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Gesundheitsreform und Gesellschaftspolitik

Gesundheitliche Ungleichheit, epidemiologische Erkenntnisse und sozialpolitische Alternativen

©1999 Diplomarbeit 116 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Zusammenfassung:
Die Gesundheitsreformen der Kohl-Regierung führten in der Bundesrepublik Deutschland teilweise unbemerkt zu ganz erheblichen sozialen Einschnitten im Gesundheitswesen. Vor dem Hintergrund der Schlagwörter "Kostenexplosion", "Kostendämpfung" und "Standort Deutschland" wurde die gesetzliche Krankenversicherung zum Spielball wirtschaftlicher Interessen, die primär auf Beitragssatzstabilität abzielten. Durch das Gesundheitsreformgesetz und vor allem das Gesundheitsstrukturgesetz wurden Weichen für die Zukunft der gesetzlichen Krankenversicherung in Richtung Privatisierung des Krankheitsrisikos gestellt, wodurch eine weitgehende Umgestaltung des bisherigen bewährten Gesundheitssystems ermöglicht wird.
Trotz bestehender gesundheitlicher Ungleichheit in der Bundesrepublik wurden bei den Gesundheitsreformgesetzen soziale Aspekte nicht ausreichend berücksichtigt. Unter dem Einfluß wirtschaftlicher Interessengruppen, die vor allem die finanzielle Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung im Blickpunkt gehabt haben, wurden Regelungen getroffen, die die Eigenverantwortung der Versicherten in den Vordergrund rücken und das Solidarprinzip der gesetzlichen Krankenversicherung aushebeln. In der Summe der Änderung gab es eine Kumulation von Belastungen bei den sozial schwachen Bevölkerungsgruppen.
In dieser Arbeit werden nach einer Zusammenfassung des Forschungsstands zum Thema gesundheitliche Ungleichheit die Gesundheitsreformen beginnend mit dem Gesundheitsstrukturgesetz bis hin zu den Neuordnungsgesetzen vor dem Hintergrund der in der Bundesrepublik bestehenden gesundheitlichen Ungleichheit analysiert. Dabei wird deutlich, daß die Auswirkungen dieser Politik den Weg in eine Zwei-Klassen-Medizin öffnen und die bestehende gesundheitliche Ungleichheit vergrößern.
Es wird gezeigt, daß die Gesundheitspolitik der letzten Jahre lediglich ein Krisenmanagement der Beitragssatzstabilität war, daß in den Reformen gesundheitspolitische Aspekte wie die Nutzung wichtiger Instrumente zur Verbesserung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung und damit letztlich zur Vermeidung von Krankheitskosten vernachlässigt wurden und daß die Privatisierung des Krankheitsrisikos zu einer sozial äußerst bedenklichen Umverteilung der Finanzierung der Gesundheitskosten zu Lasten der Kranken beigetragen hat. Das dem zugrunde liegende Verständnis von Gesundheitspolitik als Teil der Wirtschaftspolitik wird dabei stark kritisiert.
Weiterhin werden […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 1934
Weber, Michael: Gesundheitsreform und Gesellschaftspolitik: Gesundheitliche Ungleichheit,
epidemiologische Erkenntnisse und sozialpolitische Alternativen /
Michael Weber - Hamburg: Diplomarbeiten Agentur, 1999
Zugl.: Hannover, Universität, Diplom, 1999
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Diplomarbeiten Agentur, http://www.diplom.de, Hamburg 2000
Printed in Germany


1
Inhaltsverzeichnis
Verzeichnis der Abbildungen
Seite 4
1
Einleitung
Seite 5
2
Begriffsklärungen
Seite 10
3
Forschungsstand
Seite 13
3.1
Auswertung von Tagen mit gesundheitlicher Beein-
trächtigung
Seite 13
3.2
Analyse von Krankheitsfällen der AOK-Mitglieder
in Essen
Seite 15
3.3
Der Einfluß der Arbeitswelt
Seite 18
3.4
Vorsorgeverhalten und Impfstatus bei Kleinkindern
Seite 20
3.5
Persönliche Risikofaktoren und subjektive Morbidität
Seite 26
3.6
Strukturelle Situation des Wohnortes
Seite 29
3.7
Zusammenfassung
Seite 29
4
Ansätze zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit
Seite 32
4.1
Modell zum Zusammenhang zwischen sozialer und
gesundheitlicher Ungleichheit
Seite 33
5
Die Gesundheitsreform
Seite 37
5.1
Zur Geschichte der Kostendämpfungsgesetze - Kosten-
explosion und Kostendämpfung
Seite 37
5.1.1
Die jüngere Entwicklung
Seite 40
5.2
Relevante Inhalte des Gesundheits-Strukturgesetzes
Seite 40
5.2.1 Selbstbeteiligungen und Zuzahlungen
Seite 41
5.2.2 Freies Krankenkassenwahlrecht
Seite 41
5.2.3
Risikostrukturausgleich
Seite 42
5.3
Modifizierungen des Gesundheits-Strukturgesetzes
Seite 42
5.3.1
Kürzungen bei Lohnfortzahlung und Krankengeld
Seite 43
5.3.2
Erhöhung von Selbstbeteiligungen und Zuzahlungen
Seite 43
5.3.3
Kopplung von Zuzahlungen und Beitragssätzen
Seite 44
5.3.4
Einschränkung des Präventionsangebotes
Seite 44
5.3.5
Beibehaltung der Härtefallregelung
Seite 45

2
6
Beurteilung der relevanten Reforminhalte
Seite 46
6.1
Einschub: Die Verteilung der Kosten im
Gesundheitswesen
Seite 48
6.2
Finanzielle Belastungen der Versicherten
Seite 50
6.2.1
Zuzahlungen und Selbstbeteiligungen
Seite 51
6.2.2
Die Härtefallregelung
Seite 53
6.2.3
Kopplung von Zuzahlungs- und Selbstbeteiligungshöhe
an die Beitragssatzentwicklung
Seite 55
6.2.4
Die Kürzung bei Lohnfortzahlung und Krankengeld
Seite 56
6.3
Einschränkung des Präventionsangebotes
Seite 57
6.4
Freies Kassenwahlrecht und Risikostrukturausgleich
Seite 59
6.5
Abschließendes Fazit
Seite 60
7
Die Auswirkungen ökonomischer Präferenzen in der
Gesundheitspolitik Seite
62
7.1
Gesundheitsleistungen sind nachfragegesteuert
Seite 64
7.2
Das Moral Hazard Theorem
Seite 65
7.3
Selbstbeteiligungen fördern Eigenverantwortung
Seite 65
7.4
Wettbewerb sichert Qualität
Seite 67
7.5
Die Problematik der Rationierung
Seite 67
7.6
Abschließendes Fazit
Seite 70
8
Der Umbau des Gesundheitssystems
Seite 72
8.1
Ethische Grundfragen zum Gesundheitssystem
Seite 73
8.2
Die Aufspaltung in Grund- und Wahlleistungen
Seite 75
8.3
Abkopplung des Arbeitgeberanteils
Seite 78
8.4 Kapitaldeckungsverfahren
Seite
80
9 Lösungsmöglichkeiten
Seite
81
9.1
Zur gesundheitspolitischen Entscheidungsfindung
Seite 81
9.1.1 "Sozialstaatliche" Aspekte der Gesundheitspolitik
Seite 83
9.2
Healthy Public Policy
Seite 85
9.3
Präventionspolitik als Gesellschaftspolitik
Seite 86
9.4
Alternative Sozialpolitik
Seite 91
9.4.1
Bildungspolitik
Seite 92

3
9.4.2 Staatliche Transaktionen an Bedürftige
Seite 93
9.4.3
Lohn- und Beschäftigungspolitik
Seite 94
9.5
Änderung der gesetzlichen Krankenversicherung
Seite 95
9.6
Einführung einer ergebnisorientierten Gesundheits-
berichterstattung
Seite 96
10 Schlußbetrachtung
Seite
99
10.1 Zusammenfassung
Seite
99
10.2
Ergebnisse und Forderungen
Seite 100
10.3 Ausblick
Seite
104
Literaturverzeichnis
Seite 106

4
Verzeichnis der Abbildungen
Abbildung I:
Anzahl und Dauer von Arbeitsunfähigkeitsfällen
nach Beruf
Seite 16
Abbildung II:
Anzahl und Dauer von Arbeitsunfähigkeitsfällen
nach Position
Seite 17
Abbildung III:
Impfstatus nach Nationalität
Seite 21
Abbildung IV:
Früherkennungsstatus nach Nationalität
Seite 22
Abbildung V:
Impfstatus nach Familiengröße
Seite 23
Abbildung VI:
Früherkennungsstatus nach Familiengröße
Seite 24
Abbildung VII: Vorsorgestatus nach Kindergartenbesuch
Seite 25
Abbildung VIII: Zusammenhang zwischen sozialer und
gesundheitlicher Ungleichheit
Seite 34
Abbildung IX:
GKV-Anteil am BIP in %
Seite 39
Abbildung X:
Überschuß-/Defizitentwicklung der gesetzlichen
Krankenversicherung
Seite 47
Abbildung XI:
Kostenursachen in % von Gesamtausgaben
Seite 49
Abbildung XII: Ausgaben des Gesundheitswesen nach Lei-
stungserbringer in %
Seite 50

5
1 Einleitung
Die Gesundheitsreformen der Kohl-Regierung führten in der Bundesrepublik
Deutschland teilweise unbemerkt zu ganz erheblichen sozialen Einschnitten im
Gesundheitswesen. Vor dem Hintergrund der Schlagwörter "Kostenexplosion",
"Kostendämpfung" und "Standort Deutschland" wurde die gesetzliche Kranken-
versicherung zum Spielball wirtschaftlicher Interessen, die primär auf Beitrags-
satzstabilität abzielten. Durch das Gesundheitsreformgesetz und vor allem das
Gesundheitsstrukturgesetz wurden Weichen für die Zukunft der gesetzlichen
Krankenversicherung in Richtung Privatisierung des Krankheitsriskos gestellt,
wodurch eine weitgehende Umgestaltung des bisherigen bewährten Gesund-
heitssystems ermöglicht wird.
Trotz bestehender gesundheitlicher Ungleichheit
1
in der Bundesrepublik wurden
bei den Gesundheitsreformgesetzen soziale Aspekte nicht ausreichend berück-
sichtigt. Unter dem Einfluß wirtschaftlicher Interessengruppen, die vor allem die
finanzielle Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung im Blickpunkt
gehabt haben, wurden Regelungen getroffen, die die Eigenverantwortung der
Versicherten in den Vordergrund rücken und das Solidarprinzip der gesetzli-
chen Krankenversicherung aushebeln. In der Summe der Änderung gab es eine
Kumulation von Belastungen bei den sozial schwachen Bevölkerungsgruppen.
In dieser Arbeit soll die letzte große Welle der Änderung der gesetzlichen Kran-
kenversicherung beginnend mit dem Gesundheitsstrukturgesetz bis hin zu den
Neuordnungsgesetzen vor dem Hintergrund der in der Bundesrepublik beste-
henden und empirisch immer besser abgesicherten gesundheitlichen Ungleich-
heitsforschung analysiert werden. Dabei wird deutlich, daß die Auswirkungen
dieser Politik den Weg in eine Zwei-Klassen-Medizin öffnen und die bestehende
gesundheitliche Ungleichheit vergrößern.
Es soll gezeigt werden, daß die Gesundheitspolitik der letzten Jahre lediglich
ein Krisenmanagement der Beitragssatzstabilität war, daß in den Reformen ge-
sundheitspolitische Aspekte wie die Nutzung wichtiger Instrumente zur Verbes-
serung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung und damit letztlich zur
Vermeidung von Krankheitskosten vernachlässigt wurden und daß die Privati-

6
sierung des Krankheitsrisikos zu einer sozial äußerst bedenklichen Umvertei-
lung der Finanzierung der Gesundheitskosten zu Lasten der Kranken beigetra-
gen hat.
Dem soll gegenübergestellt werden, welche anderen Möglichkeiten es gibt, Ge-
sundheitspolitik so auszugestalten, daß die Finanzierungsproblematik berück-
sichtigt wird und darüber hinaus auch die Verringerung der gesundheitliche Un-
gleichheit zum Gegenstand der Gesundheitspolitik werden kann. Dazu ist es
notwendig, die Themenkomplexe gesundheitliche Ungleichheit und Gesund-
heitsreform miteinander in Bezug zu setzen.
Nachdem in Kapitel 2 einige Begriffe definiert werden, wird in Kapitel 3 auf das
Thema gesundheitliche Ungleichheit eingegangen. Nach einem kurzen Über-
blick über den Forschungsstand in der Bundesrepublik sollen mögliche Ursa-
chen für das Entstehen gesundheitlicher Ungleichheit dargestellt werden. Dabei
werden sowohl der Bereich Lebensstil als auch der Bereich Lebensumstände
als mögliche Ursachen herausgearbeitet. Auch wenn ein ursächlicher Einfluß
vieler aufgeführter Indikatoren auf die gesundheitliche Ungleichheit nicht
zwangsläufig ist, scheinen doch Tendenzen ablesbar, worin gesundheitliche
Ungleichheit begründet sein kann. Diese Einflüsse werden in Kapitel 4 unter
besonderer Berücksichtigung eines Modells zur Erklärung gesundheitlicher Un-
gleichheit dargestellt.
Im anschließenden Kapitel 5 wird der zweite Themenkomplex beschrieben.
Nach einer kurzen Ausführung zu den Begriffen "Kostenexplosion" und "Ko-
stendämpfung", die als wesentlicher Aspekt zur Entstehungsgeschichte des
Gesundheitsstrukturgesetzes gehören, werden für diese Arbeit relevante Inhalte
des Gesundheitsstrukturgesetzes und seiner nachfolgenden Modifizierungen
dargestellt.
Vor dem Hintergrund der Ungleichheitsproblematik werden die Reforminhalte in
Kapitel 6 bewertet. Dabei werden besonders die Auswirkungen von Selbstbetei-
ligungen und die Aushebelung des Solidarprinzips im Vordergrund stehen.
Die anschließenden Ausführungen in Kapitel 7 gehen auf die ökonomischen
Präferenzen in der deutschen Gesundheitspolitik ein und werten vor dem Hin-
tergrund des Themas einzelne ökonomische Ansätze, wobei besonders auf die
Problematik der Rationierung eingegangen wird.
1
gemessen an Morbiditäts- und Mortalitätsraten

7
Weiterhin werden diskutierte Vorschläge zu einer weiterführenden Reform des
Gesundheitssystem aufgegriffen und entsprechend beurteilt. Dazu wird in Ka-
pitel 8 nach einer kurzen Darstellung ethischer Grundfragen eine genauere Be-
trachtung des Vorschlags zur Aufsplittung des Leistungskatalogs der gesetzli-
chen Krankenversicherung in den Mittelpunkt gestellt.
Daran schließen mit Kapitel 9 Ausführungen an, in denen Ansätze zur Lösung
des Problems der gesundheitlichen Ungleichheit gezeigt werden, die sowohl die
"Verantwortung des Sozialstaates" als auch die soziale Bedeutung und die Fi-
nanzierungsprobleme der gesetzlichen Krankenversicherung berücksichtigen.
Dabei werden besonders die Möglichkeit einer zielgerichteten Präventionspolitik
und die bislang wenig beachtete Möglichkeit der Verhältnisverbesserung durch
sozialpolitische Maßnahmen im Mittelpunkt stehen.
Abschließend folgt eine Schlußbetrachtung, die noch einmal die Problemberei-
che aufgreift und eine bewertete Zusammenfassung bietet.
In dieser Arbeit werden aufgrund der empirisch immer besser abgesicherten
gesundheitlichen Ungleichheitsforschung folgende Hauptaussagen harausge-
arbeitet:
1.
Es ist anhand der Variablen Morbidität und Mortalität eine gesundheitli-
che Ungleichheit in der Bundesrepublik nachweisbar. Diese Ungleichheit
wird sowohl von einzelnen Studien als auch von städtischen Gesund-
heitsberichten dokumentiert.
2.
Die Gesundheitsreform führt zu einer Kumulation von Benachteiligungen
der sozial schwachen Bevölkerungsgruppen und vergrößert dadurch die
gesundheitliche Ungleichheit. Durch eine Erhöhung der Selbstbeteiligun-
gen und Zuzahlungen, durch den aus dem Gesundheitsstrukturgesetz
resultierenden Wettbewerb um gute Risiken, die Kürzung bei Kranken-
geld und Lohnfortzahlung und die Aushebelung des Solidarprinzips wer-
den sozial schwache Menschen in eine Position gedrängt, in der sie es
sich nicht mehr leisten können, krank zu werden.
3.
Durch die Gesundheitsreform wurden wesentliche Änderungen in der
gesetzlichen Krankenversicherung vorgenommen. Kranke werden zu ei-
ner neuen Finanzierungsquelle, die Versicherten werden durch eine
Kopplung von Beitragssatzerhöhungen und Zuzahlungshöhen für "un-

8
wirtschaftliches" Arbeiten der Krankenkassen bestraft. Das Solidarprinzip
wird ausgehebelt.
4.
Durch die zunehmende Privatisierung des Krankheitsrisikos und die öf-
fentliche Diskussion (Empfehlungen des Sachverständigenrates) ist das
deutsche Gesundheitssystem auf dem Weg zu einer Zwei-Klassen-
Medizin. Eine Aufsplittung des Leistungskatalogs in Grund- und Wahllei-
stungen und damit eine Rationierung von medizinischen Leistungen ist
zumindest mittelfristig wahrscheinlich.
5.
Durch die Streichung des § 20 SGB V wurde die Möglichkeit zur Präven-
tion eingeschränkt. Dadurch ist den Krankenkassen ein wichtiges Instru-
ment zur Reduzierung von Gesundheitsrisiken und gesundheitlicher Un-
gleichheit genommen worden. Durch eine zielgruppenspezifische Ausge-
staltung von Präventionsangeboten könnten gesundheitliche Unterschie-
de verringert werden.
6.
Es fehlt in der Bundesrepublik eine ergebnisorientierte Gesundheitspolitik
jenseits von Maßnahmen zur finanziellen Stabilisierung der GKV. Mit der
Definition von Gesundheitszielen und gesundheitspolitischen Maßnah-
men, die Elemente der Bildungspolitik, Arbeitsmarktpolitik und Sozialpo-
litik (Transaktionen an Bedürftige) beinhaltet, können gesundheitliche
Unterschiede verringert werden. Durch die bisherigen Maßnahmen kann
das System gesunden, die Bevölkerung aber nicht.
Abschließend soll darauf hingewiesen werden, daß in dieser Arbeit ein Public-
Health-Ansatz verfolgt wird, d.h. es geht um gesundheitliche Auswirkungen auf
die Bevölkerung. Daraus ergibt sich eine Abgrenzung zum Ansatz der Gesund-
heitssystemforschung, die Wirkungen auf das Gesundheitssystem verfolgt.
Dennoch ist es bei dem vorliegenden Thema stellenweise notwendig, auf das
Gesundheitssystem und seine Strukturen einzugehen, allerdings immer vor
dem Hintergrund der Auswirkungen auf die Versicherten. Es ist nicht notwendig,
alle Reforminhalte des Gesundheitsstrukturgesetzes in die Betrachtung einzu-
beziehen. Es findet eine thematisch sinnvolle Beschränkung auf relevante
Punkte statt, was nicht bedeuten soll, daß andere Punkte der Gesundheitsre-
form im positiven oder negativen Sinn nicht bedeutsam sind. Hier wird es je-
doch um die besondere gesundheitliche Betroffenheit einzelner Bevölkerungs-
gruppen gehen. Unter diesem Aspekt werden gesundheitliche Ungleichheit,

9
epidemiologische Erkenntnisse und sozialpolitische Ansätze als Spezifizierung
des Themas Gesundheitsreform und Gesellschaftspolitik beschrieben.

10
2 Begriffsklärungen
Bevor auf das Themengebiet gesundheitliche Ungleichheit eingegangen wird,
ist es zunächst notwendig, einige Begriffe zu klären.
Die Schwierigkeit, den Begriff Gesundheit zu klären, liegt in der Tatsache be-
gründet, daß es keine allgemeingültige Definition dafür gibt. In der Gesundheits-
und Sozialwissenschaft ist die verbreitetste Bestimmung an die umfassende
Definition der Ottawa-Charta der WHO (Weltgesundheitsorganisation) ange-
lehnt, wonach Gesundheit das völlige körperliche, seelische und soziale Wohl-
befinden beinhaltet. Es wird in dieser Arbeit nicht immer möglich sein, in allen
Ausführungen diesen Begriff komplett abzudecken, hier wird vorwiegend mit
dem Aspekt des körperlichen Wohlbefindens gearbeitet.
Der Begriff der gesundheitlichen Ungleichheit beinhaltet Unterschiede in bezug
auf Gesundheit, welche in der Regel anhand von Morbiditäts- und Mortalitäts-
raten
2
dargestellt werden. Diese Raten sind ein geeignetes Instrument, um die
Wahrscheinlichkeit für eine Person oder Gruppe auszudrücken, eine Krankheit
zu bekommen oder an dieser zu sterben, und die unterschiedliche Betroffenheit
von Krankheit oder Tod verschiedener sozialer Gruppen miteinander zu verglei-
chen. Wenn in dieser Arbeit von gesundheitlicher Ungleichheit gesprochen wird,
ist die Bezugsgruppe, soweit es nicht anders vermerkt wird, die gesamte Bevöl-
kerung der Bundesrepublik.
Dementsprechend sollen im folgenden unter gesundheitlicher Ungleichheit die
Unterschiede beschrieben werden, die sich aus der sozialen Position der ent-
sprechenden Personen ergeben. Diese werden im Allgemeinen durch die Indi-
katoren für soziale Schicht definiert. Dazu gehören Bildung, berufliche Stellung
und Einkommen.
3
In einigen der in dieser Arbeit zitierten Untersuchungen wer-
den weitere Indikatoren wie Alter, Familiengröße, Nationalität u.ä. verwendet.
Daraus ergibt sich ein insgesamt sehr heterogenes Bild von sozialer Unter-
scheidung. Zudem ist es fraglich, ob die oft benutzten Schichtmodelle uneinge-
schränkt Gültigkeit haben. Durch Individualisierungstheorien (z.B. seit Anfang
der 80er Jahre Ulrich Beck) werden diese vertikale Unterscheidungen durch
2
Häufigkeitsverteilungen von Krankheiten bzw. Sterbefällen
3
vgl. u.a. Andreas Mielck/Uwe Helmert 1998, S. 519

11
horizontale Unterscheidungen ersetzt oder ergänzt. Elkeles/Mielck weisen dar-
auf hin, daß die verschiedenen benutzten Indikatoren "erst im Zusammenhang
mit einem theoretischen Modell (z.B. Schichtkonstrukt) einen Erklärungswert"
4
gewinnen. Ohne inhaltlich auf diese Diskussion eingehen zu wollen, bleibt fest-
zuhalten, daß aufgrund der oben angebrachten Gesundheitsdefinition der WHO
mehr als nur drei Indikatoren zur Klärung einer sozialen Position nötig scheinen.
In dieser Arbeit soll daher, soweit zitierte Untersuchungen nichts Gegenteiliges
erfordern, mit dem Begriff des sozioökonomischen Status gearbeitet werden.
Dieser Begriff beinhaltet einerseits die klassischen Schichtindikatoren, erweitert
diese andererseits aber um wesentliche individuelle Komponenten wie z.B. Fa-
milienverhältnisse, eigenes Risikoverhalten und Lebensbedingungen. Dadurch
werden die starren Schichtabgrenzungen fließender und eine Verortung der
entsprechenden Personen in einem sozialen Modell durch die persönliche Le-
bensführung genauer. Der Begriff des sozioökonomischen Status wird in dieser
Arbeit als Erweiterung des Schichtbegriffs verwendet und weicht daher mögli-
cherweise von der Definition anderer Autoren ab.
Diese Arbeit beschäftigt sich mit dem Zusammenhang von gesundheitlicher
Ungleichheit und gesellschaftspolitischen Aspekten in der Bundesrepublik. So-
weit es nicht anders erwähnt ist, beziehen sich alle Äußerungen ausdrücklich
auf die Bundesrepublik Deutschland. Obwohl ähnliche Tendenzen der gesund-
heitlichen Ungleichheit und ähnliche Probleme in der gesundheitspolitischen
Ausgestaltung des Gesundheitssystems auch in anderen Staaten existieren, ist
ein internationaler Vergleich innerhalb der vorliegenden Arbeit aufgrund der von
den des deutschen Gesundheitssystems (speziell der gesetzlichen Krankenver-
sicherung) teilweise erheblich abweichenden Strukturen in anderen Staaten
nicht zweckmäßig.
5
Mit dem Begriff Gesundheitspolitik ist das Handeln der Regierung, also des
Staates, und die daraus resultierenden Folgen
6
gemeint. Inhalte des Handelns
sind primär rein gesundheits- bzw. gesundheitssystembezogen (Schaffung von
Präventionsprogrammen, Änderungen der bestehenden gesetzlichen Regelun-
4
Thomas Elkeles/Andreas Mielck 1997, S. 138
5
Aufgrund der großen Bedeutung der GKV in der Bundesrepublik Deutschland ist in dieser
Arbeit beim Verwenden des Begriffs Gesundheitssystem in erster Linie die gesetzliche Kran-
kenversicherung gemeint.
6
z.B. richten sich Krankenkassen in ihrem gesundheitspolitischen Handeln nach staatlichen
Vorgaben.

12
gen zur Krankenversicherung). Weiterführende Inhalte (bildungspolitische Maß-
nahmen, wirtschaftspolitische Entscheidungen mit Wirkung auf den Arbeits-
markt und sozialpolitische Maßnahmen), die eine indirekte Wirkung auf Ge-
sundheit bzw. das Gesundheitssystem haben, sollen durch den Begriff eben-
falls abgedeckt werden, stehen aber in dieser Arbeit erst später im Vorder-
grund. Es wird hier nicht angenommen, daß die staatlichen Akteure unbeein-
flußt gesundheitspolitische Entscheidungen treffen. Der Einfluß von Forderun-
gen und Vorschlägen verschiedener Lobbies wie der Ärztekammer, den Wirt-
schaftsverbänden oder der Pharmaindustrie sind im Begriff Gesundheitspolitk
impliziert. Durch diese verschiedenen äußeren Einflüsse auf das staatliche
Handeln ist der Begriff Gesundheitspolitik durchaus sehr weit zu fassen.

13
3 Forschungsstand
Die Erforschung gesundheitlicher Ungleichheit ist in der Bundesrepublik in den
letzten 20 Jahren forciert worden. Aus einer Fülle von oft komplexen und sehr
unterschiedlich angelegten Studien ergab sich ein relativ einheitliches Ergeb-
nisbild, das besagt, daß Personen mit einem niedrigen Einkommen einem hö-
heren Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko unterliegen. Damit reihen sich deutsche
Forschungsergebnisse in die Erkenntnisse aus anderen Ländern ein
7
. Mielck
kommt in einem Übersichtsartikel zu dem Ergebnis, daß die in Deutschland
durchgeführten Studien eindeutig zeigen, daß "Mortalität und Morbidität sozial
ungleich verteilt sind, daß die Angehörigen der unteren sozialen Schicht in der
Regel kränker sind und früher sterben als die Angehörigen der oberen
Schicht."
8
In diesem Kapitel werden ausgewählte Forschungsergebnisse dargestellt und
am Ende des Kapitels zusammengefaßt. Es wurde bei der Auswahl darauf ge-
achtet, daß unterschiedliche Aspekte der gesundheitlichen Ungleichheit gezeigt
werden, die jedoch insgesamt ein homogenes und schlüssiges Ergebnis liefern.
Zunächst werden einige Studienergebnisse dargestellt, danach erfolgt eine
Übersicht über die relevanten Erkenntnisse aus diesen Studien. Im anschlie-
ßenden Kapitel 4 wird ein Modell zur Erklärung des Zusammenhangs von ge-
sundheitlicher und sozialer Ungleichheit erläutert.
3.1 Auswertung von Tagen mit gesundheitlicher Beeinträchtigung
Auf der Grundlage von Daten, die im Rahmen des nationalen Befragungs- und
Untersuchungssurvey erhoben wurden, werteten Bormann/Schroeder Zahlen
zu Krankheitstagen aus.
9
Dabei unterschieden sie für die Analyse zwischen
Tagen mit gesundheitlicher Beeinträchtigung, Bettlägrigkeitstagen und Kran-
kenhaustagen.
10
Diese Daten wurden zu umfangreichen unabhängigen Va-
riablen zur Beschreibung der sozialen Lage in Bezug gesetzt. Bormann /
7
vgl. u.a. Townsend/Davidson 1982
8
Andreas Mielck 1998, S. 175. Vgl. auch Andreas Mielck/Uwe Helmert 1994
9
Cornelia Bormann/Ernst Schroeder 1994
10
Für die Berechnung wurden die Aussagen der betroffenen Personen herangezogen, nicht
die ärztlichen Krankenbescheinigungen. Es ist aber zu vermuten, daß in den meisten Fällen
auch ein ärztliches Attest vorlag.

14
Schroeder zeigten in der Analyse, daß Dauer und "Qualität" von Tagen mit ei-
ner gesundheitlichen Beeinträchtigung im Zusammenhang mit der Zugehörig-
keit zu einer sozialen Schicht steht. Da man davon ausgehen kann, daß es sich
um echte Krankheitstage handelt, da weder Bettlägrigkeit noch Krankenhausta-
ge freiwillig nötig werden, bekommen die Ergebnisse ein umso größeren Stel-
lenwert.
Nach der Analyse entfallen bei Personen ohne Schulabschluß ca. 35 % von alle
Tage mit gesundheitlicher Beeinträchtigung auf Bettlägrigkeitstage und 9 % auf
Krankenhaustage. Bei Personen mit Fachhochschulreife dagegen liegen diese
Anteile bei 26 % Bettlägrigkeitstagen und 2 % Krankenhaustagen.
Diese Unterscheidung nach Bildungsabschluß wird durch eine Differenzierung
nach Berufsgruppen untermauert. Arbeiter, Facharbeiter, einfache Angestellte
und Landwirte haben im Durchschnitt eine höhere Zahl von Tagen mit gesund-
heitlicher Beeinträchtigung in allen drei Kategorien. Leitende Angestellte, Be-
amte des gehobenen und höheren Dienstes und Selbständige weisen in den
drei Kategorien dagegen unterdurchschnittliche Werte auf.
Weiter wurde gezeigt, daß Personen in niedrigen Positionen häufiger eine ge-
sundheitliche Beeinträchtigung nannten, als Personen in höheren Positionen.
11
Diese Ergebnisse sind auf die Einkommensstruktur übertragbar. Je niedriger
das Einkommen ist, desto mehr Tage mit gesundheitlicher Beeinträchtigung
erleben die jeweiligen Personen im Durchschnitt.
12
Da Tage mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung durch die verschiedenen
Gruppen aber nicht selbst verursacht werden, sondern bei diesen lediglich in
unterschiedlicher Häufigkeit auftreten, fragen Bormann/Schroeder nach den
möglichen Ursachen. Diese suchen sie in erster Linie in der Arbeitswelt. Auch
folgende Ergebnisse dürfen jedoch nicht vorschnell als Erklärung, sondern zu-
nächst nur als Zusammentreffen von Umständen interpretiert werden.
Bei einer weitergehenden Analyse zeigte sich, daß die Zahl der Tage mit ge-
sundheitlichen Beeinträchtigungen mit zunehmender Anzahl von starken Ar-
beitsbelastungen tendenziell zunimmt. Die einzelnen Arbeitsbelastungen haben
demnach in folgender Reihenfolge einen steigenden Einfluß: zwischenmensch-
liche Probleme, Streß und Überforderung, Arbeitszeitprobleme, Umgebungs-
11
davon ausgenommen sind leitende Angestellte und sonstige Selbständige
12
vgl. ebd., S. 211ff

15
einflüsse, Monotonie und Fremdbestimmtheit und am stärksten belastende kör-
perliche Arbeit.
Damit zusammenhängend ist die berufliche Zufriedenheit, die gesondert analy-
siert wurde. Dabei wurde durch Selbsteinschätzungen, die von sehr zufrieden
über indifferent bis zu sehr unzufrieden reichten, eine deutliche Zunahme von
Tagen mit gesundheitlicher Beeinträchtigung festgestellt.
13
Diese Abstufung spiegelt sich auch unter dem Aspekt der Zufriedenheit mit der
sozialen und der familiären Situation wider. Je zufriedener eine Person ist, de-
sto geringer ist die durchschnittliche Zahl der Tage mit einer gesundheitlichen
Beeinträchtigung.
14
Die Analyse von Bormann/Schroeder zeigt, daß eine gesundheitliche Beein-
trächtigung häufiger auftritt, wenn eine oder mehrere folgender Bedingungen
erfüllt sind: ein niedriger Bildungsabschluß, eine niedrige Stellung im Beruf, ein
niedriges Einkommen, eine oder mehrere starke Arbeitsbelastungen, Unzufrie-
denheit im Beruf, Unzufriedenheit mit der sozialen und bzw. oder familiären Si-
tuation.
3.2 Analyse von Krankheitsfällen der AOK-Mitglieder in Essen
Die Ergebnisse von Bormann/Schroeder werden durch eine Analyse von ge-
meldeten Krankheitsfällen von Mitgliedern der AOK Essen gestützt, die von der
AOK und der Stadt Essen veröffentlicht wurde.
15
Bei den AOK-Mitgliedern in Essen entfallen die meisten Arbeitsunfähigkeits-
meldungen
16
auf die Gruppe der Hilfsarbeiter in Fertigungsberufen (2,0 pro Ver-
sicherten). Die Versicherten im Bereich der Pflanzenbauer, Tierzüchter und Fi-
schereiberufe wiesen mit 1,9 Arbeitsunfähigkeitsfällen pro Versicherten bei ei-
ner durchschnittlichen Dauer von 14,5 Tagen pro Fall eine ähnlich hohe Zahl
auf, die Versicherten der Fertigungsberufe waren im Durchschnitt 1,5 mal bei
13
Die in der Analyse gezeigte hohe Zahl von Tagen mit gesundheitlicher Beeinträchtigung bei
der Gruppe der Unzufriedenen wird nach Auffassung der Verfasser hauptsächlich von der
Gruppe der über 50 Jahre alten Personen verursacht. Sie vermuten, daß manifeste Krank-
heiten für diese Zahl verantwortlich sind, die vermutlich durch sich in dieser Altersgruppe
niederschlagenden jahrelangen Belastungen verursacht wird.
14
vgl. ebd., 215ff
15
Amt für Entwicklungsplanung, Statistik, Stadtforschung und Wahlen 1994
16
Die hier genannten Zahlen weichen leicht vom Bundesdurchschnitt ab. Nach Angaben des
Statistischen Bundesamtes lagen die durchschnittlichen Arbeitsunfähigkeitsfälle pro 100 Ver-
sicherte bei 100,5 Fällen (Männer) bzw. 104, 3 Fällen (Frauen). Die durchschnittliche Dauer
der Arbeitsunfähigkeit betrug bei Männern 16,8 Tage und bei Frauen 16,0 Tage. Vgl. Stati-
stisches Bundesamt 1998, S. 450

16
einer durchschnittlichen Dauer von 15,4 Tagen arbeitsunfähig gemeldet, die der
Dienstleistungsberufe 1,2 mal bei einer durchschnittlichen Dauer von 17,7 Ta-
gen und die der technischen Berufe 1,1 mal bei einer durchschnittlichen Dauer
von 19,1 Tagen pro Jahr (vgl. Abbildung I).
17
Abbildung I:
18
Die einzelnen Berufsgruppen, besonders die Dienstleistungs- und Fertigungs-
berufe, sind insgesamt sehr heterogen. Dennoch zeigen die Angaben, daß in
Berufsgruppen, denen Arbeitsbelastungen wie körperliche Arbeit, Schmutz,
Lärm u. ä. zugerechnet werden können, die Arbeitskräfte häufiger arbeitsunfä-
hig geschrieben werden.
19
17
Die kleine Zahl von Versicherten der Gruppe der technischen Berufe macht diese Angabe
nur bedingt aussagefähig.
18
Eigene Darstellung nach Amt für Entwicklungsplanung, Statistik, Stadtforschung und Wahlen
1994, S. 50f
19
ebd., S. 49ff
Anzahl und Dauer von Arbeitsunfähigkeitsfällen nach Beruf
1,9
14,5
1,5
15,4
2
11,9
1,1
19,1
1,2
17,7
1,4
16,5
0
5
10
15
20
25
Fälle
Dauer in Tagen
Pflanzenbauer, Tierzüchter, Fischereiberufe
Fertigungsberufe
Hilsarbeiter in Fertigungsberufen
Technische Berufe
Dienstleistungsberufe
insgesamt

17
Abbildung II:
20
Betrachtet man die Zahlen der Arbeitsunfähigkeitsmeldungen unter dem Ge-
sichtspunkt der Stellung im Beruf, bestätigen sich die oben gemachten Ausfüh-
rungen. Beschäftigte mit Arbeiterstatus erkrankten im Durchschnitt 1,5 mal bei
einer durchschnittlichen Dauer von 16,8 Tagen, Beschäftigte mit Facharbeiter-
status nur 1,3 mal bei einer durchschnittlichen Dauer von 16,7 Tagen und An-
gestellte nur 1 mal bei einer durchschnittlichen Dauer von 15,5 Tagen pro
Jahr.
21
Eine besonders niedrige Zahl von Krankmeldungen bietet sich mit 0,8 pro Be-
schäftigten und einer durchschnittlichen Dauer von 11,2 Tagen bei den Mei-
stern und Polieren.
20
eigene Darstellung nach Zahlen von ebd., S.58f
21
Diese Zahl wird vor dem Hintergrund der Versichertenstruktur der AOK, die traditionell eher
untere und mittlere Einkommensschichten umfaßt, aussagekräftiger.
Anzahl und Dauer von Arbeitsunfähigkeitsfällen nach Position
1,5
16,8
1,3
16,7
0,8
11,2
1,0
15,5
1,8
7,4
1,2
7,4
1,4
16,0
0
2
4
6
8
10
12
14
16
18
Fälle
Dauer in Tagen
Arbeiter
Facharbeiter
Meister/Poliere
Angestellte
Auszubildende/Arbeiterberufe
Auszubildende/Angestelltenberufe
insgesamt

18
Ähnliche Abstufungen zeigen sich auch bei den Auszubildenden. Die der Ar-
beiterberufe waren im Durchschnitt 1,8 mal, die der Angestelltenberufe 1,2 mal
bei einer durchschnittlichen Dauer von jeweils 7,4 Tagen pro Jahr krank gemel-
det (vgl. Abbildung II).
22
Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Anzahl von Krankmeldungen und
der beruflichen Position. Die Zahl der Krankmeldungen und damit die potentielle
Morbidität erhöht sich, wenn folgende Bedingungen zutreffen: eine niedrige Be-
rufsgruppe (z.B. An- oder Ungelernte) und bzw. oder eine niedrige Stellung im
Beruf (z.B. Arbeiter). Diese Tendenz setzt sich bei den Arbeitsunfähigkeitsfällen
der Auszubildenden fort. Die Gruppe der Meister und Poliere scheint eine Son-
derstellung einzunehmen, was vermutlich auf die besondere Position in der Be-
triebshierarchie als Bindeglied zwischen Betriebsleitung (Bereichsleitung) und
Belegschaft zurückzuführen ist.
3.3 Der Einfluß der Arbeitswelt
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Oppolzer, der anhand verschiedener
Quellen den Einfluß der Arbeitswelt auf die gesundheitliche Ungleichheit unter-
suchte.
23
Im folgenden werden zunächst Oppolzers allgemeinen Ausführungen
zu gesundheitliche Ungleichheit zusammengefaßt, anschließend wird die ge-
sundheitliche Ungleichheit zur Arbeitswelt in Bezug gesetzt.
Auf der Grundlage von Daten des nationalen Gesundheitssurveys (Erhebungs-
zeitraum 1984-86) wertete Oppolzer die Einschätzung des Gesundheitszustan-
des aus und untersuchte die Verbreitung von Risikofaktoren. Demnach be-
zeichneten die Angehörigen der Oberschicht ihren Gesundheitszustand häu-
figer als Angehörige der Unterschicht als gut (Frauen 2,1 mal so oft, Männer 1,8
mal so oft). Angehörige der Unterschicht dagegen bezeichneten ihren Gesund-
heitszustand dagegen häufiger als Angehörige der Oberschicht als schlecht
(Männer 2,1 mal so häufig, Frauen 2,3 mal so häufig).
Zusätzlich zu dieser Selbsteinschätzung wurde die Verbreitung von Risikofakto-
ren in den unterschiedlichen Schichten analysiert, die zu koronaren Herzkrank-
heiten führen können. Demnach sind bei Männern aus der Unterschicht man-
gelnde sportliche Betätigung 3,1 mal, Übergewicht 1,8 mal und Rauchen 1,6
mal so häufig anzutreffen wie bei Männern aus der Oberschicht. Bei Frauen aus
22
ebd., S. 56ff

19
der Unterschicht waren mangelnde sportliche Aktivität 2,9 mal und Übergewicht
3,7 mal so häufig wie bei Frauen aus der Oberschicht.
24
Bei einer Auswertung von Mortalitätsverteilungen auf verschiedene berufliche
Stellungen kam Oppolzer zu ähnlichen Ergebnissen wie Bormann/Schroeder in
bezug auf Morbiditätsrisiken. Die Sterblichkeit ist umso höher, je niedriger die
berufliche Stellung ist. Die Verteilung der einzelnen Todesursachen auf die be-
ruflichen Gruppen zeigt dieses deutlich. In der untersten Berufsgruppe (an- und
ungelernte Arbeiter, einfache Angestellte und einfache Beamte) waren die
Mortalitätsrisiken für Herzinfarkt doppelt so groß, für Leberzirrhose 7,2 mal so
groß (bei Männern), für Lungenkrebs 4 mal so groß, für Magenkrebs 7 mal so
groß und für Darmkrebs 1,8 mal so groß wie in der obersten Berufsgruppe (hö-
here und leitende Angestellte und Beamte und freiberufliche Akademiker).
25
Ähnliches gilt für den Krankenstand nach beruflicher Stellung. Wie Bor-
mann/Schroeder kommt Oppolzer zu dem Ergebnis, daß der Krankenstand mit
sinkendem Berufsstatus steigt. Demnach lag der Krankenstand von Arbeitern
um 40 % über dem der Angestellten
26
, der Krankenstand von Erwerbstätigen
mit einem Einkommen bis zu 2200 DM ist mehr als doppelt so hoch wie der von
Erwerbstätigen, die ein Einkommen von mindestens 4000 DM erreichen.
27
Eine Erklärung für die höheren Morbiditäts- und Mortalitätsrisiken von unteren
Berufsgruppen könnten die auftretenden Arbeitsplatzbelastungen sein. Oppol-
zer kam zu dem Ergebnis, daß an- bzw. ungelernte Arbeiter im Vergleich zu
gehobenen Angestellten 5 mal so häufig Schmutz, Staub oder schlechter Luft,
14 mal so häufig Hitze, Nässe oder Kälte, 3,5 mal so häufig Lärm, 5 mal so
häufig Unfallgefahren und 3,4 mal so häufig körperlicher Anstrengung ausge-
setzt sind. Die gehobenen Angestellten sind 1,7 mal so häufig durch nervliche
Beanspruchung und 1,9 mal so häufig durch Verantwortung belastet.
28
23
Alfred Oppolzer 1994
24
ebd., S. 127f
25
ebd., S. 128f
26
Prinzipiell ist eine Unterscheidung zwischen diesen Gruppen von Erwerbstätigen für eine
Analyse, die soziale Gruppen unterscheiden soll, als problematisch zu bezeichnen, da sich
beide Berufsgruppen in den letzten Jahren immer stärker angeglichen haben. Da aber die
Gruppe der Arbeiter in der Regel höhere Belastungen am Arbeitsplatz zu bewältigen hat,
kann diese Unterscheidung hier als berechtigt betrachtet werden.
27
vgl. ebd., S. 132f
28
vgl. ebd., S. 138f; Datengrundlage ist eine Infas-Untersuchung von 1981 im Auftrag des
Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung. Ausführlicher dazu Alfred Oppolzer 1986,
S. 76ff.

20
Oppolzers Ergebnisse zeigen eine besondere Betroffenheit unterer Berufsgrup-
pen von Mortalitäts- und Morbiditätsrisiken. Diese Gruppe weist häufiger als
andere eine oder mehrere folgender Bedingungen auf: ein oder mehrere Risi-
kofaktoren für koronare Herzkrankheiten (mangelnde sportliche Betätigung,
Übergewicht, Rauchen), höhere Mortalitätsrisiken bei Herzinfarkt, Leberzirrhose
(Männer), Lungenkrebs, Magenkrebs und Darmkrebs, einen höheren Kran-
kenstand, eine höhere Arbeitsplatzbelastung durch extreme Temperaturen,
Luftfeuchtigkeit, Unfallgefahren und körperliche Belastungen.
3.4 Vorsorgeverhalten und Impfstatus bei Kleinkindern
In der Stadt Essen werden seit 1989 jährlich die Ergebnisse von Schulein-
gangsuntersuchungen statistisch aufgearbeitet. Diese Ergebnisse
29
förderten
deutliche Unterschiede im Vorsorgeverhalten der Eltern zu Tage. Untersucht
wurden der Impfstatus und die Teilnahme an Früherkennungsuntersuchungen.
Während es keine geschlechtsspezifischen Unterschiede gab, wurden Unter-
schiede bei den Variablen Nationalität, Familiengröße und Kindergartenbesuch
ausgemacht (Abbildungen III und IV).
Unterschieden nach Nationalität wurden sowohl bei den Durchimpfungsraten
als auch bei der vollständigen Teilnahme an Früherkennungsuntersuchungen
Differenzen zwischen deutschen und nichtdeutschen Kindern festgestellt. Bei
den Durchimpfungsraten wurde zwar sowohl für deutsche als auch nichtdeut-
sche Kinder ein Anstieg festgestellt, der Abstand war mit 23 Prozentpunkten zu
Gunsten der deutschen Kinder beim letzten ausgewerteten Erhebungszeitraum
dennoch erheblich.
29
Amt für Entwicklungsplanung, Statistik, Stadtforschung und Wahlen 1996

21
Abbildung III:
30
Die Abbildung III zeigt deutlich, daß die Durchimpfungsraten von Kindern deut-
scher Eltern am höchsten sind. Schon bei einem nichtdeutschen Elternteil sin-
ken sie. Die Durchimpfungsraten von Kindern nichtdeutscher Eltern sind sehr
uneinheitlich. Auffällig ist, daß die Kinder von Eltern europäischer Nationalität
(ohne Türkei) innerhalb dieser Gruppe den vollständigsten Impfstatus vorwei-
sen. Kinder türkischer Nationalität weisen zwar einen verbesserten aber weiter-
hin geringeren Durchimpfungsstatus auf. Kinder von Eltern außereuropäischer
Nationalität weisen am seltensten einen vollständigen Impfstatus auf, wobei die
Kinder einen besseren Impfstatus vorweisen, die bereits länger in der Bundes-
republik leben.
31
Die Verfasser des Gesundheitsberichtes kommen daher zu
30
eigene Darstellung nach ebd., S. 52
31
vgl. ebd., S. 54f
Impfstatus nach Nationalität
33,3
24,7
4,4
4,6
5,5
46,0
30,0
6,0
4,9
4,5
51,6
36,9
7,5
8,4
7,3
50,8
42,0
8,9
9,0
5,5
52,6
38,7
10,8
8,0
5,8
0
10
20
30
40
50
60
deutsch
dar. ein
nichtdeutscher
Elternteil
nichtdeutsch
dav. türkisch
dav.
außereuropäisch
Anteil mit vollständi
g
em Im
p
fstatus in %
1991
1992
1993
1994
1995

22
dem Schluß, daß ein besonderer Handlungsbedarf bestehe, "bei Kindern aus
solchen nichtdeutschen Familien, die aufgrund ihrer kürzeren Aufenthaltsdauer
in der Bundesrepublik Deutschland bzw. in Essen offensichtlich kein ausge-
prägtes Gesundheitsbewußtsein entwickeln konnten."
32
Abbildung IV:
33
Die Zahlen zeigen, daß Gesundheitsverhalten durch Sozialisation (Familie,
Schule, Medien) beeinflußbar zu sein scheint.
Ähnliche Ergebnisse gab es bei der Analyse der Teilnahme an Früherken-
nungsuntersuchungen, die im wesentlichen ein Spiegelbild der Ergebnisse zur
Untersuchung der Durchimpfungsraten sind (vgl. Abbildung IV). Der Anteil der
Kinder, die an allen Früherkennungsuntersuchungen teilgenommen haben, ist
aber in allen Gruppen geringer.
Aufgrund der Ausgangsannahme, daß sich die "soziale Bildungssituation in kin-
derreichen Familien eher problematisch darstellen dürfte und deshalb Gesund-
32
ebd., S. 55
33
eigene Darstellung nach ebd., S. 57
Früherkennungsstatus nach Nationalität
33,3
24,7
4,4
4,6
5,5
46,0
30,0
6,0
4,9
4,5
51,6
36,9
7,5
8,4
7,3
50,8
42,0
8,9
9,0
5,5
52,6
38,7
10,8
8,0
5,8
0
10
20
30
40
50
60
deutsch
dar. ein
nichtdeutscher
Elternteil
nichtdeutsch
dav. türkisch
dav.
außereuropäisch
Anteil mit vollständigem Früherkennungsstatus
in %
1991
1992
1993
1994
1995

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
1999
ISBN (eBook)
9783832419349
ISBN (Paperback)
9783838619347
Dateigröße
828 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover – Unbekannt, Politische Wissenschaft
Note
1,7
Schlagworte
gesundheitspolitische entscheidungsfindung gesundheitspolitik gesundheitliche ungleichheit gesundheitsreform sozialpolitik
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Titel: Gesundheitsreform und Gesellschaftspolitik
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