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Die Wohlfahrtspflege in der Islamischen Republik Iran vor dem Hintergrund der Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen

©2017 Masterarbeit 72 Seiten

Zusammenfassung

Gegenstand der Untersuchung ist das Bemühen der Islamischen Republik Iran, mit der Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Anschluss an die internationale Gemeinschaft und deren universellen Werte zu erhalten. Mittels Literaturstudium wird, unter Einbeziehung eines Reiseberichtes mit vor Ort gemachten Erfahrungen, eine Bestandsaufnahme der Situation für die Menschen mit Behinderungen in der Islamischen Republik Iran und deren strukturelle Unterfütterung durch den Staat vorgenommen.
Zunächst werden die Entwicklung der Strukturen auf die Aspekte Bildung und Menschen mit Behinderungen hin beleuchtet. Über die Darstellung historischer Entwicklungen und Verläufe wird die gegenwärtige Situation in den Fokus der Betrachtung gerückt. Die existierenden staatlichen Strukturen werden dargestellt und in ihren Funktionen erläutert. Aus dem Selbstverständnis einer Theokratie heraus, geraten Finanzierungsmethodik und deren Effizienz schnell in eine Auseinandersetzung über Anspruch und Wirklichkeit. Die von islamischen Glaubenssätzen abgeleiteten Pflichten und die vom Revolutionsführer erwarteten bzw. geforderten Beiträge reichen nicht aus, um einen modernen Wohlfahrtsstaat zu entwickeln. Aus diesen Gegensätzen können Lücken im Bedarf, wie alternative Wohnformen für Menschen mit Behinderungen, kenntlich gemacht und abgeleitet werden. Der Nachholbedarf an Ausstattungen zur Barrierefreiheit, sowie zur Ausbildung von fachlich kompetentem Personal ist daraus deutlich abzuleiten.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis



Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Abstract
1. Einleitung ... 1
2. Problemstellung ... 3
2.1 Forschungsfrage & Ziel der Arbeit ... 3
3. Methodik ... 4
4. Historischer Abriss der Sozialpolitik im Iran ... 5
4.1 Land und Geografie ... 5
4.2 Die soziale Struktur ... 6
4.3 Erziehungs- und Schulsystem ... 8
4.4 Administrative Zuständigkeiten ... 12
5. Umgang mit Bildung und Behinderung im alten Persien ... 14
5.1 Die Wahrnehmung von Bildung und Behinderung vor der Islamisierung ... 14
5.2 Behinderte im vormodernen Iran ... 18
5.3 Pastor Christoffel ­ Wurzel der modernen Behindertenarbeit im Iran ... 19
5.4 Staatliche Strukturen der Wohlfahrt ... 21
6. Islam und Wohlfahrt ... 23
6.1 Der nationale Ansatz der Wohlfahrtspflege ... 23
6.1.1 Die Imam Khomeini Relief Foundation ... 25
6.1.2 Die State Welfare Organization ... 26
6.1.3 Die Foundation of Martyrs and Veterans Affairs ... 29
6.2 Die Finanzierung der Wohlfahrt ... 31
6.2.1 Die Zakat ... 32
6.2.2 Die Zakat Al Fitr ... 35
6.2.3 Die Khoms ... 35
6.3 Bewertung der Effizienz ... 36

7. Reisebericht Iran ... 38
7.1 Vorbereitung und Anreise ... 38
7.2 Der Besuch von Einrichtungen ... 39
7.2.1 Teheran ... 40
7.2.2 Schiras ... 43
7.2.3 Kisch ... 46
7.2.4 Kerman ... 46
7.2.5 Isfahan ... 48
7.2.6 Teheran ... 49
7.3 Schlussfolgerungen für die Organisation ... 52
8. Die UN-Behindertenrechtekonvention ... 56
8.1 Die Grundsätze der UN-BRK ... 56
8.2 Die Anwendung der UN-Konvention im Iran ... 57
9. Schlussbetrachtung ... 61
Literatur ... 62
Netzquellen ... 64

1
1. Einleitung
Die Thematik der vorliegenden Arbeit geht auf einen Impuls aus der mittleren
Leitungsebene einer Berliner Organisation der Behindertenhilfe zurück. Im Zuge
einer Restrukturierungs- und Standortbestimmungsdiskussion wurde der Vorschlag
entwickelt, sich über Formen der Arbeit und des Umgangs mit Behinderten in einer
Gesellschaft am Rande der Staatengemeinschaft zu informieren. Aufgrund der
Möglichkeiten des dadurch angestoßenen innerorganisationellen Dialoges wurde ein
Weg für die Berücksichtigung von Vorstellungen und Anregungen aus der mittleren
Leitungsebene geöffnet.
1
Mittels privater Kontakte wurden Stellen in der Islamischen
Republik Iran angesprochen. Diese galt bis 2015 noch als Pariastaat und war
international mit Sanktionen belegt. Zunächst wurde ein informeller Austausch über
private Quellen aktiviert und schließlich mit staatlichen Stellen ein Kontakt etabliert.
In der Folge kam es zu Besuchen von Iranischen Delegationen in Einrichtungen der
Organisation in Berlin.
Im Rahmen dieser Arbeit findet eine Bestandsaufnahme der Situation vor Ort im Iran
und der dortigen systemischen und strukturellen Voraussetzungen statt.
Im Besonderen soll in der Arbeit ein Blick auf die Situation von Menschen mit
Behinderung in der Islamischen Republik Iran vor dem Hintergrund der UN-
Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) geworfen
werden.
Zunächst betrachtet ein historischer Exkurs die Entwicklung der Sozialpolitik und
Behindertenfürsorge Persiens und des Iran. Hernach wird der gegenwärtige Stand
der Wohlfahrt in der Islamischen Republik Iran beleuchtet. Seit der Einführung einer
Islamischen Verfassung in der Republik Iran im Jahre 1979 hat sich die Sozialpolitik
grundlegend in Richtung einer institutionalisierten Wohlfahrt geändert. In der zuvor
praktizierten säkularen Staatsorganisation war Wohlfahrt oftmals mit privater und
nichtstaatlicher Fürsorge verbunden.
1
vgl. Merchel, J.: Organisationsgestaltung in der Sozialen Arbeit. Grundlagen und Konzepte zur Reflexion, Gestaltung und
Veränderung von Organisationen, S. 41

2
Vor dem Hintergrund der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention durch
die Islamische Republik Iran am 23.10.2009, nur ein halbes Jahr nach der
Bundesrepublik, soll der Versuch unternommen werden, den gegenwärtigen Stand
der Umsetzung zu ermitteln. Gesellschaftliche Veränderungsprozesse können von
"oben" oder "unten" angestoßen werden. Im vorliegenden Fall ist ein Prozess durch
supranationalen Anlass in Gang gesetzt worden und erfährt durch staatliche
Institutionen Lenkung.

3
2. Problemstellung
Mit der Veranlassung der Entwicklung eines bilateralen Austausches zwischen einer
Organisation der Behindertenhilfe in freier Trägerschaft aus Berlin mit staatlichen
Stellen der Wohlfahrt in der Islamischen Republik Iran durch einen Impuls aus der
Organisation heraus, wurde für alle Seiten Neuland betreten. Diese Aufgabe war mit
vielen überraschenden Erfahrungen verbunden.
Die Islamische Republik Iran ist dabei, der Gesellschaft einen Modernisierungsschub
zu verordnen, der sie entschlossen zu mehr Prosperität, Entwicklung und Un-
abhängigkeit führen soll. All dies vor dem Hintergrund jahrzehntelanger innerer
Restriktionen sowie internationaler Ächtungen und Sanktionen. Diese Eindrücke zu
analysieren und mit den Gegebenheiten und strukturellen Voraussetzungen in
Einklang zu bringen um Standortbestimmung zu betreiben, ist Ziel dieser Arbeit.
2.1 Forschungsfrage & Ziel der Arbeit
Ist eine Teilhabe von Menschen mit Behinderung nach den Maßstäben der UN-BRK
in einem Entwicklungs- oder Schwellenland vorstell- oder realisierbar? Mit welchen
Maßnahmen kann die Situation der Betroffenen verbessert werden?
Mit der Identifizierung der Entwicklungen im Wohlfahrts- und Bildungssystem als
Schwerpunkte soll aufgezeigt werden, welche Bemühungen die Islamische Republik
Iran darauf verwendet, die im internationalen Vergleich gestellten Anforderungen
durch die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-
BRK) zu erfüllen.

4
3. Methodik
Es handelt sich bei der Bearbeitung der Thematik um eine Forschungsarbeit mittels
Literaturstudium unter Einbeziehung eines Reiseberichtes, mit vor Ort gemachten
Erfahrungen. Aufgrund der Situation der jahrzehntelangen Ausgrenzung des Landes
aus der Staatengemeinschaft, ist die deutschsprachige Literaturgrundlage sehr
übersichtlich. Aus diesem Grund wird versucht, über englischsprachige Werke den
Kontext zu erweitern.
Zunächst betrachtet ein historischer Exkurs die Entwicklung der Sozialpolitik und
Behindertenfürsorge Persiens und des Iran. Hernach wird der gegenwärtige Stand
der Wohlfahrt beleuchtet. Seit der Einführung einer Islamischen Verfassung in der
Republik Iran im Jahre 1979, hat sich die Sozialpolitik grundlegend in Richtung einer
institutionalisierten Wohlfahrt geändert. In der zuvor praktizierten säkularen Staats-
organisation war Wohlfahrt oftmals mit privater und nichtstaatlicher Fürsorge
verbunden. Dies wird anhand der Ausgestaltung der Institutionen überprüft.

5
4. Historischer Abriss der Sozialpolitik im Iran
Der Abriss über die historische Entwicklung erster Ansätze von sozialpolitischem
Handeln im antiken Persischen Reich hin zu den Leitlinien eines differenzierten
sozialen Systems unter der Dynastie der Pahlawis, deutet die Bestrebungen zur
Ausgestaltung des gesellschaftlichen Miteinander in der islamischen Republik Iran
bereits an.
4.1 Land und Geografie
Der heutige Iran, das frühere Persien, ist ein vorderasiatischer Staat, der seine
längste Grenze von rund 1.600 Kilometern mit dem Nachbarstaat Irak teilt. Weitere
Anrainerstaaten sind die Türkei, Armenien, Aserbaidschan, Turkmenistan,
Afghanistan sowie Pakistan.
2
Die Bevölkerungszahl hat sich seit der Revolution von 1979 mehr als verdoppelt und
liegt aktuell bei etwa 82 Millionen Menschen, wovon ein Viertel unter 14 Jahren und
insgesamt 40% der Bevölkerung unter 24 Jahren ist.
3
Das Gros der Bevölkerung des Iran, etwa 66%, ist indogermanischen Ursprungs und
spricht Farsi (Neupersisch). Farsi entwickelte sich aus dem Mitteliranischen Parsi
und integrierte verschiedene Elemente regionaler Dialekte. Im Zuge der Islami-
sierung im Verlauf des siebenten und achten Jahrhunderts wurden vermehrt auch
arabische Lehnsworte in die Sprache integriert.
4
Die allgemein verbreitete Schrift
greift auf arabischen Schriftzeichen zurück.
5
Rund 25% der Stämme und
Volksgruppen sprechen Türkisch. Dies sind vor allem Aserbaidschaner und
Turkmenen, Schahsawan, Afschar, Qaschqai und Chamsa. Weitere 5% der
Bevölkerung sind Kurden und 4% repräsentieren verschiedene arabischsprachige
Stämme.
6
Im Gegensatz zur Türkei, ist in der Islamischen Republik Iran die
Verwendung des Kurdischen durchaus gängig und nicht verboten.
Weitere Volksgruppen mit teilweise anderen Sprachen und Dialekten sind als
nichtmuslimische Minderheit vor allem die Christen mit einem Anteil von rd. 117.000
2
vgl. Botschaft der Islamischen Republik Iran (Hg.): Islamische Republik Iran, S. 10
3
vgl. https://www.cia.gov/library/publications/resources/the-world-factbook/geos/ir.html (am 14.01.2017)
4
vgl. Amirpur, K., Witzke, R.: Schauplatz Iran, S. 16
5
vgl. Botschaft der Islamischen Republik Iran (Hg.): Islamische Republik Iran, S. 18
6
vgl. Afrooz, A.: Education and Special Education in Cross-Cultural Perspective, The Islamic Republic of Iran,
in: Peters, S.-J. (Hg.): Education and Disability in Cross-Cultural Perspective, S. 94

6
Mitgliedern. Unter ihnen sind wiederum die Armenier die größte, älteste und
bedeutendste Gruppe gefolgt von den Assyrern.
Nach den Christen stellen die Juden mit ca. 10.000 und die Zoroastrier (eine
monotheistische Religion aus der Epoche Zarathustras) mit weiteren 25.000
Anhängern die nächstgrößeren Minderheiten dar.
7
Insgesamt sind 98,8% der Iraner Moslems von denen wiederum 91% Schiiten und
7% Sunniten sind, sowie knapp 1% anderen islamischen Schulen folgen.
8
Dem Zensus von 2011 zufolge, konzentrieren sich mittlerweile über 70% der
Bevölkerung in den urbanen Zentren.
9
Geografisch befinden sich über 90% der Landmasse in Höhenlagen. Etwa die Hälfte
des Territoriums besteht aus Höhen- und Gebirgszügen, teilweise bis weit über der
Baumgrenze. Ein weiteres Viertel der Region besteht aus Wüsten. Lediglich etwa
25% der Böden sind für eine landwirtschaftliche Nutzung geeignet.
10
Aufgrund der
geologischen Bedingungen ist vielerorts die künstliche Bewässerung zur Erzielung
von agrarischen Erträgen seit Jahrtausenden üblich, denn der Iran ist wasserarm.
Auch die Flüsse und Gewässer führen wenig Wasser, nur ein Fluss ist überhaupt in
größerem Ausmaß schiffbar. Die Ertragssituation des Landwirtschaftssektors steuert
Grundnahrungsmittel bei, die durch weitere Einfuhren ergänzt werden müssen.
Eine Haupteinnahmequelle der Region besteht in der Ausbeutung und Förderung
von vorhandenen Erdölvorkommen. Die Islamische Republik Iran verfügt auf ihrem
Territorium über die weltweit etwa viertgrößten Vorkommen dieses Bodenschatzes.
4.2 Die soziale Struktur
Seit alters her wurde die traditionelle Sozialstruktur im Iran im Wesentlichen von der
Elite des Landes (bestehend aus der Familie des Schahs, dem Hofstaat, den Groß-
grundbesitzern, den Familien der Fernhändler, den großen Stammesführern und den
führenden Geistlichen) und der Masse der besitzlosen Pächter, Landarbeiter und
Bediensteten bestimmt.
11
Die dazwischenliegende dünne Mittelschicht (Händler,
Handwerker, Vorsteher, Beamte) erhob sich nur wenig über die unterste Schicht und
7
vgl. https://www.amar.org.ir/Portals/1/Iran/census-2.pdf, S. 27
8
vgl. Botschaft der Islamischen Republik Iran (Hg.): Islamische Republik Iran, S. 10
9
vgl. https://www.amar.org.ir/Portals/1/Iran/census-2.pdf, S. 3
10
vgl. Botschaft der Islamischen Republik Iran (Hg.): Islamische Republik Iran, S. 10
11
vgl. Ebert, H.-G., Fürting, H., Müller, H.-G.: Die Islamische Republik Iran, S. 11

7
war weit entfernt von der Elite. Ebenso ermangelte es auch einer breiten Adelsschicht,
wie in Europa prägend. Die soziale Stellung hing von der Geburt und nicht von
individuellen Fähigkeiten oder Leistungen ab. Dieses traditionelle Gefüge verschob
sich im Zeitraum der letzten hundert Jahre durch die Industrialisierung erheblich.
Eine neu entstandene Arbeiterklasse konnte ihre Position selbst bestimmen und
erzeugte eine wachsende Mobilität in die neue gesellschaftliche Mittelschicht.
12
In der traditionellen iranischen Gesellschaft spielt die Familie als Grundeinheit des
sozialen Zusammenlebens eine seit jeher herausragende Rolle.
13
Sie bietet dem
Einzelnen Sicherheit, definiert dessen soziale Position, verleiht ihm Identität und
fördert sein berufliches Fortkommen. Als patriarchalisches Familienoberhaupt
fungiert der älteste Mann, der nach seinem Verständnis für das Wohl der Familie
sorgt.
14
Dieser vom Alter bestimmten Autoritätsstufung ordnen sich alle nach-
folgenden Männer unter. Die Töchter spielen keine Rolle. Von der Frau wurde
erwartet, dass sie sich auf die Pflichten der Haushaltsführung und der Kinder-
erziehung beschränkt. Die Schwiegertochter muss sich der Autorität der Mutter ihres
Mannes fügen. Kinderlosigkeit gilt als Makel und ist oft Scheidungsgrund oder Anlass
für eine Zweitfrau.
15
Die Größe der Familie war ein entscheidender Faktor für die wirtschaftliche und
soziale Stellung, daher stand Kinderreichtum in hohem Ansehen. Ein Aspekt der
wirtschaftlichen und sozialen Existenzsicherung sowie derer weiteren Verbesserung
ist die Heiratspolitik.
16
Kinder werden noch immer ehelich versprochen und ab etwa
12 Jahren verheiratet. Nach dem bis 1979 geltenden Gesetz war ein Mindestalter
von 18 Jahren bei Frauen und von 21 Jahren bei Männern für die Eheschließung
erforderlich. Den neuen, nachrevolutionären islamischen Normen zufolge, wird
jedoch auch ein Alter von nur noch neun Jahren bei Mädchen und 15 Jahren bei
Jungen akzeptiert.
17
12
vgl. Ebert, H.-G., Fürting, H., Müller, H.-G.: Die Islamische Republik Iran, S. 47f
13
vgl. Afrooz, A.: Education and Special Education in Cross-Cultural Perspective, The Islamic Republic of Iran,
in: Peters, S.-J. (Hg.): Education and Disability in Cross-Cultural Perspective, S. 98
14
vgl. Afrooz, A.: Education and Special Education in Cross-Cultural Perspective, The Islamic Republic of Iran,
in: Peters, S.-J. (Hg.): Education and Disability in Cross-Cultural Perspective, S. 99
15
vgl. Amirpur, K, Witzke, R.: Schauplatz Iran, S.18
16
vgl. Amirpur, K, Witzke, R.: Schauplatz Iran, S. 21
17
vgl. Amirpur, K, Witzke, R.: Schauplatz Iran, S. 20

8
4.3 Erziehungs- und Schulsystem
Seit Jahrhunderten sorgten traditionelle Koranschulen (Maktab) und die
weiterbildenden religiösen Schulen (Madrasa) für die Erziehung und Bildung im
Iran.
18
Dort wird jahrelang das Repetieren und Rezitieren von Koranversen eingeübt,
bevor es später teilweise zu diskursiven Auslegungsübungen und Interpretationen
kommt. Daneben zählen auch Schreiben und Mathematik zu den Unterrichtsinhalten.
Sie haben ihre Funktion bis in die Gegenwart beibehalten und erfahren seit 1979
wieder besondere staatliche Aufmerksamkeit und Zuwendung.
19
Der steigende Bedarf an Führungskräften in Armee und Verwaltung war Anlass ab
1851 eine Erweiterung des Erziehungs- und Bildungswesens einzuleiten.
20
Erste Primar- und Sekundarschulen wurden Ende des 19. Jahrhunderts auf privater
Initiative hin gegründet. Ein Großteil waren christliche Missionsschulen, die zwar
europäische Bildungseinflüsse nach Persien transportierten, in ihren Missions-
bestrebungen aber überwiegend erfolglos blieben. Um 1900 gab es etwa 117
Missionsschulen im Lande, eine Vielzahl davon allein in Teheran.
21
Das Bildungsgrundgesetz von 1911 strebte den Aufbau einer staatlichen Schul-
organisation nach französischem Vorbild mit einer Schulpflicht für Kinder ab dem
siebten Lebensjahr im ganzen Land an.
22
Der hoffnungsvolle Beginn geriet aber bald
ins Stocken. Erst ab 1964 wurde das Modell eines neuen Schulsystems vorgelegt
und in Gesetzesform gebracht.
Es sah eine fünfjährige Grundschule und eine dreijährige Lenkungsperiode mit dem
Ziel der Eignungsprüfung vor. Mit dieser achtjährigen Schulform sollte der Schüler in
den für ihn geeigneten Weg der weiteren Schulbildung oder kurzfristigen Berufs-
ausbildung gelenkt werden.
23
Der Paragraph 11 des Schulpflichtgesetzes legte die Gründung von Sonderschulen
für behinderte Kinder fest. Zur Organisation der Sonderschule ist durch das
Ministerium für Sonderpädagogik (MSP) von einer teilintegrierten Sonderschule die
18
vgl. Rafat, S.: Das iranische Bildungssystem in der Dynastie Pahlawi und der Islamischen Republik, S. 27ff
19
vgl. Afrooz, A.: Education and Special Education in Cross-Cultural Perspective, The Islamic Republic of Iran,
in: Peters, S.-J. (Hg.): Education and Disability in Cross-Cultural Perspective, S. 102
20
vgl. Afrooz, A.: Education and Special Education in Cross-Cultural Perspective, The Islamic Republic of Iran,
in: Peters, S.-J. (Hg.): Education and Disability in Cross-Cultural Perspective, S. 102
21
vgl. Rafat, S.: Das iranische Bildungssystem in der Dynastie Pahlawi und der Islamischen Republik, S. 34f
22
vgl. Rafat, S.: Das iranische Bildungssystem in der Dynastie Pahlawi und der Islamischen Republik, S. 48
23
vgl. Rafat, S.: Das iranische Bildungssystem in der Dynastie Pahlawi und der Islamischen Republik, S. 49

9
Rede, die eingerichtet werden soll, wenn die Gründung einer reinen Sonderschule
nicht möglich ist.
24
Dies bedeutete, dass der erste Ansatz zur Beschulung von
behinderten und nichtbehinderten Schülerinnen und Schülern zwar noch keinen
gemeinsamen Unterricht vorsah. Jedoch konnten sich beide Schülergruppen
zumindest durch das gemeinsame Benutzen der Örtlichkeiten begegnen. Leider gibt
es dazu keine Auswertungen, bzw. quantitative Erhebungen oder qualitative
Bewertungen. Die teilintegrierten Sonderschulen waren vornehmlich dem Mangel an
Ausstattung und geeigneten Standorten geschuldet. Ebenso herrschte lange eine
eklatante Unterversorgung der Schulen mit sonderpädagogisch geschultem
Personal.
Mit der Einführung der Islamischen Verfassung 1979 war auch ein Rechtsanspruch
auf Schul- und Oberschulbildung verbunden. In § 30 der Verfassung der Islamischen
Republik Iran heißt es dazu:
,,Der Staat ist verpflichtet, unentgeltliche Bildungs- und Erziehungsmittel für die
ganze Nation bis zum Oberschulabschluss bereitzustellen und die Mittel zur Hoch-
schulbildung, soweit es die Selbstversorgung des Landes erfordert, unentgeltlich zu
fördern."
25
Heute gilt eine neunjährige Schulpflicht, bestehend aus Grundschule und Mittelstufe,
sowie einer optionalen zweiten Sekundarstufe.
Vorschulerziehung oder Kindergärten waren lange gemeinhin unüblich und lediglich
in einigen Metropolen anzutreffen.
26
Dort wurden sie vor allem von Ausländern und
deren Betrieben, bzw. Organisationen beansprucht und auch unterhalten.
27
Erst seit
den achtziger Jahren ist eine signifikante Zunahme zu verzeichnen. So hat sich die
Anzahl von Kindergärten mit Vorschulprogrammen seit 1973 von 267 Einrichtungen
auf 7.382 Einrichtungen mit fast 200.000 Kindern im Schuljahr 2000/01 vervielfacht.
28
Im Jahre 2014 besuchten bereits über 530.000 Kinder vorschulische Einrichtungen.
29
Bildung genießt mittlerweile in der Islamischen Republik Iran einen hohen
Stellenwert. Der Arbeitskräftebedarf in qualifizierten technischen oder akademischen
24
vgl. Amirpur, K, Witzke, R.: Schauplatz Iran, S.19
25
vgl. Botschaft der Islamischen Republik Iran (Hg.): Islamische Republik Iran, S. 51
26
vgl. Moghbeli, K.: Schule zwischen Orient und Okzident. Das iranische Bildungssystem im Spannungsfeld
zwischen europäisch geprägter Modernisierung und islamischem Anspruch, S. 228
27
vgl. Afrooz, A.: Education and Special Education in Cross-Cultural Perspective, The Islamic Republic of Iran,
in: Peters, S.-J. (Hg.): Education and Disability in Cross-Cultural Perspective, S. 103
28
vgl. Rafat, S.: Das iranische Bildungssystem in der Dynastie Pahlawi und der Islamischen Republik, S. 157
29
vgl. https://www.amar.org.ir/english/Iran-Statistical-Yearbook/Statistical-Yearbook-20013-2014, S. 651 (am 13.01.2017)

10
Berufen steigt mit den Modernisierungsbestrebungen stetig. Aufgrund der durch die
Sanktionen eingeschränkten Versorgung mit Industriegütern, erhielt eine subsistierte
Entwicklung eigener Erzeugnisse Vorrang.
Seit 1990 existiert ein modernes gegliedertes Schul- und Berufsbildungssystem,
welches stark an westlichen Organisationsformen orientiert scheint.
In der Islamischen Republik Iran ist das Bildungssystem, ähnlich wie in Frankreich,
zentralistisch organisiert. Die Bildung wird dabei im Iran als eine K-12 Bildung (vom
Kindergarten bis zum Abitur, also Elementar-, Primar- und Sekundarbereich)
bezeichnet. Nach dem fakultativen Besuch einer einjährigen Vorschule wird zunächst
ab dem Alter von sechs Jahren die 5-jährige Grundschule durchlaufen. Anschließend
besuchen die 11­ bis 14-jährigen Jugendlichen noch drei Jahre die Sekundarstufe I
bis zum Abschluss.
30
In der Regel findet die Unterrichtung nicht koedukativ statt und
ist halbtags organisiert. Jedes Schuljahr endet mit den Versetzungsprüfungen, die
maximal zwei Mal wiederholt werden können.
31
Nach dem Abschluss der Sekundarstufe I mit einem Mittelschulabschluss, kann man
entweder die Ausbildung für drei Jahre an einer allgemeinbildenden Oberschule
(Sekundarstufe II) fortsetzen oder eine ebenfalls 3-jährige Berufsausbildung
aufnehmen. Für diese stehen einerseits die Technischen Oberschulen, bzw. auch die
Berufsschulen zur Verfügung.
32
Es gibt auch die Möglichkeit an Berufsbildungsprogrammen an einem Institut für
technische Ausbildung der Technical and Vocational Training Organisation (TVTO -
pers. Sazmane Amoozeshe Fanni va Herfeiee Keshvar) teilzunehmen. Sie stellt die
Hauptorganisation für Kurzzeitkurse in der beruflichen Bildung für technische
Tätigkeiten dar. Diese bieten auf drei Qualifikationsebenen Zertifikate für 1- bis 18-
monatige berufsorientierende Qualifikationskurse verschiedener Branchen.
33
Nach erfolgreichem Abschluss der Sekundarstufe II können die Schüler der
allgemeinbildenden oder Technischen Oberschulen anschließend den einjährigen
Universitätsvorbereitungskurs besuchen. Nach Absolvierung sind sie berechtigt, an
Eingangsprüfungen der Universität teilzunehmen.
30
vgl. Rafat, S.: Das iranische Bildungssystem in der Dynastie Pahlawi und der Islamischen Republik, S. 143
31
vgl. Moghbeli, K.: Schule zwischen Orient und Okzident. Das iranische Bildungssystem im Spannungsfeld
zwischen europäisch geprägter Modernisierung und islamischem Anspruch, S. 245
32
vgl. Rafat, S.: Das iranische Bildungssystem in der Dynastie Pahlawi und der Islamischen Republik, S. 144
33
vgl. https://www.bq-portal.de/de/db/berufsbildungssysteme/5515 (am 27.12.2016)

11
Die Eingangs- bzw. Aufnahmeprüfungen für Universitäten entscheiden über die
Aufnahme an der Universität für angewandte Wissenschaft und Technologie (UAST
­ pers. Daneshgahe Jame Elmi va Karbordi) oder an geisteswissenschaftlichen
Universitäten. Mitarbeiter von Organisationen die den Ministerien unterstehen, aber
auch Mitarbeiter halbstaatlicher Unternehmen haben die Möglichkeit, an von der
UAST genehmigten Programmen ohne Aufnahmeprüfung teilzunehmen. Dies setzt
die Mitglieder mit einem dem des öffentlichen Dienstes vergleichbaren Status
gegenüber anderen Bewerbern in Vorteil.
34
Für die sonderpädagogische Förderung zeichnet nach wie vor die Sonderschule
verantwortlich. Obgleich die Einführung teilintegrierter Sonderschulen in den
neunzehnhundertsiebziger Jahren ein erster Schritt zur Integration von Kindern mit
Behinderungen in den Regelunterricht darstellte. Aufgrund des hohen Bedarfes an
Schulplätzen wurde gerade in den ruralen Gegenden des Landes dieses Modell
gebräuchlicher. Dennoch bleibt es bei einer Unterausstattung, sowohl von der Anzahl
an Standorten, wie auch an der Zahl des entsprechend ausgebildeten Personals.
35
Seit der Revolution sind die Schülerzahlen allgemein erstmal stark angestiegen. So
von 11 Mio. in 1982 über 16 Mio. in 1990 bis zum Höhepunkt von 18,5 Mio. im Jahre
1998.
36
Seitdem ist mit dem Rückgang der Geburtenrate auch eine Abnahme der
Schülerzahlen verbunden. Diese entwickelten sich der letzten Erhebung für das
Statistische Jahrbuch der Islamischen Republik Iran zufolge über 15 Mio. im Jahre
2008 auf nur noch 13,4 Mio. im Erhebungsjahr 2014 zurück.
37
Der Anteil an Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf
fällt im Vergleich zu den Gesamtzahlen der Schülerinnen und Schüler sehr gering
aus. So war im Betrachtungszeitraum bis 2009 eine kontinuierliche Zunahme von
zunächst rund 60.000 auf dann 101.500 Schülerinnen und Schülern zu
verzeichnen.
38
Seitdem sank die Anzahl über 82.000 in 2010 auf zuletzt 72.700 im
Jahre 2014.
39
34
vgl. https://www.bq-portal.de/de/db/berufsbildungssysteme/5515 (am 27.12.2016)
35
vgl. Moghbeli, K.: Schule zwischen Orient und Okzident. Das iranische Bildungssystem im Spannungsfeld
zwischen europäisch geprägter Modernisierung und islamischem Anspruch, S. 239
36
vgl. https://www.amar.org.ir/english/Iran-Statistical-Yearbook/Statistical-Yearbook-2009-2010, S. 651 (am 13.01.2017)
37
vgl. https://www.amar.org.ir/english/Iran-Statistical-Yearbook/Statistical-Yearbook-2013-2014, S. 639 (am 13.01.2017)
38
vgl. https://www.amar.org.ir/english/Iran-Statistical-Yearbook/Statistical-Yearbook-2009-2010, S. 654 (am 13.01.2017)
39
vgl. https://www.amar.org.ir/english/Iran-Statistical-Yearbook/Statistical-Yearbook-2013-2014, S. 642 (am 13.01.2017)

12
Dies ist einerseits verwunderlich, da die Diagnosemethodik im Allgemeinen eine
Verfeinerung erfahren hat, als auch die Möglichkeiten, diese in Anspruch zu nehmen
sich stark verbessert haben. Es ist zumindest die Erfahrung, die in der Bundes-
republik gemacht wird, dass eine Verfeinerung und Präzisierung der Diagnostik in
der Regel eine Zunahme von festgestelltem Förderbedarf nach sich zieht.
Andererseits kann die Risikovermeidung natürlich eine gewisse reduzierende
Gewichtung in der Erhebung nach sich ziehen.
Eine Besonderheit des Bildungssystems der Islamischen Republik Iran und ihrer
Ausrichtung in der Beurteilung von sonderpädagogischen Aspekten ist die Differen-
zierung der Förderbereiche. So wird die Sonderschule nach zwei Einrichtungstypen
unterschieden:
Zunächst gibt es die Sonderschulen für lern- und körperbehinderte Schülerinnen und
Schüler. Dies sind Einrichtungen mit besonderen baulichen und ausstattungs-
technischen Vorkehrungen. Die Förderbereiche der geistigen Behinderungen werden
in der Regel in geschlossenen Einrichtungen, die nicht dem Bildungsministerium
unterstehen, sondern von der State Welfare Organization (SWO ­ pers. Sasemane
Behsisti Keschwa) unterhalten werden, untergebracht und auch dort unterrichtet,
bzw. gefördert.
Auf der anderen Seite gibt es eine Form der Sonderschule für hochbegabte
Schülerinnen und Schüler. Diese werden ebenfalls unter sonderpädagogischen
Gesichtspunkten gefördert. Jedoch wird dabei der Schwerpunkt auf die elitäre
Förderung besonderer Begabungen unter Ausschluss von störenden Umweltfaktoren
betrieben.
40
Das heißt, die Schülerinnen und Schüler werden in ihren besonderen
Begabungen verstärkt gefördert, wobei die allgemeinbildenden Anteile jedoch
vernachlässigt werden.
4.4 Administrative Zuständigkeiten
Drei Ministerien nehmen gegenwärtig eine Schlüsselrolle im Schul- und Berufs-
bildungssystem des Iran ein. Gleichzeitig folgen daraus auch Überschneidungen von
Zuständigkeiten oder Unschärfe bei deren Abgrenzung.
40
vgl. Moghbeli, K.: Schule zwischen Orient und Okzident. Das iranische Bildungssystem im Spannungsfeld
zwischen europäisch geprägter Modernisierung und islamischem Anspruch, S. 238

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783961161447
ISBN (Paperback)
9783961166442
Dateigröße
457 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Donau-Universität Krems - Universität für Weiterbildung – Zentrum für Medizinische Spezialisierungen
Erscheinungsdatum
2017 (Juni)
Note
1,0
Schlagworte
UN-BRK Iran Wohlfahrt Sozialsystem Behinderung Schulsystem Erziehung Ausbildung Förderung Finanzierung Sozialausgaben
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Titel: Die Wohlfahrtspflege in der Islamischen Republik Iran vor dem Hintergrund der Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen
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