Erlernen mechanischer Diskordanzen betrifft, der zeitliche Ablauf beider Sitzungen zu sein:
Nach einer Pausenlänge von mehr als 5½ Stunden blieb die interferente Wirkung der ersten

E
INLEITUNG
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auf die zweite Sitzung aus. Die Autoren erklären dieses Phänomen mit einem Übertritt, und
damit einer Festigung des Gelernten aus der fragilen Repräsentation im Kurzzeitgedächtnis
ins Langzeitgedächtnis (Konsolidierung): Wird die zweite Diskordanz nach Beendigung des
Konsolidierungsprozesses präsentiert, finden sich keine interferenten Wirkungen zwischen
beiden Diskordanzen, wohingegen sich beide stören und um die begrenzte Kapazität des
Kurzzeitgedächtnisses konkurrieren müssen, wenn die zweite Diskordanz, d.h. die zweite
Sitzung, zu früh gestartet wird. Das Ergebnis ist dann ein objektiver Qualitätsverlust, sowohl
was das Erlernen der neuen Bewegung als auch die Speicherung der zuerst gelernten Aufgabe
betrifft. Denn man fand darüber hinaus, daß, wurde in einer dritten Sitzung noch einmal die
erste Diskordanz präsentiert, sich diese nur dann ohne erneute Zunahme des initialen Fehlers
reproduzieren ließ, wenn zwischen erster und zweiter Sitzung ein Zeitfenster größer als fünf
Stunden lag, der Konsolidierungsprozeß abgeschlossen und die Information ins Langzeitge-
dächtnis transferiert war. Bei Zeitspannen unter fünf Stunden zeigte sich in der dritten Sitzung
keinerlei Retention der ersten Sitzung.
1.3.3 Generalisierte Adaptation ('learning to learn')
Generalisierte Adaptation bezeichnet die Fähigkeit des ZNS, sich an eine Diskordanz durch
eine gegebene Anzahl von Vorerfahrungen schneller zu adaptieren als wenn es auf die voran-
gegangenen Vorerfahrungen nicht zurückgreifen könnte. 'learning to learn' bzw. generalisierte
Adaptation ist partiell nur schwer gegen den Begriff des Transfers abzugrenzen, denn hier wie
dort geht es darum, aus vorausgegangenen Erfahrungen zu profitieren. Adaptation bezeichnet
jedoch im engeren Sinne, und so möchte ich diesen Begriff verwenden, die Anpassung des
motorischen Systems an ein verändertes sensorisches Feedback, wohingegen Transfer die
Übertragung bereits erlernter Bewegungen, Bewegungsmuster bzw. Adaptationszustände auf
neue Bewegungsformen (Badminton
- Tennis) oder andere Extremitäten (linke Hand - rechte
Hand) bezeichnet.
Der Begriff 'learning to learn' tauchte erstmals 1949 in einem Experiment von Harlow (1949)
auf. Jedoch wurde er dort nicht in dem hier gewählten Zusammenhang der Adaptation an ver-
schiedene Diskordanzen gebraucht, sondern Harlow beschreibt mit diesem Begriff die Fähig-
keit einer Gruppe von Affen - in späteren Versuchen einer Gruppe von Kindern - an eine
Vielzahl von Arrangements ein und desselben Problems zu adaptieren. Konkret ging es dar-
um, eine unter zwei Hütchen versteckte Belohnung durch Aufdecken des Hütchens zu erhal-
ten. Die Probanden hatten jeweils sechs Versuche, wobei nach jedem Versuch eine Trenn-

E
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wand heruntergefahren wurde, die die Hütchen verdeckte. Nach diesen sechs Versuchen wur-
de das Arrangement erneuert, d.h. Form, Farbe und Position der beiden Hütchen verändert. Je
häufiger das Arrangement erneuert wurde, um so schneller und häufiger trafen die Probanden
während dieser sechs Versuche das richtige Hütchen. Sie hatten also gelernt, nicht willkürlich
zu greifen, sondern eine Strategie entwickelt, das gegebene Problem mit einem Minimum an
Fehlern zu lernen, d.h. zu lösen: War die Belohnung nicht unter dem ersten Hütchen, war sie
unter dem anderen
- und dann nutzte es auch nicht, dasselbe Hütchen noch einmal herumzu-
drehen.
Der Versuch diese Befunde auch auf prismatische Verschiebungen anzuwenden scheiterte
jedoch zunächst. So waren alle Probanden in einem Experiment von Lazar und van Laer
(Lazar und van Laer 1968) nicht in der Lage, nach der Adaptation an ein 10-Diopter-
Prismenglas an eine sukzessive 20- und 30-Diopter-Diskordanz schneller zu adaptieren. Der
Fehler in den Zeigebewegungen wurde eher mit zunehmender Diopterzahl größer, wobei da-
von auszugehen ist, daß es im Verlaufe der einzelnen Diskordanzen zu keiner vollständigen
Adaptation kam, da die Fehlerwerte selbst nach 30 Wiederholungen unter derselben Diopter-
zahl noch deutlich über dem Normalwert lagen, was das Ergebnis der nachfolgenden Adapta-
tionen maßgeblich beeinflußt haben dürfte; zeigten doch weitere Studien, daß die Adaptation
an große Transformationen durchaus erleichtert wird, wenn zuvor unter kleinen Transformati-
onen trainiert wurde (Welch, Cohen et al. 1993): Probanden die bereits unter einer 15°-
Rechtsverschiebung ge-arbeitet hatten, zeigten eine schnellere Adaptation an eine 30°-
Rechtsverschiebung als eine Kontrollgruppe, die keine 15° "Vorerfahrung" hatte.
Es ist in diesem Falle davon auszugehen, daß den Probanden, die an der ersten Sitzung teil-
nahmen, der Adaptationszustand dieser Sitzung im Gedächtnis verfügbar geblieben ist, so daß
sie unter der größeren Diskordanz schon teiladaptiert beginnen konnten (vgl. auch Flanagan,
Nakano et al. 1999).
Fraglich ist hingegen, ob dieses Phänomen auf eine generalisierte Adaptation schließen läßt,
da es sich bei dieser Form der Adaptation lediglich um eine Ausweitung einer bereits erlern-
ten Diskordanz handelt und damit meines Erachtens nicht geeignet ist, 'learning to learn' zu
zeigen. Natürlich mag man argumentieren, und genau so ist der Begriff der Adaptation ja
auch definiert, daß auf Vorerfahrungen zurückgegriffen werden kann, jedoch bleibt die Frage
offen, inwieweit die Bewegungserfahrungen der zweiten Sitzung in obigem Experiment wirk-
lich neu waren. Übertragen auf die Sportpraxis stellt sich beispielsweise die Frage, ob die

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Erscheinungsjahr
2001
ISBN (eBook)
9783832455019
ISBN (Paperback)
9783838655017
DOI
10.3239/9783832455019
Dateigröße
1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Deutsche Sporthochschule Köln – Sportwissenschaften
Erscheinungsdatum
2002 (Juni)
Note
2
Schlagworte
generalisierung lernen alter motorisches intenes modell
Produktsicherheit
Diplom.de
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