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Einfluss der digitalen (vernetzten) Welt auf unsere Wahrnehmung und unser Denken

©2013 Masterarbeit 72 Seiten

Zusammenfassung

Mit dem Aufkommen neuer Medien und Technologien lässt eine Debatte um das Für und Wider dieser neuen Entwicklungen oft nicht lange auf sich warten - ebenso wie das Bemühen, die Perspektiven digitaler Medien in Bildung, Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und anderen Bereichen zu prognostizieren.
Aufgrund des recht jungen Mediums Internet und vergleichsweise wenigen empirischen Befunden zu aktuellen Fragestellungen argumentieren Protagonisten der Debatte mit Zukunftsprognosen, die nicht selten nur eigene Ansichten und Interessen widerspiegeln und eine entweder zustimmende, fortschrittsoptimistische oder eine ablehnende, kulturpessimistische Einstellung erkennen lassen.
Ursprünglich gedacht als technisches Angebot zum Zwecke der militärischen und universitären Kommunikation hat sich das Internet, genauer gesagt das World Wide Web, zum erweiterten Lebensraum vieler Menschen entwickelt. Entsprechend erweitern sich nicht nur die Möglichkeiten, sondern auch damit in Verbindung gebrachte Gefahren, Unsicherheiten und diffuse Ängste.
Angesichts dieser Entwicklung haben sich in den letzten Jahren prominente Denker und Schriftsteller besorgt darüber geäußert, was die ständige Internetpräsenz mit uns anstellt: Untergräbt es unsere Konzentration? Lässt unser Gedächtnis nach? Schwindet die Kapazität für tiefgründiges Denken? Macht das Netz süchtig? Stumpfen wir durch digitale Medien ab? Welche positiven Potentiale birgt das Internet dahingehend und welche Konsequenzen für die Sozialpädagogik lassen sich ableiten?
Diese Themen sollen in der vorliegenden Studie näher beleuchtet werden.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


4. Zusammenfassung ... 52
4.1. Neurophysiologische Effekte der Nutzung digitaler Medien ... 52
4.2. Das Internet - Zerstreuung oder Verstärkung der Eindrücke? ... 52
4.3. Umgang mit Medien - Medienkompetenz ... 54
5. Quellenverzeichnis ... 59

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1. Einleitung
1.1. Die Bedeutung des Internet im Alltag und Beruf der Menschen
,,Ohne Web und E-Mail geht es nicht: Der Bundesgerichtshof [BGH] hat entschieden, dass
der Internetzugang bei Privatpersonen zur Lebensgrundlage gehört.", heißt es bei Spiegel
Online. (vgl. Internet 1) Internetnutzer haben nach einem Grundsatzurteil des BGH Anspruch
auf Schadensersatz, wenn der Anschluss ausfällt. Der Zugang zum Internet sei auch im
privaten Bereich von zentraler Bedeutung für die Lebensführung, verkündete der BGH in
einem Urteil vom 24. Januar 2013. Das Internet deckt mit seinem breiten Informationsangebot
weltweit thematisch nahezu alle Bereiche ab und ersetzt wegen der leichten Verfügbarkeit der
Informationen immer mehr andere Medien, wie z.B. Lexika, Zeitschriften oder Fernsehen. Es
ermöglicht den weltweiten Austausch zwischen seinen Nutzern, etwa über E-Mails, Foren,
Blogs und soziale Netzwerke und wird vermehrt auch zur Anbahnung und zum Abschluss von
Verträgen, zur Abwicklung von Rechtsgeschäften und zur Erfüllung öffentlich-rechtlicher
Pflichten genutzt. Das Medium Internet ist für einen Großteil der Bevölkerung mittlerweile zu
einem wichtigen Bestandteil der Lebensgestaltung geworden, dessen Ausfall sich signifikant
im Alltag bemerkbar machen würde. (vgl. Internet 2) Es ist ein Gesetz notwendig, dass jedem
Bürger ein Recht auf einen Internet-Anschluss garantiert, wie auf Wasser und Strom. Dem
stimmen 79 Prozent der Internetnutzer zu, vor allem die jüngeren. (vgl. Internet 32) Was die
Einstellung der Menschen zum Internet angeht, stellt das ,,Deutsche Institut für Vertrauen und
Sicherheit im Internet" sieben Nutzungs-Verhaltenstypen vor: Internetferne Verunsicherte,
Ordnungsfordernde Internet-Laien, Digital Souveräne, Verantwortungsbedachte Etablierte,
Postmaterielle Skeptiker, Effizienzorientierte Performer und Unbekümmerte Hedonisten. (vgl.
Internet 5) Der Autor Robert David Atkinson beschreibt in seiner "Taxonomy of Information
Technology Policy and Politics" acht verschiedene Milieus. (vgl. Szoka, Marcus, Zittrain,
Benkler & Palfrey, 2010:328ff.) Ganz gleich welcher Gruppe man sich selbst zuordnet, oft
wird das Internet mit einer Selbstverständlichkeit genutzt, dass man sich dessen erst bewusst
wird, wenn es einmal nicht funktioniert. Diese Erfahrung machten auch meine Mitbewohner
und ich, als in unserer Wohnung eines Tages plötzlich sämtliche Zimmertüren aufsprangen
und die Küche zum Mittelpunkt einer ,,Krisenintervention" wurde. Es beschäftigte alle nur
eine Frage, ob das Internet bei den anderen auch nicht funktionieren würde. Ein verblüffender
Nebeneffekt: Uns war überhaupt nicht bewusst, dass wir alle zu Hause waren. Eine getrennte
Verbindung zum Internet hatte uns für diesen außergewöhnlichen Moment zusammengeführt

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und uns - gewissermaßen nicht digital, sondern analog - miteinander verbunden. Wir mussten
alle schmunzeln. Hier wird bereits deutlich, dass es wohl zu kurz gegriffen ist, würde man das
Internet, neben den bereits etablierten Medien, nur als einen weiteren Kommunikationskanal
betrachten. Für den amerikanischen Publizisten Nicholas Carr (2011:10) markiert das Web
einen bedeutenden Wendepunkt in unserer intellektuellen und kulturellen Entwicklung, einen
Moment des Übergangs zwischen zwei sehr unterschiedlichen Modi zu denken. Gates,
Myhrvold und Rinearson (1996:9) zufolge ,,it is the evolving Internet that will really change
our lives. [...] The global interactive network will transform our culture as dramatically as
Gutenberg's press did the Middle Ages." Auch der Sprachwissenschaftler Peter Schlobinski
(2012:16) vergleicht die Entwicklung des Internet mit der Erfindung des Buchdrucks vor
mehr als 500 Jahren und spricht von der zweiten Gutenberg-Revolution. Ähnlich der ersten
Gutenbergschen Revolution, bei der die Produktion von Büchern in großen Stückzahlen zu
einer rasanten Verbreitung von Inhalten in Zentraleuropa geführt hat, verhielte es sich mit
dem Internet. Der Effekt wäre durch die weltweite Vernetzung allerdings um ein Vielfaches
größer als beim Buchdruck. Schlobinski sieht darin den Beginn eines großen geschichtlichen
Zeitraums, einer Zäsur historischen Ausmaßes, in dem sich sowohl unsere Wahrnehmung als
auch unsere Produktion und Reproduktion von Kommunikation neu organisieren.
1.2. Digitalisierungsdebatte
Mit dem Aufkommen neuer Medien und Technologien lässt eine Debatte um das Für und
Wider dieser neuen Entwicklungen meist nicht lange auf sich warten. So auch das Bemühen,
die Perspektiven der digitalen Medien zu prognostizieren. Dabei hat sich mit der digitalen
Durchdringung gesellschaftlicher Teilbereiche und alltäglicher Lebenswelten eine Reihe von
thematischen Schwerpunkten aufgetan. Waren es zunächst Begriffe wie Internet, Multimedia
und Datenautobahn, die im Fokus des öffentlichen Interesses standen, differenzierte sich die
Betrachtung mit der Zeit und es wurden Belange in Bildung, Wirtschaft, Politik, Wissenschaft
und anderen Bereichen thematisiert. Mediengewalt; ,,Digitale Demenz"; ComputerSpiel-/ und
Internetsucht sind einige Beispiele für Themen, die im Rahmen der Digitalisierungsdebatte
mehr oder weniger intensiv erörtert werden und dabei eine bemerkenswerte Eigendynamik in
der Berichterstattung entwickelt haben. Aufgrund des relativ jungen Mediums Internet und
vergleichsweise wenigen empirischen Befunden zu aktuellen Fragestellungen argumentieren
Protagonisten der Debatte mit Zukunftsprognosen, die nicht selten nur eigene Ansichten oder

5
Interessen widerspiegeln und eine entweder zustimmende, fortschrittsoptimistische oder eine
ablehnende, kulturpessimistische Einstellung erkennen lassen. Ähnlich Umberto Ecos (1989)
provokanter Einteilung menschlicher Haltungen in Apokalyptiker und Integrierte in seinem
Buch ,,Zur kritischen Kritik der Massenkultur" wird auch bei der Debatte zu den digitalen
Medien gern zwischen ,,Net enthusiasts and Net skeptics" (Carr, 2011:2) oder Optimisten und
Skeptikern (vgl. Passig und Lobo, 2012:23) unterschieden, die das digitale Spannungsfeld
zwischen Chancen und Risiken ausloten und einer ethisch-moralischen bzw. technisch-
pragmatischen Bewertung unterziehen.
Selbstbewusst optimistisch bis hin zu fortschrittsgläubig naiv verkünden Befürworter ein
goldenes Zeitalter der allgemeinen Informationszugänglichkeit. Andere hingegen verharren
zwischen gesunder Skepsis und Pessimismus. Zweifler befürchten ein dunkles Zeitalter der
Mittelmäßigkeit und des Narzissmus (Carr, 2011:2f.), in dem die Qualität von öffentlichen
Gedanken kollabiert und in dem - aufgrund der Möglichkeit eines jeden, alles für ein globales
Publikum produzieren zu können - bestehende Modelle für die Produktion von Material hoher
Qualität zerstört werden (Shirky In: Brockman, 2011:36f.). Oder es wird gewarnt vor einem
geistigen Abstieg, der durch die digitalen Medien sozusagen vorprogrammiert ist und unsere
Jugend verdummen lässt (vgl. Spitzer, 2012). Im Gegensatz dazu ist der US-amerikanische
populärwissenschaftliche Autor Steven Berlin Johnson (2006) davon überzeugt, dass unsere
Popkultur mit ihren neuartigen Fernsehprogrammen und Videospielen in Bezug auf unsere
Intelligenz, Gedanken, Ideen und Konzepte in den letzten dreißig Jahren insgesamt immer
komplexer und intellektuell herausfordernder geworden ist und unsere Gesellschaft in dieser
Hinsicht besser wird. Optimistisch gibt sich auch Hans-Ulrich Jörges (Chefredaktion, Stern-
Magazin). Er plädiert dafür, den Zugang zum Internet für jedermann verfassungsrechtlich zu
garantieren, denn dies sei eine Grundvoraussetzung für sozialen Aufstieg: ,,Wer vom Internet
ausgeschlossen ist oder es nicht nutzt, bleibt hinter seinen menschlichen Möglichkeiten
zurück, ist abgekoppelt vom Lauf der Dinge und Zeiten." (Internet 3) Das Internet durchdringt
unseren Alltag und verändert die Welt. Die Antwort auf die Frage, ob zum Guten oder zum
Schlechten ist jedoch nicht so einfach, wie manche Verfechter extremer Positionen es gerne
hätten. Ursprünglich gedacht als rein technisches Angebot zum Zwecke der militärischen und
universitären Kommunikation hat sich das Internet, besser gesagt das World Wide Web (kurz
Web oder ,,Netz", eine Anwendung des Internet), zum erweiterten Lebensraum vieler
Menschen entwickelt. Entsprechend erweitern sich nicht nur die Möglichkeiten, sondern auch
damit in Verbindung gebrachte Gefahren, Unsicherheiten und diffuse Ängste.

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1.3. Anliegen dieser Arbeit
Angesichts dieser Entwicklung haben sich in den letzten Jahren mehrere prominente Denker
und Schriftsteller besorgt darüber geäußert, was die ständige Internetpräsens mit uns anstellt:
Untergräbt es unsere Konzentration? Lässt unser Gedächtnis nach? Schwindet die Kapazität
für tiefgründiges Denken? Macht das Netz süchtig? Stumpfen wir durch digitale Medien ab?
Welche positiven Potentiale birgt das Internet dahingehend und welche Konsequenzen für die
Sozialpädagogik lassen sich aus all dem ableiten? Diese Themen sollen auf den folgenden
Seiten näher beleuchtet werden. Dies kann aufgrund der Komplexität, die in der Natur der
Sache begründet liegt, nur exemplarisch geschehen. Bei der Erörterung dieser Themen wurde,
gerade bei Fragen zu den Auswirkungen von Mediengewalt und dem Einfluss digitaler
Medien auf unseren Geist (meist bezogen auf Kinder und Jugendliche), in jüngster Zeit
besonders emotional und unter teils moralischen Aspekten kontrovers diskutiert, ohne dass
dabei eine Annäherung beider Seiten in Sicht wäre. Daher bietet sich hier das Moral-Intuitive
Modell von Haidt (eine emotional fundierte Betrachtung unserer Wahrnehmung, die sowohl
kulturgeprägt als auch genetisch verankert ist) als Instrument zur Deutung entsprechender
(auch eigener) Denkstrukturen, Bewertungsmaßstäbe und Argumentationen an, auch mit
Blick auf eine Annäherung beider Seiten. Dazu wird die aktuelle Debatte (mit prominenten
Vertretern) in ihren Grundzügen vorgestellt. Durch die Einbettung der Betrachtungen in den
historischen Kontext der medialen Entwicklung soll ein grundlegendes Verständnis dafür
vermittelt werden, inwieweit in der Vergangenheit technologische Innovationen unser Denken
beeinflusst bzw. wie wir der (Medien-)Technik unseren eigenen Stempel aufgedrückt haben
(und sich darin möglicherweise alte Denkweisen erkennen lassen). McLuhan (2001:12) etwa
schreibt: ,,technology could do anything but add itself on to what we already are". Welche
Parallelen zur Gegenwart sind erkennbar? Hat sich überhaupt etwas verändert? Gleichzeitig
wird auf das Zusammenspiel von Wissenschaft, Medien und Politik eingegangen, da diese
Bereiche in ihrer Verschränkung miteinander nicht nur zur öffentlichen Meinungsbildung
beitragen, sondern auch polarisieren können und Einfluss darauf haben wie wir z.B. über das
Internet (und seine Auswirkungen) denken, was sich letztlich auch auf die weitere politische
Gestaltung des Internet (Gesetze, Datenschutz etc.) auswirkt. Dabei wird, ergänzend zu Haidts
Modell, auf die unbewusste/bewusste Verwendung von Metaphern als (wissenschaftliches)
Denkmodell zur Beschreibung und Erklärung der Realität eingegangen und aufgezeigt wie der
sinnstiftende, aber auch irreführende oder gar manipulative Gebrauch dieser Sinnbilder die
Meinung und Denkweise, besonders mit Blick auf das Internet, beeinflussen kann.

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2. Digitales vs. Analoges Denken
Null und Eins; Ja oder Nein, so gegensätzlich wie diese grundlegende binäre Struktur der
digitalen Welt sind oft auch Meinungen und das Denken in der analogen Welt, und das nicht
nur, wenn es um das Thema Internet geht. Dieses Kapitel beschäftigt sich mit grundsätzlichen
Verständigungsproblemen, wie sie z.B. zwischen Kontrahenten in der Digitalisierungsdebatte
zu Themen wie Mediengewalt oder ,,Digitale Demenz" (vgl. Spitzer, 2012) zu beobachten
sind, in der (teils emotional besetzt) moralisierend argumentiert wird, was eher polarisierend
wirkt als dass es eine Lösung in Aussicht stellen würde. Wie der Name suggeriert, unsere
,,grauen Zellen" sind zu mehr imstande als nur in Kategorien von Schwarz oder Weiß zu
denken. Verschiedene Graustufen oder sogar farbliche Nuancen können einer Diskussion
einen neuen Anstrich mit mehr Tiefe verleihen, neue Sichtweisen eröffnen, zu einem besseren
Verständnis für die andere Seite und letztlich zu einer konstruktiveren Auseinandersetzung
führen.
2.1. Ich habe Recht, die anderen sind voreingenommen.
,,Jedes Problem erlaubt zwei Standpunkte: unseren eigenen und den falschen."
Channing Pollock, amerikanischer Bühnen- und Drehbuchautor [1880-1946]
Allerdings gilt es dabei einige kognitive Klippen zu umschiffen, auf die der amerikanische
Sozialpsychologe Jonathan Haidt in seinem Buch ,,The happiness hypothesis" eingeht. Haidt
(2006:64ff.) geht davon aus, dass die moralische Bewertung von Sachverhalten nicht direktes
Ergebnis rationaler Entscheidungen ist, also nicht durch Abwägen, Argumentieren und
Überlegen zustande kommt, sondern dem eigenen Bauchgefühl entspringt. Urteile werden
schnell und intuitiv gefällt, noch bevor das Nachdenken über moralische Fragen überhaupt
einsetzen kann - die Angelegenheit fühlt sich richtig oder falsch an. Erst im Anschluss daran
wird rational eine Argumentationskette konstruiert, um die bereits getroffene Entscheidung
sich selbst und anderen gegenüber zu rechtfertigen. Oft wird dabei jedoch nicht argumentiert
wie ein wahrheitssuchender Richter es tun würde, sondern eher wie ein Anwalt, der versucht
seinen gegenwärtigen Standpunkt vor anderen zu verteidigen. Dem eigenen Standpunkt
zuwiderlaufende Argumente werden dabei als unrelevant abgetan und ausgeblendet. Das erste
plausible Argument, das die eigene Sichtweise in irgendeiner Form bestätigt, gilt jedoch als
Beleg für die Richtigkeit des eigenen Standpunktes. Für diesen ,,inneren Anwalt" ist der Fall

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damit abgeschlossen. Er tritt erst wieder in Erscheinung, wenn die bevorzugte Sichtweise in
Frage gestellt wird. Dann begibt er sich erneut auf eine kognitive Mission, um Argumente zu
sammeln, die wiederum nur den eigenen Standpunkt festigen sollen. Dieser ,,innere Anwalt"
ist so effektiv, führt Haidt weiter aus, dass sich die meisten dessen nicht einmal bewusst sind.
Sie glauben, dass ihr Standpunkt rational und objektiv gerechtfertigt ist und jeder die Welt so
sehen müsste wie man selbst. Eine abweichende Meinung wird so ausgelegt, dass den anderen
entweder nicht alle Fakten bekannt sind oder sie sich - verblendet durch eigene Interessen und
Ideologien - vor der Wahrheit, der Vernunft, der Wissenschaft und dem gesunden Menschen-
verstand verschließen. Haidt vergleicht dies mit einem ,,rose colored mirror". Dieser gedachte
innere ,,rosarote Spiegel" schmeichelt seinem Betrachter, indem er die eigenen Ansichten
stets besser erscheinen lässt als die anderer. An dieser Stelle scheint das Bild von Narziss, der
sich nach der griechischen Mythologie in sein eigenes Spiegelbild verliebte, nicht abwegig.
Menschen mit solch einem illusorisch positiv ,,naiv-realistischen" Selbstbild, so Haidt, haben
oft eine positivere Wirkung auf andere und sind auch in besserer seelischer Verfassung als
,,desillusionierte" Menschen. Teil des Problems bei einer Depression ist z.B. ein ins Negative
verzerrtes Spiegelbild. Die Kehrseite des Spiegels ist allerdings, dass diverse Filter in unseren
Köpfen hart daran arbeiten, die anderen Positionen von vornherein zu entkräften oder sie
auszublenden.
2.2. Alltagsverstand und Bias, eine Wissenschaft für sich
2.2.1. Spieglein, Spieglein an der Wand, wer hat Recht im ganzen Land.
Ein Beispiel, das Haidts Vorstellung von einem ,,rosaroten Spiegel" illustriert, findet sich in
einem Interview zwischen dem Medienpädagogen Stefan Aufenanger und dem Hirnforscher
Manfred Spitzer, der vor den negativen Wirkungen digitaler Medien auf die Gehirne der
jungen Nutzer warnt. Seiner Meinung nach führen sie zu schlechten Schulleistungen und
bergen, wie Alkohol und Nikotin, Suchtpotentiale. Viele Medienpädagogen sehen in den
digitalen Medien auch Potentiale und verweisen auf positive Effekte der digitalen Medien, vor
allem dann, wenn es um das Lernen geht. Zwei Ansichten, die eher auseinanderlaufen als dass
sie sich irgendwo treffen würden. Um die eigene Ansicht zu untermauern, wählt jeder die
Studie aus, die seine These stützt, heißt es im Interview. Es sei eine Frage der Argumentation.
(vgl. Internet 7) Mit Blick auf das Moral-Intuitive Modell von Haidt könnte man hier fragen,
warum bei einem Sachthema wie diesem überhaupt unterschiedlich argumentiert wird und

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offenbar nur Studien in Betracht gezogen werden, die dem eigenen Zweck dienlich sind. Ist
hier etwa Haidts ,,rosaraoter Spiegel" am Werk? Fallen bei der Argumentation und der
Auswahl der Studien etwa eigene Wertvorstellungen ins Gewicht? Wurden die Weichen für
die Richtung der Forschungsergebnisse bereits vor Beginn der Forschung gestellt? Wird das
Forschungsergebnis beeinflusst durch die Persönlichkeit, die Erziehung, dem kulturellen
Umfeld und den Erfahrungen der Forscher? Von einem Wissenschaftler wird erwartet, dass er
sich differenziert mit einem Sachthema auseinandersetzt, das Für und Wider abwägt, bewertet
und nach gründlicher Analyse zu einem fundierten Ergebnis kommt, betont Medienforscher
Klaus Peter Jantke (vgl. Internet 6). Dazu ist es notwendig, sich ohne Vorbehalt einem Thema
zu nähern und einen offenen Blick zu wahren. Es sollte eine Art Metaebene eingenommen
und die eigene Hypothese kritisch hinterfragt werden, indem auch nach Widerlegungen
gesucht wird. Wie objektiv sind wir oder können wir überhaupt sein, wenn es um Themen
geht, die moralische Aspekte berühren und schwer operationalisierbar sind? ,,Der menschliche
Verstand vermag den Zusammenhang der Ursachen aller Erscheinungen nicht zu begreifen
[...] da er in die vielen kunstvoll verworrenen Grundbedingungen aller Erscheinungen nicht
eindringen kann, von denen jede einzelne als Ursache gelten könnte, greift er nach der ersten
besten, die ihm am verständlichsten ist und am nächsten liegt, und behauptet: das ist die
Ursache." schreibt Tolstoi (1993:1340) in seinem Roman ,,Krieg und Frieden" und liefert
damit eine Analogie zu dem Moral-Intuitiven Modell von Haidt. Wallace (2012:13) vergleicht
derart festgefahrene Denkstrukturen aus ,,blinder Gewissheit" und ,,Engstirnigkeit" mit einer
Gefängniszelle, die so absolut ist, dass der Häftling sich seiner Einzelhaft nicht einmal
bewusst ist. Der (Zellen-)Schlüssel zu dem geisteswissenschaftlichen Mantra, ,,das Denken zu
lernen", liegt seiner Meinung nach darin, etwas weniger Arroganz und ein bisschen mehr
,,kritisches Bewusstsein" für sich und die eigenen Gewissheiten zu entwickeln.
Es gibt gute und schlechte Studien und es ist Aufgabe des Wissenschaftlers beide voneinander
zu trennen, erklärt der Hirnforscher Manfred Spitzer (vgl. Internet 7). Dass diese Trennung
selbst für Fachleute schwierig ist und sie dabei getrennte Wege gehen, zeigt das Ergebnis der
Studien zweier Forschungsgruppen, die sich mit den Auswirkungen von Gewaltdarstellung in
Videospielen auf ihre Nutzer beschäftigen. Bei ihrer Metaanalyse (dem möglichst objektiven,
systematischen und repräsentativen Auswerten quantitativer Größen der Ergebnisse diverser
Einzelstudien) kamen beide Forschergruppen zu gegensätzlichen Ergebnissen. Die Gruppe
von Ferguson findet in ihrer Untersuchung keinen direkten Zusammenhang zwischen der
Darstellung von Gewalt in Computerspielen und Aggression bei den Spielern. (vgl. Ferguson
& Kilburn, 2009:761ff.) Die Gruppe von Anderson hingegen kommt zu dem Schluss, dass

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gewalttätige Medieninhalte Aggressionen fördern und Empathie sowie prosoziales Verhalten
verringern. (vgl. Anderson, Bushman & Rothstein, 2010:183ff.) Hinsichtlich der Entwicklung
des Internet wären allerdings weitere Studien nötig, das mutmaßen Anderson, Berkowitz,
Donnerstein, Huesmann, Johnson, Linz, Malamuth & Wartella (2003:93ff.), da aufgrund der
interaktiven Natur dieses Mediums die Auswirkungen auf die jüngere Generation noch stärker
sind als bei passiven Medien.
Beide Seiten beziehen deutlich Position, die wenig Spielraum für Zugeständnisse lässt. Die
Forschergruppe von Craig Anderson äußert Bedenken bezüglich der von Ferguson und seinen
Kollegen durchgeführten Meta-Analysen. Anderson bezieht sich dabei exemplarisch auf
Studien, deren Ergebnisse sich überschneiden würden und nicht unabhängig voneinander
seien. (ebd.) Ferguson et al. äußern die Befürchtung, dass von der Anderson-Gruppe mehrere
falsche Angaben über Fergusons Meta-Analyse sowie Meta-Analysen allgemein gemacht
wurden und dass erhebliche Fehler in Andersons eigener Analyse bestehen, die es schwierig
machen, die Ergebnisse zu interpretieren. (vgl. Ferguson & Kilburn, 2010:174ff.) Surette
(2011:80) stellt fest: ,,Violent media alone does not make a violent person, but violent media
can apparently make a violent person more often violent." Grimes, Anderson und Bergen
(2008:201) fügen dem hinzu, dass reale Gewalt als Folge von medialer Gewaltdarstellung an
zwei Bedingungen geknüpft ist, nämlich an soziale Variablen der Umwelt, die mit einer
psychologischen Veranlagung zu aggressivem Verhalten interagieren und an die Abwesenheit
unterdrückender Variablen, wie etwa interne und externe Kontroll-Variablen. Anzudeuten,
dass Gewalt in den Medien direkt für Gewalt in der realen Welt verantwortlich ist, kommt der
Behauptung gleich, dass der Wind durch das Wackeln der Zweige in den Bäumen verursacht
wird, schreibt Boston provokant in der britischen Zeitung "The Guardian" vom 7. April 1994.
Groebel (1999:15) schlussfolgert aus seiner internationalen empirischen UNESCO Studie zu
Medien und Gewalt mit 5.500 Zwölfjährigen aus 23 Ländern aller Kontinente, dass die von
Medien ausgehende Wirkung zwar als nicht einseitig-kausal anzunehmen ist, Medien aber zu
einer aggressiven Kultur beitragen können, indem Menschen, die zu Aggressionen neigen,
durch den Medieneinfluss in ihren Einstellungen und Haltungen darin bestärkt werden. Dabei
seien
Audiovisuelle Medien grafischer in ihrer Darstellung als entsprechende Literatur; sie
ließen daher weniger Raum für die persönliche Interpretation von Gewalt. Durch die
technischen Möglichkeiten des Internet werden Medien universeller, interaktiver, finden eine
größere Verbreitung und verschmelzen mehr und mehr mit der Realität. (vgl. ebd.) Eine für
einen selbst psychologisch verträglichere Interpretation von Gewalt, wie zum Beispiel beim

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Buchlesen, wird durch die Massenwirkung und eine bildhafte Darstellung in den Neuen
Medien demnach erschwert.
Angesichts der widersprüchlichen wissenschaftlichen Aussagen zu diesem Thema fragen sich
auch Kutner & Olson (2008:58): "Why don't the `experts' agree? [...] How can these experts
arrive at such different conclusions?" Wissenschaftliche Forschung ist wie ein Puzzle, bei
dem unklar ist, ob alle Teile vorhanden sind; die Teile die man hat, können auf verschiedene
Weise zusammengefügt werden, und man weiß vorher nicht wie das fertige Bild aussehen
wird. (vgl. ebd. 57) Ergebnisse, die im Labor unter Testbedingungen zustandegekommen
sind, können dabei schwer generalisiert und auf die Wirklichkeit übertragen werden.
Korrelationsstudien berücksichtigen oft nicht `Drittvariablen' als Störfaktoren (Persönlichkeit,
Familiengeschichte oder Erbanlagen), heißt es bei Ferguson (2008:27ff.) Die Fokussierung
auf Korellationen mit nur zwei Variablen ist problematisch, da Relationen überbewertet
werden. (vgl. Ferguson et al., 2010:175ff.) Nicht-standardisierte Testverfahren erlauben es
jedem Gelehrten, Resultate in sehr unterschiedlicher Art und Weise zu berechnen (oder bei
der Berechnung der Ergebnisse zwischen einzelnen Studien unterschiedlich zu verfahren).
Publikationsbias sei ein weiteres Problem im Forschungsbereich. (vgl. Ferguson, 2008:27ff.)
Dennoch scheinen einige ein klares Bild von dem fertigen Puzzle vor Augen zu haben, wie
auch der Psychologe und Medienforscher Guy Cumberbatch anmerkt: ,,The real puzzle is that
anyone looking at the research evidence in this field could draw any conclusions about the
pattern, let alone argue with such confidence and even passion that it demonstrates the harm
of violence on television, in film and in video games. While tests of statistical significance are
a vital tool of the social sciences, they seem to have been more often used in this field as
instruments of torture on the data until it confesses something which could justify publication
in a scientific journal." (Cumberbatch, 2004:34)
In einem sind sich Ferguson et al. und Anderson et al. jedoch einig: in politisierten Bereichen
der Forschung ist nicht auszuschließen, dass Daten auf Basis politischer oder anderer
persönlicher Interessen von Forschern, Rezensenten oder Editoren zensiert werden. (vgl.
Anderson et al., 2010:183) Grimes et al. (2008:30) fügen dem hinzu, dass die Forschung nicht
unabhängig exisitiert von moralisierenden Einflüssen und klassenbasierten Ideologien.
Studien sind die Währung einer akademischen Ökonomie. Aus der Palette von Einflüssen und
kulturellen Ideologien kann der gewünschte Medieneffekt modelliert werden, indem eine
gefällige Methodologie zu dem ,,Schmelztiegel" aus Geld, Karrieren und sozialer Legitimität
hinzugefügt wird. (vgl. ebd. 51)

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2.2.2. Wenn Panik herrscht, setzt der Verstand aus.
Das Zusammenspiel von Politik, Nachrichtenmedien und Forschung mit seinen Wirkungen
auf die Gesellschaft wurde bereits von Soziologen in den 1960er Jahren unter dem Begriff der
,,Moralischen Panik" diskutiert. Stanley Cohen (2011:1) beschreibt moralische Panik als: "A
condition, episode, person or group of persons emerges to become defined as a thread to
societal values and interests; its nature is presented in a stylized and stereotypical fashion by
the mass media; the moral barricades are manned by editors, bishops, politicians and other
right-thinking people." Der britische Soziologe David Gauntlett (2005:137ff.) stellt fest, dass
sich Bedenken hinsichtlich neuer Medien im Laufe der Geschichte wiederholen und schreibt
dies eher einer Episode moralischer Panik zu als einem nachvollziehbaren Prozess sorgfältiger
Forschung, basierend auf aktuellem Wissen. Damit soll die Existenz eines im Rahmen einer
,,moralischen Panik" aufgegriffenen Problems nicht in Frage gestellt, sondern lediglich seine
übertriebene Darstellung kritisch hinterfragt werden - auch im Vergleich zu möglichen
anderen, ernsteren Problemen (vgl. Cohen, 2008:vii). Im Hinblick darauf können nach diesem
Modell, schreibt Ferguson (2008:25ff.), moralische Ansichten, wissenschaftliche Dogmen,
religiöser Glauben, vom Alltagsverstand geprägte Denkarten und andere gesellschaftliche
Überzeugungen dazu führen, dass sich ein vorgezeichneter negativer Glaube über ein neues
Medium etabliert. Meist wird das neue Medium von der älteren Generation (noch) nicht bzw.
nicht in dem Umfang genutzt wie von Jüngeren. Entsprechende Studien und Positionen von
Gelehrten und Politikern würden dazu neigen, den vorherrschenden Glauben zu bestätigen,
anstatt das Phänomen objektiv zu observieren und zu bewerten. Extreme und einseitige
Sichtweisen, mit Fokus auf ein potentielles Problem, würden sich besser verkaufen und seien
,,more newsworthy" als positive Nachrichten. Nachrichtenmedien und Politiker würden daher
ihr Augenmerk eher auf negative Aspekte einer Sache richten. Dementsprechend neigen
geldgebende Agenturen dazu, Studien finanziell zu unterstützen, wenn die Identifikation eines
potenziellen Problem in Aussicht gestellt wird - im Gegensatz zu Studien bei denen sich
herausstellen könnte, dass es nichts zu befürchten gibt, schreibt Ferguson (2008:31f.). Er
vergleicht dies mit der pharmazeutischen Industrie, die nur Studien in Auftrag gäbe, welche
der eigenen Agenda zuträglich sind bzw. nur Studien veröffentlicht, die ihr eigenes Produkt
unterstützten. Angst verkauft sich offenbar besser (ist ertragreicher) als frohe Botschaften. Ein
,,gutes Problem" hat demnach auch gleich ein passendes Mittel für seine (einfache) Lösung
mit eingebaut, nach dem Motto: unsere Lösung, ihr Problem. Auch Grimes et al. (2008:21)
stellen fest, dass "The negative effect of media is a perennial favorite" und fragen sich warum

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es mehrere Studien zur Aggression in Verbindung mit Medien gibt, aber noch niemand eine
Longitudinal Studie über ,,Medien und gesteigerte prosoziale Effekte" finanziert hat. Der
Einfluss, den Medien auf die öffentliche Meinungsbildung haben können, wird deutlich, wenn
man sich bewusst macht, dass Medien Momentaufnahmen der Wirklichkeit darstellen, die
lediglich einen begrenzten Teil der Welt abbilden, der von den Medien selbst ausgewählt,
aufbereitet und an die Öffentlichkeit verkauft wird. Surette (2011:4) weist darauf hin, dass,
auch wenn Medieninhalte von den Meisten als nicht real erkannt werden, der kontinuierliche
Medienkonsum letztendlich die eigene Sicht der Realität beeinflusst, ,,keine Medien - keine
moralische Panik" (Internet 8). Die Medien sind Boten der moralischen Panikmache, was sie
entweder selbst oder durch das Weiterleiten der Botschaft Dritter bewerkstelligen. (vgl. ebd.)
Als neuester Botschafter für moralische Paniken steht das Internet in der Tradition bereits
mehr oder weniger etablierter Medien, wie etwa Comics, Videospiele, Videorekorder, TV,
Radio und Filmtheater, die, als sie neu waren, in ähnlicher Form Anstoß gaben für Fragen zu
gewalttätigen, stereotypen oder kommerziellen Inhalten und zu unkritischen oder aggressiven
Aktivitäten, stellt auch Livingstone (2002:5) fest. Dies kann so ziemlich über jedes neue
Informationsmedium gesagt werden, führt Carr (2011:2) an - Debatten um neuartige Medien
sind mindestens so alt wie das erste Buch aus Gutenbergs Druckerpresse. Ist das neue
Medium etabliert, setzt eine Art "historical amnesia" ein, stellt Drotner (1992) fest. Jede neue
Panik entfaltet sich als sei es das erste Mal, dass derartige Belange öffentlich debattiert
werden, und dennoch sind die Debatten ähnlich (vgl. ebd. 52), ,,wie Marionetten, die ein
uraltes Stück aufführen"
(
Passig und Lobo
,
2012:8).
Die
Meinungen sind festgefahren und
gegenteilige Beweise können daran nichts ändern: ,,it is no good trying to prove irrationalities
or logical flaws" (Drotner, 1992:60). Letztlich führen diese Debatten zu etwas, das Drotner
als "historical incorporation" beschreibt. Das Auftauchen neuer Medien und die intensive
Beschäftigung damit hätten gleichzeitig eine Übernahme der somit älteren Medien "to the
shadows of acceptance" (ebd. 52) zur Folge. Diesen Schattenbereich der Akzeptanz älterer
Medien im Rahmen ,,moralischer Paniken" erneut zu beleuchten und dabei alte bzw. ähnliche
Fragestellungen im Licht aktueller Medien zu diskutieren, birgt jedoch die Chance, wie
Livingstone (2002:5f.) anmerkt: gesellschaftlich verbreitete Annahmen zu überdenken, lang
gehegte Überzeugungen in Frage zu stellen oder unterdrückte Probleme anzuerkennen.

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2.3. Modern ist veraltet.
Oft hört man, dass die Jugend stets zu neuer Technik neigt, während ältere Semester Neuem
eher skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen. Auch Jäckel (2010:253) äußert, dass ältere
Menschen neuen Technologien und Innovationen gegenüber nicht so aufgeschlossen sind wie
jüngere. Laut einer Eurostat-Studie nutzen, bezogen auf das Jahr 2010 in der Europäischen
Union, 90 Prozent der Jüngeren (16-25 Jahre alt) das Internet regelmäßig (davon 78 Prozent
täglich). Mit steigendem Alter nimmt die Zahl derer, die mindestens einmal pro Woche das
Internet nutzen stetig ab. Bei den 55- bis unter 75-Jährigen sind es nur noch 37 Prozent - mehr
als die Hälfte dieser Altersgruppe gab an, das Netz zum Zeitpunkt der Erhebung noch niemals
genutzt zu haben. (vgl. Internet 33) Dieses altersbedingte Interesse für die jeweilige neueste
Technologie, aktuell das Web, mag zu tun haben mit Gewohnheiten, wie man aufgewachsen
ist, welche gesellschaftlichen Werte und Normen während der Jugendzeit bzw. in frühen
Jahren prägend waren. Spezifische Bedürfnisse und Verhaltensmuster entwickeln sich nach
wie vor in den frühen Lebensjahren, vor allem auf spielerische Weise. Viele der älteren
Generationen (Eltern und deren Eltern) erleben den Umbruch der Medienlandschaft als eine
radikale Veränderung des Schaltplans und als einen Verlust von Kontinuität, schreibt Jäckel
(2010:248ff.). Sie hätten dieses unbestimmte Gefühl einer aufkommenden alternativen, sich
zügig entwickelnden und von Jüngeren vorangetriebenen elektronisch-interaktiven Kultur,
von der sich die Älteren ausgeschlossen fühlten. In einer Art Rückzugsgefecht würden sie
moralische Paniken anregen, sozusagen als Ersatz für grundlegendere Befürchtungen und
Bedenken, die schwer direkt adressierbar seien. (vgl. Ungar In: Krinsky, 2008:168) Wie
schon McLuhan angedeutet hat (zitiert In: Johnson, 2006:18), ist die jüngere Vergangenheit
stets in uns präsent, färbt also auch unweigerlich den Blick auf neue Medienformen und setzt
dabei Mängeln und Unzulänglichkeiten des neuen Mediums besonders starke Schlaglichter
auf. Wer denkt da nicht manchmal mit verklärtem Blick wehmütig an die ,,gute alte Zeit"
zurück, wo alles irgendwie anders und einfacher war. Wenn man im Netz danach sucht, was
z.B. Menschen mit den 1970er, 1980er und 1990er Jahren verbindet, kann man auf diversen
Seiten sinngemäß Folgendes lesen: Wir sind die letzte Generation, die auf der Straße gespielt
hat, die erste, die Video-Spiele gespielt hat und wir sind die Letzten, die Songs aus dem Radio
auf Kassetten aufnahmen. Wir haben gelernt wie man den Videorekorder bedient, spielten mit
Atari und Nintendo und wir lebten ohne Handy. Es gab keine Flachbildschirme, Surround
Sound, MP3, iPod oder Internet, aber dennoch hatten wir eine tolle Zeit. So oder so ähnlich
sinniert wohl so mancher über das Vergangene und schwelgt in nostalgischen Erinnerungen

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über die eigene Jugend. Laut Livingstone (2002:5) blicken Erwachsene nicht nur aus
Nostalgie immer wieder zurück auf ihre Kindheit, sondern auch, um Veränderungen zu
kennzeichnen, mit der Gegenwart zu vergleichen und zu verstehen. Steven Johnson (2006)
plädiert in seinem Buch ,,Everything bad is good for you." für einen offeneren Umgang mit
Innovationen, weil das Neue häufig deshalb als bedrohlich gesehen wird, da es nur im Sinne
einer Passung zum bereits Vorhandenen bzw. Alten interpretiert wird. Was die Jüngeren heute
vielleicht als alt bezeichnen würden, war jedoch für die heutigen Älteren zu ihrer Jugenzeit
vermutlich (ähnlich den neuen digitalen Unterhaltungs- und Kommunikationsmedien heute)
ein integraler Bestandteil ihres Heranwachsens, und auch sie mögen sich gefragt haben, was
die Erwachsenen für ein Problem damit haben. Vor dem Hintergrund dieser tendenziellen
Unterschiede zwischen den Generationen erscheinen einige kulturpessimistische Färbungen
und Defizite in der Medienkompetenz älterer Generationen verständlich, die zur Hilflosigkeit
führen können, wenn sich eigene Kinder unkontrolliert in die neuen virtuellen Welten entfernt
haben, schreibt Petry (2010:80). Teil ihrer jugendlichen Welt sind auch die Praktiken, mit
denen Heranwachsende sich als Jugendliche definieren, darstellen und dabei auf bestimmte
Art und Weise gegen Erwachsene abgrenzen (vgl. Scherr, 2009:25). Jugendliche haben sich
,,schon immer in fremde Welten zurückgezogen, einige in exzessiver Weise. Früher waren es
Comics, Perry-Rhodan-Heftchen oder das Fernsehen. Das muss man nicht gleich verurteilen",
so der Medienpsychologe Peter Vorderer (Internet 15). Dem Psychologen Guy Cumberbatch
zu Folge haben derartige Verurteilungen meist mit dem eigenen Bauchgefühl, gewissermaßen
den eigenen Moralvorstellungen zu tun. Cumberbatch stellt fest, dass diejenigen, die z.B.
davon überzeugt sind, dass bestimmte Fernsehprogramme ein Problem sind, fast immer auf
TV-Programme anderer anspielen, dabei jedoch die eigenen Preferenzen unberücksichtigt
lassen. Von sich aus gesehen würden wahrscheinlich die Meisten sagen, dass Mediengewalt
problematisch sein könnte für jemand Jüngeren als man selbst, schreibt Cumberbatch (2004)
in seinem Report für ,,The Video Standards Council". Livingstone (2002:6) sieht in diesem
Spannungsverhältnis von jüngerer und älterer Generation eine mögliche Ursache für den
Ausbruch moralischer Paniken. Ihrer Meinung nach wird die Abgrenzung und die Suche der
jüngeren Generation nach ihrem eigenen Label von Erwachsenen in Verbindung gebracht mit
Gefährdungspotentialen, aus denen sie eine Schutzbedürftigkeit der Jüngeren ableiten, die
gleichzeitig ihre eigene Autorität legitimiert. Ein Problem der Erwachsenen wird sozusagen in
ein Problem der Jüngeren übersetzt. Sicherlich motivieren und unterstützen auch die Medien
selbst jenes menschliche Bestreben nach Abgrenzung und Einteilung, sind sie es doch, die
ihre Nutzer mit Labeln versehen, sie nach Lebensstilen und Konsumpräferenzen sortieren.

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Surette (2011:4) schreibt: ,,generations are often defined and [...] can be distinguished by the
media that is current during their youth." Volkmer (2006:91) benennt in ihrer Medienstudie
,,News in Public Memory" drei Generationen: die älteste Generation, die mit Print Medien
und Kinofilmen groß geworden ist und für die das Radio in ihrer Jugendzeit prägend war; die
mittlere Generation für die in den 1960er Jahren das Fernsehen neu war und die jüngste
Generation, die mit dem digitalen Personal Computer aufgewachsen ist. Als Radio und
Fernsehen noch jeweils omnipräsent waren, konnten diese Medien leicht einer Generation
zugeschrieben werden - jede Generation hatte gewissermaßen ihr eigenes prägendes Medium.
Was die Nutzung der Medien in den 1980er Jahren anbelangt, so wird hier bereits deutlich,
dass die Grenzen zwischen einzelnen Medien verschwimmen: das Fernsehen wurde zu einem
Massenphänomen, bei Radio, Plattenspieler und Kassettenrecorder kommen Mehrfachgeräte
hinzu, Video- und Computerspiele sowie der PC setzen sich durch, das Kino erlebt eine erste
Renaissance, in den 1990ern eine zweite, so dass sich während dieser Zeit die Mediennutzung
mehr und mehr individualisiert hat. Laut Jäckel (2010:248) werden insbesondere von älteren
Generationen, aber nicht nur von diesen, bestimmte aktuelle Lebensstile als Überforderung
erlebt. Egal welcher ,,Medien-Generation" die Jüngeren angehören mögen, jetzt ist offenbar
die Zeit, von der sie später vermutlich als "der guten alten" schwärmen werden. Es scheint als
ob die Zeit selbst, wie ein guter Wein mit dem Alter besser wird, aber in zunehmender
Betrachtung jedoch auch immer kürzer zu werden scheint. Benötigte das Telefon noch fast 75
Jahre, um weltweit 50 Millionen Nutzer zu erreichen, so waren es beim Radio nur noch 38
Jahre, beim Fernsehen allein 13 Jahre und beim Internet (gerechnet von der Einführung des
World Wide Web im Jahr 1992) sogar weniger als vier Jahre (vgl. Huurdeman, 2003:578).
Man möchte meinen die Jüngeren hätten noch alle Zeit der Welt, aber so wie es aussieht,
bekommen sie immer weniger davon, zumindest um sich an ein Medium zu gewöhnen. Die
,,Älteren" werden so gesehen paradoxerweise immer jünger und durchlaufen innerhalb einer
Generation mehrere technologische Umwälzungen in immer kürzerer Zeit. Während in den
frühen Jahren noch junge Erwachsene und Teenager die aktivsten Nutzer von ,,social media"
waren, gehört seit den letzten drei Jahren die ältere Generation zu der am schnellsten
wachsenden Gruppe, die digitale Technologien nutzen, um sich untereinander auszutauschen
und mediale Inhalte einzeln oder in Gemeinschaft zu gestalten. (vgl. Chui et al., 2012:23)
Wenn Medien so omnipräsent und multifunktional werden, wie dieser Trend vermuten lässt,
dann gleichen sich die Generationen untereinander immer mehr an bis eine medienspezifische
Charakterisierungen einzelner Gruppen nicht mehr möglich ist. Eine selbst konsensuelle
Zuschreibung verschiedener ,,Mediengenerationen" erübrigt sich in diesem Fall, da alle unter

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2013
ISBN (PDF)
9783961162178
ISBN (Paperback)
9783961167173
Dateigröße
596 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Fachhochschule Lausitz in Cottbus – Sozialwesen
Erscheinungsdatum
2018 (März)
Note
1,0
Schlagworte
digital Internet Denken Medien neuronal analog moral Technik Kompetenz Wahrnehmung
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Titel: Einfluss der digitalen (vernetzten) Welt auf unsere Wahrnehmung und unser Denken
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