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Chancen und Grenzen der Heimerziehung bei der Kompensation von unsicheren Bindungsmustern und Bindungsstörungen

©2016 Bachelorarbeit 92 Seiten

Zusammenfassung

Die in stationären Heimeinrichtungen wohnhaften Kinder und Jugendlichen sind in vielerlei Hinsicht durch chronisch traumatische und belastende Ereignisse innerfamiliärer Qualität geprägt, was letztendlich auch den Grund der stationären Unterbringung symbolisiert. Neben Missbrauchs- oder Vernachlässigungserfahrungen, Traumatischen Sexualisierungen und Trennungen, haben diese Kinder und Jugendlichen in den wenigsten Fällen eine zuverlässige, feinfühlige, transparente und verlässliche Bindungsperson erlebt. Aus der Dynamik traumatischer und angsterregender Ereignisse, sowie des fehlenden sicheren Hafens, entwickelt diese unsichere bzw. hochunsichere Bindungsmuster, wenn nicht sogar eine Bindungsstörung. Die Heimerziehung selbst ist unter günstigen Bedingungen in der Lage, die vorhandene Bindungsmuster positiv zu verändern und zu kompensieren. Sie kann als eine Achterbahnfahrt bezeichnet werden, da sie phasenabhängig Früchte trägt, dann aber wieder in Rückschläge umschlagen kann. Heimerziehung ist vielen Herausforderungen ausgesetzt, welche dem Vermitteln von korrektiven Bindungserfahrungen im Weg stehen. Die Rede ist dabei von institutionellen Rahmenbedingungen, konfliktbeladenen Dynamiken und Rivalitäten zwischen den einzelnen Parteien, sowie den verhaltens- und emotionsbeladenen Auswirkungen erlebter Traumatisierungen auf Seiten der Kinder und Jugendlichen. Von den mit derartigen Störungsbildern arbeitenden Fachkräften wird ein starkes Persönlichkeitsbild verlangt, welches in der Lage ist, den Belastungen standzuhalten. Supervision, Fort- und Weiterbildungen, sowie die Unterstützung mit der eigenen Vergangenheit gelten dabei als fördernde Faktoren zur Kompensation der genannten Muster. Letztendlich ist die bindungskompensatorische Wirksamkeit der Heimerziehung in ihrem Erfolg von unterschiedlichen Faktoren geprägt und kann nicht pauschalisiert werden.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Abbildungsverzeichnis
Abb. 1 Sicheres Bindungsmuster ­ sicher gebundene Kinder
23
Abb. 2 Unsicher-vermeidendes Bindungsmuster
­ unsicher-vermeidend gebundene Kinder
23
Abb. 3 Unsicher-ambivalentes Bindungsmuster
­ unsicher-ambivalent gebundene Kinder
23
Abb. 4 Desorganisiertes/desorientiertes Bindungsmuster
­ desorganisiert/desorientiert gebundene Kinder
23
Abb. 5 Bindungsmuster von stationär untergebrachten Jugendlichen
im Vergleich
48
Abb. 6 Auswirkungen der Unterbringungsform auf die Bindungsrepräsentationen
im Vergleich
50
Abb. 7 Loyalitätsbindungen von Eltern, Kind und Heim(mitarbeiter)
zueinander
60
Abb. 8 Anzahl der stationär untergebrachten Kinder und Jugendlichen
93
Abb. 9 Entwicklung der kognitiven Adaption an umweltbedingte
Einflüsse
93

Inhaltsverzeichnis
Einleitung
7
1. Bindungstheoretische Grundlagen
11
1.1. Grundannahmen der Bindungstheorie nach John Bowlby
11
1.2. Begriffsdefinition
13
1.2.1 Bindung
13
1.2.2 Bindungsverhalten
13
1.2.3 Bindungs- und Fürsorgesystem
14
1.2.4. Inneres Arbeitsmodell
15
1.3. Die ersten Bindungserfahrungen eines Menschen
16
1.4. Verfügbarkeit und Sensitivität
18
1.5 Bindungsmuster und ihre Konsequenzen.
18
2. Trauma und Bindungsstörungen
24
2.1 Begriffsdefinition
24
2.1.1.Trauma
24
2.1.2. Bindungsstörung
26
2.2.Aufwachsen in belasteten Familienverhältnissen
27
2.3 Bindungsstörungen klassifiziert nach ICD-10
29
2.3.1.Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters ohne Enthem-
mung
29
2.3.2.Bindungsstörung des Kindesalters mit
Enthemmung
29
2.4. Bindungsstörungen klassifiziert nach Karl Heinz Brisch
30
2.4.1 Kein Bindungsverhalten (Typ I)
30
2.4.2.Undifferenziertes Bindungsverhalten
(Typ II a und b )
31
2.4.3. Übermäßiges Bindungsverhalten
31
2.4.4. Gehemmtes Bindungsverhalten
32
2.4.5. Aggressives Bindungsverhalten
32

2.4.6. Bindungsverhalten mit Rollenumkehr
33
2.4.7. Bindungsverhalten mit psychosomatischen
Reaktionen
33
3.Heimerziehung
33
3.1 Begriffsdefinition
34
3.2 Geschichtliche Hintergründe
35
3.3 Formen von Heimerziehung
39
3.4 Gesetzliche Rahmenbedingungen
41
3.5 Angewandte Methoden und Ziele
43
4. Aktueller Stand der Bindungsforschung in Verbindung mit
Heimerziehung
46
4.1 Bindungsmuster und ­repräsentationen von Kindern und Jugendlichen
in der Heimerziehung
46
4.2 Aufbau einer Bindungsbeziehung bei bindungsgestörten Kindern und
Jugendlichen nach Helmut Johnson
50
5. Bindungskorrigierende Erfahrungen durch Heimerziehung?
53
5.1 Die pädagogische Fachkraft als potenzielle Bindungsfigur
53
5.1.1. Die professionelle Bindungsfigur in ihrer Fachlichkeit 53
5.1.2. Bedeutung der eigenen Bindungserfahrungen
56
5.2 Mögliche Hindernisse innerhalb des stationär organisierten Bezie-
hungsgeflechts
57
5.2.1. Umgang mit fremden Beziehungsangeboten
57
5.2.2. Übertragungs- und Loyalitätskonflikte
59
5.2.3. Re-Inszenierungen und Flashbacks
61
5.2.4. Rivalität in der Eltern-Betreuer-Dynamik
63
5.3 Institutionelle Rahmenbedingungen
64
5.3.1. Schichtdienst
65
5.3.2. Fluktuation von MitarbeiterInnen und
Heimbewohnern
67

5.4 Unterstützende Methoden der Beziehungsarbeit
69
5.4.1.
Biografisches
Verstehen
69
5.4.2. Elternarbeit
71
5.4.3 Alltagspädagogik
73
5.5. Qualitätssicherung der professionellen Beziehungsarbeit
74
5.5.1. Supervision und Fortbildungen
74
5.5.2. Das Team
76
6. Exkurs: Sekundäre Prävention durch SAFE
77
7. Abschließende Diskussion und Fazit
79
7. Literaturverzeichnis
85


Einleitung
,,Wir Menschen sind Wesen, die in Gruppen leben. Wir leben, überleben, gedeihen
in Gruppen oder gehen in ihnen zugrunde. Wir werden in eine Gruppe von Men-
schen hineingeboren und wachsen darin auf" (Ruppert 2015: 31 ). Die Bindung
eines Kindes an seine primären Bezugspersonen gilt als lebensnotwendig für eine
gesunde menschliche Entwicklung innerhalb des Gruppengeschehens und einer sta-
bile Beziehungsfähigkeit. Es zeigt sich immer wieder, dass Menschen, unabhängig
von ihrem Alter am glücklichsten sind und ihre Persönlichkeit bestmöglich entfal-
ten können, wenn sie wissen, dass bestimmten Menschen hinter ihnen stehen, denen
sie vertrauen können und die ihnen bei Bedarf zu Hilfe kommen (Bowlby 2009:
130). Laut Bowlby verfügt ein Säugling direkt nach seiner Geburt über notwendige
Gegebenheiten, welche ihm die Kommunikation mit seiner Umwelt erlauben und
den Bindungsaufbau begünstigen. Der Säugling setzt die angeborenen Verhaltens-
weisen ein, um der Mutter, dem Vater oder einer anderen Person sein Bedürfnis
mitzuteilen. Wird das kindliche Signal von dem Erwachsenen wahrgenommen,
richtig gedeutet und prompt reagiert, gewinnt der Säugling durch das fürsorgliche
Verhalten des Erwachsenen wieder an Sicherheit und Urvertrauen. Dem Kind wird
auf diese Weise das Gefühl von Geborgenheit und emotionaler Sicherheit vermit-
telt, was den Aufbau eines sicheren Bindungsmusters begünstigt. Die Art und
Weise, wie Eltern auf das Bindungsverhalten ihrer Kinder reagieren, bedingt die
Ausbildung der Bindungsmuster, die bereits nach dem ersten Lebensjahr des Kin-
des erkennbar werden. Die Trennung des Kindes von seiner Bezugsperson führt zu
Angst, Trauer und Schuldgefühlen. Eine Trennung kann bei einem Kind große see-
lische Schäden hervorrufen. Neben einer Trennung wirken sich auch traumatische
Lebensumstände, in denen das Kind aufwächst, ungünstig auf das Bindungsverhal-
ten des Kindes aus und können letztendlich zu unsicheren Bindungen bzw. zu Bin-
dungsstörungen führen (Grossmann &Grossmann 2003: 59 ff.).
Kinder und Jugendliche, welche im Rahmen von Hilfen zur Erziehung in einer
Heimeinrichtung stationär untergebracht worden sind, weisen nicht selten unsi-
chere, desorganisierte Bindungen, sodann auch Bindungsstörungen auf. Sie haben
meistens schon zahlreiche Trennungen und Bindungsabbrüche, einhergehend mit
Ängsten und Enttäuschungen erlebt. Ihre Eltern können aus diversen Gründen als
erziehungsschwach beschrieben werden. Der Kontext ist dabei immer ein anderer.
7

Im Jahre 2014 waren in Deutschland ca. 72 204 Heranwachsende in stationären
Hilfen der Kinder- und Jugendhilfe (vgl. Anhang Abb. 8, S. 89) untergebracht (Sta-
tistisches Bundesamt 2016: URL 4). Kinder und Jugendliche mit dem Anspruch auf
diese Hilfen haben in ihren Biografien neben den schon benannten Trennungen al-
lerlei belastende Erlebnisse und Erfahrungen machen müssen. Junge Menschen wie
diese, wurden in ihrer Sozialisation und in der Entwicklung ihres Selbst geprägt von
Vernachlässigung, Missbrauch, Verwahrlosung, Erniedrigung und Zurückweisun-
gen. Diese Kinder haben einen langen und prägenden Zeitraum ihres Lebens unter
ungünstigen und traumatischen Lebensumständen verbracht. Einhergehend mit den
besagten Traumata sind die Kinder und Jugendlichen mit entsprechendem Stö-
rungsbild in ihren Bindungsrepräsentationen geschädigt bzw. haben eine Bindungs-
störung entwickelt. Die wenigsten der Kinder und Jugendlichen, welche stationär
untergebracht wurden, konnten die Erfahrung machen in einem gehüteten und für-
sorglichen Lebensumfeld aufzuwachsen, in welchem die kindlichen Signale ange-
messen interpretiert und beantwortet wurden. Unzureichende Pflege und Kleidung,
mangelnde Ernährung und gesundheitliche Fürsorge, Mangel an Aufmerksamkeit,
ständig wechselnde Beziehungsangebote, ungenügende Anregung und Förderung
emotionaler, motorischer, geistiger und sozialer Fähigkeit, sowie generationsüber-
greifende Übertragung von Traumatisierungen charakterisierten das Leben dieser
Kinder. Sie sind in ihrem Bindungsverhalten erheblich beeinträchtig und in Bezug
auf die Offenheit korrektiven Erfahrungen gegenüber gehemmt.
Im Rahmen der Heimerziehung haben die Sozialarbeiter/innen, Sozialpädago-
gen/innen und Erzieher/innen mit der oben genannten Zielgruppe von Kindern und
Jugendlichen zu tun. Dem zur Folge sind die Anforderungen an die Qualität der
Betreuung und Erziehung der Kinder und Jugendlichen, lebend in einer Heimein-
richtung sehr hoch. Neben der alltäglichen Erziehung und Versorgung der Kinder
übenehmen sie hierbei den Auftrag, entnommen aus dem § 34 des SGB VIII (Sta-
scheit 2013/14: 1240). Darunter fällt die Aufgabe die Kinder auf eine eigenverant-
wortliche und selbstständige Lebensführung vorzubereiten, ungünstige und trauma-
tisierende Erfahrungen und Erlebnisse in ihrem bisherigen Leben aufzuarbeiten, ei-
nen Umgang damit zu finden, das Gefühl der Verlässlichkeit zu vermitteln, ihre
negativen Bindungserfahrungen und ­repräsentationen gegen neue und positive zu
ersetzten. Doch kann dies auch wirklich gelingen? Kann sich die Heimerziehung
8

tatsächlich kompensatorisch auf die Behebung negativer Bindungsmuster und ­stö-
rungen auswirken?
Im Rahmen dieser Bachelorarbeit soll in erster Linie der Zusammenhang zwischen
den bereits durch die Herkunftsfamilie geprägten Bindungserfahrungen der Kinder
und Jugendlichen, sowie den Möglichkeiten, Chancen und Grenzen der heutigen
Heimerziehung hergestellt werden. Daraus ergibt sich die Frage, inwieweit sich die
bereits erlernten Bindungsmuster und Bindungsstörungen durch Heimerziehung
verändern lassen. In welchen Fällen stößt die Heimerziehung an ihre Grenzen und
welche Faktoren begünstigen einen positiven Entwicklungsverlauf? Inwieweit ist
es überhaupt möglich, dass die pädagogischen Fachkräfte als Bezugspersonen agie-
ren? Wie gestaltet sich eine gesunde Betreuer-Kind-Beziehung hinsichtlich des
Konflikts zwischen Nähe und Distanz?
Damit ein grundlegendes Verständnis über bindungstheoretische Grundlagen si-
chergestellt werden kann, erfolgt zunächst eine kurze Übersicht aller grundlegen-
den Themen der Bindungstheorie, sowie jeweils eine Definition der elementaren
Instrumente der Bindungsentwicklung. Im weiteren Verlauf soll auf die ersten Bin-
dungserfahrungen eines Menschen eingegangen werden, welche den Aufbau des
jeweiligen Bindungsmusters gewährleisten und sich in ihrer Bindungsqualität am
Beispiel des Fremde-Situations-Tests nach Mary Ainsworth unterscheiden lassen.
Bereits erklärte Grundlagen werden im nächsten Schritt mit Traumata und den da-
mit in Verbindung stehenden Bindungsstörungen in Zusammenhang gebracht. Es
wird dabei Bezug genommen auf die im ICD-10 klassifizierten Bindungsstörungen,
wie auch auf die Ergänzung dieser durch Karl Heinz Brisch.
Des Weiteren wird ein Spagat zu den Grundlagen der Heimerziehung gezogen. Ne-
ben den geschichtlichen Hintergründen, den Formen und Zielen, sollen auch ange-
wandte Methoden der Heimerziehung kurz beleuchtet werden.
Um bereits aufgestellte Hypothesen (hinsichtlich der tatsächlichen Bindungsmuster
bei stationär untergebrachten Kindern und Jugendlichen) Standhaftigkeit und Re-
präsentativität zu verleihen, soll im nächsten Schritt aufentsprechende Studien ver-
wiesen werden. In diesem Kontext wird ebenfalls ein Ansatz zum stationären Be-
ziehungsaufbau mit bindungsgestörten und bindungsunsicheren Kindern und Ju-
gendlichen vorgestellt, um den hohen Arbeitsanspruch, sowie die daraus resultie-
renden Belastungen zu betonen.
9

Inwieweit Heimerziehung in der Lage ist unsichere Bindungsmuster und Bindungs-
störungen in seinem Angebot zu kompensieren, soll im Rahmen dieser Arbeit lite-
raturanalytisch untersucht werden. Eruiert werden sollen dabei die Qualitätsansprü-
che an die stationär tätigen PädagogInnen, mögliche Störfaktoren innerhalb des
stationären Beziehungsgeflechts zwischen dem jungen Menschen, seinen Eltern,
sodann den Professionellen, die organisatorischen Rahmenbedingungen, wie auch
potenziellen Angeboten zur Qualitätssicherung und Unterstützung der Fachkräfte
bei ihren anspruchsvollen Aufgaben.
Beendet wird die Arbeit mit einer Diskussion der erarbeiteten Ergebnisse und einem
Ausblick gebendem Fazit.
10

1. Bindungstheoretische Grundlagen
Grundsätzliche Kenntnisse über die Entstehung und Bedeutung der menschlichen
Bindung zu anderen Personen, die Konsequenzen der darausfolgenden Bindungs-
muster, notwendige Gegebenheiten zur Entwicklung einer sicheren und optimisti-
schen Bindung können als elementare Voraussetzungen für die Arbeit mit der be-
sagten Zielgruppe festgelegt werden. Sie sind notwendig, um ableiten zu können,
welche nicht erfolgten, jedoch zur Persönlichkeitsentwicklung erforderlichen Pro-
zesse die Heimerziehung kompensieren müsste um dem Kind eine gesunde Ent-
wicklung zu ermöglichen.
1.1 Grundannahmen der Bindungstheorie nach John Bowlby
John Bowlby geht in seiner Bindungstheorie davon aus, ,,dass es ein phylogenetisch
erworbenes so genanntes ,,Bindungssystem" gibt, das aktiviert wird, sobald sich ein
Individuum, sei es ein Vogel, ein Säugetier oder ein Mensch, von einer äußeren
oder inneren Gefahr (z.B. Krankheit, Müdigkeit, Missbehagen) bedroht fühlt, die
es aus eigenem Vermögen nicht beheben kann" (Köhler 2002: 3). In diesem Mo-
ment wendet sich das Kind an seine ,,Bindungsperson", welche in den ersten Mo-
naten meistens die Kindesmutter einnimmt, von welcher sich das Kind eine Bedürf-
nissbefriedigung erhofft. Um eine gesunde und sichere Bindung zu entwickeln, be-
nötigt der Säugling mindestens eine zuverlässige Bezugsperson, welche die Signale
des Kindes wahrnimmt, feinfühlig interpretiert und prompt auf diese reagiert
(Papousek 2006: 62). Bowlbys Gedanken waren innerhalb der psychoanalytischen
Diskussionen unter Fachleuten nicht mehr ganz neu. Bereits Rene Spitz stellte fest,
dass eine ausschließliche Befriedigung oraler Bedürfnisse nicht aussreicht, um ei-
nem jungen Menschen in seiner Entwicklung überlebensnotwendige Attribute mit-
zugeben. Spitz zeigte in seinen Beobachtungen auf, dass Kinder, die ohne Bezugs-
personen aufwuchsen, Fehlentwicklungen oder Entwicklungsstörungen ausbilde-
ten, bis hin zum Hospitalismus (Bowlby 2001: 177). Bereits im 13. Jahrhundert
wollte der Stauferkaiser Friedrich II herausfinden, welche die ursprüngliche Spra-
che des Menschen ist. Um das herauszufinden, ließ er 13 Neugeborene in einem
Haus, betreut von Ammen unterbringen. Die Ammen durften die Kinder allerdings
nur oral versorgen, ihnen Nahrung reichen, sie wickeln, aber keinesfalls mit ihnen
sprechen. Das Ergebnis dieses Experimentes war, dass diese Kinder verkümmerten
und starben. Beziehung und Bindung ist also (überlebens-) notwendig, was auch
über das Säuglingsalter hinausgeht (Schwing & Fryszer 2013: 21). Emile Durkheim
11

hingegen, ging Ende des 19. Jahrhunderts noch davon aus, dass ein neugeborenes
Kind ursprünglich asozial und egoistisch, damit also ein ungeschriebenes Blatt ­
ein Tabula rasa ist. Durkheims Vorstellung nach hat sich der Säugling erst an die
Mutter gewandt, als er durch den Hunger dazu gezwungen wurde (Hopf 2005: 27).
Durkheims Theorie des primären Narzissmus wurde auch von Sigmund Freud auf-
gegriffen. Dieser verstand Bindung als ein gelerntes Motiv. Die Bindung an die
Mutter galt für Freud als Folge der Erfahrung, dass die Mutter die Befriedigung
primärer oraler Bedürfnisse, in erster Linie also der Nahrungsaufnahme vermittelt
(Bischof-Köhler 2010: 92).
Das heutige Bindungsverständnis knüpft an die Bindungstheorie von John Bowlby,
welche 1958 veröffentlicht wurde. Die Vorstellungen, Theorien und Konzeptionen
der bereits genannten Vorreiter benutzte Bowlby in kritischer Auseinandersetzung
als Vorlage. Im Auftrag der WHO erforschte Bowlby die Schwierigkeiten und Ver-
haltensauffälligkeiten, die sich bei elternlos aufgewachsenen Kindern ergaben.
Bowlby kümmerte sich während des zweiten Weltkriegs um Kinder, die auf Grund
von Luftangriffen, des Schutzes wegen, evakuiert und von ihren Eltern getrennt
werden mussten. Dabei konnte er die unterschiedlichen Reaktionen dieser Kinder
auf Trennung und Verlust der Eltern und der bekannten Umgebung beobachten. Die
Kinder zeigten sich destruktiv, aggressiv, dissozial und feindselig, sodass ihr Ver-
halten nur schwer zu beeinflussen war (Perner 16: 2005).
Das Individuum selbst wird in den heutgen Diskussionen der Wissenschaft als bin-
dungssuchendes Wesen angesehen, welches den Kontakt und das Vertrauen zu ei-
nem anderen Menschen benötigt, um sich angemessen zu entfalten. Im Rahmen
seiner Untersuchungen kam Bowlby zu dem Ergebnis, dass der Mensch ein biolo-
gisch angelegtes Bindungssystem besitzt, das aktiviert wird, sobald eine innere oder
äußere Gefahr erkannt und aus eigenen Mitteln nicht gelöst werden kann. Das Kind
wendet sich dann an die ihm vertraute Bindungsperson in Gestalt der Mutter, des
Vaters oder anderen Personen, zu denen es ein vertrautes Verhältnis aufbauen
konnte mit der Hoffnung auf Sicherheit, Schutz und Geborgenheit (Becker-Stoll
2009: 154).
Kinder und Jugendliche, wohnhaft in Heimeinrichtungen haben zwar Bindungser-
fahrungen machen können, die Rede ist hierbei aber selten von zuverlässigen, lie-
bevollen und tragfähigen Bindungen. Um zu verstehen, welche Rolle die Bindungs-
theorie für die Heimerziehung spielt, wird diese im Folgenden in ihren grundsätz-
lichen Attributen erörtert.
12

1.2 Begriffsbestimmung
Bindungstheoretische Grundlagen dienen dem Verständnis der Menschenwerdung,
wodurch menschliches Verhalten besser eingeordnet und verstanden werden kann.
Auf der Basis eines Grundlagenverständnisses besteht ein Bewusstsein über not-
wendige Voraussetzungen, sodass ein erfolgreicher Bindungsaufbau erreicht und
die jeweiligen Konsequenzen bedacht werden können.
Um die Bindungstheorie in ihrer Komplexität erfassen zu können und um ein
grundlegendes Verständnis für die Bindungstheorie nach Bowlby zu schaffen, wer-
den diese im Folgenden erörtert.
1.2.1 Bindung
Bindung kann grundsätzlich als ein emotionales Band zwischen dem Kind und ei-
nem anderen Menschen, der sogenannten Bindungsperson bezeichnet werden.
,,Bei der Bindung handelt es sich um eine lang anhaltende, andauernde, gefühlsbe-
tonte Beziehung zu einem bestimmten Menschen, der Bindungsperson, von der wir
Schutz und Unterstützung erwarten" (Schleiffer 2009: 27).
Im Gegensatz zum Bindungsverhalten besteht eine Bindung zwischen dem Säug-
ling und der Bezugsperson kontinuierlich über Raum und Zeit hinweg (Grossmann
& Grossmann 2015: 70).
Die Bindung eines Kindes zu einer Person ist entwicklungspsychologisch an kogni-
tive Voraussetzungen geknüpft. Das Kind muss fernab von der Objektpermanenz,
welche innerhalb der ersten zwei Lebensjahre abgelegt wird, wissen, dass eine Per-
son auch dann existiert, wenn sie nicht unmittelbar zu sehen ist. Zudem muss ein
Kind, Personen voneinander unterscheiden können, was wiederum voraussetzt,
dass es in der Lage ist, die entsprechenden kognitiven Schemata aufzubauen
(Ahnert 2008: 96). Das affektive Band, entsteht im Zusammenspiel des im Kind
vorprogrammierten Verhaltensmusters, sowie derjenigen Person, welche sich am
häufigsten darum kümmert (Grossmann & Grossmann 2015: 59).
1.2.2 Bindungsverhalten
Bindungsverhalten kann als das Verhalten des Kindes bezeichnet werden, mit wel-
chem es versucht sich die Nähe der Bezugsperson zu sichern (Ahnert 2008: 96). Es
handelt sich dabei um ein Verhalten, das ,,bei Angst, Müdigkeit, Erkrankung und
entsprechenden Zuwendungs- oder Versorgungsbedürfnissen am deutlichsten
wird" (Bowlby 2014: 21).
13

Bindungsverhalten dient also der Aufrechterhaltung und der Festigung der bereits
eingegangen zwischenmenschlichen Eltern-Kind-Interaktion. Bindungsverhalten
ist dabei nicht mit der Bindung selbst zu verwechseln. Bindungsverhalten kann
nicht mit Bindung gleichgesetzt werden, sie mündet in Bindung.
Ein Kind kann auf unterschiedlichste Art und Weise ein Bindungsverhalten zu Tage
legen. Es kann weinen, schreien oder lachen, um sich die Fürsorge und Aufmerk-
samkeit der Bindungsperson zu sichern. Im Laufe der Entwicklung richtet sich das
Bindungsverhalten spezifischer an die jeweilige Bindungsperson. Abhängig von
dem Entwicklungsstand des Kindes, zeigt das Kind anfangs bei jeder Person, Bin-
dungsverhalten auf, da es auf Grund der noch fehlenden kognitiven Voraussetzun-
gen, nicht in der Lage ist Menschen voneinander zu unterscheiden. Das Kind weiß
in einem Alter von 5 Wochen noch nicht, dass seine Mutter seine Bedürfnissbefrie-
digung sicher stellen muss und nicht die Nachbarin, die zu Besuch da ist (Dornes
2000: 23).
Mit dem Bindungsverhalten geht auch das Explorationsverhalten des Kindes ein-
her, was zu dem Bindungsverhalten selbst eine Konträre herstellt. Bindungsverhal-
ten zielt auf Nähe ab, während Exploration sich aus dem Erkunden der Umwelt
zusammensetzt und eine Distanz und Fortbewegung des Kindes dabei nicht vermie-
den werden kann. Exploration findet allerdings nur dann statt, wenn sich das Kind
im jeweiligen Moment sicher fühlt. Sobald das Kind Unsicherheit verspürt, wird es
Bindungsverhalten aufzeigen, mit dem Ziel die körperliche Nähe der Bezugsperson
zu gewinnen und emotionale Sicherheit zu erleben. Das Explorationsverhalten wird
in diesem Moment unterbrochen und pausiert. Es wird erst dann wieder fortgesetzt,
wenn das Bindungsbedürfnis des Kindes befriedigt ist. Nur dann kann es seiner
Neugierde in Form von explorativem Verhalten wieder nachgehen und stressfrei
erkunden (Brisch 2010: 38).
1.2.3 Bindungs- und Fürsorgesystem
Bowlbys Bindungstheorie differenziert das Bindungssystem des Kindes von dem
Fürsorgesystem der erwachsenen Person. Das Bindungssystem wird dann von dem
Kind aktiviert wenn es seine Bedürfnissbefriedigung bedroht sieht. Es hat also das
Ziel, die Versorgung elementarer Grundbedürfnisse, Fürsorge, Aufmerksamkeit
und Nähe sicher zu stellen. Mit Hilfe von Bindungsverhalten in Form von Wei-
nen,Schreien, Quengeln oder Lachen, die für die Eltern als Signale gelten sollen,
14

versucht das Kind den gewünschten Zustand zu erreichen. Wurde das Bedürfnis
befriedigt, wird das Bindungssystem wieder deaktiviert.
Entgegen dem Bindungssystem des Kindes steht das Fürsorgesystem auf Seiten der
erwachsenen Person. Dieses System ist darauf ausgerichtet, erlernte Verhaltenswei-
sen mit dem Ziel der Bedürfnisbefriedigung zu Tage zu legen, um den Kind das
Gefühl von Sicherheit, Nähe und Vertrauen zu vermitteln. Das Fürsorgesystem
wird bei der erwachsenen Person durch empfangene Signale des Kindes aktiviert.
In dem Moment greift der Erwachsenen auf sein inneres Arbeitsmodell zurück. Die-
ses lässt sich als Zentrum aller selbst gemachten Erfahrungen mit Säuglingen, sowie
das passenden theoretische Wissen zu dem Thema definieren. Auf Grundlage des
im inneren Arbeitsmodell enthaltenen Verhaltensrepertoires, wählt der Erwachsene
das passende Fürsorgeverhalten aus, um die Bedürfnisse des Kindes angemessen
zu befriedigen und wieder einen Sicherheitszustand herzustellen. Beide Versor-
gungssysteme sind aufeinander zugeschnitten, sodass sich beide Systeme gegensei-
tig bedingen und somit regulieren. Das Kind schreit mit dem Ziel, Nähe zu seiner
Bindungsperson, der Mutter herzustellen. Durch das Schreien kommuniziert es der
Mutter ein Bedürfnis, auf das diese prompt reagiert, in dem sie ihr inneres Arbeits-
modell abruft, zu dem Kind geht, es auf den Arm nimmt, tröstet und somit die ge-
wünschte Nähe herstellt. Diese Verhaltensvariante stellt zumindest den Idealfall dar
(Lohaus &Vierhaus 2015: 106).
1.2.4 Inneres Arbeitsmodell
Das innere Arbeitsmodell kann als Gesamtheit aller gemachten Bindungserfahrun-
gen, die aus der Interaktion mit den jeweiligen Bezugspersonen entstanden sind,
verstanden werden. Es besteht aus einzelnen Schemata über die mit der/den Be-
zugspersonen gemachten Erfahrungen, den Erinnerungen und das bisher vorhan-
dene Wissen über Bindungen (Strauß et al 2002: 244). Aus den dort internalisierten
Erfahrungen bildet sich ein sicheres oder unsicheres Bindungsmuster heraus. Das
Kind legt für jede einzelne Bezugsperson ein jeweils eigenes, von den anderen ge-
trenntes und individuelles Arbeitsmodell an, in dem gemachte Erfahrungen gespei-
chert werden. Das innere Arbeitsmodell begleitet das Kind während seiner gesam-
ten Entwicklung, da es das Verhalten des Kindes zu der Bezugsperson reguliert und
im späteren Verlauf das Verhalten und Erleben in allen emotional relevanten Be-
ziehungen strukturiert. ,,Ein solches Arbeitsmodel ist anfangs noch flexibel, im wei-
teren Verlauf der Entwicklung wird es zunehmend stabiler und entwickelt sich zu
15

einer mentalen Repräsentanz ­ der sogenannten ,,Bindungsrepräsentation" (Brisch
2010: 38).
Das innere Arbeitsmodell wirkt über die Anwesenheit der Bezugsperson hinaus und
determiniert, inwieweit die Person in Beziehungen Nähe, Verlässlichkeit und Si-
cherheit zulässt, sowie in welchem Ausmaß, Nähe und Sicherheit auch zugelassen
werden kann. Zugleich steuern die internal, für jede Bezugsperson jeweils einge-
reichtete Arbeitsmodelle, das Bindungssystem und ,,regulieren somit zunächst das
Verhalten des Kindes zur Bezugsperson, da sie mit bestimmten Erwartungen ver-
knüpft sind" (Wendell 2005: 58). Die Art und Weise, inwiefern das Kind Bindungs-
verhalten aufzeigt, ist also von den jeweils entwickelten Arbeitsmodellen abhängig.
In der Kindheit können Arbeitsmodelle flexibel durch konkrete Bindungserfahrun-
gen mit korrigierender Funktion verändert werden. Die Veränderbarkeit der inneren
Arbeitmodelle obliegt der Entwicklung kognitiver Schemta nach Jean Piaget. Das
Kind eignet sich neue Reize, Erfahrungen oder Eindrücke der Umwelt an, indem es
diese assimiliert und mit bereits vorhandenem Wissen und erlernten Verhaltenswei-
sen verknüpft. Kann das Kind, mit den bereits vorhandenen Schemata eine Situation
nicht bewältigen, so müssen die Schemata durch die neuen Erfahrungen erweitert
werden, sodass eine Adaption des Kindes an die Umwelt wieder möglich wird. In-
ner Arbeitmodelle können demnach, abhängig von den gemachten Situationen je-
derzeit erweitert und an die jeweilige Situation angepasst werden. (Woolfolk &
Schönpflug 2008: 48).
1
Bindung kann demnach als ein lebenslanger Prozess, ,,von der Wiege bis zur Bahre"
verstanden werden.
1.3 Die ersten Bindungserfahrungen eines Menschen
,,Der menschliche Säugling hat die angeborene Neigung, die Nähe einer vertrauten
Person zu suchen, sowie auch der menschliche Erwachsene ebenfalls dazu neigt,
diesen Bedürfnissen gerecht zu werden" (Rass 2011: 34). In seiner Bindungstheorie
betont John Bowlby die evolutionsbiologische Eigenschaft des Menschen von Be-
ginn seines Lebens an Nähe zu suchen und durch entsprechendes Verhalten diese
auch einzufordern. Bindungsverhalten kann demnach als evolutionäres Erbe der
1
Die Theorie der Entwicklung kognitiver Strukturen nach Jean Piaget liefert entwicklungspsycho-
logisch fundierte Erklärungen für die Entwicklung innerer Arbeitsmodelle mit Hilfe von Assimila-
tion, Akkommodation und Adaption (Siehe Anhang Abb. 9, S. 91).
16

Menschen betrachtet werden. Im Laufe seiner Entwicklung verändert sich das Bin-
dungsverhalten und ist auf spezifische Personen gerichtet, die das Kind als Bezugs-
person wahrnimmt.
Entsprechend der Bindungstheorie aus dem Jahre 1969 von John Bowlby beginnt
die Vorphase der Bindung zwischen der Geburt des Kindes und den ersten 6 Wo-
chen. In dieser richtet das Kind sein Bindungsverhalten an jede beliebige Person.
Das Ziel dabei ist, die Bedürfnisbefriedigung, als auch die Herstellung von Nähe
und Geborgenheit. Diese Phase wirkt sich in der Prägung des inneren Arbeitsmo-
dells am stärksten aus und wird das Eingehen späterer Beziehung, sowie den grund-
sätzlichen Umgang mit Menschen beeinflussen.
In dem Zeitraum bis zum 8. Lebensmonat wird das Bindungsverhalten immer per-
sonenbezogener, wie auch auch die Erwartungen an die entsprechenden Personen
immer gerichteter werden. Dies ist die Phase der entstehenden Bindung, in welcher
das Kind bereits auf Grundlage der kognitiven Verfassung in der Lage ist Personen
voneinander zu unterscheiden.
Bis zum 2. Lebensjahr sind spezifische Bindungen zu den entsprechenden vertrau-
ten Personen entstanden (Mutter, Vater, Großeltern). Das Kind ist nun in der Lage
sich fortzubewegen und die Kontaktaufnahme zur Bindungsperson bewusst steuern
und kontrollieren zu können. In dieser Phase beginnt auch das Fremdeln.
2
Nach der
Entstehung von Bindung sollte das Kind in Anwesenheit der Bezugsperson im Ide-
alfall das Gefühl von Sicherheit empfinden. Bei fremden Personen hingegen ent-
steht bei dem Kind das Gefühl von Angst und Unsicherheit. Ist die Situation beglei-
tet durch eine gleichzeitige Trennung der Bezugsperson, kann dies für das Kind je
nach Bindungsqualität umso schlimmer sein.
Ab dem 2. Lebensjahr sind die Grundlagen für das innere Arbeitsmodell des Kindes
bereits gelegt. Die weitere beziehungsbezogene Entwicklung des Kindes ist von
diesem Repertoire abhängig. (Schleiffer 2014: 29 ff.)
2
Fremdeln kann als eine Durchgangsphase der kindlichen Entwicklung in den ersten zwei Jahre
bezeichnet werden, bei welcher das Kind vertraute von fremden Menschen unterscheidet. Frem-
delnde Kinder verhalten sich fremden Menschen gegenüber eher ängstlich, zurückweisend und
feindselig, während sie zu ihnen vertrauten Personen, Nähe suchen (Michaelis 2012: 134).
17

1.4 Verfügbarkeit und Sensitivität
Ein Kind fühlt sich nur dann geborgen und in Sicherheit, wenn es das Gefühl der
Verlässlichkeit und der Verfügbarkeit vermittelt bekommt. Dazu gehört das Gefühl,
von einer kompetenten und feinfühligen Bezugsperson versorgt zu werden, die in
der Lage ist, die Signale des Kindes aufmerksam wahrzunehmen, richtig zu deuten
und dem Kindesalter angemessen, ohne Über- und Unterstimulation darauf zu rea-
gieren (Rass 2011: 37). Die Bezugsperson kann dabei ein empathisches Verständnis
für die kindliche Perspektive aufbringen und dementsprechend die Situationslage
des Kindes unabhängig von eigenen Empfindlichkeiten befriedigen. Von Relevanz
ist dabei auch das prompte Reaktionsvermögen der Bezugsperson bei der Beant-
wortung des Bindungsverhaltens.
In seiner Bindungstheorie betont Bowlby die Feinfühligkeit und Verfügbarkeit als
elementare Voraussetzungen für eine sichere Bindungsqualität des Kindes (Otto &
Thiersch 2015: 234).
Im Laufe der ersten Lebensjahre bildet der Säugling eine Hierarchie von verschie-
denen Bezugspersonen, die er nach ihrer Verfügbarkeit und Sensitivität sortiert. Die
Person, welche das Kind mit größter Feinfühligkeit versorgt und dem Kind durch
Verlässlichkeit das Gefühl der Sicherheit vermittelt, wird von dem Kind vermutlich
zur Hauptbezugsperson ausgewählt. In Situationen geprägt durch Angst, Unsicher-
heit oder Gefahr wird das Kind auf der Anwesenheit dieser Person bestehen und
sich von sekundären Bezugspersonen nicht trösten lassen (Hedervari-Heller 2011:
61).
1.5 Bindungsmuster und ihre Konsequenzen
Die Entstehung eines Bindungsmusters ergibt sich aus den Reaktionen der Bezugs-
person auf das Bindungsverhalten des Kindes, sowie aus dem im inneren Arbeits-
modell des Erwachsenen konzipierten Fürsorgesystems. Durch die Psychologin
und Persönlichkeitsforscherin Mary D. Salter Ainsworth bekam die Bindungstheo-
rie Bowlbys das empirische Gewicht. Ainsoworth entwickelte einen Test, mit Hilfe
welchem die kindlichen Bindungsmuster im Situationskontext der Trennung von
der Bezugsperson untersucht werden konnten. ,,Der Fremde-Situations-Test (FST)
besteht aus mehreren Episoden, in denen die Reaktion eines 12-18 Monate alten
Kindes auf die Trennung von seiner Bezugsperson und die anschließende Wieder-
vereinigung beobachtet wird" (Ahnert 2008: 97).
18

1.
Die Mutter (bzw. der Vater) wird mit dem Kind in den Versuchsraum ge-
führt, der mit Spielsachen ausgestattet ist. Nachdem sich das Kind und die
Bezugsperson mit der Räumlichkeit vertraut gemacht haben, verlässt der
Versuchsleiter den Raum
2.
Mutter und Kind sind nun alleine. Falls das Kind nach 2 Minuten nicht von
sich aus mit dem explorieren und spielen angefangen hat, soll die Mutter es
auf die Spielsachen aufmerksam machen und zum Spielen motivieren.
3.
Eine fremde Person betritt den Raum. In den ersten Minuten sitzt sie nur
ruhig und beobachtet das Geschehen. In der zweiten Minute beginnt sie ein
Gespräch mit der Bezugsperson. In der dritten Minute nimmt sie mit Hilfe
eines Spielzeugs, Kontakt zu dem Kind auf.
4.
Die Mutter verlässt nun unauffällig den Raum und lässt das Kind mit der
fremden Person zurück. Reagiert das Kind auf die Trennung von der Mutter
verstört so versucht die fremde Person es zu trösten
5.
Erste Wiedervereinigung. Die Mutter betritt den Raum, während die fremde
Person den Raum verlässt. Die Mutter beschäftigt sich nun wieder mit dem
Kind, tröstet es oder spielt mit ihm.
6.
Zweite Trennung. Die Mutter verlässt den Raum, nachdem sie die Trennung
zuvor angekündigt hat. Das Kind ist nun alleine.
7.
Die fremde Person kehrt zurück. Sie beschäftigt sich mit dem Kind, tröstet
es oder spielt mit ihm.
8.
Zweite Wiedervereinigung. Die Mutter betritt den Raum, während die
fremde Person den Raum verlässt. (Bischof-Köhler 2011: 213)
Der gesamte Test wird aufgezeichnet und im Anschluss daran auf bestimmte Kri-
terien überprüft. Es wird darauf geachtet, welches Bindungsverhalten das Kind
zeigt, ob und in welchem Ausmaß es versucht, den Körperkontakt zu der Mutter
aufrecht zu erhalten und mit welcher Intensität und Ausdauer es deren Nähe und
den Kontakt zu ihr wiederzuerlangen sucht." (Schleiffer 2009: 40)
Vermeidendes Verhalten des Kindes gegenüber der Bezugsperson gilt bei der Ver-
haltensbeobachtung ebenfalls als ausschlaggebend für das beim Kind sich konzi-
pierte Bindungsmuster.
Aus diesem Test lässt sich das kindliche Verhalten in vier Bindungsmuster katego-
risieren.
19

Sichere Bindung
Kinder, die sicher gebunden sind, zeigen deutliche Reaktionen, wenn sie von ihrer
Bezugsperson verlassen werden. Diese Kinder fangen dann zu weinen an, hören
womöglich mit dem Explorieren auf, sie rufen nach der Bezugsperson und lassen
sich dabei kaum von einer fremden Person trösten. Durch das kindliche Verhalten
kann deutlich darauf geschlossen werden, dass das Kind die Trennung von der Be-
zugsperson als großen Verlust erlebt und sie diese Person vermisst. Bei der Wie-
derkehr zeigen sich diese Kinder erfreut über das Wiedersehen der Bezugsperson,
von der sie sich dann auch trösten lassen. Nach kurzer Zeit des Tröstens kann sich
das Kind dem Spiel erneut und beruhigt zuwenden (Jungmann & Reichenbach
2009:29). Die Wurzeln einer sicheren Bindung liegen also in den Feinfühligkeit,
sowie der Zuverlässigkeit der primären Bezugsperson, wie es auch Lang in Abbil-
dung 1 betont ( Vgl. S. 21).
Unsicher-Vermeidende Bindung
Unsicher-vermeidend gebundene Kinder zeigen sich gegenüber dem Verlust der
Bezugsperson kaum belastet. Sie bleiben an ihrem Platz und spielen weiter. Zwar
wird das Geschehen um sie herum mit den Augen verfolgt und taxiert, jedoch ver-
hält sich das Kind im Grunde genommen gleichgültig. Der fremden Person gegen-
über verhalten sich diese Kinder gleich der Bezugsperson. Bei der Wiederkehr der
Bezugsperson wird mit Ablehnung reagiert. Die Kinder versuchen einen Kontakt
oder eine Interaktion mit der Bezugsperson zu vermeiden.
Unsicher-ambivalente Bindung
Vor der Trennung zeigt das Kind wenig Explorationsverhalten auf, sondern kon-
zentriert sich vorrangig auf die Herstellung von Nähe zu der Bezugsperson. Wäh-
rend der Trennungsphase richtet das Kind die vollständige Aufmerksamkeit auf die
Suche nach der Bezugsperson und erfährt dabei den größten Stress. Vor der frem-
den Person fürchten sich diese Kinder und lassen sich von ihr auch nicht beruhigen.
Bei der Wiedervereinigung reagiert das Kind der Bezugsperson gegenüber ambiva-
lent. Einerseits freut es sich über die Wiederkehr der Bezugsperson und versucht
Nähe und Interaktion aufzubauen. Andererseits zeigt sich das Kind der Bezugsper-
son wütend und aggressiv gegenüber. Viele diese Kinder sind auch nach dem Ein-
treten körperlicher Nähe zu der Bezugsperson nicht in der Lage, sich zu beruhigen
und mit dem Weinen aufzuhören.
20

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783961162499
ISBN (Paperback)
9783961167494
Dateigröße
1.6 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Fachhochschule Dortmund – Angewandte Sozialwissenschaften
Erscheinungsdatum
2018 (August)
Note
1,7
Schlagworte
Heimerziehung Bindungsmuster Bindungstheorie Bindungsstörung Trauma Familie Erziehung Beziehungsarbeit
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Titel: Chancen und Grenzen der Heimerziehung bei der Kompensation von unsicheren Bindungsmustern und  Bindungsstörungen
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