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Das Konzept der „offenen Tür“ in der akutpsychiatrischen Regelversorgung und dessen Wirkungen auf die Zwangsmaßnahmen und -behandlung von Patienten in Reflexion gemeindeintegrierter Versorgungsangebote

©2017 Bachelorarbeit 98 Seiten

Zusammenfassung

Um die Selbstbestimmungsrechte und Autonomie der Patienten uneingeschränkt zu wahren sowie um auf Maßnahmen, die sich gegen den freien Willen der Betroffenen richten, weitestgehend zu verzichten, begeben sich fortschrittliche psychiatrische Kliniken zunehmend auf den Weg, die Psychiatrie zu verändern und zu reformieren. Das Konzept der „offenen Türen“ in der Akutpsychiatrie ist ein Thema, das aufgrund der ethischen Brisanz eine dringende Forderung verschiedener Reformansätze und Professionen ist. Der Paradigmenwechsel zu einer partnerschaftlichen und patientenorientierten Psychiatrie hat in den letzten Jahren zu einem Umdenken insbesondere in der akutpsychiatrischen Praxis geführt. Das Ziel des Wegs ist eine offene Psychiatrie, ohne institutionelle Gewalt und ohne institutionelle Diskriminierung, eine Psychiatrie, die weitestgehend auf Zwang in der Versorgung psychiatrischer Patienten verzichtet. Bisweilen arbeiten zahlreiche Kliniken mit diesen Konzept, dennoch gilt es mancherorts noch als unrealistische Vision, die Eingangstüren auf geschlossenen Stationen in psychiatrischen Einrichtungen zu öffnen.
Die vorliegende Arbeit setzt sich zum Ziel, die Öffnung von psychiatrischen Abteilung im Krankenhaus und einhergehende Konzepte auf institutioneller und organisatorischer Ebene in der akutpsychiatrischen Regelversorgung darzustellen und zu vergleichen. Außerdem soll in diesen Zusammenhang untersucht werden, inwieweit diese Ansätze dazu beitragen können, Zwangsmaßnahmen und -behandlungen von Patienten zu reduzieren.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


5.3
Kriterien für Zwang in der psychiatrischen Versorgung ... 39
5.3.1
Psychische Krankheit ... 39
5.3.2
Selbst- und Fremdgefährdung ... 40
5.3.3
Freie Willensbestimmung und Einwilligungsfähigkeit ... 41
5.4
Zwang in Zahlen und Stand der Forschung ... 43
5.5
Anwendung von Alternativmaßnahmen zur Reduktion von Zwang in der
akutpsychiatrischen Praxis ... 47
5.6
Mängel in der Praxis und Maßnahmen zur Reduktion von Zwang auf
struktureller und institutioneller Ebene ... 49
5.7
Zusammenfassung ... 52
6.
Besonderheiten in der psychiatrischen Akutversorgung und
Veränderungen auf der Struktur- und Organisationsebene ... 54
6.1
Stigmatisierung von psychiatrischen Akutpatienten ... 54
6.2
Die Krankenhauskultur auf psychiatrischen Akutstationen ... 56
6.3
Geschlossene versus offene Stationsführung in der akutpsychiatrischen
Regelversorgung ... 59
6.3.1
Rechtliche Aspekte ... 67
6.3.2
Reduktion von Zwangsmaßnahmen durch das Konzept
der ,,offenen Türen" ... 68
6.4
Konsequenzen für Struktur und Versorgung in der Psychiatrie ... 72
6.4.1
Darstellung einzelner Ansätze ... 72
6.4.1.1
Psychiatrisches Case Management ... 73
6.4.1.2
Home Treatment ... 75
6.4.1.3
Soteria-Ansatz ... 77
6.5
Zusammenfassung ... 78
7.
Zusammenfassung ... 81
8.
Ausblick ... 85
Literaturverzeichnis ... 86

Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Anzahl der Unterbringungsverfahren über Genehmigung und
Verlängerung nach Betreuungsrecht (§1906 Abs. 1,2 BGB)
von 2002-2015 ... 44
Abbildung 2: Anzahl aller betreuungsrechtlichen Unterbringungsmaßnahmen
nach §1906 Abs. 1,2,4 und §1904 BGB ... 44
Abbildung 3: Anzahl der öffentlich-rechtlichen Unterbringungsverfahren
(§312 Nr. 3 FamFG) von 2002-2015 ... 45
Abbildung 4: Mildere Maßnahmen und Alternativen zur Reduktion von Zwang
in einer akutpsychiatrischen Situation ... 49
Abbildung 5: Teufelskreislauf aus Strukturgewalt und Rebellion
(eigene Darstellung angelehnt an Lang) ... 58
Abbildung 6: Gründe für das Schließen von Stationen (n=193) ... 62
Abbildung 7: Übergriffen (7,7% versus 15,2%) und Zwangsmedikation
(4,8% versus 11,3%) bei Türöffnung ... 70

Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: ICD-10-WHO Version 2016, Psychische und Verhaltensstörungen ... 17
Tabelle 2: Säulen der gemeindepsychiatrischen Versorgung (eigene Darstellung) . 21
Tabelle 3: Grundprinzipien der Zwangsmaßnahmen adaptiert nach Steinert ... 32
Tabelle 4: Zwangsmaßnahmen und Zwangsmittel (eigene Darstellung) ... 32
Tabelle 5: Maßnahmen und Alternativen zur Reduktion von Zwang auf
struktureller und institutioneller Ebene ... 51
Tabelle 6: Gründe gegen geschlossene Stationen - Ein Überblick
(adaptiert nach Sollberger et al)... 61
Tabelle 7: geschlossene vs. offene Psychiatrie ... 66
Tabelle 8: Reduktion von Zwangsmaßnahmen durch das Konzept
der "offenen Tür" ... 71

Abkürzungsverzeichnis
APP ­ Ambulant Psychiatrische Pflege
BGB ­ Bürgerliches Gesetzbuch
DGPPN ­ Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde
DRG - Diagnostic Related Groups
GG - Grundgesetz
PEPP ­ Pauschalisierendes Entgeltsystem Psychiatrie und Psychosomatik
Psych-KG ­ Psychisch-Kranken-Gesetz
SGB ­ Sozialgesetzbuch
SLUB ­ Sächsische Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek
UN-BRK ­ UN-Behindertenrechtskonvention


1
1. Einleitung
,,Optimale Therapie kommt nur unter optimalen Bedingungen optimal zur Wirkung. Die
psychiatrischen Krankenhäuser und Kliniken müssen ihre allgemeinen Bedingungen, unter
denen sie therapieren, kritisch überprüfen. Die besonderen aus der Anstaltstradition über-
nommenen Maßnahmen, die den psychisch Kranken ,,anders" als einen anderweitig Er-
krankten im Krankenhaus behandeln, sind Zug um Zug zu beseitigen. Akut und chronisch
Kranke können zum überwiegenden Teil auf völlig offenen Krankenstationen geführt wer-
den. Entscheidend für die Öffnung der Krankenstation ist ein durchdachtes rehabilitatives
Heilregime, der fürsorgliche Geist des Personals, die damit geschaffene Heilatmosphäre
und die aktive Einstellung zur komplexen Therapie. Aus vorwiegend geschlossenen Heil-
und Pflegeanstalten haben sich vorwiegend offene psychiatrische Fachkrankenhauser zu
entwickeln. Das umfassende Sicherungsprinzip der Heil- und Pflegeanstalt muss einem
umfassenden Fursorgeprinzip des Fachkrankenhauses weichen."
1
Der Zusammenhang,
dass eine bedarfsgerechte Behandlung und Versorgung psychiatrisch erkrankter Men-
schen eng mit der Behandlungs- bzw. ,,Heilatmosphäre" und der Öffnung psychiatrischer
Stationen verbunden ist, wurde bereits Mitte der sechziger Jahre von den Psychiatrie-
Reformen und hier speziell durch die Rodewischer Thesen richtig erkannt und reflektiert.
Ein geschlossenes psychiatrisches Setting bedeutet Zwang. Und besonders in der Akut-
versorgung werden Zwangsmaßnahmen durchgeführt. Trotz der grundlegenden Verände-
rungen durch Reformen der letzten Jahrzehnte in den entwickelten Ländern bezüglich der
Behandlung von Patienten, ist Zwang in der deutschen Psychiatrie noch immer weit ver-
breitet.
2
Nach aktueller Studienlage sind insbesondere auf geschlossenen psychiatrischen
Akutstationen die Patienten von Zwangsmaßnahmen und Zwangsmedikation betroffen.
3
In
einer Stellungnahme der zentralen Ethikkommission der Deutschen Ärztekammer hat
1
Sächsisches Krankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Rodewisch: Rodewischer Thesen - Internatio-
nales Symposium über psychiatrische Rehabilitation vom 23.-25. Mai 1963 in Rodewisch S. 1.ff
https://www.skh-rodewisch.sachsen.de/fileadmin/user_upload/rodewisch/pdf/Publikationen/Rodewischer_
Thesen_1963.pdf(Zugriff am 24.07.2017)
2
Steinert, T., Noorthoorn, E. und C. Mulder: The use of coercive interventions in mental health care in
Germany and the Netherlands. A comparison of the developments in two neighboring countries. Front
Puplic Health 2014; 2: 141. Ketelsen R., Schulz M. und M. Driessen: Zwangsmaßnahmen im Vergleich an
sechs psychiatrischen Abteilungen. Gesundheitswesen 2011; 73: 105­111. Martin V., Kuster W. und M.
Baur et al.: Die Inzidenz von Zwangsmaßnahmen als Qualitätsindikator in psychiatrischen Kliniken. Prob-
leme der Datenerfassung und -verarbeitung und erste Ergebnisse. Psychiat Prax 2007; 34: 26­33. Stei-
nert T, Martin V. und M. Baur et al.: Diagnosis-related frequencies of compulsory measures in 10 German
psychiatric hospitals and correlates with hospital characteristics. Social Psychiatry and Psychiatric Epi-
demiollogy 2007; 42: 140­145. Steinert T., Lepping P. und R. Bernhardsgrütter et al.: Incidence of seclu-
sion and restraint in psychiatric hospitals: a literature review and survey of international trends. Social
Psychiatry and Psychiatric Epidemiollogy 2010; 45: 889­897.
3
Armgart, C., Schaub, M. und K. Hoffmann et al.: Negative Emotionen und Verständnis ­ Zwangsbehand-
lung aus Patientensicht. Psychiat Prax. 2013; 40 (5), S. 278-284. S. 278.

2
Wiesing im Deutschen Ärzteblatt formuliert, dass das Bewusstsein, das jede Zwangsbe-
handlung sowie jede Zwangsmaßnahme einen gravierenden Grundrechtseingriff darstellt,
nicht durchgängig bei den in der Psychiatrie interagierenden Akteuren in ausreichenden
Maß vorhanden zu sein scheint.
4
Das Statement und die ethische Brisanz dieses Themas
wirft auf, dass es noch immer Mängel sowie einen großen Handlungsbedarf in der psychi-
atrischen Praxis gibt.
Vor diesem Hintergrund entstand ein Umdenken hin zu einer Psychiatrie, die sich beson-
ders davon abhebt, Zwang, Türschließung, Restriktion und Isolation in der Behandlung
psychiatrisch erkrankter Menschen zu reduzieren.
5
Zwang kann vermutlich in der Psychiat-
rie nicht vollständig vermieden werden, allerdings können Zwangsmaßnahmen durch be-
stimmte Maßnahmen, beispielswiese durch eine frühere Aufnahme einer tragfähigen the-
rapeutischen Beziehung, maßgeblich reduziert werden. Die Lösung dieses Problems
könnte das Konzept der "offenen Tür" in der Psychiatrie sein, welches in den letzten Jah-
ren oft diskutiert wurde und in bereits mindestens zwanzig Kliniken (von insgesamt ca. 400
psychiatrischen Kliniken in Deutschland) praktiziert wird.
6
Doch nicht allein das Öffnen von
Stationen kann alle Probleme augenblicklich lösen. Psychiatrische Stationen offen zu füh-
ren erfordert im besonderen Maße, neben optimalen Behandlungsbedingung im Kranken-
haus, auch angemessene Unterstützungsangebote außerhalb der Klinik. Es erfordert die
Einbettung in die sozialen Strukturen der Gemeinde. Das bedeutet beispielsweise, dass
die Betroffenen schon während des Klinikaufenthaltes bereits Zugang zu gemeindeinte-
grierten, ambulanten und komplementären Angeboten erhalten oder versucht wird, akut-
psychiatrische Patienten generell länger im ambulanten und häuslichen Setting zu halten,
zu behandeln und zu versorgen, anstatt die Betroffenen stationär zu isolieren. Neue Mo-
dellprojekte sind von Nöten, um den Patienten ohne Beziehungsabbrüche dort zu behan-
deln, wo sie es möchten.
7
Die Psychiatrie steht deshalb auch in Zukunft vor großen Aufgaben und Herausforderun-
gen, um sie als ein modernes medizinisches Fach zu positionieren, zu entstigmatisieren
und um die Selbstbestimmungsrechte und Autonomie der Patienten zu wahren.
4
Bundesärztekammer: Stellungnahme der zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in
der Medizin und ihren Grenzgebieten (Zentrale Ethikkommission) bei der Bundesärztekammer. Zwangs-
behandlung bei psychischen Erkrankungen. Deutsches Ärzteblatt. 2013; 110: 1334-1338, S. 1335.
5
Marschner, R.: Verbringung statt Unterbringung. Recht und Psychiatrie. 2017; 35: 62.
6
Zinkler, M.: Zur Vision einer gewaltfreien Psychiatrie. In: Zinkler, M., Laupichler, K. und M. Osterfeld
(Hrsg.): Prävention von Zwangsmaßnahmen. Menschenrechte und therapeutische Kulturen in der Psychi-
atrie. Köln (Psychiatrie). 2016. S.220-229. S. 225. Zinkler, M. und P. W. Nyhuis: Offene Türen in der All-
gemeinpsychiatrie: Modelle und Standards. Recht und Psychiatrie. 2017; 35: 63-67. S. 64.
7
Zinkler, M. und P. W. Nyhuis: Offene Türen in der Allgemeinpsychiatrie: Modelle und Standards. Recht
und Psychiatrie. 2017; 35: 63-67. S. 66.

3
2. Ziele der Arbeit und methodisches Vorgehen
2.1
Zielsetzung und Fragestellung
Um die Selbstbestimmungsrechte und Autonomie der Patienten uneingeschränkt zu
wahren sowie um auf Maßnahmen, die sich gegen den freien Willen der Betroffenen
richten, weitestgehend zu verzichten, begeben sich fortschrittliche psychiatrische Klini-
ken zunehmend auf den Weg, die Psychiatrie zu verändern und zu reformieren. Das
Konzept der ,,offenen Türen" in der Akutpsychiatrie, ein Thema, das nicht nur Gegen-
stand dieser Arbeit ist, sondern aufgrund der ethischen Brisanz eine dringende Forde-
rung verschiedener Reformansätze und Professionen.
8
Der Paradigmenwechsel, zu ei-
ner partnerschaftlichen und patientenorientierten Psychiatrie, hat in den letzten Jahren
zu einem Umdenken insbesondere in der akutpsychiatrischen Praxis geführt. Das Ziel
des Wegs ist eine offene Psychiatrie, ohne institutionelle Gewalt und ohne institutionelle
Diskriminierung, eine Psychiatrie die weitestgehend auf Zwang in der Versorgung psy-
chiatrischer Patienten verzichtet.
9
Bisweilen arbeiten zahlreiche Kliniken mit diesen Kon-
zept, dennoch gilt es mancherorts noch als unrealistische Vision, die Eingangstüren auf
geschlossenen Stationen in psychiatrischen Einrichtungen zu öffnen.
10
Die vorliegende
Bachelorarbeit setzt sich zum Ziel, die Öffnung von psychiatrischen Abteilung im Kran-
kenhaus und einhergehende Konzepte auf institutioneller und organisatorischer Ebene in
der akutpsychiatrischen Regelversorgung darzustellen und zu vergleichen. Außerdem
soll in diesen Zusammenhang untersucht werden, inwieweit diese Ansätze dazu beitra-
gen können Zwangsmaßnahmen und ­behandlungen von Patienten zu reduzieren. Dar-
über hinaus werden folgende Gesichtspunkte und einhergehende Fragestellungen im
Rahmen der Bachelorarbeit Gegenstand der näheren Betrachtung sein.
Psychiatrische Einrichtungen, die mit offenen Eingangstüren arbeiten, stehen vor eini-
gen rechtlichen Fragen. Aus diesem Grund stellt sich die Frage, ob das Konzept der
,,offenen Türen" überhaupt rechtlich zulässig ist und beispielweise gerichtliche Unter-
bringung trotz geöffneter Türen durchgeführt werden können.
8
Bundesärztekammer: Stellungnahme der zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in
der Medizin und ihren Grenzgebieten (Zentrale Ethikkommission) bei der Bundesärztekammer. Zwangs-
behandlung bei psychischen Erkrankungen. Deutsches Ärzteblatt. 2013; 110: 1334-1338.
9
Zinkler, M.: Zur Vision einer gewaltfreien Psychiatrie. In: Zinkler, M., Laupichler, K. und M. Osterfeld
(Hrsg.): Prävention von Zwangsmaßnahmen. Menschenrechte und therapeutische Kulturen in der Psychi-
atrie. Köln (Psychiatrie). 2016. S. 220-227. S. 227. Sollberger, D. und U. Lang: Psychiatrie mit offenen
Türen. Teil 2: Therapeutische Herausforderung. Nervenarzt 2013; 85: 1-7. S. 6.
10
Zinkler, M. und P. W. Nyhuis: Offene Türen in der Allgemeinpsychiatrie: Modelle und Standards. Recht
und Psychiatrie. 2017; 35: 63-67. S. 63.

4
Anhand der einschlägigen Literatur zeigt sich, dass bisweilen noch immer Missstände
und Mängel in der psychiatrischen Versorgung, einschließlich geschlossener Akutstati-
onen, vorzuliegen scheinen.
11
Noch immer sind Menschen mit psychiatrischen Störun-
gen gegenüber Menschen mit somatischen Krankheiten nicht gleichberechtigt. Psychi-
atrisch Erkrankte sind weiterhin bedroht von Diskriminierung und Stigmatisierung.
12
In
diesem Kontext stellt sich insbesondere die Frage, wie genau Patienten, die in der ge-
schlossenen Akutpsychiatrie behandelt werden, stigmatisiert und diskriminiert werden.
Ein vorrangiges Problem in der Akutversorgung psychiatrisch Erkrankter, stellt außer-
dem Zwang dar. In den letzten Jahren sind die Zahlen von Zwangsunterbringungen,
Zwangsmaßnahmen und -behandlungen in Deutschland eindrucksvoll gestiegen.
13
Insbesondere im Bereich der Psychiatrie, werden gerade hier Fragen bezüglich der
Patientenautonomie und Selbstbestimmungsrechte unter dem Aspekt drohender
Zwangsmaßnahmen aufkommen. Zu beantworten sind daher die Fragen, unter wel-
chen rechtlichen Voraussetzungen Zwangsbehandlungen und ­maßnahmen in der
Psychiatrie möglich sind, welche Alternativmaßnahmen von psychiatrischen Einrich-
tungen ergriffen werden, um Zwang in der Behandlung von Patienten zu reduzieren
und welche strukturellen und institutionellen Mängel in der psychiatrischen Versorgung
im Kontext von Zwang vorliegen.
Ein Weg die strukturellen und institutionellen Mängel zu beseitigen würde eine psychi-
atrische Praxis bieten, die insbesondere in Akut- und Notfallsituationen neue Wege
gegenüber Fixierungen, Isolationen oder Zwangsmedikation bestreitet.
14
Für diese
Umsetzung bedarf es außer der offenen Türen bestimmte strukturelle Vorrausetzungen
und Rahmenbedingungen im psychiatrischen Versorgungssystem. Denn eine ,,offene"
Psychiatrie zeichnet sich im Besonderen durch die Offenheit zur Gemeinde hin aus
sowie in deren soziale Strukturen. Abschließend bleibt daher noch die Frage, welche
strukturellen Konsequenzen das Konzept der ,,offenen Türen" mit sich bringt, um den
gemeindepsychiatrischen und integrierten Versorgungsansatz einer modernen Psychi-
atrie zu erfüllen.
11
Siehe Kapitel 3.1 und 5.6
12
Siehe Kapitel 6.1
13
Siehe Kapitel 5.4
14
Steinert, T.: Zwangsmaßnahmen aus der Perspektive der klinischen Psychiatrie: Evidenz und Good
Clincal Practise. In: Henking, T. und J. Vollmann: Zwangsbehandlung psychisch kranker Menschen. Ein
Leitfaden für die Praxis. Berlin (Springer) 2015, S. 1-17. S. 15.

5
2.2
Literaturrecherche
Die Grundlage für die hier vorliegende Arbeit bildet die relevante Literatur. Es wurden die
gefundenen Ergebnisse aus der Forschung recherchiert, analysiert und ausgewertet. Die
Literaturrecherche erfolgte über die Sächsische Landesbibliothek ­ Staats- und Universi-
tätsbibliothek (SLUB), die Bibliothek der Berufsakademie Dresden und der Evangeli-
schen Hochschule Dresden (EHS) sowie im Verlauf auch über Fachdatenbanken, wie
Medline, Wiso, Pubmed und Cinahl. Ergänzend dazu erfolgte die Recherche im Internet
nach relevanten Fachzeitschriftenartikeln, Studien, grauer Literatur und anderen wissen-
schaftlichen Publikationen. Gesucht wurde hauptsächlich nach deutsch- und partiell nach
englischsprachiger Literatur.
Zunächst ging es bei der Recherche um das (akut-)psychiatrische Versorgungssystem in
Deutschland und dessen vorhandene Rahmenbedingungen im Zusammenhang mit dem
Konzept der ,,offenen Tür". Vor diesem Hintergrund wurde zusätzlich Literatur recher-
chiert, die Aspekte zu Zwang in der psychiatrischen Versorgung einschließt sowie nach
Literatur, die sich insbesondere mit alternativen und ,,neuen" Versorgungsformen und ­
ansätzen im vor- bzw. nachstationären Setting in der Versorgung psychiatrischer Patien-
ten auseinandersetzt.
Um die passenden Publikationen auf den (OPAC/Beta)Suchplattformen der Bibliotheken
ausfindig zu machen, erfolgte die Recherche mit deutschen und englischen Suchbegrif-
fen. Als Schlagworte wurde deutschsprachig unter anderem nach ,,offene Psychiatrie",
,,Konzept der offenen Tür", ,,psychiatrisches Behandlungssetting", ,,Versorgung Akutpsy-
chiatrie",
,,Psychiatriereformen",
,,Gemeindepsychiatrie",
,,Zwangsbehandlung",
,,Zwangsmaßnahmen", ,,Zwangsmedikation", ,,Stigmatisierung psychisch Kranker" sowie
englischsprachig nach ,,Locked door policy", ,,Acute psychiatric inpatient", ,,Home Treat-
ment", ,,Psychiatry with open doors" und ,,machanical restraint and seclusion" gesucht.
Mit Hilfe der oben genannten Suchbegriffe ergab die Recherche eine Vielzahl wissen-
schaftlicher Publikationen in Form von Primärliteratur, Herausgeberbüchern, Monogra-
phien und Fachzeitschriftenartikel. Besonders im Hinblick auf den thematischen Schwer-
punkt ,,offene Psychiatrie", konnte ein Großteil relevanter Artikel in Fachzeitschriften, wie
,,Der Nervenarzt", ,,Psychiatrische Praxis", ,,Recht und Psychiatrie", ,,Psychiatrische Pfle-
ge heute" oder in der ,,Ärzte Zeitung" gefunden werden. In den Publikationen handelte es
sich meist um Rationale für Türöffnungen in der Akutpsychiatrie und dessen Umsetzung
in die psychiatrische Praxis. Die Recherche in Bezug auf die Umsetzung diverser Ansät-
ze und Versorgungsformen wurde auf den deutschsprachigen Raum begrenzt.

6
3. Reformen in der Psychiatrie und der aktuelle Stand in Deutschland nach
den Reform-Beschlüssen und -Verfahren
In der Folge einer harschen Kritik
15
gegenüber der traditionellen Psychiatrie mit ihren
menschenverachtenden Strukturen sowie den teilweise menschenunwürdigen Zustän-
den, die von kritischen und oppositionellen gesellschaftlichen Gruppen vorgebracht
wurden und sich ­ teilweise in Anlehnung an die Ansätze der Antipsychiatrie ­ gegen
traditionelle Profession und Institution richtete, kam es in der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts in beiden Teilen Deutschlands zu Reformbewegungen und einhergehend
enormen Umbrüchen.
16
Reformansätze in beiden Ländern stellten im Rahmen ihrer
Erarbeitung unter anderem Mängel und Menschenrechtsverletzung in der psychiatri-
schen Versorgung fest. Vor diesem Hintergrund wurden Strukturen, Institutionen sowie
das professionelle Handeln und Denken aller Akteure im psychiatrischen Kontext bis
zum heutigen Zeitpunkt geprägt. Eine bedeutsame Rolle spielten hier die Psychiatrie-
Enquête und die Rodewischer Thesen.
17
Einen weiteren menschenrechtlich begründeten Auftrag formuliert die in Deutschland
2009 in Kraft getretene UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderun-
gen (UN-BRK). Durch das Inkrafttreten des Übereinkommens wurden fünfunddreißig
Jahre nach den Psychiatriereformen die Freiheits- und Selbstbestimmungsrechte psy-
chiatrisch erkrankter Menschen erneut ins Bewusstsein der Gesellschaft und der Psy-
chiatrietätigen gerückt und führte unter anderem dazu, gegenwärtige Praktiken in der
Psychiatrie sowie gesetzliche Regelungen vor dem Aspekt der allgemeinen Menschen-
rechte kritisch zu hinterfragen.
15
Es hat lange gedauert, bevor die Missstände und Verhältnisse in den Psychiatrien von Gesellschaft und
Politik wahrgenommen wurden. Personen, wie Anstaltsärzte oder Professoren, die die damaligen Miss-
stände in den psychiatrischen Einrichtungen anprangerten und sich an die Öffentlichkeit wendeten, erhiel-
ten Disziplinarverfahren und Redeverbote. Die öffentliche Kritik und Interesse an diesem Thema nahm
trotz der Redeverbote zu. Ein Teil dazu beigetragen hat das (Skandal-)Buch ,,Irrenhäuser" von Frank Fi-
scher. Er forderte in seinem Buch die Gesellschaft und Politik auf, der miserablen Versorgungssituation in
den Psychiatrien ein Ende zu bereiten. Dieses Buch hatte eine durchschlagende Wirkung. Fischer be-
schreibt die Anstaltsrealität und die verschiedenen Formen der Unterdrückung und Inhumanität. (Fischer,
F.: Irrenhäuser. München (Desch) 1969. Finzen, A.: Auf dem Wege zur Reform: Die Psychiatrie-Enquete
wird 40. Psychiatrische Praxis. 2015; 42: S. 392-396. S. 394.)
16
Finzen, A.: Auf dem Wege zur Reform: Die Psychiatrie-Enquete wird 40. Psychiatrische Praxis. 2015;
42: 392-396. S. 392.
17
Nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Ländern der Europäischen Union gab es Reformprozesse in
den letzten Jahren - weg von den psychiatrisch institutionellen Modellen hin zu einer Dezentralisation bzw.
hin zu gemeindepsychiatrischen Diensten. (Psychiatrienetz: Ergebnisse der Psychiatriereformen in Europa
­ Ein Überblick. http://www.psychiatrie.de/index.php?id=1187&type=123 (Zugriff am 19.04.2017))

7
3.1
Psychiatrie-Enquête
Zu Beginn der 70er Jahre beschäftigte sich eine Gruppe von Experten im Auftrag des
Deutschen Bundestages mit der psychiatrischen Versorgung und präsentierte am 25.
November 1975 den ,,Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik
Deutschland", auch Psychiatrie-Enquête genannt.
18
Hintergrund und Anlass waren die
inhumanen und menschenunwürdigen Bedingungen
19
, die in den psychiatrischen
Großkrankenhäusern bzw. Anstalten zum damaligen Zeitpunkt herrschten sowie die
einhergehend immer lauter werdende Kritik seitens der Gesellschaft. Die damalige
Anstalts-Realität war geprägt davon, die dort befindlichen Patienten teils lebenslang
gesellschaftlich zu isolieren und zu entmündigen. Dazu beigetragen hat der Umstand,
dass die psychiatrischen Anstalten meist nur in abgelegenen Orten vorzufinden waren,
was eine angemessene Vor- und Nachsorge im Rahmen einer gemeindenahen Ver-
sorgung und Integration der Patienten nahezu unmöglich machte. Des Weiteren lag die
Verweildauer laut der Enquête bei über 60% der Patienten bis zwei Jahre und bei über
30% der Patienten sogar länger als zehn Jahre.
20
Die Betroffenen wurden dabei in
großen Schlafsälen mit bis zu siebzig Betten, ohne jegliche Privatsphäre und unzu-
mutbarer sanitärer Einrichtung lediglich verwahrt, anstatt behandelt oder rehabilitiert.
21
Deshalb stand für die Kommissionsarbeit der Enquête zunächst das Ziel, den Mangel
in der Versorgung, also die menschenunwürdigen und teilweise unmenschlichen Ver-
hältnisse in den Krankenhäusern zu beseitigen.
22
Die Zustände sollten sich zwar vor dem Hintergrund der Reformprozesse radikal ver-
bessern, allerdings konnte sich die Kommission nicht dazu entschließen, anders als in
England zwanzig Jahre zuvor, die psychiatrischen Großkrankenhäuser aufzulösen und
18
Die Expertengruppe bestand aus 24 Männern und zwei Frauen, welche überwiegend etablierte Psychiater
aus Universitäten und Anstalten, Vertreter aus Landesministerien sowie Vertretern des Berufsverbandes für
niedergelassene Nervenärzte waren. (Finzen, A.: Auf dem Wege zur Reform: Die Psychiatrie-Enquete wird
40. Psychiatrische Praxis. 2015; 42: 392-396. S. 394. Deutscher Bundestag: Drucksache 7/4200: Bericht
über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland ­ Zur psychiatrischen und psychotherapeu-
tischen/psychosomatischen Versorgung der Bevölkerung. Bonn (Dr. Hans Heger). 1975.)
19
Frank Fischer beschrieb die Anstaltsrealität wie folgt (Stichworte): ,,12 Wochen in einem Raum einge-
sperrt, Fixierungen mit Lederriemen, Herumsitzen und Leerlauf, eintöniger Alltag, erzwungene Untätigkeit,
Rauchen und Essen als Lebensinhalt, fehlende Kontakte zur Außenwelt, Postzensur, Brutalität und Grau-
samkeit im Umgang mit Kranken, Verhalten von Pflegern (Schlüsselrasseln) und Ärzten, unterdrückende
und inhumane Anstaltsatmosphäre, starke Medikamentendosis, schmierige kotbekleckste Toiletten etc."
(Fischer, F.: Irrenhäuser. München (Desch) 1969.)
20
Deutscher Bundestag: Drucksache 7/4200: Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik
Deutschland ­ Zur psychiatrischen und psychotherapeutischen/psychosomatischen Versorgung der Be-
völkerung. Bonn (Dr. Hans Heger). 1975. S. 11.
21
Finzen, A.: Auf dem Wege zur Reform: Die Psychiatrie-Enquete wird 40. Psychiatrische Praxis. 2015;
42: 392-396. S. 394.
22
Deutscher Bundestag: Drucksache 7/4200: Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik
Deutschland ­ Zur psychiatrischen und psychotherapeutischen/psychosomatischen Versorgung der Be-
völkerung. Bonn (Dr. Hans Heger). 1975. S. 16 ff.

8
in dezentrale und lebensortnahe Einrichtungen umzustrukturieren.
23
Die psychiat-
rischen Anstalten sollten weiterbestehen, allerdings vom Grunde verändert werden.
Zum einen sollte die Bettenanzahl signifikant reduziert werden, von mehreren tausend
auf maximal 400 bis 500 Betten, und zum anderen sollten aus den Anstalten therapeu-
tische Einrichtungen entstehen. Des Weiteren war das Ziel, in bestehenden Allgemein-
krankenhäusern psychiatrische Abteilungen zu etablieren als Ergänzung zur psychiat-
rischen Vollversorgung. Daneben forderte die Enquête, psychiatrische Einrichtungen
zu dezentralisieren, Alternativen zu entwickeln, psychiatrische Hilfsangebote vermehrt
gemeindenah und ambulant, beispielsweise durch Tageskliniken, teilstationäre Einrich-
tungen sowie sozialpsychiatrische- und ambulante Dienste anzubieten. Zur Sicherstel-
lung der Koordinierung psychiatrischer Aktivitäten sollten Versorgungssektoren
24
mit
150.000 bis 300.000 Einwohnern entstehen.
25
Die zentralen Leitideen und Ziele der
Psychiatriereform durch die Enquête sind im Überblick:
26
Aufbau eines bedarfsgerechten Versorgungssystems mit Angeboten durch am-
bulante und komplementäre Dienste im Lebensumfeld der Betroffenen
gemeindenahe und dezentralisierte Versorgung (nach dem Prinzip: ambulant
vor stationär)
Koordination und Zusammenwirken der multiprofessionellen Dienste und aller
beteiligten Berufe im Versorgungsystem
Umstrukturierung der großen psychiatrischen Krankenhäuser
getrennte Versorgung psychiatrischer Patienten und geistig Behinderten
Gleichstellung psychisch und somatisch Kranker
In den letzten vier Jahrzehnten nach Veröffentlichung der Psychiatrie-Enquête, die
Grundlage und Ausgangspunkt für die Reform der psychiatrischen Versorgung in
Deutschland war, hat sich Vieles verändert. Insbesondere die groben Missstände und
hier explizit die menschenunwürdigen Zustände wurden in den Großkrankenhäusern
23
In England vollzog sich die Psychiatriereform relativ früh im Jahr 1948. Die Reform betraf bevorzugt die
Großkrankenhäuser, die in Frage gestellt worden. Daraufhin wurden Krankenhäuser renoviert, das ,,open-
door-system" wurde eingeführt, also die abteilungsweise Öffnung psychiatrischer Stationen. Des Weiteren
kamen alternative Behandlungsangebote, wie ambulante und häusliche Versorgung hinzu und neue teil-
stationäre Einrichtungen. Die britische Psychiatrie orientierte sich schon früh an einer gemeindenahen
Versorgung. (Schott, H. und R. Tölle: Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren Irrwege Behandlungs-
formen. München (Beck) 2006. S. 307.)
24
Versorgungsektoren steht synonym für Einzugsgebiete
25
Finzen, A.: Auf dem Wege zur Reform: Die Psychiatrie-Enquete wird 40. Psychiat Prax. 2015; 42: 392-396.
26
Deutscher Bundestag: Drucksache 7/4200: Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik
Deutschland ­ Zur psychiatrischen und psychotherapeutischen/psychosomatischen Versorgung der Bevölke-
rung. Bonn (Dr. Hans Heger). 1975. S. 16 ff. Armbruster, J., Dietrich, A., Hahn, D. und K. Ratzke (Hrsg.): 40
Jahre Psychiatrie-Enquête. Blick zurück nach vorn. Köln (Psychiatrie). 2015. S. 17 ff. Finzen, A.: Auf dem
Wege zur Reform: Die Psychiatrie-Enquête wird 40. Psychiatrische Praxis. 2015; 42: S. 392-396.

9
überwunden.
27
Darüber hinaus ist das heutige System an Behandlungs- und Unterstüt-
zungsangeboten für psychiatrisch erkrankte Menschen deutlich vielfältiger, dafür aber
auch wesentlich unübersichtlicher geworden. Allerdings sind einige wichtige Punkte
der Reform offen geblieben.
28
Die einschlägige Literatur zeigt, dass die Zielformulie-
rungen der Enquête nicht oder nur zum Teil erfüllt worden sind und noch immer Miss-
stände und Mängel in der psychiatrischen Versorgung vorzuliegen scheinen. Dazu
gehören beispielsweise:
29
zu hoher Anteil an geschlossenen Stationen bzw. Aufbau psychiatrischer Abtei-
lungen in Allgemeinkrankenhäusern, die auf geschlossene Türen verzichten
zu hoher Anteil an Zwangsunterbringungen
Gleichstellung psychisch und somatisch Kranker in rechtlicher, finanzieller und
sozialer Hinsicht
mangelnde Kooperation und Koordination aller beteiligten Akteure und Dienste
Aufbau eines bedarfsgerechten gemeindenahen Versorgungssystems mit am-
bulanten und komplementären Angeboten mit aufsuchendem Charakter
unzureichende ambulante Behandlungsmöglichkeiten
unzureichender Ausbau und unzureichende Angebote des Nachsorgesystems
fehlende psychotherapeutische Angebote, insbesondere in der stationären Ver-
sorgung
noch häufig geschlechterspezifische Stationen
ungünstige geografische Lage einiger Fachkrankenhäuser für die Bevölkerung
Das Anliegen der Enquête war zudem, Zwang in der Psychiatrie zu reduzieren. Die
Enquête traf zwar keine speziell erarbeiteten Strategien zur Zwangsvermeidung und ­
Reduktion, doch sie hat zu Teilen auch dazu geführt, dass spezifische Untersuchungen
zum Thema Zwang und deren Anwendung angeregt wurden.
30
Daneben traf die En-
27
Finzen, A.: Auf dem Wege zur Reform: Die Psychiatrie-Enquête wird 40. Psychiatrische Praxis. 2015;
42: S. 396. Armbruster, J., Dietrich, A., Hahn, D. und K. Ratzke (Hrsg.): 40 Jahre Psychiatrie-Enquête.
Blick zurück nach vorn. Köln (Psychiatrie). 2015. S. 11 ff.
28
Bühring, P.: Psychiatrie-Reform: Auf halben Weg stecken geblieben. Deutsches Ärzteblatt. 2001; 98(6):
301-310.
29
Aichele, V.: Menschenrechte und Psychiatrie. In: Zinkler, M., Laupichler, K. und M. Osterfeld (Hrsg.):
Prävention von Zwangsmaßnahmen. Menschenrechte und therapeutische Kulturen in der Psychiatrie.
Köln (Psychiatrie). 2016. S. 18-40. S. 27 ff. Arolt, V., Reimer, C. und H. Dilling: Basiswissen Psychiatrie
und Psychotherapie. Berlin Heidelberg New York (Springer). 2011. S. 368. Armbruster, J., Dietrich, A.,
Hahn, D. und K. Ratzke (Hrsg.): 40 Jahre Psychiatrie-Enquête. Blick zurück nach vorn. Köln (Psychiatrie
Verlag).2015. S. 35 ff.
30
Aichele, V.: Menschenrechte und Psychiatrie. In: Zinkler, M., Laupichler, K. und M. Osterfeld (Hrsg.):
Prävention von Zwangsmaßnahmen. Menschenrechte und therapeutische Kulturen in der Psychiatrie.
Köln (Psychiatrie). 2016. S. 18-40. S. 27 ff.

10
quête wichtige Aussagen dazu, psychiatrisches Handeln grundsätzlich auf menschen-
rechtlich unbedenkliche Weise zu beschreiten, was die Thematik Zwang in der psychi-
atrischen Versorgung grundsätzlich inkludiert.
31
3.2
Rodewischer Thesen
Auch in der damaligen DDR kam es zwölf Jahre vor der Psychiatrie-Enquête der Bun-
desrepublik Deutschland zu einer Reformbewegung.
32
Vom 23. - 25. Mai 1963 fand in
Rodewisch ein Symposium statt, in dem von einer Gruppe internationaler Experten im
Bereich der Psychiatrie wissenschaftlich begründete Therapieempfehlungen formuliert
wurden.
33
Die Aussagen der Rodewischer Thesen bildeten die Grundlage für eine hu-
manere Versorgung von Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen und forderten
eine Verbesserung der Situation der Psychiatrie in der DDR. Gefordert wurde im Ein-
zelnen:
34
eine ,,komplexe Therapie", die eine Anwendung von Psychopharmaka, Arbeits-
therapie bis hin zu gruppentherapeutischen Verfahren beinhalten soll
Öffnung psychiatrischer Stationen für den überwiegenden Teil der akut und
chronisch Kranken, die Voraussetzung für die Öffnung der Stationen sei ein
,,durchdachtes rehabilitatives Heilregime, der fürsorgliche Geist des Personals,
die damit geschaffene Heilatmosphäre und die aktive Einstellung zur komple-
xen Therapie. Aus vorwiegend geschlossenen Heil- und Pflegeanstalten haben
sich vorwiegend offene psychiatrische Fachkrankenhäuser zu entwickeln. Das
umfassende Sicherungsprinzip der Heil- und Pflegeanstalt muss einem umfas-
senden Fürsorgeprinzip des Fachkrankenhauses weichen."
Differenzierung der Stationen nach akut und chronischen Kranken sowie die
Trennung von Jugend- und Altersstationen
Verbesserung der personellen, materiellen und intentionellen Bedingungen in
den psychiatrischen Krankenhäusern
31
Demzufolge unter Einhaltung der Menschenrechte, also der Rechte die jedem Menschen gleicherma-
ßen zustehen.
32
Die Psychiatrie-Enquête war als Reformprozess im Vergleich zu den Rodewischer Thesen weitreichen-
der und wird aufgrund ihres Stellenwertes in diesem Kapitel zu Beginn angeführt.
33
Jachertz, N.: Sozialpsychiatrie in der DDR: Die unvollendete Reform. Deutsches Ärzteblatt. 2001; 110
(38): 1732 ­ 1733.
34
Sächsisches Krankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Rodewisch: Rodewischer Thesen - Internatio-
nales Symposium über psychiatrische Rehabilitation vom 23.-25. Mai 1963 in Rodewisch S. 1.ff
https://www.skh-rodewisch.sachsen.de/fileadmin/user_upload/rodewisch/pdf/Publikationen/Rodewischer_
Thesen_1963.pdf(Zugriff am 24.07.2017). Schmiedebach, H., Beddies, T., Schulz, J. und S. Priebe: Offe-
ne Fürsorge ­ Rodewischer Thesen ­ Psychiatrie-Enquête: Drei Reformansätze im Vergleich. Psychiat
Prax. 2000; 110(38): 1732 ­ 1733.

11
Ausbau bzw. Aufbau von Nachsorgeangeboten, wie ambulante und komple-
mentäre Dienste
Vermeidung einer gesellschaftlichen Intoleranz gegenüber psychisch kranken
Menschen sowie
eine stringente Reduzierung von Zwangsmaßnahmen vor dem Hintergrund,
,,psychisch Kranke in der Öffentlichkeit zu diffamieren und sie außerhalb der
Gesellschaft zu stellen."
Auch die Psychiatrie-Reform der DDR läutete eine Kehrtwende in der psychiatrischen
Versorgung ein. Der Tenor lag auf der Abschaffung einer ,,Verwahrpsychiatrie" bis hin
zur Öffnung psychiatrischer Stationen und der sozialen Integration der Betroffenen
durch den Aufbau von ambulanten und komplementären Diensten. Eine konsequente
Umsetzung der Ziele, insbesondere die Etablierung einer flächendeckenden dezentral-
isierten Behandlungsstruktur, gelang auch bei den Rodewischer Thesen nicht vollstän-
dig.
35
Kumbier et al. sind der Überzeugung, dass aufgrund des politischen Systems,
der schlechten wirtschaftlichen Lage der DDR, einer fehlenden öffentlichen Problem-
analyse und Diskussion sowie des fehlenden Engagements vieler Psychiater eine
nachhaltige Versorgungsverbesserung in der gesamten DDR ausblieb.
36
3.3
UN-Behindertenrechtskonvention
Die sogenannte UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), ist ein Menschrechts-
übereinkommen der Vereinten Nationen, welches 2008 in Kraft getreten ist.
37
Im Jahr
2009 wurde die UN-BRK auch in Deutschland ratifiziert und demzufolge geltendes
Recht.
38
Ziel der UN-BRK ist es, die allgemeinen Menschrechte auch für behinderte
Menschen zu stärken, um eine selbstbestimmte und diskriminierungsfreie Teilhabe in
35
Zedlick, D.: Psychiatriereform in der DDR. In: Armbruster, J., Dietrich, A., Hahn, D. und K. Ratzke (Hrsg.):
40 Jahre Psychiatrie-Enquete. Blick zurück nach vorn. Köln (Psychiatrie). 2015, S. 103-121. S. 114 ff.
36
Kumbier, E. Haack, K. und H. Steinberg: 50 Jahre Rodewischer Thesen ­ Zu den Anfängen sozialpsy-
chiatrischer Reformen in der DDR. Psychiat Prax. 2013; 40(6): S. 313-320. Zedlick, D.: Psychiatriereform in
der DDR. In: Armbruster, J., Dietrich, A., Hahn, D. und K. Ratzke (Hrsg.): 40 Jahre Psychiatrie-Enquete. Blick
zurück nach vorn. Köln (Psychiatrie). 2015, S. 103-121. S. 115 ff.
Zedlick, D.: Psychiatriereform in der DDR.
In: Armbruster, J., Dietrich, A., Hahn, D. und K. Ratzke (Hrsg.): 40 Jahre Psychiatrie-Enquete. Blick zurück
nach vorn. Köln (Psychiatrie). 2015, S. 103-121. S. 115 ff.
37
https://www.behindertenrechtskonvention.info (Zugriff am 26.03.2017)
38
Olzen, D.: Die Auswirkung der UN-Behindertenrechtskonvention auf die Unterbringung und Zwangsbe-
handlung nach § 1906 BGB und §§ 10 ff. PsychKG NRW. 2009. S 1.
https://www.dgppn.de/fileadmin/user_upload/_medien/download/pdf/Gutachten/gutachten-zur-
behindertenrechtskonvention.pdf (Zugriff am 27.03.2017)

12
der Gesellschaft zu ermöglichen. Im Sinne der UN-BRK gehören zu den Menschen mit
Behinderungen auch Menschen, die an (chronischen) psychiatrischen Erkrankungen
und Störungen leiden.
39
Demnach besteht ein direkter Zusammenhang zwischen den
Bestimmungen der UN-BRK und der Behandlung psychiatrisch erkrankter Menschen.
40
Im Kontext der Versorgung psychiatrischer Patienten und der Anwendung von Zwang
wird zum Teil in einiger Literatur davon berichtet, dass die UN-BRK ,,[...] die Ausrich-
tung und Arbeitsweise der Psychiatrie in Deutschland [...]" kritisiert. ,,Denn sie hinter-
fragt die langjährige Praxis und bis heute gesetzlich abgesicherte Arbeitsweise, die
Angebote im Bereich der geistigen Gesundheit mit Zwang zu verbinden. So gelten ins-
besondere Zwangsunterbringungen und Zwangsbehandlungen, aber auch andere
Formen des Zwangs, die im Zusammenhang von Einrichtungen und Diensten der psy-
chiatrischen Versorgung stehen, als menschenrechtlich unzulässig."
41
Vor dem Hinter-
grund der gesetzlichen Formulierungen der UN-BRK wird von Aichele die Meinung
vertreten, dass Zwangsunterbringungen, Zwangsbehandlungen und Zwangsmaßnah-
men in psychiatrischen Einrichtungen
unverhältnismäßig stark in die Rechte der Betrof-
fen eingreifen und es sich dabei um grausame, erniedrigende und unmenschliche
Praktiken handelt. Folglich werden in der klinischen Praxis Menschen mit Behinderun-
gen bzw. psychiatrischen Erkrankungen diskriminiert und konventionswidrig behan-
delt.
42
Unter anderem würde die Psychiatrie als Institution gegen folgende gesetzliche
Bestimmungen der UN-BRK verstoßen:
Art. 12 Abs. 2 UN-BRK, Gleiche Anerkennung vor dem Recht
43
Art. 14. Abs. 1 UN-BRK, Freiheit und Sicherheit der Person
44
39
In der Definition des Behindertenbegriffs gemäß Art. 1 Abs. 2 BRK heißt es: ,,Zu den Menschen mit Behin-
derungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen
haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an den vollen, wirksamen und gleichbe-
rechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können."
40
Henking, T. und M. Mittag: Rechtliche Rahmenbedingungen. In: Henking, T. und J. Vollmann: Zwangsbe-
handlung psychisch kranker Menschen. Ein Leitfaden für die Praxis. Berlin Heidelberg (Springer) 2015. S. 33
ff. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V.
(DGPPN): Achtung der Selbstbestimmung und Anwendung von Zwang bei der Behandlung psychisch er-
krankter Menschen. Eine ethische Stellungnahme der DGGPN. Nervenarzt 2014; 85: 1419-1431, S. 1423.
Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V.
(DGPPN): Achtung der Selbstbestimmung und Anwendung von Zwang bei der Behandlung psychisch er-
krankter Menschen. Eine ethische Stellungnahme der DGGPN. Nervenarzt 2014; 85, S. 1419-1431, S. 1423.
41
Aichele, V.: Menschenrechte und Psychiatrie. In: Zinkler, M., Laupichler, K. und M. Osterfeld (Hrsg.): Prä-
vention von Zwangsmaßnahmen. Menschenrechte und therapeutische Kulturen in der Psychiatrie. Köln
(Psychiatrie). 2016. S. 18-40. S. 18.
42
Aichele, V.: Menschenrechte und Psychiatrie. In: Zinkler, M., Laupichler, K. und M. Osterfeld (Hrsg.): Prä-
vention von Zwangsmaßnahmen. Menschenrechte und therapeutische Kulturen in der Psychiatrie. Köln
(Psychiatrie). 2016. S. 18-40. S. 18 ff.
43
Art. 12 Abs. 2 UN-BRK: Die Vertragsstaaten anerkennen, dass Menschen mit Behinderungen in allen
Lebensbereichen gleichberechtigt mit anderen Rechts- und Handlungsfahigkeit genießen.
http://www.un.org/depts/german/uebereinkommen/ar61106-dbgbl.pdf (Zugriff am 26.03.2017)

13
Art. 15 Abs. 1 S. 1 UN-BRK, Freiheit von Folter oder grausamer, unmenschli-
cher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe
45
Ein Vergleich der einschlägigen Literatur hat allerdings ergeben, dass die UN-BRK
kein direktes Verbot von Zwangsbehandlungen und -Maßnahmen ausspricht.
46
Des
Weiteren geht aus Art. 12 Abs. 4 der UN-BRK hervor, dass den Autoren der Gesetzes-
texte durchaus bewusst war, dass es zum Teil gute Gründe für Einschränkungen be-
stimmter Rechte geben kann.
47
Besteht beispielsweise eine Eigen- und Fremdgefähr-
dung, so verbietet die Konvention Menschen mit Behinderungen nicht die Freiheit zu
entziehen. Sie verbietet lediglich eine rechtswidrige, aufgrund einer bestehenden Be-
hinderung willkürlich durchgeführte Freiheitsentziehung.
48
Olzen untersuchte zudem die Auswirkung der UN-BRK auf die Unterbringung und
Zwangsbehandlung psychiatrischer Patienten und kam zu dem Entschluss, dass die
Behindertenkonvention keine unmittelbare Auswirkung auf die Unterbringung und
Zwangsbehandlung auf die Betroffenen hat. Die unmittelbar geltenden Bestimmungen
der UN-BRK lassen sich mit den Vorschriften des Betreuungsrechts und Psychisch-
Kranken-Gesetz (PsychKG) vereinbaren.
49
Das Übereinkommen der UN-BRK hat in der Vergangenheit in Deutschland dazu ge-
führt, die Praktiken in der Psychiatrie sowie gesetzliche Regelungen hinsichtlich seiner
44
Art. 14. Abs. 1 UN-BRK: Die Vertragsstaaten gewährleisten, a) dass Menschen mit Behinderungen gleich-
berechtigt mit anderen das Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit genießen; b) dass Menschen mit
Behinderungen gleichberechtigt mit anderen die Freiheit nicht rechtswidrig oder willkürlich entzogen wird,
dass jede Freiheitsentziehung im Einklang mit dem Gesetz erfolgt und dass das Vorliegen einer Behinderung
in keinem Fall eine Freiheitsentziehung rechtfertigt.
http://www.un.org/depts/german/uebereinkommen/ar61106-dbgbl.pdf (Zugriff am 26.03.2017)
45
Art. 15 Abs. 1 UN-BRK
Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender
Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Insbesondere darf niemand ohne seine freiwillige Zustimmung
medizinischen oder wissenschaftlichen Versuchen unterworfen werden.
http://www.un.org/depts/german/uebereinkommen/ar61106-dbgbl.pdf (Zugriff am 26.03.2017)
46
Henking, T. und M. Mittag: Rechtliche Rahmenbedingungen. In: Henking, T. und J. Vollmann: Zwangsbe-
handlung psychisch kranker Menschen. Ein Leitfaden für die Praxis. Berlin Heidelberg (Springer) 2015. S.
33. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V.
(DGPPN): Achtung der Selbstbestimmung und Anwendung von Zwang bei der Behandlung psychisch er-
krankter Menschen. Eine ethische Stellungnahme der DGGPN. Nervenarzt 2014; 85, S. 1419-1431, S. 1424.
47
Art. 12 Abs. 4 UN-BRK. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und
Nervenheilkunde e.V. (DGPPN): Achtung der Selbstbestimmung und Anwendung von Zwang bei der Be-
handlung psychisch erkrankter Menschen. Eine ethische Stellungnahme der DGGPN. Nervenarzt 2014; 85,
S. 1419-1431, S. 1424.
48
Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V.
(DGPPN): Achtung der Selbstbestimmung und Anwendung von Zwang bei der Behandlung psychisch er-
krankter Menschen. Eine ethische Stellungnahme der DGGPN. Nervenarzt 2014; 85: 1419-1431, S. 1423.
49
Olzen, D.: Die Auswirkung der UN-Behindertenrechtskonvention auf die Unterbringung und Zwangsbe-
handlung nach § 1906 BGB und §§ 10 ff. PsychKG NRW. 2009. S 13.
https://www.dgppn.de/fileadmin/user_upload/_medien/download/pdf/Gutachten/gutachten-zur-
behindertenrechtskonvention.pdf (Zugriff am 27.03.2017)

14
Rechtsmäßigkeit kritisch zu reflektieren.
50
Vor diesem Hintergrund wird es in der
nächsten Zeit weiter darum gehen, innerhalb und außerhalb der psychiatrischen Klini-
ken Maßnahmen und Strategien zu entwickeln, die die Rechte psychiatrischer Patien-
ten und behinderter Menschen schützt, die Stigmatisierung und Diskriminierung besei-
tigt und Zwang vermeidet.
3.4
Zusammenfassung
In beiden Teilen Deutschlands fanden im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts Bemü-
hungen statt, die psychiatrische Versorgung grundlegend zu verbessern - die Rodewi-
scher Thesen im Jahr 1963 in der DDR und die Psychiatrie-Enquête in der BRD im
Jahr 1975. Beide Reformen weisen erkennbare inhaltliche Parallelen auf. Die Refor-
men bezogen sich bei der Ausformulierung ihrer Ziele darauf, die Versorgung in der
Psychiatrie flächendeckend humaner zu gestalten, die Großkrankenhäuser zu verklei-
nern und die Patienten durch gemeindenahe, ambulante und komplementäre Angebo-
te besser zu integrieren. Resümierend kann festgestellt werden, dass keine der beiden
Psychiatrie-Reformen komplett gescheitert sind ­ ganz im Gegenteil. In den letzten vier
Jahrzehnten hat sich die Grundversorgung psychiatrischer Patienten zweifelsohne po-
sitiv verändert. Allerdings ist auch anzumerken, dass keine der beiden Reformbemü-
hungen und die darin formulierten Forderungen und Ideen vollständig durchgesetzt
wurden. Die zentralen Ziele der Enquête und der Rodewischer Thesen haben noch
heute ihre Gültigkeit und sind Leitziele für Ausgestaltung der psychiatrischen Praxis.
Trotz der weitreichenden Veränderungen durch die gesetzten Impulse der Reformen
bestehen in der psychiatrischen Versorgungslandschaft noch immer Mängel. Mängel,
die bereits vor vierzig Jahren benannt worden sind. Weiterhin sind Menschen mit psy-
chiatrischen Störungen gegenüber Menschen mit somatischen Erkrankungen nicht
gleichberechtigt. Menschen mit psychischen Störungen sind weiterhin bedroht von
Diskriminierung und Stigmatisierung. Des Weiteren sind die Versorgungsangebote
nicht flächendeckend ausgebaut, vor allen in den ländlichen Gebieten. Hier fehlt es
insbesondere im Bereich der Nachsorge an gemeindeintegrierten, also ambulanten
und komplementären Angeboten.
50
Aichele, V.: Menschenrechte und Psychiatrie. In: Zinkler, M., Laupichler, K. und M. Osterfeld (Hrsg.):
Prävention von Zwangsmaßnahmen. Menschenrechte und therapeutische Kulturen in der Psychiatrie.
Köln (Psychiatrie). 2016. S. 18-40. S. 21.

15
Für Menschen mit chronischen psychiatrischen Erkrankungen gilt außerdem das
Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinde-
rungen, das 2009 in Deutschland in Kraft getreten ist. Das Übereinkommen hat zwar
keinen unmittelbaren Einfluss auf die Zwangsbehandlung und ­unterbringung von Pa-
tienten, sie stellt trotz alldem die psychiatrische Praxis und gesetzliche Regelungen
kritisch in Frage und führt dazu, Maßnahmen und Strategien zu entwickeln, um die
Rechte psychiatrisch Kranker und behinderter Menschen zu schützen, Zwang zu ver-
meiden sowie Stigmatisierung und Diskriminierung zu beseitigen.
Der Veränderungsprozess des psychiatrischen Versorgungssystems durch Reformen
und Menschrechtsübereinkommen scheint allerdings bis heute nicht abgeschlossen zu
sein. Zum einen werden Menschen mit psychischen Störungen weiter stigmatisiert,
zum anderen stieg die Anzahl an Unterbringungen und Zwangsbehandlungen in den
letzten Jahren in psychiatrischen Einrichtungen unweigerlich an.
51
Maßnahmen, die
Zwang in der psychiatrischen Versorgung vermeiden (z.B. flächendeckende ambulante
Versorgungsformen, Unterbringung auf offenen Stationen usw.), wurden um ein Vielfa-
ches, unter anderem auch durch die Reformen, beschrieben. Die Umsetzung dieser
Maßnahmen lässt allerdings in der Realität zu wünschen übrig. Der Grund hierfür ist
vermutlich der Faktor ,,Mehrkosten". Das übergeordnete Ziel sollte dennoch weiter un-
ausbleiblich angestrebt werden: Nämlich eine psychiatrische Versorgung sicherzustel-
len, die den menschenrechtlichen Vorgaben entspricht und den Einsatz von Zwang
überwiegend verhindert.
52
51
Siehe Kapitel 5.4 und 6.1
52
Marschner, Rolf: Konzepte zur Reduzierung von Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie. Recht und
Psychiatrie. 2016; (34): 154.

16
4. Das psychiatrische Versorgungssystem
Die Versorgung von Menschen mit psychiatrischen Störungen ist von großer Bedeutung,
unabhängig wie stark die krankheitsspezifische Symptomatik ausgeprägt ist. Dabei ist die
Psychiatrie als wissenschaftlicher und medizinischer Schwerpunkt sowie als Hilfesystem
geprägt durch die starken ethischen und strukturellen Wandlungen der letzten vierzig Jah-
re. Das Versorgungssystem entwickelte sich von einer traditionellen, krankenhauszentrier-
ten Behandlung zu einer dezentralen, gemeindeorientierten und personenzentrierten Be-
handlung und Versorgung.
53
Die psychiatrischen und psychotherapeutischen Behand-
lungsstrukturen, welche als Hilfsangebot für die Betroffenen dienen sollen, müssen die
Aufgabe erfüllen, eine bedarfsgerechte und nach aktuellen fachlichen Standards orientierte
Basisversorgung zu gewährleisten. Um dies adäquat umsetzen zu können, bedarf es ei-
nem multiprofessionellen Angebot. Daraus abgeleitet zeigt sich die psychiatrische Versor-
gungslandschaft als fragmentiertes Konstrukt mit einer Vielzahl von unterschiedlich agie-
renden Berufsgruppen, Leistungserbringern und Kostenträgern.
54
4.1
Zum Verständnis von Psychiatrie
Der Begriff der Psychiatrie kann laut der einschlägigen Literatur in drei unterschiedlichen
Zusammenhängen betrachtet werden.
Zunächst ist die Psychiatrie als ein Fachgebiet der Medizin zu verstehen. Als medizinische
Wissenschaft beschäftigt sie sich mit der Prävention, Diagnose, Behandlung und Erfor-
schung psychiatrischer Krankheiten.
55
Ein Überblick über die verschiedenen psychiatri-
schen Störungen gibt das weltweit anerkannte Diagnoseklassifikationssystem der Medizin,
die ICD-10
56
(Tab. 1). Psychiatrische Krankheiten sind nach dem Internationalen Diagno-
seklassifikationssystem per Definition ,,Störungen des Erlebens und Verhaltens". Psychiat-
rische Krankheiten äußern sich demnach im gestörten Erleben, wenn ein Patient folglich
unter Halluzinationen oder Ängsten leidet oder bei schweren Verhaltensauffälligkeiten, wie
53
Hoffman, W.: Das Krankenhaus als therapeutische Institution. In: Werner, W.: Lehrbruch der Kranken-
hauspsychiatrie. Psychiatrie im sozialen Kontext. Stuttgart (Schattauer) 2004. S. 4-23. S. 8ff.
54
Sächsisches Staatsministerium für Soziales und Verbraucherschutz: Zweiter sächsischer Landespsy-
chiatrieplan. Dresden. 2010. S. 8.
55
Dörr, Margret: Soziale Arbeit in der Psychiatrie. München (Ernst Reinhardt) 2005. S. 11.
56
International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783961161645
ISBN (Paperback)
9783961166640
Dateigröße
1.1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Dresden International University – Sozialwissenschaften
Erscheinungsdatum
2017 (September)
Schlagworte
Psychiatrie Akutpsychiatrische Behandlungsform Unterbringung psychiatrischen Versorgung Freie Willensbestimmung Home Treatment Soteria-Ansatz
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Titel: Das Konzept der „offenen Tür“ in der akutpsychiatrischen Regelversorgung und dessen Wirkungen auf die Zwangsmaßnahmen und -behandlung von Patienten in Reflexion gemeindeintegrierter Versorgungsangebote
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