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Arthur Schnitzlers Leutnant Gustl

„Wie lange wird es denn noch dauern?“- Identitätskrise Schnitzlers oder Vorausdeutung auf das Schicksal der untergehenden Donaumonarchie?

©2014 Hausarbeit 24 Seiten

Zusammenfassung

Die Novelle „Leutnant Gustl“ wurde von dem österreichischen Schriftsteller, Mediziner und Reserveoffizier Arthur Schnitzler verfasst und am 25. Dezember 1900 in der Weihnachtsbeilage der „Neuen Freien Presse“ zum ersten Mal veröffentlicht. Daraus resultierte eine Abmahnung des Militärs gegenüber Schnitzler, sodass man ihm seinen Rang als Reserveoffizier aberkannte. Dies begründete der Ehrenrat des Militärs damit, dass Schnitzler die heilige Standesehre der KUK-Offiziere, sowie den Antisemitismus in der Armee stark kritisierte.
Die Idee zur Novelle, die auf einem realen Vorgang basiert, kam Schnitzler bereits 1896. Er notierte sie wie folgt: „Einer bekommt irgendwie eine Ohrfeige; - niemand erfährt‘s. Der sie ihm gegeben, stirbt und er ist beunruhigt, kommt darauf, dass er nicht an verletzter Ehre – sondern an der Angst litt, es könnte bekannt werden. - “
Diesen Plot setze Schnitzler in seiner Novelle „Leutnant Gustl“ um, indem er von Anfang bis Ende des Textes den Leser an der Gedankenwelt des junges Offiziers Gustl, in Form eines inneren Monologes, teilhaben lässt. „Leutnant Gustl“ ist der erste literarische Text der deutschsprachigen Literatur, der fast durchgängig einen inneren Monolog aufzeigt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis



1. Einführung und Allgemeines
Die Novelle ,, Leutnant Gustl" wurde von dem österreichischen Schriftsteller, Mediziner und
Reserveoffizier Arthur Schnitzler verfasst und am 25. Dezember 1900 in der Weihnachtsbeilage
der ,,Neuen Freien Presse"
1
zum ersten Mal veröffentlicht. Daraus resultierte eine Abmahnung
des Militärs gegenüber Schnitzler, sodass man ihm seinen Rang als Reserveoffizier aberkannte.
Dies begründete der Ehrenrat des Militärs damit, dass Schnitzler die heilige Standesehre der
KUKOffiziere
2
, sowie den Antisemitismus in der Armee stark kritisierte.
Die Idee zur Novelle, die auf einem realen Vorgang basiert, kam Schnitzler bereits 1896. Er no
tierte sie wie folgt: ,,Einer bekommt irgendwie eine Ohrfeige; niemand erfährt`s. Der sie ihm
gegeben, stirbt und er ist beunruhigt, kommt darauf, dass er nicht an verletzter Ehre ­ sondern
an der Angst litt, es könnte bekannt werden. "
Diesen Plot setze Schnitzler in seiner Novelle ,,Leutnant Gustl" um, indem er von Anfang bis
Ende des Textes den Leser an der Gedankenwelt des junges Offiziers Gustl, in Form eines inne
ren Monologes, teilhaben lässt. ,,Leutnant Gustl" ist der erste literarische Text der deutschspra
chigen Literatur, der fast durchgängig einen inneren Monolog aufzeigt.
3
2. Arthur Schnitzler im Portrait
Arthur Schnitzler (*15.05.1862 in Wien, 23.10.1931 in Wien) prak zierte als Arzt in Wien und
verließ seinen Geburts und Sterbeort nie für längere Zeit. Dies, sowie die Freundschaft zu
Siegmund Freud und Hugo von Hofmannsthal, bleiben in seinen Novellen und Dramen um die
Jahrhundertwende nicht verborgen. Meist haben sie eine stark psychologischdokumentarische
Komponente. Er verband jedoch auch häufig das Schreiben mit seinem Beruf. So erschien 1889
seine Dissertation ,,Über funktionelle Aphonie und deren Behandlung durch Hypnose und Sug
gestion". Schnitzler stammte väter und mütterlicherseits aus einer Arztfamilie und zählte somit
zu dem gehobenen jüdischen Bürgertum. Nach dem Tod seines Vaters 1893 widmete sich
Schnitzler aber immer mehr seinen künstlerischen Ambitionen und beschäftigte sich hauptsäch
lich mit Geisteskrankheiten und Psychosomatik, was ihm eine differenzierte psychologische
Betrachtungsweise eröffnete. Schnitzler beschäftigte sich ebenfalls mit gesellschaftlichen Prob
lemen, wie dem Antisemitismus. Da er selber dem jüdischen Glauben folgte, war dies ein wich
tiges Thema für ihn, da die Judenfeindlichkeit in Österreich zu seiner Zeit sehr präsent war. Sei
ne Tochter Lili nahm sich am 26. Juli 1928 das Leben. Schnitzler starb drei Jahre später.
Laut Joseph Roth ist Schnitzler der Dichter in Wien; er sei gar repräsentativ für ein Land, eine
Epoche, eine Monarchie. In der Novelle Leutnant Gustl erzählt Schnitzler das erste Mal in der
1
Österreichische liberale Tageszeitung, die 18641938 in Wien erschien.
2
KUK stand für ,,Kaiserlich und Königlich". Das erste ,,K" galt dem Kaiser von Österreich und das zweite dem König
von Ungarn. Beide Titel vereinten sich in einer Person: Franz Joseph I., Monarch der Realunion, der bis zu seinem
Tod 1867 herrschte. Die gemeinsamen Institutionen der beiden Länder waren die Post und die Armee, welche
auch als KUK bezeichnet wurden.
3
Vgl. Leis, Mario (2013): Arthur Schnitzer, Leutnant Gustl ­ Lektüreschlüssel. Stuttgart: Reclam. Seite 1, Zeile 1 ff.

4
deutschen Literatur einen inneren Monolog von Anfang bis Ende in einem literarischen Text.
Dies sollte durch die Geschichte eines Offiziers, der sich sinnlos entehrt fühlt und deshalb
meint, sich umbringen zu müssen, ein Meisterwerk des psychologischen Naturalismus werden.
Er wollte die Rationalität und den Fortschrittsgedanken der Gesellschaft des ,,Fin de siécle"
1
verdrängen.
2
3. Die ÖsterreichUngarische Monarchie
Die ÖsterreichUngarische Monarchie, welche von 1867 bis 1918 andauerte, hat viele Namen.
Informell wird sie die KUKDoppel bzw. Donaumonarchie genannt, jedoch sind auch Bezeich
nungen wie Habsburgermonarchie oder schlicht ÖsterreichUngarn vorzufinden. Insgesamt er
streckt sich der österreichungarische Doppelbund über den Staat des Habsburgerreiches in
Mittel und Südosteuropa. Wie der Name bereits sagt, zählen zu diesem Staatenbund somit
Österreich und Ungarn, sowie zuletzt auch Tschechien, Slowakei, Slowenien, Kroatien, Bosnien
und Herzegowina, Teile des heutigen Rumäniens, Montenegros, Polens, der Ukraine, Italiens
und Serbiens. Nach dem ersten Weltkrieg endete der Bund ÖsterreichUngarns, indem Ungarn
aus dem Bund austrat. Aus europäischer Sicht war ÖsterreichUngarn laut Bevölkerungszahlen
der drittgrößte Staat Europas nach Russland und dem Deutschen Reich. Durch die Eingliederung
von Bosnien und Herzegowina 1878 kam es in dem Vielvölkerstaat immer wieder zu Spannun
gen.
Seit 1873 erfuhr der österreichische Liberalismus eine markante Zäsur. In diesem Jahr kam es
auch zur Wiener Weltausstellung, sowie den großen Börsenkrach mit darauffolgenden Korrup
tionsskandalen und sozialen Spannungen. Der Antisemitismus wurde im Volksmunde immer
lauter durch die Behauptung, dass der kapitalistische Liberalismus die Ausgeburt der jüdischen
Moderne sei. Dieser Antisemitismus erfasste alle politischen Parteien, insbesondere die Christ
lichsozialen und die Deutschnationalen.
Der österreichungarische Doppelbund endete durch ein Attentat in Sarajevo auf den österrei
chischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand, woraufhin Österreich Bosnien und Herzego
wina den Krieg erklärte. Dies war auch der Auslöser des ersten Weltkrieges.
In der ÖsterreichUngarischen Monarchie kam es durch die späte Industrialisierung, die Demo
kratisierung und die Nationalisierung nicht wie in ganz Europa zu einer Vereinheitlichung, son
dern zu sozialen, ethnischen, kulturellen, religiösen und sprachlichen Heterogenitäten durch
eine Vielfalt an verschiedensten Volksgruppen.
1
Fin de siécle (franz.) = Ende des Jahrhunderts
2
Vgl. Thiele, Johannes (2006): ,,Die großen deutschen Dichter und Schriftsteller". Wiesbaden: Matrix Verlag. Seite
145 f.
Vgl. Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.) (1998): ,,Text und Kritik ­ Arthur Schnitzler". München: Edition Text und Kritik
Vgl. Leis, Mario (2010): ,,Arthur Schnitzer Leutnant Gustl ­ Lektüreschlüssel". Stuttgart: Reclam.

5
Dadurch kam es zu einer Segmentierung der Gesellschaft, die ebenso mit den individuellen Be
wusstseinslagen, welche in der habsburgischen Metropole Wien vorzufinden waren, nur noch
weiter potenziert wurden. In Wien machte der Anteil der ,,Fremden" zu diesem Zeitpunkt rund
60% aus, während dieser in Paris nur 6,3% betrug. Dies schuf insbesondere xenophobe Neuro
sen und massive Antisemitismen, aus denen wiederrum schwere Identitätskrisen resultierten.
Gerade als sich das nationale Bewusstsein einiger Länder stärkte, sah es so aus, als würde der
Vielvölkerstaat nicht mehr lange existieren. Eben diese Spannungen fassten viele Schriftsteller
wieder auf, so auch Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal und viele weitere. Es gab viele
Facetten, in denen die Schriftsteller das Untergehen des Völkerbundes andeuteten. Leitmotive
dieses Untergangs waren die Endzeitstimmung, die Zukunftsängste, der Weltschmerz und der
Mensch als einer von Vielen. Nach den Vorreitern der Dekadenz und des Verfalls der kulturellen
Werte, wie Friedrich Nietzsche und Charles Baudelaire, spielten auch diese Motive eine tragen
de Rolle bei den Schriftstellern aus ÖsterreichUngarn. Diese Stimmungen und Emotionen be
schreiben die Epoche der Fin de siécle.
Die für Arthur Schnitzlers Leutnant Gustls relevante Epoche ist die um den Jahrhundertewech
sel in Wien. Diese Zeit wurde von zwei Faktoren durch die ,,Jungwiener Autoren"
1
bestimmt. Die
Jungwiener Autoren kamen nur schwerlich mit der Ordnung der Habsburgermonarchie klar,
sodass es ihnen schwer fiel, ihre gesellschaftlichen Positionen zu beziehen. Diese gestörte
Wahrnehmung führte zum Desinteresse an Politik, sowie zu einer gestörten Selbstwahrneh
mung, aus der viele Identitätskrisen herzuleiten sind. Durch die Industrialisierung kam es dazu,
dass sich eine Entwicklung zum industriellen Kapitalismus vollzog, welche eine sozialliberale
Gegenbewegung zur Folge hatte. Diese neuen Strömungen führten zu Gruppierungen wie dem
,,PernerstorferKreis"
2
, die die Keimzelle neuer Parteien, wie z.B. die Sozialdemokraten, die
Deutschnationalen oder die Christlichsozialen, darstellte.
Einer der wichtigsten Aspekte rund um die Identitätskrisen im damaligen ÖsterreichUngarn
war die psychoanalytische Seite, die insbesondere durch Siegmund Freud zur Sprache kam. Die
triadische Beziehung zwischen dem ,,Ich", dem ,,gewissenhaftem ÜberIch" und dem ,,triebhaf
ten Es" wird hier besonders hervorgehoben. Indem Freud über dieses Thema las und es selbst
verschriftlichte, überschritt er die damalige Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst. Eine sei
ner bekanntesten Aussagen war: ,,Der Hauptpatient, der mich beschäftigt, bin ich selbst."
3
Ins
besondere für Arthur Schnitzler hatten Freuds Aussagen eine große Bedeutung, da er in einigen
Theorien seine eigene Lehre bestätigt sah. Er bezeichnete Freud oft als seinen Doppelgänger,
da Schnitzler und Freund weitgehend unabhängig voneinander zu denselben Ergebnissen ka
men.
4
1
Gruppe von Wiener Autoren im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, in der Arthur Schnitzler ebenfalls vertre
ten war. Die Abwendung vom Naturalismus hin zum Ästhetizismus war ein wichtiger Schritt zur heutigen Moderne.
Das Sprachrohr der Gruppe war die Zeitschrift ,,Die Zeit" vom Herausgeber und wichtigsten Anführer der Gruppe;
Hermann Bahr. Treffpunkt der Gruppe war das Café Griensteidl.
2
Gruppe junger Intellektueller um Engelbert Pernerstorfer, einem sozialdemokratischen Politiker und Publizist.
3
Freud am 14.08.1897 an einen befreundeten Berliner Arzt Wilhelm Fliess.
4
Vgl. Leis, Mario (2010): ,,Arthur Schnitzer Leutnant Gustl ­ Lektüreschlüssel". Stuttgart: Reclam.
Vgl. Wolf, Sabine (Hrsg.) (2013): ,,Arthur Schnitzler ­ Leutnant Gustl". Stuttgart: Reclam.

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4. Die Novelle
Das Wort ,,Novelle" ist ein Lehnwort, das erst am Ende des 17. Jahrhunderts den deutschspra
chigen Raum erreichte. ,,Novelle" bedeutet unter anderem ,,Neue Begebenheit" oder ,,Nach
richt". Häufig werden Kurzgeschichten, teilweise mit offenen Ende, als Novelle bezeichnet. Vor
läufer der Novellen gab es bereits um 1230 in Italien, die von Uc de Saint Circ verfasst wurden.
Aber was hebt nun die Novelle von anderen Erzählungen ab?
Die Novelle soll sich von anderen Prosaformen absetzen, indem sie feste Strukturen besitzt.
Diese sind vor allem ein literarischer Rahmen, ein durchkomponierter Text, eine straffe Hand
lung mit mindestens einem Wendepunkt und verschiedene, sich wiederholende Handlungen
und Motive. Zudem sollte die Novelle ausschließlich einen Handlungsstrang besitzen.
Da um 1900 das Feld der deutschen Novelle, durch Pauls Heyse und Hermann Kurz, zu einer
angesehenen Gattung mutiert war, kam es dazu, dass sich viele Autoren der Moderne ebenfalls
an der Novelle versuchten. Somit kamen eine große Varianz und eine neue Dynamik in diese
Gattung.
Schnitzlers Novellen gehören formal in die literarische Avantgarde
2
seiner Zeit. Er befasste sich
nicht nur mit dem Diskurs der Psychoanalyse, sondern auch mit den historischen Gegebenhei
ten dieser Zeit. ,,Leutnant Gustl" gilt jedoch als Gedankenstrom, der den Leser mit der Erzähl
technik des inneren Monologes in das alltägliche Leben eines Offiziers einführt. Durch diese
Erzähltechnik, welche die deutschsprachige Literatur revolutioniert hat, gelang es Schnitzler, die
Banalität des Alltagbewusstseins, welches komplex und vorurteilsbeladen ist, unverändert auf
zuzeigen.
2
Arthur Schnitzler bezeichnet ,,Leutnant Gustl" als Novelle, da alle formalen Aspekte dieser Gat
tung auf diese Form von Text zutreffen und wiederzufinden sind.
Es gibt nur einen Handlungs
strang, welcher die verlorene Ehre des Leutnant Gustls beschreibt, sowie seinen geplanten
Selbstmord.
Schnitzler beschreibt zuerst den Charakter Gustls, was mit einer Exposition des Dramas gleich
zusetzen ist. Zeitgleich greift Schnitzler einige Motive auf, die im Laufe der Handlung wieder
kehren. Hier wären das Duell, Gustls Langeweile und seine Frauenaffären zu nennen, die in der
Novelle immer wiederkehren. Es kommt zur Spannungssteigerung und schließlich zum Höhe
punkt dieser Klimax der Streit mit dem Bäckermeister Habetswallner. Der Wendepunkt, oder
auch die Peripetie der Novelle, folgt mit dem plötzlichen Tod des Bäckermeisters Habetswall
ner. Es kommt jedoch nicht zu einer Katastrophe, wie es im Drama der Fall ist, sondern zu ei
nem scheinbaren ,,Happy End". Da die Novelle aber abrupt endet und somit nicht der Ausgang
des anstehenden Duells zwischen Gustl und dem Doktor aufgezeigt wird, bleibt es schlussend
lich offen, ob Gustl wohlmöglich doch noch stirbt. Das Leitsymbol, welches von den Motiven
des Selbstmords und der verlorenen Ehre begleitet wird, ist der Säbel des Leutnants. Dieser
1
Lehnwort des Französischen. Bezeichnet in der Militärsprache die Vorhut, denjenigen Truppenteil, der als erster
vorrückt und mit dem Feind in Berührung kommt. Hier: Vorreiter
2
Füllmann, Rolf (2010): ,,Einführung in die Novelle". Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

7
stellt den Stand des Leutnants in der Gesellschaft dar und spiegelt seine Ehre wider.
1
5. Der innere Monolog
Arthur Schnitzler verwendete als Erster in der deutschen Literatur die beinahe durchgehende
Erzählform des inneren Monologes, was dieser Novelle ihre Berühmtheit verdankt. Dies ist die
innovativste Erzählform, um narrativ Gedankengänge und Gefühle des Protagonisten hervorzu
heben. Man erfährt das Geschehen nicht von einem auktorialen Erzähler, man muss sich das
Geschehen aus Leutnant Gustls Gedankengängen erschließen. Daher wird der innere Monolog
im Präsens und der ersten Person Singular berichtet. Das Besondere am inneren Monolog, im
Vergleich zum Bewusstseinsstrom, ist, dass sich die Figur selbst anspricht, sich Vorwürfe macht
und Ähnliches. So erfährt der Leser nur, was die Figur über sich selbst und andere Figuren sagt
bzw. denkt. Es handelt sich also um eine subjektive Erzählweise, die keine objektive Beschrei
bung von Beobachtungen oder Personen wiedergibt. Es soll eine ungefilterte Wiedergabe psy
chischer Vorgänge und einen unmittelbaren Zugang zum Innenleben Gustls schaffen. Man muss
Leutnant Gustls Personen und Handlungsbeschreibungen also dauerhaft infrage stellen bzw.
hinterfragen.
Schnitzler dringt mit der Erzählform des inneren Monologes in Leutnant Gustls intimste Sphä
ren ein, sodass der Leser sich in den Gedankenfluss des jungen Offiziers hineinversetzt fühlt.
Somit muss sich der Leser mit spontanen Eingebungen, häufigen Themenwechsel und abbre
chenden Gedankengängen zufrieden geben. Der Leutnant wirkt durch assoziative Verknüpfun
gen und psychische Phänomene seinerseits vermeintlich sprunghaft und unkontrolliert. Dies
wird an dialektalen und umgangssprachlichen Wörtern wie ,,Abschreiberei"
2
oder ,,Hascherl"
3
wiedergegeben. Zudem verzichtet Gustl häufig auf Vokale: ,,ausleih`n"
4
, ,,dasitz`"
5
und ,,Kadet
tenschul`"
6
.
7
Die komplette Novelle verleiht, in Anbetracht des Berufes von Arthur Schnitzler, den Charakter
eines wissenschaftlichen Experimentes. Der Fokus des Erzählens verengt sich auf einen vorbei
fließenden Strom psychischer Elemente und auf die Phänomene eines Bewusstseins. Schnitzler
stellt jedoch die Inhalte von Gustls Bewusstsein als notwenige und natürliche Gegebenheiten
hin, die der Leutnant nicht hinterfragt.
1
Vgl.
Leis, Mario (2010): ,,Arthur Schnitzer Leutnant Gustl ­ Lektüreschlüssel". Stuttgart: Reclam.
2
Schnitzler, Arthur/ Fliedl, Konstanze (Hrsg.) (2009): Leutnant Gustl. Stuttgart: Reclam. Seite 9, Zeile 1. Hier: Steffis
schriftliche Absagen
3
Schnitzler, Arthur/ Fliedl, Konstanze (Hrsg.) (2009): Leutnant Gustl. Stuttgart: Reclam. Seite 27, Zeile 34. Hier:
Armes Kind
4
Schnitzler, Arthur/ Fliedl, Konstanze (Hrsg.) (2009): Leutnant Gustl. Stuttgart: Reclam. Seite 8 , Zeile 12
5
Schnitzler, Arthur/ Fliedl, Konstanze (Hrsg.) (2009): Leutnant Gustl. Stuttgart: Reclam. Seite 8, Zeile 34
6
Schnitzler, Arthur/ Fliedl, Konstanze (Hrsg.) (2009): Leutnant Gustl. Stuttgart: Reclam. Seite 12, Zeile 1. Eine Schu
le für alle 14Jährigen mit normaler Schulbildung, die Söhnen aus dem kleinen und mittleren Bürgertum Aufstiegs
chancen bot.
7
Schnitzler, Arthur/ Fliedl, Konstanze (Hrsg.) (2009): Leutnant Gustl. Stuttgart: Reclam. Seite 20, Zeile 29 f.

8
Dies tut aber der Leser, was ihn unmissverständlich auf die sozialen Konventionen und Denk
normen auf das Wien der Jahrhundertwende hinweist. Die Gedanken Gustls müssen also nicht
zerlegt, sondern analysiert werden, was auf den gesellschaftlichen Ursprung Wiens zurückzu
führen ist. Zu beachten ist aber, dass ,,Leutnant Gustl" keineswegs ein dokumentarisches Pro
tokoll, sondern ein fiktiver Gedankenstrom ist. Nicht zufällig formuliert Schnitzler folgenden
Satz in ,,Leutnant Gustl":
,,Mir ist immer, als wenn ich mir eine Geschichte erzählen möcht"
1
.
2
6. Naturalismus, Fin de siécle und die Wiener Moderne
Die Bezeichnung ,,Fin de siécle" (franz. = ,,Ende des Jahrhunderts") tauchte zum ersten Mal
1886 in der Zeitschrift ,,Le Décadent" auf, was den Kopf der Wiener Moderne, Hermann Bahr,
dazu veranlasste, seine Novelle 1891 ebenfalls ,,Fin de siécle" zu nennen. Die Novelle präsen
tierte das Gegenstück zur durchrationalisierten Lebenswelt der Großstädte und frönte dem
Ästhetizismus. Die radikale IchBezogenheit wurde in den Mittelpunkt der Novelle gerückt, ge
paart mit einem rauschhaften Lebensgenuss.
Die kurze literarische Epoche des ,,Fin de siécle" des Vielvölkerstaates ÖsterreichUngarn kolla
bierte an Erzherzog Franz Ferdinand, der den einzelnen Ländern des Völkerstaates mehr Selbst
bestimmung zusprechen wollte.
Arthur Schnitzlers Werke sind nicht nur in ,,Fin de siécle", sondern auch in die Wiener Moderne,
die sich von 1890 bis 1910 erstreckte, einzuordnen. Die Wiener Moderne war aber nicht nur,
wie der Name vermuten lässt, in Wien, sondern auch in Berlin, München und Prag wiederzufin
den. Den zentralen Treffpunkt dieser literarischen Strömung stellt das Café ,,Griensteidl" dar.
Dort tauschten sich unter anderem Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Richard Beer
Hofmann und Hermann Bahr aus. Dass die Künstler sich gegen den Naturalismus wendeten,
verdeutlicht Hermann Bahrs Text ,,Überwindung des Naturalismus". Man wollte sich von der
naturtreuen Darstellung von realen Umständen lossprechen. Während die Donaumonarchie zu
Grabe getragen wurde, erfuhr die Literatur einen großen Aufschwung. Ebenso gelangen Philo
sophie, Kunst, Architektur, Musik und Malerei zu einer Blütezeit. Einen großen Einfluss auf die
Epoche hatte das ,,Fin de siécle", welches teilweise widersprüchliche Strömungen in ganz Euro
pa beinhaltete. Ebenso widersprüchlich wie das ,,Fin de siécle" war auch die Hauptstadt Öster
reichs. Sie hatte um die Jahrhundertwende mehr als zwei Millionen Einwohner und war somit
eine kulturelle, ethnische und politische Hochburg. Die gerade einmal neunprozentige jüdische
Bevölkerung hatte den höchsten Anteil am künstlerischen Schaffen, was den Antisemitismus
nur noch weiter schürte.
1
Schnitzler, Arthur/ Fliedl, Konstanze (Hrsg.) (2009):Leutnant Gustl. Stuttgart: Reclam. Seite 20, Zeile28 f.
2
Vgl. Leis, Mario (2010): ,,Arthur Schnitzer Leutnant Gustl ­ Lektüreschlüssel". Stuttgart: Reclam.
Vgl. Kimmich, Dorothee; Wilke, Tobias (2011): ,,Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende". Darmstadt:
Wissenschaftliche Buchgesellschaft

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783961161669
ISBN (Paperback)
9783961166664
Dateigröße
300 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Koblenz-Landau – Germanistik
Erscheinungsdatum
2017 (Oktober)
Note
2,5
Schlagworte
Arthur Schnitzler Neue Freie Presse Militär Novelle innerer Monolog
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Titel: Arthur Schnitzlers Leutnant Gustl
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