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Die Entscheidung für städtisches Leben

Beweggründe für den Zuzug aus dem Dresdner Umland

©2008 Diplomarbeit 140 Seiten

Zusammenfassung

Während Suburbanisierung der dominierende Trend war, der die räumliche Bevölkerungsentwicklung in den 90er-Jahren in Ostdeutschland beeinflusste, gibt es mittlerweile Anzeichen, dass die Stadt-Umland-Wanderung deutlich an Intensität verloren hat. Mittlerweile sind kleinräumige Tendenzen in Richtung einer Reurbanisierung zu beobachten, das heißt, einzelne Städte verzeichnen wieder Bevölkerungsgewinne, die auf Kosten ihres Umlandes gehen.
In Sachsen gibt es Belege dafür, dass sich unter anderem die Oberzentren Dresden und Leipzig nach Jahren des andauernden Bevölkerungsschwundes wieder stabilisieren und demzufolge ein “Rein in die Stadt“ existiert. Diese Entwicklung, welche als Indiz für eine “Reurbanisierung“ interpretiert wird, bildet den Ausgangspunkt für die Forschungsidee dieser empirisch angelegten Arbeit.
Ziel der Arbeit ist es, Beweggründe von Umland-Stadt-Wanderern in Dresden anhand einer qualitativen Datenerhebung zu erkunden und diese aus dem Blickwinkel des Rational-Choice-Ansatzes zu interpretieren.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


5.2.4
Beweggründe für den Umzug ... - 79 -
5.2.5
Weitere Einflussfaktoren der Entscheidung... - 79 -
5.2.6
Kosten der Entscheidung... - 96 -
5.2.7
Dauerhaftigkeit des Bleibens ... - 99 -
5.3
Reflexion der Ergebnisse ... - 99 -
5.3.1
Wohnstandortentscheidung Stadt... - 100 -
5.3.2
Die Präferenz der Stadt ... - 102 -
5.3.3
Nutzenerhöhung des rational agierenden Akteurs ... - 104 -
5.3.4
Differenzen zwischen Sub- und Reurbanisierung... - 106 -
6 Fazit ... - 109 -
7 Ausblick... - 111 -
Verzeichnis der Anhänge... - 113 -
Anhang ... - 113 -
Quellenverzeichnis ... - 117 -

Abbildungsverzeichnis
Abbildung 2.1: Wechselwirkung der Daseinsgrundfunktionen ... - 11 -
Abbildung 3.1: Die Lage von Dresden... - 33 -
Abbildung 3.2: Das Untersuchungsgebiet Dresden und sein Umland ... - 34 -
Abbildung 3.3: Entwicklung des Wohnungsangebotes und der -nachfrage in Dresden
1990- 2005... - 38 -
Abbildung 3.4: Bevölkerungsentwicklung der Stadt Dresden 1990-2006 ... - 40 -
Abbildung 3.5: Überschuss der Gestorbenen beziehungsweise Lebendgeborenen der
Stadt Dresden 1990-2006 ... - 41 -
Abbildung 3.6: Natürliche Bevölkerungsbewegung der Stadt Dresden 1990-2006 ... - 42 -
Abbildung 3.7: Räumliche Bevölkerungsentwicklung der Stadt Dresden 1990-2006... - 43 -
Abbildung 3.8: Überschuss der Fort- und Zuzüge der Stadt Dresden 1990-2006 ... - 43 -
Abbildung 3.9: Wanderungssaldo der Stadt Dresden bezogen auf das Umland, Sachsen,
die neuen und die alten Bundesländer sowie das Ausland 1990-2006 ... - 44 -
Abbildung 3.10: Wanderungssaldo der Stadt Dresden mit dem nahen Umland
differenziert nach neun Altersgruppen 1990-2006... - 46 -
Abbildung 3.11: Wanderungssaldo der Stadt Dresden mit dem fernen Umland
differenziert nach neun Altersklassen 1990-2006... - 47 -
Abbildung 3.12: Überschuss der Zu- und Fortzüge der Stadt Dresden nach Landkreisen
1990-2006... - 48 -
Abbildung 4.1: "Leserbrief" im Sächsischen Bote... - 59 -
Abbildung 5.1: Die Mikrostandorte der Befragten in Dresden ... - 74 -

Tabellenverzeichnis
Tabelle 2.1:
Typologie der Wohnstandortentscheidungen aus der Sicht eines
Umlandbewohners... - 17 -
Tabelle 2.2:
Einflussfaktoren auf die Wahl des Wohnstandortes ... - 24 -
Tabelle 3.1:
Anzahl der Gemeinden im nahen und fernen Umland nach Landkreisen - 34 -
Tabelle 5.1:
Beweggründe der Umland-Stadt-Wanderer sowie wirkende
Einflussfaktoren auf deren Wohnstandortentscheidung... - 81 -
Abkürzungsverzeichnis
ARL
Akademie für Raumforschung und Landesplanung
BBR
Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung
IÖR
Institut für ökologische Raumforschung
ÖPNV öffentlicher
Personennahverkehr
SMI
Sächsisches Staatsministerium des Inneren
SMWA
Sächsisches Staatsministerium für Wirtschaft und Arbeit
UBA Umweltbundesamt
UFZ Umweltforschungszentrum

1 EINLEITUNG
"Eine Flucht auf das Dorf gibt es nicht mehr" (Zimmermann, zit. nach Kloppenburg 30.01.2007: 7).
Kontext der Forschungsarbeit - Von der Suburbanisierung zur Reurbanisierung
Das "Raus aus der Stadt" war der dominierende Trend, der die räumliche
Bevölkerungsentwicklung in den 90er-Jahren in Ostdeutschland beeinflusste
1
. Die
Suburbanisierung
2
stellte, neben dem Wegzug in die westlichen Bundesländer, die wichtigste
Wanderungsströmung in dieser Zeit dar. Sie führte zu einer bedeutsamen
Abnahme der
Einwohnerzahl in den Städten (Herfert 1998: 763). Inzwischen gibt es jedoch Anzeichen
dafür, dass die Stadt-Umland-Wanderung deutlich an Intensität verloren hat, wie das
einleitende Zitat von Jens Zimmermann, dem stellvertretenden sächsischen
Regionalvorsitzenden des Immobilienverbandes Deutschlands, auf drastische Weise
verdeutlicht. Aber nicht nur in den neuen Bundesländern, sondern in Gesamtdeutschland
beobachtet der BBR einen beträchtlichen Rückgang dieser Entwicklung, die sich über alle
Stadttypen, sowohl schrumpfende als auch wachsende Städte, erstreckt (BBR 2006: 25). Vor
allem die Suburbanisierungsringe um die Großstädte in Ostdeutschland haben deutlich an
Bedeutung verloren (Sächsische Staatskanzlei 2006: 11).
3
Mittlerweile sind kleinräumige Tendenzen in Richtung einer Reurbanisierung zu beobachten,
das heißt, einzelne Städte verzeichnen demnach in den letzten Jahren wieder
Bevölkerungsgewinne, die auf Kosten ihres Umlandes gehen (Herfert 2002: 335), wie die
Abbildung im Anhang A1 verdeutlicht. Diese gegenläufige Entwicklung zur
Suburbanisierung
4
ist jedoch keine generelle in der "Schrumpfungslandschaft
Ostdeutschland", sondern betrifft vor allem einige Wachstumsinseln (Herfert 2007a: 446), die
1
Auch in den alten Bundesländern war dies eine wesentliche Tendenz der Raumentwicklung, welche schon viel
früher, nämlich in den 60er- und 70er-Jahren, eine Rolle spielte. In den 90er-Jahren gewann das Phänomen auch
dort wieder an Aktualität (Herfert 1998: 763). Ein Unterschied ist, dass die Suburbanisierungsprozesse im Osten
vor allem auf das nahe Umland konzentriert waren, während jene im Westen viel expansiver stattfanden (Bauer
2005: 269).
2
Suburbanisierung wird definiert als eine "Zunahme des Umlandanteils beziehungsweise Abnahme des
Kernstadtanteils der Bevölkerung und Beschäftigung in städtischen Räumen bei gleichzeitiger Veränderung der
Siedlungs-, der Wirtschafts-, der Bevölkerungs-, und der Sozialstruktur in Kernstadt und Umland" und
beinhaltet demzufolge räumliche und strukturelle Veränderungen (Gaebe 2004: 63).
3
Eine Ausnahme stellt jedoch Berlin dar (Herfert 2007a: 438), was die Abbildung im Anhang A1 belegt.
4
Suburbanisierung und Reurbanisierung sind zwei konträre Tendenzen, die sich teilweise gegenseitig bedingen,
aber jeweils auch durch eigenständige Ursachen und Rahmenbedingungen beeinflusst werden (BBR 2007: 20).
1

häufig zugleich auch "ökonomische Leuchttürme" sind (ebd.: 448). Wie schon angedeutet,
wird Reurbanisierung als eine quantitativ erfassbare Zunahme der Bevölkerungs- und
Beschäftigtenzahlen in der Kernstadt verstanden (Gaebe 1987: 152), die zulasten des
Umlandes erfolgt.
5
In Sachsen gibt es Belege dafür, dass sich unter anderem die Oberzentren Dresden und
Leipzig nach Jahren des andauernden Bevölkerungsschwundes wieder stabilisieren und
demzufolge ein "Rein in die Stadt" existiert. Aber nicht nur die Großstädte, sondern auch
einige wenige Mittelstädte wie Bautzen, Meißen und Mittweida konstatieren kleine
Binnenwanderungsgewinne (SMI 2006: 50). Diese Entwicklung, welche als Indiz für eine
"Reurbanisierung" interpretiert wird, bildet den Ausgangspunkt für die Forschungsidee dieser
Arbeit.
In der Tradition der wissenschaftstheoretischen Position des methodologischen
Individualismus soll mit dieser Forschung dazu beigetragen werden, das Phänomen des
Stadtwachstums ausgehend vom Individuum zu erklären. Die Autorin möchte deswegen die
Motive aufdecken, die Menschen zu einer Wohnstandortverlagerung aus einer
Umlandgemeinde in die Kernstadt führen. Diese Wanderer werden in der Arbeit auch als
"Reurbaniten" bezeichnet und stehen im Fokus der Untersuchung. Einen Sonderfall und
Teilgruppe der Reurbaniten stellen Individuen dar, die bereits urbane Wohnerfahrungen
gemacht haben und wieder zurück in die Kernstadt ziehen. Diese werden im Folgenden
explizit als "Rückwanderer" bezeichnet (BBR 2007: 20).
6
Die Aktualität der Reurbanisierung spiegelt sich auch in der großen Aufmerksamkeit in der
regionalen und auch überregionalen Presse wider, die Köppen (2005: o.S.) schon im Jahr
2005 feststellte. So feierte der Spiegel den "Triumph der City" (Beyer 2006: 134f.) und
informiert über neue Stadthäuser-Siedlungen in verschiedenen Großstädten Deutschlands für
Menschen, die sich als "zu zeitgeistig" für das Leben im Umland fühlen. Der Kulturspiegel
betitelt die Städte als "das zentrale Nervensystem" der Zukunft und führt eine Reihe von
5
Dies ist jedoch nur eine Begriffsbesetzung, die das Wort "Reurbanisierung" innehat.
Neben dem hier verwendeten Begriff, der sich auf die quantitative Dimension bezieht, gibt es in der
wissenschaftlichen Literatur auch Autoren, die Reurbanisierung in einer qualitativen Sichtweise benutzen und
lediglich auf Teilgebiete der Stadt beziehen (Osterhage 2005: 4). So hat Hofmeister den Begriff vor allem mit
der Aufwertung von Innenstädten (Hofmeister 1999: 71) beziehungsweise Gentrifizierungsprozessen
thematisiert. In der Tat gibt es teilweise auch innerhalb der Wachstumsräume eine solche Entwicklung, die mit
der Wanderung von der Peripherie in die Innenstadt und innenstadtnahe Stadtteile einhergeht (Herfert 2007a:
447). Dies soll jedoch nicht weiter thematisiert werden.
6
Die Begriffe Reurbanit, Umland-Stadt-Wanderer beziehungsweise -migrant werden in der Arbeit synonym
verwendet. Handelt es sich um die Teilgruppe der "Rückwanderer", dann wird jeweils explizit mit dieser
Begrifflichkeit darauf hingewiesen.
2

Gründen an, warum das Individuum das städtische Wohnen bevorzugt (Wellershoff 2005:
13f.). Auch Opaschowski mutmaßt, dass ein zukünftiges Wohnen vor allem in der städtischen
Siedlungsform stattfindet - das verkündet er mit seinem aktuellen Buch "Neue Lust an der
Stadt" (2005a) und eine "Abkehr vom urbanen Pessimismus" (Opaschowski 2005b: o.S.). Die
sächsische Lokalpresse greift das Thema ebenfalls mehrfach auf. So wird in einer Leipziger
Online Zeitung über die "Landflucht in Richtung Stadt" (Julke 18.02.2007: o.S.) geschrieben
und dass nun auch schon die "Suburbias" dieser Umzugstrend in die Stadt ereilt (Julke
21.02.2007: o.S.).
Die Ursachen dafür werden beispielsweise in den immer kleiner werdenden Unterschieden
von Immobilienpreisen und Mieten zwischen Stadt und Umland vermutet. Diese Angleichung
lässt möglicherweise vor allem junge Leute und Familien die Stadt als preiswerten Lebensort
mit kurzen Wegen wieder interessanter erscheinen (Kloppenburg 30.01.2007: 7, siehe
Anhang A2).
Da davon auszugehen ist, dass sich die Wachstumsinseln in Ostdeutschland weiter
stabilisieren (Herfert 2007a: 449), drängt sich die Frage auf, warum die Bewohner
7
aus dem
Umland ihrem Wohnort den Rücken zugunsten eines urbanen Lebensmittelpunktes verlassen.
Die in den Medien angesprochenen Motive beruhen jedoch vordergründig auf Spekulationen
der Verfasser, da bisher kaum Untersuchungen existieren, die sich explizit mit den
Beweggründen von Umland-Stadt-Migranten beschäftigt haben.
Die Forschungsfrage
Es besteht die Annahme, dass die beiden Wohnstandorte "Großstadt" sowie das
"Stadtumland" aufgrund kontrastreicher Merkmale eine unterschiedliche Attraktivität für die
Bewohner aufweisen, die zu der hier untersuchten Binnenwanderung führt. Die aus der
unterschiedlichen Bewertung der Lebensorte entstehenden Beweggründe sollen erfasst und
Parallelen in der Wahrnehmung der Befragten herausgestellt werden. Als
Untersuchungsgebiet wurde Dresden ausgewählt, da hier eine deutliche, quantitativ erfassbare
Veränderung bezüglich des Wanderungsverhaltens in Richtung der Kernstadt stattgefunden
hat.
7
In der Arbeit wird im Interesse der Lesbarkeit lediglich die männliche Form verwendet. Damit soll jedoch stets
auch die weibliche Form gemeint sein. Ausnahmen sind zitierte Interviewpartner sowie die Verfasserin der
Arbeit selbst. Letztere wird im Folgenden auch als Autorin, Forscherin und Diplomandin bezeichnet.
3

Die Forschungsfrage untergliedert sich in zwei Aspekte:
1. Aus welchen Gründen ziehen Individuen aus dem Umland in die Großstadt Dresden?
Im Rahmen dieser Fragestellung sollen verschiedene Motive explorativ aufgedeckt und
eine Gewichtungstendenz dieser Beweggründe dargestellt werden.
2. Welche Kosten- und Nutzenabwägungen werden im Zusammenhang mit den
Umzugsmotiven sichtbar?
Unter Zuhilfenahme des Rational-Choice-Ansatzes soll erklärt werden, welche
Nutzenmaximierung die Verlagerung des Lebensmittelpunktes für die Umland-Stadt-
Wanderer mit sich bringt.
Aufbau der Arbeit
Der Problemstellung entsprechend ist die Arbeit auf folgende Art und Weise gegliedert.
Im zweiten Kapitel wird der theoretische Rahmen der Arbeit vorgestellt. Nach einer
Begriffsbestimmung des "Wohnens" und der Darstellung der Relevanz eines
Wohnstandortes
8
folgt die Eingrenzung eines allgemeinen Handlungsrahmens, innerhalb
dessen Subjekte Entscheidungen über ihre Lebensorte treffen. Die individuell vorhandenen
Ressourcen und Präferenzen sowie die gegebenen Restriktionen bilden die Basis für das
Modell der Wahl eines Wohnstandortes. Danach folgt die Darstellung einiger Grundlagen des
Rational-Choice-Ansatzes, weil eine Entscheidungstheorie notwendig ist, um das Handeln
eines Subjektes zu erklären. Im Mittelpunkt des gewählten Ansatzes steht der zielgerichtet
handelnde Akteur, der seinen Nutzen maximieren möchte.
Das daran anschließende Kapitel stellt das ausgewählte Untersuchungsgebiet vor. Neben einer
statistisch-administrativen Abgrenzung von Dresden und seinem Umland werden einige
charakteristische Merkmale der Landeshauptstadt vorgestellt. Dazu gehört auch die
Bevölkerungsentwicklung der letzten Jahre, wobei die interessierende Umland-Stadt-
Wanderung in ihrer quantitativen Struktur etwas differenzierter beschrieben wird. Im letzten
Abschnitt werden einige Umzugsmotive von Dresdner Suburbaniten vorgestellt, um eine
Vergleichbarkeit mit den Beweggründen der Stadtzuwanderer zu haben.
Dem methodischen Vorgehen bei der Datenerhebung und -auswertung widmet sich der vierte
Teil. Neben einer Begründung des gewählten Verfahrens gehören dazu auch detaillierte
Beschreibungen des Forschungsablaufs, die von der Konstruktion des Interviewleitfadens,
dem schwierigen Feldzugang bis hin zur Aufbereitung und Auswertung des empirischen
8
Wohnstandort, Wohnort und Lebensort werden in der Arbeit synonym verwendet.
4

Materials reichen. Unabdingbar sind in diesem Kapitel auch einige kritische Bemerkungen
zur Umsetzung der gewählten Methode.
Das nachfolgende Kapitel beinhaltet die Auswertungsergebnisse und soll die Verbindung
zwischen den theoretischen Ansätzen und dem empirischen Daten herstellen. Nach einer
Charakterisierung der einzelnen Haushalte, den "Fällen", folgt eine Beschreibung der
Bedeutung des Wohnens. Die Umzugsanlässe, die Beweggründe sowie relevante
Einflussfaktoren auf die "Wohnstandortentscheidung Stadt" werden detailliert anhand des
empirischen Materials beschrieben und gedeutet. Eine anschließende Interpretation unter
Berücksichtigung des Konzeptes der Wohnstandortentscheidungen und des rational
agierenden Akteurs rundet diesen Teil ab.
Nach dem Fazit, welches die zentralen Ergebnisse zusammenfasst, wird ein Ausblick über die
mögliche Weiterentwicklung der Reurbanisierung sowie denkbare Veränderungen der
Beweggründe der Umland-Stadt-Wanderer gegeben.
5

2 THEORETISCHE GRUNDLAGEN
Im nachfolgenden Kapitel werden die theoretischen Aspekte dargestellt, welche die Basis für
die Auswertung des empirischen Materials bilden. Im Voraus soll angemerkt werden, dass in
der Arbeit bewusst auf die Darstellung von einzelnen, individualistisch orientierten
Wanderungstheorien verzichtet und nur eine allgemein gehaltene Beschreibung des
Handlungsrahmens gewählt wurde, in dem das Individuum seine Wohnstandortentscheidung
trifft. Dies soll flexible Bedingungen für die Auswertung der qualitativen Datenerhebung
schaffen.
Die Erfassung der Forschungsthematik beginnt mit einer Annäherung an eine Definition des
Wohnens. Wohnen wird im Zusammenhang der Arbeit nicht nur auf die konkrete Bleibe
beschränkt, sondern insgesamt in einem weiten Kontext begriffen, was die großräumige
Anordnung im Raum mit einbezieht. Der Makrowohnstandort wird im zweiten Kapitel als
wichtiger Ausgangspunkt für alle Lebensbereiche der Individuen dargestellt. Um einen
Einblick zu bekommen, welche Kriterien bei der Diskussion eines Wohnortes relevant sein
können, werden vier Stück davon benannt.
Eine individuelle Bewertung eines Wohnortes
erfolgt im Rahmen des theoretischen Konstrukts der "Wohnstandortentscheidungen". Anhand
von den folgenden drei Aspekten Ressourcen, Restriktionen und Präferenzen wird ein
allgemeiner Handlungsrahmen aufgezeigt, innerhalb dessen ein Subjekt die Wahl für oder
gegen das Verlassen eines Wohnstandortes trifft. Im darauf folgenden Abschnitt werden
einige wesentliche Aspekte der Handlungstheorie des Rational-Choice-Paradigmas
dargestellt, weil das der Arbeit zugrunde liegende Menschenbild ein nach Kosten- und
Nutzenfaktoren abwägender Akteur ist. Den Schluss bilden eine knappe Zusammenfassung
des Vorangegangenen sowie eine Bezugnahme auf die zu untersuchende Zielgruppe der
Umland-Stadt-Wanderer.
2.1 Wohnen als anthropologische Notwendigkeit
"Der umfriedete Raum (..), der Schutz und Geborgenheit vermittelt, schafft (..) erst die Voraussetzungen für
körperliche und geistige menschliche Existenz" (Heuer 1985: 20).
Zentrale Autoren der modernen Philosophischen Anthropologie beschreiben den Menschen
als ein "Mängelwesen" (Gehlen 1993: 16), das im Unterschied zum Tier nur über einen
6

unterentwickelten Instinktapparat verfügt. Deshalb ist der Mensch auf eine artenspezifische
Umwelt angewiesen und nur dann überlebensfähig, wenn er seine Umwelt mit den
vorhandenen Mitteln in eine Umgebung umgestaltet, die seiner Lebenserhaltung dient.
Aufgrund seiner "exzentrischen Positionalität" (Fischer 2000: 270ff.) muss das menschliche
Miteinander Siedlungscharakter annehmen. "Im Positionieren auf der Erdoberfläche, in der
Niederlassung, im Bauen und Wohnen wiederholen die Menschen zugleich Charaktere der
'Positionalität' als künstliche Grenzziehungen der Stabilisierung und Erscheinung: die
Siedlung wie die Behausungen markieren Innen und Außen" (Hervorhebung im Original,
Fischer 2004: 15). Dazu gehört, dass sie sich mit einer Behausung vor den Einflüssen der sie
umgebenden Natur, wie Kälte und Regen, schützen (Gleichmann 2000: 272). In einer
abgesicherten Umgebung zu leben, ist somit ein wichtiges Grundbedürfnis
9
, welches jedes
Individuum, unabhängig von dem Kulturkreis oder der Zeitepoche, besitzt (Zerweck 1997:
25). Das "Wohnen als basic need" (Conradi 1994: 39) ist jedoch der einzige Aspekt in der
wissenschaftlichen Diskussion, über den es einen generellen Konsens gibt - eine Annäherung
an diese Thematik endet schnell mit der Feststellung, dass eine allgemeingültige Definition
über das, was Wohnen eigentlich ist, nicht existiert (Johaentges 1996: 24, vgl. auch Flagge
1999: 12). Dieses Unvermögen, eine universale Beschreibung festzulegen, liegt daran, dass es
sich eben um ein "multidimensionales Phänomen" (Schmitt 2006: 33) handelt, dem sich aus
ganz unterschiedlichen Blickwinkeln genähert werden kann. So können beispielsweise
architektonische, geographische, ökonomische, psychologische, historische oder
soziologische Aspekte bei der Betrachtung im Vordergrund stehen (ebd.: 33).
Die Sprachgeschichte bietet einen wichtigen Anhaltspunkt, sich diesem Gegenstand
anzunähern. Der etymologische Inhalt des Wortes "Wohnen" hat sich zunächst von dem
Sinngehalt "sich behagen, zufrieden sein" hin zu der Bedeutung "verweilen, bleiben, sich
befinden" (Bollnow 1994: 127) weiterentwickelt. Während zunächst eine
Gefühlsbeschreibung im Vordergrund stand, betont der darauf folgende Inhalt eher den
räumlichen Bezug. Das Wohnen ist demzufolge an einen Ort gebunden und steht damit im
Gegensatz zu einem flüchtigen Aufenthalt irgendwo im Raum. Der Philosoph Bollnow
definiert das Wohnen ebenfalls raumbezogen: "Wohnen heißt an eine bestimmte Stelle
hingehören, in ihr verwurzelt sein und zu Hause sein" (ebd.: 277). Diese allgemein gehaltene
Definition, die sowohl eine räumliche als auch eine emotionale Komponente enthält, ist im
Kontext der Fragestellung dieser Arbeit ausreichend. Eine weit gefasste Begriffsbestimmung
9
Ein Bedürfnis soll wie in den Wirtschaftswissenschaften als die Wahrnehmung eines Mangels verstanden
werden, was mit dem Wunsch verbunden ist, diesen zu beheben (Zerweck 1997: 28).
7

wie diese macht es möglich, dass Wohnen nicht nur in Bezug zum konkreten Wohnraum
verstanden werden kann, sondern darüber hinaus in einem weitaus größeren Zusammenhang.
Das Wohnen wird also auch auf die unmittelbare Wohnumgebung, den Hausblock oder das
Quartier bezogen (Steinführer 2004: 40). Im Fokus dieser Arbeit steht jedoch die Zuordnung
zu dem großräumigen Siedlungsgefüge, das heißt, dem Wohnen in einem Dorf im
Stadtumland beziehungsweise der Großstadt.
Wie zu Beginn des Unterkapitels angedeutet wurde, stellt das Wohnen eine elementare
Notwendigkeit des menschlichen Daseins dar. Die Bedeutung einer Unterkunft geht jedoch
weit über die Erfüllung von grundlegenden physiologisch-biologischen Bedürfnissen, wie die
Suche nach Schutz und Wärme (beispielsweise in Form eines trockenen Schlafplatzes)
hinaus. Zerweck (1997: 27) verdeutlicht dies unter Zuhilfenahme der verschiedenen
Bedürfnisebenen, die Maslow in seiner Motivationstheorie
10
beschrieben hat. Eine vertraute
Behausung befriedigt beispielsweise auch das Verlangen nach Sicherheit und Geborgenheit
(ebd.). Dieser Lebensort ist deshalb im Grundgesetz Artikel 13 Absatz 1 als "unverletzlich"
geschützt (ebd.: 26). Des Weiteren erfüllen Räume, in denen der Einzelne lebt, auch soziale
Bedürfnisse. Sie ermöglichen enge Kontakte und Kommunikation, zum Beispiel im
Familienverbund. Andererseits verschafft eine abgeschlossene Räumlichkeit auch Ruhe und
eine Rückzugsmöglichkeit. Die Suche nach gesellschaftlicher Anerkennung ist ebenfalls ein
menschliches Verlangen, welches im Wohnen angesprochen und erfüllt wird (ebd.: 27). So
kann eine Wohnstätte als ein Statussymbol wirken und die soziale Stellung des Bewohners in
der Umwelt verdeutlichen (Weichhart 1987: 6). Außerdem spricht das Wohnen den
menschlichen Wunsch nach Selbstverwirklichung an (Zerweck 1997: 27). Die eigenen
Räumlichkeiten können beispielsweise im Rahmen der Ressourcenausstattung individuell
gestaltet werden und stellen einen Ausdruck der persönlichen Identität dar (Weichhart
1987: 7).
Die vorausgegangene "weit" angelegte Definition des Wohnens schließt jedoch wiederum mit
ein, dass die Bedürfnisse nicht nur im Zusammenhang mit der baulichen Beschaffenheit der
Wohnung selbst, sondern darüber hinaus in Verbindung mit dem räumlichen Bezug, dass
heißt der Zuordnung der Wohnung zu einem Dorf oder der Großstadt, gesehen werden
müssen. Dies soll exemplarisch an einem Aspekt, dem Verlangen nach sozialer Anerkennung,
verdeutlicht werden. Menzl (2007: 138) hat im Rahmen seiner Suburbanisierungsforschung
10
Trotzdem die verschiedenen Ebenen in diesem Unterkapitel in der hierarchischen Anordnung dargestellt sind,
die Maslow (1989: 62) vorgibt, steht die Autorin diesem Aufbau kritisch gegenüber. Dies ist jedoch für die
Forschungsfrage nicht bedeutsam und wird deswegen nicht weiter diskutiert.
8

herausgestellt, dass die Wohnortwahl im Zusammenhang mit dem Sozialprestige eines Ortes
(und der damit verbundenen Wohnform) steht. Im konkreten Fallbeispiel beschreibt er die
negative Wahrnehmung einer suburbanen Gemeinde, welche sowohl von Außenstehenden als
auch von den dort Ansässigen thematisiert wird. Ein Bewohner beschreibt das schlechte
Image folgendermaßen: "[Henstedt-Ulzburg ist] ein Ort, in dem man gut wohnen kann, der
allerdings auch ein geringes Prestige besitzt. Also das kann man eigentlich niemanden
erzählen, dass man in Henstedt-Ulzburg wohnt. [...] Für'n Hamburger ist das vollkommen
indiskutabel" (Einfügung im Original, ebd.: 138). Für einige der zugezogenen Bewohner
stellt diese ungünstige Bewertung des Wohnortes und die mangelnde soziale Wertschätzung
eine solche schmerzliche Belastung dar, dass sie versuchen, Gespräche über den Wohnort zu
vermeiden oder Strategien entwickeln, um den Wohnort zu rechtfertigen. So distanzieren sie
sich beispielsweise von den aktiven Zuzugsentscheidungen, indem sie auf Sachzwänge oder
Bindungen des Partners verweisen. Die Bewertung des Sozialprestiges eines Wohnortes ist
jeweils stark davon abhängig, welchem Milieu die Haushalte angehören beziehungsweise
angehören wollen (ebd.: 138).
11
Dieses Beispiel zeigt exemplarisch, wie beachtlich sich der Wohnort auf das Leben der
Individuen auswirkt. Dies wird unter anderem dadurch unterstützt, dass heutzutage ein großer
Teil der Zeit außerhalb des Berufslebens in den "eigenen vier Wänden" stattfindet. Flade
schätzt, dass ein Drittel der gesamten Lebenszeit in den eigenen Räumlichkeiten verbracht
wird (1996: 222). Damit wird verständlich, warum die Wohnung nach der Kleidung auch als
"dritte Haut" des Menschen bezeichnet wird (Opaschowski 2005a: 198) und in Befragungen
zur Lebensqualität jeweils einen wichtigen Rang in der Prioritätenliste einnimmt (Weichhart
1987: 6).
2.2 Der Wohnstandort
"Der eigene Wohnort ist der zentrale Knoten individueller Lebens- und Aktionsräume" (Beckmann 2006: 12).
Wie im vorherigen Kapitel schon angedeutet wurde, interessiert im Kontext dieser Arbeit vor
allem der räumliche Aspekt des Wohnens. Eine präzisere Eingrenzung ermöglicht die
Begrifflichkeit
des "Wohnstandortes". Dieser Ausdruck beschreibt explizit die Lage der
Wohnung im Raum. Dabei muss zwischen dem Makro- und dem Mikrostandort unterschieden
11
So stellt Menzl (2007: 139) die These auf, dass es vor allem in städtisch orientierten Lebenszusammenhängen
ein weit verbreitetes Negativimage von Suburbia und dem Eigenheim-dominierten Lebensentwurf existiert.
9

werden.
12
1. Der Makrostandort bezeichnet die großräumige Lage der Wohnung im Raum, zum
Beispiel in der Stadt x oder dem Dorf y im Stadtumland.
2. Der Begriff des Mikrostandortes verdeutlicht die kleinräumigere Lage der Behausung
innerhalb eines abgegrenzten Gebietes, zum Beispiel die konkrete Anordnung innerhalb
der Stadt in einem Stadtviertel (ARL 1982: 77).
In der vorliegenden Arbeit soll der Wohnstandort vor allem in Bezug zu der bei 1. genannten
Bedeutung stehen, denn das Untersuchungsziel besteht vordergründig darin, die Verlegung
eines Makrostandortes nachzuvollziehen. Die hier dargestellte analytische Trennung der
beiden genannten Begriffe ist nicht an jeder Stelle möglich beziehungsweise sinnvoll, da der
Makrostandort "Großstadt" durch die unterschiedlichen Merkmale der Mikrostandorte, der
Stadtteile, mitbestimmt wird und demzufolge in der Wahrnehmung der Interviewten auch
nicht unabhängig davon gesehen werden kann. Um den komplexen Prozess der
Wohnstandortverlagerung nachvollziehen zu können, wurde sich jedoch dafür entschieden,
auf ein heuristisches Verfahren, welches Maier (2001: 29) vorschlägt, zurückzugreifen. Der
Autor benennt die Möglichkeit der "stufenweisen Standortentscheidung", bei welcher sich die
räumliche Dimension einer Standortwahl in verschiedene Ebenen gliedert. Aufbauend auf
dieser Idee geht die Autorin davon aus, dass zuerst der Makrostandort gewählt wird und
danach der Mikrostandort.
Für den individuellen Alltag haben sowohl Mikro- als auch Makrowohnstandort eine
entscheidende Bedeutung. Sie wirken sich ganz gravierend auf die konkreten
Lebenszusammenhänge
13
aus, da sie den Ausgangspunkt für alle menschlichen
Handlungsbereiche darstellen. Im Folgenden werden diese verschiedenen menschlichen
Handlungsfelder mithilfe der in der Sozialgeographie benannten Daseinsgrundfunktionen
dargestellt. Das "Wohnen als menschliche Notwendigkeit" wurde bereits im ersten Kapitel
verdeutlicht. Die Daseingrundfunktionen, die, wie die Abbildung 2.1 zeigt, in einem
12
Es kann auch noch weitergehend nach Makro-, Meso- und Mikroebene differenziert werden, so wie dies
Heineberg (2001: 175) für die Standortwahl privatwirtschaftlicher Einrichtungen vorschlägt. Der Makroaspekt
bezeichnet bei ihm die großräumige Lage in der Stadtregion, die Mesoebene die Lage im Stadtteil und die
Mikroebene benennt die konkrete Anordnung, zum Beispiel die Lage in einer Hauptgeschäftsstraße. Diese
kleinteilige Differenzierung ist jedoch für die Forschungsfrage nicht relevant.
13
An dieser Stelle kann auch das Konzept der "Alltäglichen Lebensführung'' angeführt werden, welches "die
Gesamtheit aller Tätigkeiten im Alltag von Personen (...), die das Leben eines Menschen ausmachen" umfasst
(Projektgruppe "Alltägliche Lebensführung" 1995: 30). Das schon erwähnte Forschungsprojekt von Menzl
(2007) beschreibt auf der Grundlage dieses Konzeptes beispielsweise den Alltag des suburbanen Wohnens einer
Umlandgemeinde von Hamburg.
10

ständigen Wechselverhältnis stehen, sind folgende vier (Partzsch 1964, zit. nach Ruppert
1969: 208f.):
1. Arbeiten
2. sich bilden
3. sich erholen
4. sich versorgen und konsumieren
Abbildung 2.1: Wechselwirkung der Daseinsgrundfunktionen
Quelle: Werlen (2000): 176, eigene Veränderungen.
Die Verkehrsteilnahme und die Kommunikation (was in der Darstellung mit "in der
Gemeinschaft leben" bezeichnet ist) dienen als Vermittler zwischen den
Grunddaseinsfunktionen (Ruppert 1969: 209).
14
In der vorliegenden Arbeit wird davon ausgegangen, dass diese verschiedenen
Handlungsbereiche beziehungsweise Funktionen von einem Wohnort aus bewältigt werden,
auch wenn eine enorme Anzahl von multilokalen Haushalten existiert, die eine oder mehrere
der genannten Aktivitäten von mindestens zwei Orten aus tätigen (Forberg 2007: o.S.).
Am Beispiel der Versorgung mit Lebensmitteln zeigt sich, welche Auswirkungen ein
Wohnstandort hat. Während in einer Großstadt wie Dresden die Versorgung durch eine
Vielzahl von Einkaufsmöglichkeiten in der Regel ausreichend ist, existieren vor allem im
14
Einige Autoren betrachten diese beiden Aspekte auch als eigenständige Faktoren.
11

ländlich geprägten Raum, welcher von Schrumpfungsprozessen betroffen ist, keine
Nahversorgungsgelegenheiten mehr, was vor allem für ältere und/oder unmobile Personen mit
Schwierigkeiten verbunden ist. Diese Problematik ist derzeit sowohl in sächsischen Dörfern
und Kleinstädten aktuell, was eine vom Wirtschaftsministerium des Freistaates Sachsen in
Auftrag gegebene Studie belegt. So bieten momentan mehr als ein Viertel der 83 Gemeinden
im ländlichen Raum südlich von Dresden
15
bereits keine oder nur eine in Teilsegmenten
mögliche Nahversorgung an, welche die Bewohner in Anspruch nehmen können (SMWA
2007: 80). Die Versorgung über einen Bürgerkonsum wie in Bad Schlema (ebd.: 111) stellt
eine Lösungsmöglichkeit dar, hat aber bisher nur einen Modellcharakter (siehe Anhang A3).
Auch wenn der ländliche Raum als Gebiet mit einem "besonderen Handlungsbedarf"
deklariert worden ist (BBR 2005: 213) und die Sicherung der Daseinsvorsorge ein wichtiges
Augenmerk der Politik darstellt, so ist es durchaus möglich, dass die Probleme der
Versorgung in nächster Zeit zunehmen und ein relevantes Umzugsmotiv, vor allem für die
genannten Personengruppen werden.
Um einen Standort zu bewerten, werden in der wissenschaftlichen Literatur verschiedene
Kriterien angeführt, die bei der Bedürfnisbefriedigung des Individuums eine Rolle spielen
können. Die Beurteilung ist dabei unter anderem abhängig von den speziellen Wünschen,
deren Auslebung durch die vorhandenen Ressourcen ermöglicht oder gehemmt wird.
Steinberg (1974: 408) hält drei Faktoren bei der Wohnstandortwahl für relevant, die im
nachfolgenden Abschnitt nach der von dem Autor vorgeschlagenen Gewichtung dargestellt
werden. Steinberg ist der Auffassung, dass die Ansprüche an eine Wohnung das wichtigste
Standortkriterium eines Haushaltes bezüglich der Wohnortwahl sind und infrastrukturelle
Bedingungen die geringste Relevanz haben (ebd.: 408). Die drei Aspekte werden durch ein
Kriterium von Weichhart ergänzt.
1. Die Wohnung
Die Entscheidung für einen bestimmten Wohnort muss immer in Verbindung mit der
Wohnung gesehen werden (Zerweck 1997: 50, vgl. auch Paschedag 1998: 159), das heißt
standortbezogene und wohnobjektbezogene Bedürfnisse können nicht voneinander getrennt
werden. Die Wohnung muss also den Bedürfnissen des Haushaltes entsprechen. Die
speziellen Wünsche an die Wohnung werden häufig in Abhängigkeit des Lebenszyklus
analysiert (Steinberg 1974: 408) beziehungsweise im Zusammenhang mit dem neueren
15
Südlich von Dresden umfasst in der Studie des SMWA den Weißeritzkreis sowie den Landkreis Sächsische
Schweiz.
12

Konzept des Lebensstils diskutiert, was bei 2.3.2 noch aufgegriffen wird. Bei der Auswahl der
Unterkunft werden vor allem die Größe (Wohnfläche, Raumanzahl) und die Merkmale des
Gebäudes beziehungsweise der Wohnanlage (Baujahr, Anzahl der Stockwerke) sowie die
Wohnungsausstattung (Balkon, Heizungsart, Bodenbelag) berücksichtigt. Außerdem spielt es
eine wichtige Rolle, ob die Wohnung gemietet oder gekauft werden kann (Paschedag 1998:
159f.).
2. Umwelteinflüsse
Des Weiteren wichtig sind die Umwelteinflüsse, die am Wohnstandort wirken. Vor allem der
Lärmpegel und die Luftqualität können diesbezüglich als relevante Faktoren benannt werden.
So kann beispielsweise ein erhöhter Lärmpegel durch Straßen- und Flugverkehr zu
erheblichen Gesundheitsbeeinträchtigungen wie erhöhtem Blutdruck, Tinnitus oder
Schlafstörungen führen (UBA 2007: o.S.). Eine große Feinstaubbelastung verursacht unter
Umständen ebenfalls erhebliche körperliche Belastungen und es besteht ein Zusammenhang
zwischen der Feinstaubkonzentration und einer erhöhten Mortalität aufgrund von Atemwegs-
und
Herz-Kreislauf-Erkrankungen (UBA 2005: 15). Negative Umwelteinflüsse wie diese sind
nur schwer mit entgegenwirkenden Maßnahmen auszugleichen (Steinberg 1974: 408).
3. Infrastruktur
Ein drittes wichtiges Merkmal, welches die individuelle Wertigkeit eines Wohnstandortes
ausmachen kann, sind die vorhandenen infrastrukturellen Bedingungen. Eingeschlossen ist
diesbezüglich jede Form von öffentlicher Infrastruktur, das heißt, sowohl technische als auch
soziale Gegebenheiten. Neben der schon erwähnten Versorgung mit Lebensmitteln und
Dienstleistungen sind demzufolge genauso Bildungs- und Kulturangebote sowie die
Verkehrsanbindung in Form eines Straßennetzes und dem Öffentlichen Nahverkehr gemeint.
Ein wichtiger Aspekt bei der individuellen Bewertung ist häufig die Distanz zum Arbeitsplatz
(Weichhart 1987: 242).
Die Qualität der Infrastruktur ist deswegen bedeutsam, weil für die Überwindung von
Entfernungen Kosten anfallen. Außerdem kann durch eine unzureichende
Infrastrukturausstattung die Lebensqualität eingeschränkt werden, zum Beispiel wenn
bestimme Einrichtungen fehlen.
4. Emotionale und soziale Qualitäten
16
(Weichhart 1987: 254)
16
Weichhart nennt diesen Aspekt vor allem im Blickwinkel auf das unmittelbare Wohnumfeld. In dem
folgenden Abschnitt wurde jedoch eine Übertragbarkeit auf das Konzept des Makrostandortes gewählt.
13

Individuen sind mit ihren Wohnungen und Wohnorten stark emotional verbunden, denn sie
erfüllen, wie Porteous argumentiert, die Funktion eines Territoriums: "Sie bieten Sicherheit,
Identität, Stimulation und Kommunikation" (Porteous 1977: 63 zit. n. Weichhart 1987: 8). Bei
der Wahl eines Wohnstandortes spielen also ebenso gefühlsmäßige Bewertungen der Akteure
eine Rolle. Mit der emotionalen Qualität eines Wohnortes ist laut Überlegungen der Autorin
vor allem die Bewertung der Siedlungsform mit all ihren Eigenschaften gemeint. Die
Präferenzen der Akteure unterscheiden sich hinsichtlich der Beurteilung des Dorf- oder
Stadtlebens. So lässt sich anhand der Studie von Schneider & Spellerberg belegen, dass
verschiedene Lebensstilgruppen (siehe Kapitel 2.3.2) empirisch sichtbare Präferenzen haben,
was die Lage der Wohnung betrifft (1999: 192). Einige Gruppen bevorzugen das Leben im
Umland, während andere die Großstadt präferieren. Offensichtlich ist, dass für Haushalte mit
Kindern
17
das Wohnen im ländlich geprägten Umland häufig emotional positiv belegt ist und
im Gegensatz zur Großstadt eher eine "kindgerechte Umgebung" darstellt, was die Aussage
einer Interviewpartnerin (Frau L) verdeutlicht:
"Wenn man Kinder haben (..) will [und die]
irgendwie auf dem Land aufwachsen, kann [das] halt auch sehr gut sein, dass die (..) mehr
(..) im Wald spielen können; dass man die einfach spielen lassen kann, draußen, ohne sich
groß Gedanken machen zu müssen, während das in der Stadt ja sehr schwierig wird
"
(Einfügung nicht im Original
).
Diese Wahrnehmung findet sich auch in den Ergebnissen einer
Studie des IÖR wieder, in denen 19 % der Befragten eine "kindgerechte Umgebung" als ein
Umzugsmotiv in das Dresdner Umland angeben (Müller 1997: 49, vgl. auch Häußermann
2004: 73), wobei dies insgesamt jedoch nur einen kleinen Teil des Ursachenkomplexes der
Wanderungsbewegung ausmacht.
Mit der emotionalen Bewertung eng verbunden ist auch die soziale Qualität eines Wohnortes.
Damit sind vor allem die (sozialstrukturellen) Merkmale der Bewohnerschaft gemeint. Es
kann davon ausgegangen werden, dass es Personen anstreben mit Menschen
zusammenzuwohnen, die einen ähnlichen Lebensstil verfolgen. Dieses Argument wird häufig
auch zur Erklärung von Segregation genutzt (Friedrichs 1988: 59). Das von
Suburbanisierungsprozessen gekennzeichnete Dorf kann diesbezüglich wieder als
Anschauungsbeispiel dienen. Die homogenen Nachbarschaften, die zum Beispiel häufig in
den Neubaugebieten mit Einfamilienhäusern entstehen, erfüllen das Bedürfnis nach einem
17
Familien gelten häufig auch als Träger der Stadt-Umland-Wanderung. Die suburbane Lebensweise kommt
laut Häußermann vor allem den Ansprüchen von Personen entgegen, die als biographischen Weg das Leben mit
Kindern wählen. Für alternative Lebensformen hat dieser "way of life" nur eine eingeschränkte Attraktivität
(2004: 74). Gemessen an der Gesamtzahl der Personen, die in das Umland wandern, dominieren auch noch
immer die Drei- und Vierpersonenhaushalte (Heitkamp 2002: 12). Aufgrund des gesellschaftlichen Trends zu
kleineren Haushalten, verlieren Familienhaushalte jedoch insgesamt immer mehr an Bedeutung (BBR 2007: 5).
14

"besseren sozialen Umfeld", das 28 % aller Stadtabwanderer in der bereits genannten Studie
äußern (Müller 1997: 49).
Diese vier genannten Faktoren geben einige Anhaltspunkte wieder, die bei der Einschätzung
eines Wohnortes aus dem Blickwinkel eines Haushaltes bedeutsam sein können. Die
Interviewpartner hatten im Rahmen der offenen Interviews keine Vorgaben bei der
Beschreibung und Bewertung ihrer Wohnstandorte, so dass die Möglichkeit bestand, noch
weitere relevante Gesichtspunkte zu thematisieren.
Unabhängig davon, welche Faktoren bei der Beurteilung im Mittelpunkt stehen, wird ein
Wohnstandort in der Arbeit als ein Gut begriffen, denn "alle Objekte, die geeignet sind zur
Bedürfnisbefriedigung beizutragen, nennt man (...) Güter" (Kunz 2004: 33). Ein bestimmter
Wohnstandort hat also jeweils eine gewisse Wertigkeit, die dem Individuum eine mehr oder
weniger gute Befriedigung seiner Wünsche ermöglicht und im Sinne des rational agierenden
Akteurs einen Nutzen erzeugt, was im Kapitel 2.4. thematisiert wird. Die Ansprüche
konzentrieren sich hauptsächlich auf die bereits genannten Kriterien, die wiederum eng in
Verbindung mit den bereits beschriebenen Grunddaseinsfunktionen stehen. Wenn die
Bedürfnisse an der momentanen Stelle im Raum nicht befriedigt werden, dann überdenkt der
Haushalt sein Verbleiben an dem Wohnstandort und die Alternativen dazu - er trifft eine
Entscheidung für oder gegen den aktuellen Wohnort, was Gegenstand des folgenden Kapitels
ist.
2.3 Wohnstandortentscheidungen
"Die Wahl eines Wohnstandortes ist (..) zweifellos eine der wichtigsten Entscheidungen, die von Mitgliedern
eines Haushaltes zu treffen sind" (Hempel 1979: 409 zit. nach Weichhart 1987: 9).
Die Bewertung und der Nutzen eines Wohnortes aus dem Blickwinkel eines Haushaltes sind
nicht dauerhaft konstant, sondern unterliegen Veränderungen, die durch unterschiedliche
Faktoren ausgelöst werden, welche innerhalb oder außerhalb des Haushaltes liegen. Interne
Umstände, die dazu veranlassen, die Bedürfnisbefriedigung des Lebensortes in Frage zu
stellen, liegen häufig im Lebenszyklus begründet. So veranlasst die Geburt eines Kindes oder
die Trennung vom Partner das Überdenken der aktuellen Wohnsituation und gegebenenfalls
eine Anpassung an die vorhandenen finanziellen Mittel. Faktoren, die außerhalb des
Haushaltes liegen, sind beispielsweise wahrgenommene Verschlechterungen des
Wohnumfeldes oder auch Mietpreissteigerungen, die der Haushalt nicht bewältigen kann oder
15

möchte (Steinführer 2004: 18).
Steinführer schlägt für den vielschichtigen Sachverhalt der Wahl eines Wohnortes folgende
Definition vor: "Wohnstandortentscheidungen sind im Lebensverlauf regelmäßig ablaufende
individuelle Bewertungs- und Entscheidungsprozesse in Bezug auf einen subjektiven
Wohnstandort, die von Wohnwünschen, der Verfügung über materielle und kulturelle
Ressourcen sowie von institutionellen Restriktionen, insbesondere dem Verhältnis von
Angebot und Nachfrage auf dem jeweiligen Wohnungsmarkt, beeinflusst werden" (ebd.: 41).
Diese umfassende Begriffsbestimmung verbindet somit die Mikroebene des Subjektes
(Wohnwünsche, Ressourcen) mit den strukturellen Faktoren der Makroebene (zum Beispiel
politische Rahmenbedingungen, Wohnungsmarkt).
18
Der Fokus dieser Arbeit richtet sich vor
allem auf die Mikroebene, was bedeutet, dass das Individuum mit seiner speziellen
Wahrnehmung im Mittelpunkt steht. Die Wohnstandortentscheidung, das heißt in diesem Fall
die Wanderung vom Stadtumland, wird als "eine Form individuellen Verhaltens" aufgefasst
(Johaentges 1996: 28), denn die Forscherin interessiert sich für die Beweggründe dieser
speziellen Migrationsbewegung. Die Analyse erfolgt in direkter Befragung der Beteiligten
und wird nicht durch die statistische Auswertung von entsprechendem Datenmaterial
analysiert. Die Makroebene wird berührt, weil die handelnden Akteure in einem strukturellen
Kontext eingebettet sind, welcher die individuellen Beweggründe beeinflusst. Dies wird in
dem Unterpunkt 2.3.2 angedeutet.
Als Ende des Entscheidungsprozesses stehen letztlich nur die zwei Möglichkeiten: das
Bleiben oder das Verlassen des Wohnstandortes. Steinführer (2004: 24) hat auf der Grundlage
der Ideen von Hirschmann und der Weiterentwicklung von Franz eine Typologie der
Wohnstandortentscheidungen entwickelt, welche dies etwas differenzierter darstellt.
Für die im Umland Lebenden ergeben sich drei Handlungssets, die, wie die Tabelle 2.1
dargestellt, jeweils mehrere Optionen umfassen:
1. Der momentane Wohnort wird verlassen.
2. Der Haushalt verbleibt am aktuellen Wohnstandort und versucht entweder allein oder im
Zusammenschluss mit anderen Personen etwas an der unbefriedigenden Situation zu
ändern.
3. Der Haushalt verbleibt "passiv" am Wohnort, ohne dass etwas an der Situation verändert
wird.
18
Die Verbindung von Mikro- und Makroebene wird im Kapitel 2.4 noch in generellerer Form besprochen.
16

Tabelle 2.1: Typologie der Wohnstandortentscheidungen aus der Sicht eines Umlandbewohners
1. Verlassen des
Wohnstandortes
2. Das "aktive" Verbleiben
am Wohnstandort
3. Das "passive" Verbleiben
am Wohnstandort
Umzug innerhalb des
Stadtumlandes in ein anderes
Dorf bzw. eine Stadt
Resignation: Anpassung der
Bedürfnisse (bzw.
Präferenzen) an die Realität
Umzug in die Großstadt
Verzweiflung / Apathie
Umzug in eine andere Region
/ Stadt
Autoaggression: Vandalismus,
Kriminalität
individuelle
Veränderungsstrategien
(z.B. Kauf eines Autos, um die
Mobilitätszeiten zum
Arbeitsplatz in der Stadt zu
verringern)
Abwarten
kollektive
Veränderungsstrategien
(z.B. Zusammenschluss der
Bewohnerschaft, um die
Nahversorgung durch einen
Dorfkonsum zu verändern)
Quelle: Steinführer 2004: 24, eigene Veränderungen.
Nachfolgend wird ein allgemeiner Handlungsspielraum aufgezeigt, in dessen Rahmen diese
Wohnstandortentscheidungen (sowohl die Verlagerung als auch die Beibehaltung eines
Wohnortes) ablaufen. Die drei hier im Fokus stehenden Faktoren basieren auf der Definition
von Steinführer (2004: 41) beziehungsweise den Ausführungen von Gaebe (2004: 126) und
greifen einige Annahmen des RREEMM-Modells auf, welche im Kapitel 2.4. noch einmal
dargestellt werden und auf denen die Rational-Choice-Theorie aufbaut.
Wohnstandortentscheidungen werden maßgeblich von den folgenden Faktoren beeinflusst:
1. Ressourcen (ökonomische, kulturelle, soziale) und Restriktionen (individuelle Ressourcen
und strukturelle Gegebenheiten).
2. Wohnortpräferenzen (Ziele, Motive, Wünsche).
2.3.1 Ressourcen und Restriktionen
"Als Rahmenbedingungen sind vor allem die Verfügbarkeit von Wohnraum (...), finanzielle, zeitliche und
materielle Ressourcen, fehlende "obrigkeitliche" Restriktionen (...) zu nennen" (Weichhart 1987: 2).
Um zu klären, welche Ressourcen ein Individuum bei der Wohnstandortwahl hat, ist der
Bezug auf den Kapitalbegriff von Bourdieu
19
hilfreich. Kapital ist "akkumulierte Arbeit,
19
Bourdieu modelliert Handlungen auf der Basis der folgenden Begriffe: Kapital, Habitus und Feld. Im
Gegensatz zu dem dargestellten Rational-Choice-Ansatz, welcher die individuelle Wahl in den Vordergrund
stellt, steht bei Bourdieu der gesellschaftlich prädeterminierte Akteur im Vordergrund. Dies kommt vor allem im
"Habitus" (sozial und biographisch erworbenen Denk- und Wahrnehmungsschemata) zum Ausdruck (Gabriel
1998: 13).
17

entweder in Form von Material oder in verinnerlichter, <<inkorporierter>> Form"
(Bourdieu 1992: 49, Hervorhebung im Original). Bourdieu unterscheidet zwischen drei
grundlegenden Kapitalarten
20
, die ein Mensch besitzt: den ökonomischen, kulturellen und
sozialen Kapitalien (ebd.: 53). Die unterschiedliche Ausstattung dieser "Handlungsmittel"
strukturiert neben den individuellen Wünschen den Zugang zum Feld, das heißt in dieser
Arbeit zu Wohnraum und Wohnstandorten (Gaebe 2004: 126). Der unterschiedliche
Kapitalienbesitz kann maßgeblich die unterschiedliche Einnahme von bestimmten Orten im
Raum erklären, denn Kapitalien sorgen dafür, "dass nicht alles gleich möglich oder gleich
unmöglich ist" (Bourdieu 1992: 50).
Ökonomisches Kapital
Zum ökonomischen Kapital gehören alle Arten des materiellen Besitzes, die in und mittels
Geld tauschbar sind (Fuchs-Heinritz 2005: 161). Es eignet sich vor allem zum Erwerb von
Eigentum (Bourdieu 1992: 52). Die genannte Kapitalart liegt allen folgenden Arten zugrunde
und kann deswegen auch als das primäre Kapital angesehen werden. Auch in Bezug auf
Wohnstandortprozesse ist dies die wichtigste Ressource, welche die Relevanz der folgenden
Kapitalarten übertrifft. Dies lässt sich für Ostdeutschland unter anderem damit begründen,
dass hier ein entspannter Wohnungsmarkt mit Angebotsüberhang, ein so genannter
"Mietermarkt" herrscht (Steinführer 2004: 59). Aufgrund dieses
Sachverhaltes ist davon
auszugehen, dass die finanzielle Ausstattung (was auch die Sicherheit des Einkommens
umfasst (Häußermann 2001: 32)) beim Zugang zu Wohnraum ziemlich dominant ist und
beispielsweise Kontakte keine so große Rolle spielen, wie auf Wohnungsmärkten, auf denen
Engpässe bestehen. Je mehr finanzielle Mittel vorhanden sind, desto größer ist die
Möglichkeit, einen Wohnstandort nach den individuellen Bedürfnissen auszuwählen. Eine
geringe Mietzahlungsfähigkeit hingegen schränkt die Wahlmöglichkeiten enorm ein
(Steinberg 1974: 411) und veranlasst gegebenenfalls zum Bleiben. Für die Option des
Verlassens eines Wohnortes ist jeweils ein gewisses ökonomisches Grundkapital notwendig,
welches die Umzugskosten, Renovierungs- und Einrichtungskosten abdeckt. Die Ausstattung
eines Haushaltes mit finanziellen Ressourcen ist dabei insgesamt stark abhängig von der
Position auf dem Arbeitsmarkt (Häußermann 2001: 32).
Es besteht die Vermutung, dass der Zuzug nach Dresden aus dem Umland von Menschen mit
20
Es wird teilweise noch eine weitere Kapitalart unterschieden, das symbolische Kapital, welches auf
Bekanntheit und Anerkennung gründet und somit die Wahrnehmung der Umwelt (den im Akteur gelagerten
ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapitalien) bezeichnet. Diese Kapitalart wird jedoch nicht weiter
erwähnt, da einige Autoren sie mit dem sozialen Kapital gleichsetzen (Fröhlich 1994: 37).
18

jeglicher finanzieller Ausstattung betrieben wird, vorausgesetzt, dass dieses Grundkapital
vorhanden ist. Dies lässt sich deshalb erahnen
,
weil in allen Segmenten des
Wohnungsmarktes noch ausreichend Wohnraum vorhanden ist (Landeshauptstadt Dresden
2007b: 28), was eine freie Wahl im Rahmen der eigenen Mittel möglich macht. Es besteht
also die Annahme, dass die finanzielle Ausstattung den Zuzug zu dem Wohnort Stadt nicht
maßgeblich beeinflusst
21
, sondern sich lediglich auf die Anordnung bezüglich der städtischen
Teilgebiete auswirkt, wobei letzteres nicht im Fokus der Untersuchung steht.
Soziales Kapital
Unter dieser Kapitalart werden vor allem jene Ressourcen gefasst, die im Zusammenhang mit
dem Besitz eines dauerhaften Beziehungsnetzwerkes stehen (Bourdieu 1992: 63). Diese
Kontakte können dabei einen ganz unterschiedlichen Institutionalisierungsgrad aufweisen und
beispielsweise von der Zugehörigkeit eines Verwandtschaftsclans oder einer Partei reichen.
Ein dichtes soziales Netzwerk, welches als "Gatekeeper" (Häußermann 2001: 32) bei der
Wohnungssuche fungieren kann, erweist sich vor allem auf angespannten Wohnungsmärkten
als nützlich und bei Personen mit Migrationshintergrund, die häufig diskriminierenden
Praktiken der Vermieter ausgesetzt sind (ebd.: 25f.). Andererseits ist es auch möglich, dass
die vorhandenen sozialen Kontakte wie ein Magnet für einen bestimmten Wohnort wirken,
denn wie schon erwähnt wurde, bevorzugen es viele Personen mit Individuen, die einem
ähnlichen Lebensstil aufweisen, zusammenzuwohnen (ebd.: 34).
Kulturelles Kapital
Bourdieu unterscheidet zwischen drei Formen des kulturellen Kapitals (Bourdieu 1992: 53),
wobei für die Handlungsmöglichkeiten bezüglich der Wohnstandortwahl vor allem jenes im
verinnerlichten Zustand (zum Beispiel Fertigkeiten, Bildung) relevant ist. Das Wissen über
den Wohnungsmarkt, das Mietrecht und bestimmte weitere Gesetze, wie zum Beispiel über
Pendlerpauschale oder Eigenheimzulage spielen eine Rolle.
22
So weisen Haushalte mit hohen
kulturellen Ressourcen in der Regel einen größeren Informations- und Suchradius auf als jene
mit einem niedrigen (Gaebe 2004: 128, vgl. auch Steinberg 1974: 411). Dies kann durch die
geringeren ökonomischen Mittel erklärt werden, aber auch durch die geringeren Kenntnisse
21
Fasst man den Begriff der Reurbanisierung enger und setzt ihn in Bezug zu Gentrifizierungsprozessen, wo
innenstadtnahe Stadtteile im Fokus stehen, dann ist davon auszugehen, dass dieser Zuzug eng an die
Kapitalausstattung gebunden ist. Durch zahlreiche Modernisierungs- und Aufwertungsmaßnahmen verengt das
hohe Mietniveau dort den Zugang zu Wohnraum auf kapitalstarke Gruppen und verdrängt einkommensschwache
Haushalte.
22
Häußermann & Siebel bezeichnen dieses Wissen auch als eine kognitive Ressource (2001: 32).
19

bezüglich der Recherchemöglichkeiten und der Gestaltung einer effizienten Suche. Ein
grundlegendes Wissen über den Wohnungsmarkt und darin wirkende Prozesse bilden erst die
Voraussetzung dafür, dass eine große Wahlfreiheit herrscht. Nur damit besitzen die
Wohnungssuchenden eine entsprechende Chance, dass ihre Präferenzen realisiert werden
(Zerweck 1997: 55). In Wohnungsmärkten mit Angebotsmangel ist es auch denkbar, dass sich
institutionalisiertes kulturelles Kapital (zum Beispiel ein Bildungstitel) positiv auf die Chance
zur Erlangung einer Wohnung beziehungsweise des Wohnortes auswirkt. Das kulturelle
Kapital spiegelt sich auch in dem eigenen Lebensstil wider, was unter dem Punkt
"Wohnpräferenzen" kurz angedeutet wird.
Die verschiedenen Kapitalarten sind miteinander konvertierbar, wobei ihre Übertragbarkeit
mit unterschiedlicher Transformationsarbeit verbunden ist. Kulturelles und soziales Kapital
können mithilfe von ökonomischen Kapitalien erworben werden, zum Beispiel Bildung,
womit gewisse Zeitaufwendungen verbunden sind. Kulturelle und soziale Ressourcen können
unter bestimmten Bedingungen wiederum in ökonomische Kapitalien umgewandelt werden,
wobei Verluste auftreten können (Fröhlich 1994: 37).
Zusammenfassend ist laut Gaebe (2004: 126) davon auszugehen, dass, je größer der Besitz
aller drei Kapitalarten ist, desto höher sich auch die Chance gestaltet, dass ein Wohnstandort
entsprechend der aktuellen Bedürfnislage besetzt werden kann und nur geringere restriktive
Bestimmungen wirken. Dabei zählt nicht allein die quantitative Menge des Kapitals, sondern
auch das Verhältnis der Kapitalien zueinander, vor allem des ökonomischen und des
kulturellen Kapitals (Burzan 2005: 140).
Gesellschaftliche und städtische Restriktionen
Wie in den vorausgehenden Ausführungen bereits verdeutlicht wurde, wirkt sich der Besitz
von Kapitalien sowohl fördernd als auch hemmend auf die Wahlmöglichkeiten bezüglich des
Wohnortes aus. Es existieren außerdem noch weitere, vom Individuum unabhängige
Faktoren, die den Handlungsspielraum des Einzelnen beeinflussen: gesellschaftliche und
städtische Rahmenbedingungen (Steinführer 2004: 32). So kann beispielsweise ein sehr
begrenzter Markt für Baugrundstücke innerhalb einer Großstadt dazu führen, dass Akteure,
die ein Haus bauen möchten, kein adäquates Grundstück mit einem angemessenen Preis-
Leistungs-Verhältnis finden. Es liegt nahe, dass sie auf umliegende Gemeinden mit günstigen
Baulandpreisen ausweichen, selbst wenn dies nicht ihrem ersten Standortwunsch entspricht.
Die Nachfrage und das Angebot auf dem Wohnungsmarkt strukturieren im Wesentlichen
20

Wohnstandortentscheidungen und können die Handlungsoptionen des Einzelnen erheblich
reduzieren und vor allem die Wohnmobilität einschränken (ebd.: 34). Außerdem kann die
aktuelle Wohnungs- und Vermögenspolitik der Regierung maßgeblich die
Wohnstandortentscheidungen beeinflussen (ebd.: 32). So haben beispielsweise politische
Regelungen, wie die Pendlerpauschale und die Eigenheimzulage, den Prozess der
Suburbanisierung wesentlich begünstigt. Eine Verminderung von solchen Anreizen verändert
(und verringert) die Möglichkeiten der Haushalte. Ein weiterer Aspekt, der beachtet werden
muss, ist die Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt. Vor allem Haushalte mit geringem
Einkommen sehen sich diesbezüglich häufig Einschränkungen ausgesetzt, die die
Wahlmöglichkeiten erheblich vermindern (Häußermann 2001: 25f). Insgesamt sollten laut
Weichhart (1987: 2) die restriktiv wirkenden Strukturen nicht unterschätzt werden und die
Freiheitsgrade des Einzelnen nicht überbewertet werden.
2.3.2 Präferenzen
"Die Entscheidung für einen Wohnstandort [ist] stark von der momentanen Lebensphase (...) abhängig"
(Einfügung nicht im Original, Beckmann 2006: 69).
Die Präferenzen eines Individuums hinsichtlich des Standortes werden vor allem durch die
aktuellen Ansprüche determiniert. Aber nicht nur die Gegenwart bestimmt die Wohnwünsche,
sondern auch die bisherigen Wohnerfahrungen, das heißt die persönliche Wohnbiografie kann
bei der Wahl eines Wohnortes wirksam werden. So stellt Menzl die Erfahrungen als ein
wichtiges Motiv in Bezug auf Suburbanisierungsprozesse dar. Er schreibt: "Vom <<Land>>
kommend, wird die stadtbezogene Lebensphase als Episode dargestellt, deren Begrenztheit
immer schon oder doch zumindest rückblickend absehbar gewesen ist. Mit der Rückkehr ins
<<Grüne>> glauben diese Haushalte an ihre eigene Herkunft anknüpfen zu können"
(Hervorhebung im Original, Menzl 2007: 135). In ähnlicher Form ist dies auch für den
spiegelverkehrten Wanderungsprozess denkbar. So ist es möglich, dass sich bisherige urbane
Wohnerfahrungen auf einen erneuten Zuzug auswirken.
Die Präferenzen eines Haushaltes werden häufig in Abhängigkeit der Stellung im
Lebenszyklus und/oder dem Lebensstil beschrieben, was nachfolgend kurz angedeutet wird.
21

Lebenszyklus
Als zentrale Einflussgrößen für die spezifischen Anforderungen eines Haushaltes werden in
diesem Konzept im Wesentlichen das Alter, der Familienstand, die Haushaltsgröße sowie der
Haushaltstyp betrachtet. Diese Faktoren werden zur Erklärung herangezogen, um spezifische
Anforderungen eines Haushaltes zu erklären (BBR 2007: 6). Bedürfnisse hinsichtlich der
Wohnung, des Wohnumfeldes und auch dem großräumigen Standort entwickeln sich häufig
in Abhängigkeit von bestimmten Ereignissen (Wicher 1992: 45). So führen Veränderungen,
wie der Eintritt ins Berufsleben oder eine Scheidung zu anders gearteten Ansprüchen, wobei
diese geänderten Gegebenheiten häufig in Wanderungen münden (Frick 1996: 44).
Das Lebenszykluskonzept wird oft in Zusammenhang mit den verschiedenen Stadien eines
Familienlebenslaufes beschrieben. So unterscheidet Krämer (1992: 18) sechs Phasen eines
traditionellen, familienorientierten Lebenslaufes: die Gründungs-, Expansions-,
Konsolidierungs- und Schrumpfungsphase, worauf die nachelterliche Gefährtenschaft und
später die Verwitwung einsetzt. Jede Lebensphase bringt spezifische Präferenzen hinsichtlich
der Wohnung und auch des Wohnortes mit sich. So wurde die Suburbanisierungsbewegung
häufig im Zusammenhang mit der Konsolidierungsphase diskutiert, welche von der Geburt
des letzten Kindes bis zum Verlassen des Haushaltes durch dieses Kind dauert.
Aufgrund der Pluralisierung der Lebensformen ist es jedoch nicht ausreichend, nur Familien
zu betrachten, denn viele Personen durchlaufen den traditionellen Familienzyklus nicht mehr
oder nur noch unvollständig und praktizieren andere Lebensformen, wie nichteheliche
Lebensgemeinschaften (Herlyn 1990: 81, vgl. auch BBR 2007: 6). Ein ergänzendes Konzept
stellt deswegen das des Lebensstils dar (Steinführer 2004: 27), was nachstehend thematisiert
wird.
Lebensstil
Das Lebensstilkonzept ermöglicht einen detaillierten Zugang zu den Bedürfnissen von
bestimmten Personengruppen. In einem Lebensstil werden ähnliche Werte und
Verhaltensweisen abgebildet (Schneider 1999: 96). Lebensstile werden definiert als
"raumzeitlich strukturierte Muster der Lebensführung (...), die von Ressourcen (materiell und
kulturell), der Familien- und Haushaltsform und den Werthaltungen abhängen" (Müller
1992: 376). Wie in der vorausgehenden Begriffsbestimmung deutlich wird, werden
Lebensstile keineswegs frei gewählt, sondern sind jeweils von den individuell vorhandenen
Kapitalarten geprägt (Burzan 2005: 143), das heißt, die vorhandenen Ressourcen schaffen erst
Optionen, eine bestimmte Lebensweise zu verwirklichen. "Harte" soziodemographische und
22

-ökonomische Faktoren spielen also ebenso eine Rolle wie "weiche" Faktoren, die
Einstellungen und Wünsche umfassen (BBR 2007: 6).
Verschiedene Lebensstilgruppen besitzen jeweils unterschiedliche Vorlieben und Bedürfnisse,
was sich auch in der Wahl der Wohnstandorte zeigt. Der Zusammenhang zwischen Lebensstil
und Wohnstandort gilt mittlerweile als unstreitbar (Häußermann 2004: 74).
Schneider & Spellerberg (1999: 192) stellten für Deutschland eine differenzierte Anordnung
der Lebensstile
23
zwischen verschiedenen Gemeindegrößenklassen dar, die von der
"Großstadt" bis hin zu "auf dem Land" reichen. Dieser Zusammenhang kann jedoch für
Westdeutschland in einem stärkeren Ausmaß festgestellt werden als für Ostdeutschland. So
zeigt sich beispielsweise in den alten Bundesländern, dass 54 % der Lebensstilgruppe der
"Arbeits- und Erlebnisorientierten" die Großstadt bewohnen, während nur 17 % auf dem
Land
24
leben. Die Mitglieder dieser Gruppe zeichnen sich durch hohe Bildungsgrade und
Berufspositionen, ein entsprechendes Einkommen sowie eine abwechslungsreiche
Freizeitgestaltung, aus. Drei Viertel der Arbeitsorientierten sind ledig (ebd.:: 108).
Eine geringe Passung zwischen der momentanen Lebensphase beziehungsweise dem
Lebensstil und dem Wohnstandort führt insgesamt zu einer geringen Zufriedenheit
hinsichtlich der Wohnsituation, welche zu den schon benannten Handlungsoptionen führt. Es
kann insgesamt davon ausgegangen werden, dass die Wahl der Wohnung und des
Wohnstandortes sowohl von der Lebensphase als auch zusätzlich vom Lebensstil geprägt
wird. So wird ein junger Mensch, der das Haus der elterlichen Suburbaniten verlässt, dies aus
Gründen des Lebenszyklus' tun (Aufnahme eines Studiums in einer anderen Stadt) und auch
aus Gründen des Lebensstils (Suche nach einer angemessenen Verwirklichung der eigenen
Lebensvorstellungen) (Schneider 1999: 231).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Wohnstandortentscheidungen von der individuellen
Ressourcenausstattung, den Präferenzen und den herrschenden strukturellen Restriktionen
abhängen. In Tabelle 2.2 sind diese Einflussfaktoren zusammengefasst.
23
Hier wird sich auf die Lebensstile bezogen, die im Rahmen einer repräsentativen Studie
"Sozialwissenschaften-Bus" im Jahr 1996 klassifiziert wurden.
24
In der Studie meint dies Gemeinden unter 5.000 Einwohnern.
23

Tabelle 2.2: Einflussfaktoren auf die Wahl des Wohnstandortes
Ressourcen
Finanzielle Mittel
(Einkommen, Sicherheit des Einkommens)
Kulturelles Kapital
Bildung (Sprachfähigkeit, Kenntnisse über Wohnungs-
markt und wohnungsrechtliche Bestimmungen)
Lebensstil
Soziale Beziehungen
("gatekeeper")
Restriktionen
Informationen über das Wohnungsmarktangebot
(v.a. auf struktureller Ebene)
Wohnungsangebot
Zugangsbarrieren (Makroebene), z.B. Diskriminierung
gesetzliche Regelungen
Präferenzen
sind abhängig von:
der Stellung im Lebenszyklus
dem Lebensstil
der Wohnbiographie
Quelle: Gaebe 2004: 127, eigene Veränderungen.
2.4 Rational Choice - ein Erklärungsansatz für menschliche Handlungen
"Wähle die Handlung, die deinen Nutzen maximiert" (Hill 2002: 48).
Esser hat in Anschluss an Lindenberg, Coleman et al. ein "Modell der soziologischen
Erklärung" entwickelt, welches Prozesse auf der Makroebene (Reurbanisierung) mit dem
Rückgriff auf die Mikroebene (individuelle Wohnstandortentscheidung) erklärt. Er hat dafür
drei so genannte "Logiken" unterschieden, welche eine Verbindung zwischen der
individuellen und der strukturellen Ebene schaffen, was nachfolgend kurz erläutert wird
(Esser 1993: 93ff.).
1. Die Logik der Situation (Makro- wirkt auf Mikroebene):
Es existieren soziale Gegebenheiten (Strukturen, Grenzen), die auf die individuelle
Situationswahrnehmung und -definition des Akteurs wirken.
2. Die Logik der Selektion (Mikroebene):
Das Subjekt vergleicht die von ihm wahrgenommenen Handlungsmöglichkeiten und trifft
eine kalkuliert rationale Wahl, das heißt, er wählt jene Handlung, die ihm den höchsten
Nutzen verspricht, indem er die Parameter "Bewertungen" und "Erwartungen" zur
Errechnung des höchsten Nutzenzugewinns einsetzt.
3. Die Logik der Aggregation (Mikro- wirkt auf Makroebene):
In dem dritten Schritt der Erklärung werden die Auswirkungen des individuellen
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Handelns auf das Makrogeschehen verdeutlicht. Die den Handlungen zugrunde liegenden
Motive beziehungsweise Ziele müssen dabei nicht zwangsläufig mit den auftretenden
kollektiven Handlungsfolgen übereinstimmen (Kunz 2004: 12, Franz 1984: 12f.). Die
Entwicklung der Bevölkerungszunahme in der Kernstadt ist also nicht als ein geplantes
Ergebnis der handelnden Akteure zu betrachten. Sie ist eher als eine unintendierte Folge
des Agierens einzelner Akteure zu verstehen, denn jedes Individuum verfolgt mit seinem
Handeln eigene Ziele und Motive. Es soll im Rahmen dieser Forschung aufgedeckt
werden, ob es Parallelen bei diesen Handlungsentscheidungen gibt.
Nach dieser knappen Beschreibung soll jedoch betont werden, dass die Logik der
Aggregation aufgrund der qualitativen Herangehensweise und der geringen Datenmenge im
Hintergrund steht und die in diesem Schritt benötigten Transformationshypothesen im
Rahmen der Arbeit nicht zu leisten sind. Vielmehr soll der Fokus auf den
Mikromechanismen, das heißt, der individuellen Situationswahrnehmung (Logik der
Situation) und der daraus folgenden Wohnstandortentscheidung (Logik der Selektion) liegen.
Bereits in den vorausgehenden Kapiteln wurde verdeutlicht, dass das Individuum mit seiner
persönlichen Wahl eines Wohnstandortes bei der Erklärung des Phänomens der
Reurbanisierung im Mittelpunkt steht und sich somit vor allem auf den
handlungstheoretischen Kern der Rational-Choice-Theorie konzentriert werden soll.
Die Einnahme einer solchen subjektbezogenen Sichtweise ist - zumindest aus der Sicht
handlungstheoretischer Strömungen innerhalb der Soziologie - für den Erkenntnisfortschritt
bezüglich dieser räumlichen Entwicklungstendenz hilfreich. Schon Georg Simmel betonte,
dass allein die "individuellen Existenzen" (Simmel 1992: 29) Träger gesellschaftlicher
Veränderungen seien und soziologische Analysen deshalb immer bei dem Individuum und
den Wechselwirkungen ansetzen müssten. Die agierenden Subjekte werden bei einer solchen
Analyse nicht als "isolierte Individuen" (Kecskes 1997: 53), sondern im Kontext mit den
bestehenden Rahmenbedingungen betrachtet (ebd.: 53), das heißt, das ständige
Wechselverhältnis von Makro- und Mikroebene wird berücksichtigt (ebd.: 55). Dies wurde im
vorherigen Kapitel mithilfe des aufgezeigten Handlungsrahmens der
Wohnstandortentscheidungen bereits verdeutlicht: ob individuelle Präferenzen auch
verwirklicht werden können, hängt eben auch von den vorgegebenen strukturellen
Rahmenbedingungen, wie dem Wohnungsmarktangebot, ab.
Den Akteuren wird dabei unterstellt, dass sie rationale Entscheidungen treffen, was im
Folgenden näher erläutert wird.
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Zweckrationales Handeln als Ausgangspunkt
Die handlungstheoretischen Grundlagen des Rational-Choice-Ansatzes sind als eine
Weiterentwicklung des Handlungstyps
25
des "zweckrationalen Handelns" zu verstehen
(Schneider 2002: 83). Weber definierte jene Handlungsform so: "Zweckrational handelt, wer
sein Handeln nach Zweck, Mitteln und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel
gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die
verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt" (Weber 1976: 13). Das
individuelle Handlungsziel wird jeweils in Verbindung mit den eingesetzten
Handlungsressourcen sowie den möglichen Folgen der Handlung gesehen. Der
Zusammenhang zwischen Zweck und Mitteln wird durch ein rationales Kalkül bestimmt, das
heißt, es werden vernunftgeleitete
Kosten-Nutzen-Abwägungen getätigt. Dieser Sachverhalt
bildet den Ausgangspunkt der Rational-Choice-Theorie.
Der vorgestellte theoretische Ansatz des rationalen Handelns stellt die Wahl zwischen
verschiedenen Alternativen in den Mittelpunkt: es geht um das Treffen von Entscheidungen.
Schimank (2005: 48) betont die Besonderheit dieser Handlungsform des
"Entscheidungshandeln" in Abgrenzung zu den anderen Idealtypen, die Weber vorgibt. Beim
routinemäßigen oder emotionalen Handeln
weiß ein Akteur situativ, was er zu tun hat. Bei der
Wahl zwischen Alternativen ist dies unmittelbar nicht gegeben. Er kann sich nicht schon auf
ein fertiges "Skript" verlassen. Er muss eine Entscheidung treffen, das heißt, eine "bewusste,
kalkulierte Auswahl an Handlungsalternativen" vornehmen (ebd.: 44). Das Treffen einer
solchen Entscheidung ist von diversen Faktoren abhängig. Diese werden mithilfe einer
Beschreibung des RREEMM-Modells, welches das Menschenbild des verwendeten
theoretischen Ansatzes widerspiegelt, im nächsten Abschnitt verdeutlicht.
Das Menschenbild im Rational-Choice-Ansatz
Lindenberg vereint in seinem RREEMM-Modell anthropologische Grundlagen, die einen
weiteren Ausgangspunkt für das Verständnis des akteurszentrierten Rational-Choice-Theorie
darstellen. Das Menschenbild wird anhand der folgenden fünf Eigenschaften beschrieben
(Lindenberg 1981: 25, zit. nach Hill 2002: 41), wobei die ersten beiden Faktoren schon bei
der Beschreibung von Wohnstandortentscheidungen thematisiert worden sind.
· "Ressourceful": Die Menschen verfügen über geistige und materielle Mittel, die sie
in Handlungssituationen einsetzen, um ihre Ziele zu erreichen (ebd.: 41).
· "Restricted": Es existieren nicht unendlich viele Handlungsmöglichkeiten, weil die
25
Weber unterscheidet in seiner Handlungstypologie neben dem schon benannten noch folgende drei
Idealtypen: das wertrationale, das emotionale und das gewohnheitsmäßige Handeln (Weber 1976: 12f.).
26

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2008
ISBN (PDF)
9783961161355
ISBN (Paperback)
9783961166350
Dateigröße
3.1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Technische Universität Chemnitz – Philosophische Fakultät
Erscheinungsdatum
2017 (Juni)
Note
1,5
Schlagworte
Reurbanisierung Stadt Rational Choice Theory Umzug Umland Wohnstandortentscheidung
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Titel: Die Entscheidung für städtisches Leben
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