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Der Sandmann von E.T.A. Hoffmann

Zur Verwirung des Lesers durch die Erzählinstanz

©2014 Bachelorarbeit 44 Seiten

Zusammenfassung

Als die Autorin die Erzählung „Der Sandmann“ von E.T.A. Hoffman las, hinterließ diese ein seltsames Gefühl etwas verpasst, überlesen oder sogar nicht richtig verstanden zu haben. Eine Art Ratlosigkeit machte sich bemerkbar und drang sie förmlich dazu die Erzählung erneut aufmerksamer, langsamer und detaillierter zu lesen. Das erneute Lesen offenbarte zwar neue Details, die aber, anstatt zur Klärung der bereits vorhandenen Verwirrung beizutragen, neue Fragen hervorgebrachten. Allen voran: Hat sich Nathanael den Sandmann und somit auch den „unheimlichen Spuk“ nur eingebildet? Betrachtet man aber nun wie folgend zwei der möglichen Antworten, so wird schnell klar, dass keine der beiden zufriedenstellend ist.
Wenn man also die eingehende Frage bejaht, drängen sich unweigerlich folgende Fragen auf: Wie erklärt man sich die Gemütsveränderung der Mutter, die sich immer genau gegen neun Uhr bemerkbar machte? Mehr noch, warum lässt sie Nathanael im Glauben, dass Coppelius der Sandmann sei? Umgekehrt, wenn man die gleiche Frage verneint, ist man gezwungen auf folgende Fragen eine Antwort zu finden: Sind Coppelius und Coppola ein und dieselbe Person? Wenn Coppelius und Coppola ein und dieselbe Person sind, warum hat sich Coppelius dann Nathanael ausgesucht – eine Person die ihn bestimmt wiedererkennen würde?
Es kann also festgehalten werden, dass unabhängig davon, ob man diese Frage verneint oder bejaht, die jeweilige Antwort eine Unzahl an neuen Fragen aufwirft. Bevor man sich also, aufgrund der unbeantworteten Fragen, in Details verliert, wäre es viel logischer nach dem Grund der Verwirrung zu Fragen: Also warum treten diese Fragen überhaupt auf? Was ist so besonders an dieser Erzählung, dass eine Art Unentschiedenheit der Deutung hervorrufen wird? Oder vielmehr, wie wird diese Unentschiedenheit der Deutung hervorgerufen?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis



1
1. Einleitung
Als ich die Erzählung von E.T.A. Hoffman ,,Der Sandmann" das erste Mal gelesen
habe, hinterließ diese ein seltsames Gefühl etwas verpasst, überlesen oder sogar nicht
richtig verstanden zu haben. Eine Art Ratlosigkeit machte sich bemerkbar
und drang
mich förmlich dazu
die Erzählung erneut aufmerksamer, langsamer und detailierter
zu lesen. Aber auch das half mir nicht. Das erneute Lesen offenbarte zwar neue
Details, die aber, anstatt zur Klärung der bereits vorhandenen Verwirrung
beizutragen, neue Fragen hervorgebracht haben. Allen voran: Hat sich Nathanael den
Sandmann und somit auch den ,,unheimlichen Spuk"
1
nur eingebildet? Betrachtet
man aber
nun wie folgend zwei der möglichen Antworten, so wird schnell klar, dass
keine der beiden zufriedenstellend ist.
Wenn man also die eingehende Frage bejaht, drängen sich unweigerlich folgende
Fragen auf: Wie erklärt man sich die Gemütsveränderung der Mutter, die sich immer
genau gegen neun Uhr bemerkbar machte? Mehr noch, warum lässt sie Nathanael im
Glauben, dass Coppelius der Sandmann sei? Als Nathanael sie nämlich nach dem
schrecklichen Vorfall mit Coppelius fragt: ,,Ist der Sandmann noch da?", erwidert
sie: ,,Nein, mein liebes Kind, der ist lange, lange fort, der tut dir keinen Schaden!"
(SM 10). Ist Nathanael in dem Augenblick noch zu jung, um den ,wahren` Grund zu
erfahren? Und wenn es diesen ,wahren` Grund gab
2
, warum haben sie sich immer
noch nicht ausgesprochen? Dies wird beispielsweise klar, als Nathanael im ersten
Brief an Lothar betont: ,,Der
Mutter erzähl nichts von dem Erscheinen des
grässlichen Unholds" (SM 12). Oder versuchen sie die Gefühle des jeweils anderen
zu schützen? So verwehren sie sich aber gleichzeitig die Möglichkeit den Tod des
Vaters aufzuklären und aufzuarbeiten. Treibt diese Tatsache Nathanael am Ende in
den Wahnsinn?
Umgekehrt, wenn man die gleiche Frage verneint, ist man gezwungen auf folgende
Fragen eine Antwort zu finden: Sind Coppelius und Coppola ein und dieselbe
Person? Wenn Coppelius und Coppola ein und dieselbe Person sind, warum hat sich
Coppelius dann Nathanael ausgesucht ­ eine Person die ihn bestimmt
1
E. T. A. Hoffmann: Der Sandmann. Hrsg. von Rudolf Drux. Stuttgart 2009. S. 6. (fortan zitiert: SM
und Seitennummer).
2
Eine plausible Erklärung hat Clara in ihrem Brief an Nathanael parat: ,,Das unheimliche Treiben mit
Deinem Vater zur Nachtzeit war wohl nichts anders, als dass beide insgeheim alchymistische
Versuche machten, womit die Mutter nicht zufrieden sein konnte, da gewiss viel Geld unnütz
verschleudert und obendrein, wie es immer mit solchen Laboranten der Fall sein soll, des Vaters
Gemüt ganz von dem trügerischen Drange nach hoher Weisheit erfüllt, der Familie abwendig gemacht
wurde." (SM 13-14).

2
wiedererkennen würde? Oder wollte Coppelius Nathanael erneut ,,auf die Bahn des
Wunderbaren" (SM 6) bringen und seine Neugierde, die Nathanaels ganzes Gemüt
schon in der Kindheit beherrschte, für seine Machenschaften mit Professor
Spalanzani nutzen? Dann müsste aber der Leser gleichzeitig akzeptieren, dass Clara,
obwohl sie eine plausible Erklärung für das ,,unheimliche Treiben" (SM 13) parat
hat, doch unrecht haben muss. Aber kann ein aufmerksamer Leser daran glauben,
dass ,,das gemütvolle, verständige, kindliche Mädchen" (SM 21) in Wahrheit ein
,,leblose[r,] verdammte[r] Automat" (SM 25) sei, der Nathanael nicht verstehen kann
oder gar will?
Es kann also festgehalten werden, dass unabhängig davon, ob man diese Frage
verneint oder bejaht, die jeweilige Antwort eine Unzahl an neuen Fragen aufwirft.
Bevor man sich also, aufgrund der unbeantworteten Fragen, in Details verliert, wäre
es viel logischer nach dem Grund der Verwirrung zu Fragen: Also warum treten
diese Fragen überhaupt auf? Was ist so besonders an dieser Erzählung, dass eine Art
Unentschiedenheit der Deutung hervorrufen wird? Oder vielmehr, wie wird diese
Unentschiedenheit der Deutung hervorgerufen?
Nicht zu übersehen ist zunächst die ungewöhnliche Einführung der Erzählung durch
die Briefe. Dabei ist der Brief an sich, als Medium der Erzählung, nicht so
ungewöhnlich. Es gibt ja genügend Autoren, wie zum Beispiel Johann Wolfgang
von Goethe
3
, die bereits vor E.T.A. Hoffmann den Brief als Erzählmittel eingesetzt
haben. Das Ungewöhnliche hierbei ist, dass der Briefwechsel im darauffolgenden
Teil der Erzählung, obwohl er mehr als ein Drittel der ganzen Erzählung einnimmt
4
,
unterbrochen und trotz der verheißungsvollen direkten Ansprache des fiktiven
Erzählers nicht bewertet oder kommentiert wird. An dieser Stelle wird der Leser
geradezu direkt auf eine Zäsur, ein Wechsel der Erzählinstanz, aufmerksam gemacht.
Aber bringt dieser Wechsel mehr Licht in das ganze Geschehen? Hilft uns der fiktive
Erzähler, durch seine Kommentare und dergleichen, sich am Ende für eine der
verschiedenen Deutungsmöglichkeiten zu entscheiden? Nein, das tut er nicht!
Der fiktive Erzähler unterbricht, verzögert die Handlung und zieht sich an
wichtigsten Stellen zurück. Er verwirrt den Leser also, anstatt ihm zu helfen. Es
3
Damit ist natürlich der berühmte Briefroman ,,Die Leiden des jungen Werther" gemeint, der bereits
schon 1774 erschien ist.
4
Insgesamt ist der Briefwechsel ganze 17 Seiten lang und nimmt dabei fast die Hälfte der ganzen
Erzählung ein, die sich insgesamt auf 42 Seiten erstreckt.

3
scheint sich von selbst zu verstehen, dass genau aus diesem Grund der fiktive
Erzähler, als einer der möglichen Erzählinstanzen, Gegenstand dieser Untersuchung
wird. Nathanaels Vorgeschichte und damit der ganze Briefwechsel, darf
darüberhinaus, als Kernpunkt der ganzen Erzählung, nicht vernachlässigt werden.
Demnach begrenzt sich die nachfolgende Untersuchung lediglich auf die drei vom
fiktiven Erzähler vorgelegten Briefe und den ersten ,Erzählerexkurs`. Um die
Erzählinstanz auf verschiedenen Ebenen untersuchen zu können, muss zunächst aber
ein Beschreibungsmodus gefunden werden, der in der Lage ist, alle im Text
vorkommenden Gesichter der Erzählinstanz zu erfassen. Mit anderen Worten muss
man sich für eine der gängigen Erzähltheorien entscheiden.
Mittlerweile gibt es eine Reihe von neueren Erzähltheorien, die aber im
Wesentlichen auf Stanzel oder Genette aufbauen und diese erweitern oder
modifizieren.
5
Allgemein, wenn man sich mit der Erzähltheorie beschäftigt, kommt
man an Stanzel oder Genette nicht vorbei. Beide Narratologen haben durch ihre
Modelle die erzähltheoretische Terminologie entscheidend beeinflusst, obwohl sie
sehr unterschiedlich an das Problem herangegangen sind. Franz Karl Stanzel baute
auf die deutsche Tradition einer Morphologie auf, wobei als Ausgangsbasis seines
morphologischen Ansatzes die Biologie und die Evolution von Pflanzen, am Vorbild
von Goethe und Robert Petsch, dienten.
6
Gérard Genette stützte sich
seinerseits auf
die Struktur der Grammatik, insbesondere auf die Kategorien, die das Verb
betreffen.
7
Sowohl das eine, als auch das andere Erzählmodell hat seine Vor- und
Nachteile. Nichtsdestotrotz eignet sich das Modell von Genette im Kontext dieser
Untersuchung besser, weil ,,es penible Feinanalysen erlaubt, die keine notwendigen
Gesamturteile über den Text als ganzes erfordern"
8
. Doch bevor man sich, mithilfe
des Modells von Genette, in die Analyse des Textes begeben kann, muss noch eine
weitere Frage geklärt werden. Wo ist die Erzählinstanz in Genettes Erzähltheorie
angesiedelt? Um diese Frage beantworten zu können, wird zunächst ein kurzer
Überblick über die Untersuchungsebenen der Erzählung nach Gérard Genette
verschafft.
5
Einen kurzen Überblick über die neuen Erzähltheorien, die sich auch auf neue Medien wie den Film
beziehen, findet man in: Monika Fludernik: Einführung in die Erzähltheorie. Darmstadt 2006. S. 118-
123.
6
Franz Karl Stanzel: Theorie des Erzählens. 5. unveränd. Aufl. Göttingen 1991.
7
Gérard Genette: Die Erzählung. 3. durchges. und korrigierte Aufl. Paderborn 2010.
8
Vgl.: Fludenik (wie Anm. 5), S. 117.

4
Genette unterscheidet drei Ebenen der Erzählung (Geschichte, Erzählung, Narration)
und analog dazu drei Kategorien (Tempus, Modus, Stimme), die die Beziehungen
zwischen diesen drei Ebenen beschreiben.
9
Dabei wird die Unterscheidung folgend
getroffen:
Ich schlage vor [...] das Signifikat oder den narrativen Inhalt Geschichte zu
nennen [...], den Signifikanten, den narrativen Text oder Diskurs Erzählung im
eigentlichen Sinne, während Narration dem produzierenden narrativen Akt
sowie im weiteren Sinne der realen oder fiktiven Situation vorbehalten sein soll,
in der er erfolgt.
10
Ausschlaggebend für eine Analyse des jeweiligen Textes ist demnach die Erzählung,
die sich als einzige der drei Ebenen einer direkten textuellen Analyse unterziehen
lässt. Mit anderen Worten können die Geschichte und die Narration den Lesern nur
durch die Erzählung vermittelt werden. Andererseits macht das Erzählen einer
Geschichte, die Erzählung erst narrativ, sofern sie von jemandem erzählt wird, denn
sonst wäre eine Erzählung kein Diskurs, sondern eine Aufzählung von Fakten.
11
Die drei Ebenen stehen also, wie schon oben angeführt, in einer Beziehung zu
einander. Die eigentliche Analyse bezieht sich demnach auf das Untersuchen der
Beziehungen zwischen diesen Ebenen (Erzählung und Geschichte, Erzählung und
Narration, Geschichte und Narration). Dabei beschreibt die Kategorie des Tempus
die Parameter der Zeitgestaltung einer Erzählung (Ordnung, Dauer, Frequenz). Die
Kategorie des Modus beschreibt die Art und Weise des Erzählens (Distanz und
Beschränkung des Blickwinkels des Erzählens). Die Kategorie der Stimme
beschreibt schließlich die Art und Weise, ,,wie in der Erzählung oder dem narrativen
Diskurs die Narration selber impliziert ist, [...], d.h. die narrative Situation oder
Instanz und mit ihr ihre beiden Protogonisten: der Erzähler und sein realer oder
virtueller Adressat".
12
Die Erzählinstanz ist also in der Kategorie der Stimme angesiedelt, wobei die Arten
der Fokalisierung (auktorialer, personaler, neutraler Erzähler) einen zunächst
durcheinander bringen. Wichtig ist zu verstehen, dass Genette zwischen dem ,wer
spricht` (Stimme) und dem ,wer sieht` (Modus) unterscheidet. Ob sich diese beiden
Kategorien am Ende überschneiden und ich während der Analyse des Textes doch
9
Siehe Einleitung in: Genette (wie Anm. 7), S. 11-15.
10
Ebd., S. 12.
11
Ebd.
12
Ebd., S. 15.

5
gezwungen werde auf die Modi des Erzählens zurück zu greifen, wird die
nachfolgende Untersuchung zeigen.
Zunächst wird aber die Erzählinstanz, die für die Verwirrung des Lesers
verantwortlich ist, mithilfe der oben angeführten Kategorie der Stimme auf
verschiedenen Ebenen untersucht. Gérard Genette unterteilt die Kategorie der
Stimme in insgesamt zehn Unterpunkte, die inhaltlich in drei Unterkategorien
zusammen gefasst werden können: Zeit der Narration, Ebenen der Narration und
Stellung des Erzählers zum Geschehen.
Dabei wird im ersten Kapitel das Verhältnis zwischen dem Erzählen und Erlebten
mithilfe der Narrationstypen untersucht. Hauptsächlich wird dabei auf den ersten
Brief von Nathanael an Lothar eingegangen. Im zweiten Kapitel wird die
Verschachtelung mehrerer Ereignisse mithilfe der Ebenen der Narration
problematisiert. Hierbei wird der Einstieg des fiktiven Erzählers zu Nutze gezogen
und so eine weitere Ebene (Rahmerzählung des fiktiven Autors) aufgezeigt. Im
dritten Kapitel wird schließlich der Wechsel der Erzählinstanz thematisiert, wobei
hier der ,Held` und der ,fiktive Erzähler` gegenüber gestellt werden und so erneut
auf das Problem der Perspektivierung aufmerksam gemacht wird.
Ein letzter aber für mich nicht weniger wichtiger Punkt sollte nochmals
hervorgehoben werden. Bei dieser Untersuchung geht es um meine eigenen
Verständnisirretationen, die ich versuche selbstständig mithilfe von Genettes
Kategorie der Stimme aufzulösen. Daher ist es nur selbstverständlich, dass ich mich
bewusst dazu entschlossen habe, soweit es mir möglich ist, mich von der gängigen
Sekundärliteratur zu distanzieren. Dabei ist mir durchaus bewusst, dass es genügend
Autoren gibt, die sich vor mir die gleichen Fragen gestellt und möglicherweise sogar
die gleichen Antworten darauf bekommen haben. Genau von diesen Autoren möchte
ich mich umso mehr distanzieren, damit ich die Antworten eigenständig anhand des
Textes und nicht anhand der Hinweise in der Sekundärliteratur, die mir meinen
Untersuchungsweg enorm erleichtern würde, ermittle. Zentral für diese
Untersuchung ist also allein der Text, der unabhängig von der Sekundärliteratur und
anderen Texten E.T.A. Hoffmanns unvoreingenommen untersucht wird. Nur in den
seltensten Fällen, wo die Analyse anhand der Kategorie der Stimme kein akzeptables
Ergebnis hervorbrachte, griff ich auf die Hilfe der Sekundärliteratur zurück. Das eher
knapp ausgefallene Literaturverzeichnis soll einen daher nicht wundern.

6
2. Zeit der Narration
Es kann zunächst verwirrend sein, dass Genette die Zeit der Narration in die
Kategorie der Stimme und nicht in die Kategorie des Tempus eingeordnet hat.
Erinnert man sich aber auf die drei Ebenen, die in der Einleitung eingeführt wurden,
so wird schnell klar, dass Tempus sich auf die Ebene der Beziehungen zwischen
Geschichte und Erzählung bezieht und die Narration lediglich als eine Quelle des
vorliegenden Textes nutzt. Die Zeitbestimmung der narrativen Instanz bezieht sich
aber auf die Ebene der Beziehungen zwischen Narration und Geschichte, also dem
Verhältnis zwischen Erzählen und Erleben.
13
Insgesamt unterscheidet Genette
zwischen vier Narrationstypen:
[...] die spätere Narration (die klassische Position der Erzählung in
Vergangenheitsform, zweifellos die bei weitem häufigste), die frühere
Narration (die prädikative Erzählung, die im Allgemeinen im Futur steht, die
aber im Präsens vorgetragen werden kann, [...]), die gleichzeitige Narration
(Erzählung im Präsens, die Handlung simultan begleitet) und die (zwischen die
Momente der Handlung) eingeschobene Narration.
14
Laut Genette kommt die spätere Narration, also die Narration in der
Vergangenheitsform, am häufigsten vor. Die Erzählung ,,Der Sandmann" bildet
dabei, wenn man den ganzen Text betrachtet, keine Ausnahme. Nicht nur, dass der
fiktive Erzähler bei dem Erzählen der Geschichte auf die Vergangenheitsform
zurückgreift, sondern auch sein plötzlicher Einstieg in die Geschichte weisen, bereits
im ersten Satz
15
, darauf hin, dass Nathanaels Geschichte sich längst zugetragen
haben muss.
Dies erfährt der Leser aber erst nachdem er die Briefe von Nathanael und Clara
gelesen hat, also nach mehr als einem Drittel der ganzen Erzählung. Demnach ist der
Leser, fast die Hälfte der Erzählung, auf die Aussagen von Nathanael und Clara
angewiesen. Unweigerlich drängt sich also die Frage, ob es sich überhaupt lohnt die
Erzählung als Ganzes zu betrachten, um so den jeweiligen Narrationstyp zu
bestimmen. Die Einordnung der ganzen Erzählung in die jeweilige Form der
Narration sagt nämlich nichts über die Gründe, die zur Verwirrung des Lesers
beitragen, aus. Es lohnt sich demnach zunächst den Briefwechsel
unvoreingenommen, herausgelöst aus dem Kontext der Erzählung, zu betrachten.
13
Ebd.
14
Vgl. dazu das Kapitel ,,Zeit der Narration" in: Genette (wie Anm. 7), S. 139-147, hier: S. 140.
15
Gemeint ist natürlich der erste Satz des Erzählers: ,,Seltsamer und wunderlicher kann nichts
erfunden werden, als dasjenige ist, was sich mit meinem armen Freunde, dem jungen Studenten
Nathanael, zugetragen, und was ich dir, günstiger Leser! zu erzählen unternommen." (SM 17-18).

7
Die ersten drei Briefe involvieren den Leser inhaltlich und gefühlsmäßig in die
Vorgeschichte Nathanaels. Dabei wird die Vorgeschichte einmal aus der Sichtweise
von Nathanael selber und einmal aus der Sichtweise von Clara dargestellt. Von
Anfang an wird also der Leser vor eine Wahl gestellt, sich für eine der beiden
Sichtweisen zu entscheiden. Dies gelingt aber nicht, wie schon die Einleitung gezeigt
hat, da alle nachfolgenden Ereignisse sich abwechselnd als Indizien für die eine oder
andere Sichtweise erweisen. Nicht zuletzt stellt Nathanael selbst seine eigene
Sichtweise des ,,unheimlichen Spuk[s]" in Frage, da er in seinem ersten Brief auf
verschiedene Typen der Narration zurückgreift, um genauer zu sein auf alle vier
Narrationstypen, und so für mehr Zweifel als Glaubwürdigkeit sorgt. Im Laufe der
Analyse habe ich aber festgestellt, dass die Narrationstypen an ihrer
Widersprüchlichkeit erst in einem Zusammenspiel mit dem jeweils anderen
Narrationstyp gewinnen. So haben sich zwei Narrationspaare herauskristallisiert: a)
die spätere und gleichzeitige Narration und b) die frühere und die eingeschobene
Narration, die im weiteren Verlauf zusammen betrachtet werden. In welcher
Beziehung diese Paare zueinander stehen oder inwiefern sie eine
Widersprüchlichkeit erzeugen, wird die nachfolgende Analyse zeigen. Da aber, wie
schon mehrfach wiederholt, die Vorgeschichte Nathanaels (das erste Aufeinander
treffen mit dem ,Sandmann`
16
) der Kernpunkt der ganzen Erzählung ist, bietet es sich
an, mit dem ersten Paar der späteren und gleichzeitigen Narration anzufangen.
a) Spätere und gleichzeitige Narration
Zumal der Vorfall mit dem Advokaten Coppelius chronologisch noch weiter in der
Vergangenheit liegt, als das Auftauchen des Wetterglashändlers, ist es nur logisch,
dass Nathanael bei dem Erzählen dieses Vorfalls auf die Vergangenheitsform
zurückgreift.
17
Viel interessanter und gleichzeitig verwirrender ist es aber, dass
Nathanael, ohne jegliche Vorwarnung, den Typ der Narration, aus einem für den
Leser zunächst unergründlichen Grund, wechselt. So wechselt Nathanael, als er zum
ersten Mal den ,Sandmann` begegnet von der späteren Narration plötzlich in die
gleichzeitige Narration:
16
Da man auch am Ende der Erzählung die Frage, ob Sandmann nun existiert oder nicht, nicht
beantworten kann, erweist es sich als lohnenswert die Verwendung dieser Bezeichnung mit Vorsicht
zu genießen. Aus diesem Grund wird diese Bezeichnung nur mit Anführungszeichen verwendet.
17
So beginnt Nathanael seine Geschichte über den ,Sandmann`: ,,Außer dem Mittagessen
sahen
wir,
ich und meine Geschwister, Tag über den Vater wenig. Er
mochte
mit seinem Dienst viel beschäftigt
sein
." [Hervorhebungen von mir] (SM 4).

8
Näher ­ immer näher dröhnten die Tritte ­ es hustete und scharrte und brummte
seltsam draußen. Das Herz bebte mir vor Angst und Erwartung. ­ Dicht, dicht
vor der Türe ein scharfer Tritt ­ ein heftiger Schlag auf die Klinke, die Tür
springt rasselnd auf! ­ Mit Gewalt mich ermannend gucke ich behutsam hervor.
Der Sandmann steht mitten in der Stube vor meinem Vater, der helle Schein der
Lichter brennt ihm ins Gesicht! ­ Der Sandmann, der fürchterliche Sandmann
ist der alte Advokat Coppelius, der manchmal bei uns zu Mittag ist!
(SM 7)
Ohne also, dass der Leser es bemerkt, saugt ihn die Erzählung plötzlich ein, sodass
man das Gefühl hat mitten im Geschehen zu sein und das Gleiche wie Nathanael zu
sehen und zu fühlen. Da aber Nathanael, genauso plötzlich wieder auf die spätere
Narration wechselt, wirft die Erzählung den Leser erbarmungslos und wieder ohne
jegliche Vorwarnung heraus. Dies hat zweierlei zur Folge: Einerseits ist der Leser
unmittelbar am Geschehen beteiligt, sodass keine Distanzierung zum Geschehen
möglich ist. Andererseits wird die Narration weiter, wie gewohnt fortgeführt, sodass
der Leser auch da keine Distanzierungsmöglichkeit hat, um sich die Zeit zu nehmen
über die Konsequenzen der zeitweiligen Beteiligung am Geschehen klar zu werden.
Ein weiteres Mal greift Nathanael auf das gleiche Verfahren zurück, als er den
Advokaten Coppelius im Sandmann erkennt. Detailliert und genau versucht er die
Gestalt des ,Sandmanns` Lothar zu beschreiben. Dabei wird die Beschreibung des
Gesichts mit einem Konjunktivsatz eingeführt, der im Zusammenspiel mit dem
langen darauffolgenden Satz vorerst vom Wechsel des Narrationstyps ablenkt.
Aber die grässlichste Gestalt hätte mir nicht tieferes Entsetzen erregen können,
als eben dieser Coppelius. ­ Denke dir einen großen breitschultrigen Mann mit
einem unförmlich dicken Kopf, erdgelbem Gesicht, buschigten grauen
Augenbrauen, unter denen ein Paar grünliche Katzenaugen stechend
hervorfunkeln, großer, starker über die Oberlippe gezogener Nase.
(SM 7)
Man ist so auf die lange Aufzählung der jeweiligen Merkmale der Mimik fokussiert,
dass man das Auftauchen des Präsens (,,unter denen ein Paar grünliche Katzenaugen
stechend hervorfunkeln") am Ende des Satzes beim ersten Mal überliest. Erst als man
den darauffolgenden Satz liest: ,,Das schiefe Maul verzieht sich oft zum hämischen
Lachen; dann werden auf den Backen ein paar dunkelrote Flecke sichtbar und ein
seltsam zischender Ton fährt durch die zusammengekniffenen Zähne." (Ebd.), wo
das Verb im Präsens die gewohnte zweite Position annimmt, ist man irritiert und
wird förmlich gedrängt den langen hervorgehenden Satz erneut zu lesen.
Nichtsdestotrotz bleibt die Wirkung die gleiche: Der Leser sieht, genauso wie
Nathanael, den ,Sandmann` ins Gesicht. Er erlebt das ,,tief[e] Entsetzen" am eigenen
Leibe, wobei vor allem das ,,schiefe Maul, das sich ,,zum hämischen Lachen"

9
verzieht und sich in das Gedächtnis von Nathanael eingebrannt hat, den Schauder
über den Rücken des Lesers jagt. Nicht ohne Grund wird die gleichzeitige Narration
genau nach diesem Satz unterbrochen, obwohl Nathanael die Beschreibung des
Advokaten Coppelieus fortsetzt: ,,Coppelius erschien immer in einem altmodisch
zugeschnittenen aschgrauen Rocke, eben solcher Weste und gleichen Beinkleidern,
aber dazu schwarze Strümpfe und Schuhe mit kleinen Steinschnallen." (SM 7).
Was nützt aber die zeitweilige Mitbeteiligung am Geschehen dem Leser? Was bringt
es ihm, nur für bestimmte von Nathanael ausgesuchte Momente am Geschehen
beteiligt zu sein? Hilft es dem Leser wirklich weiter? Soll so Nathanaels Sichtweise
an Glaubwürdigkeit gewinnen? Oder verwirrt es den Leser nur noch mehr? Und
wenn es den Leser verwirrt, woran liegt es genau?
Am Anfang schien es so, als ob Nathanael nur in bedrohlichen Situationen den
Narrationstyp wechselt, um so das Ausmaß des Schrecklichen mit dem Leser
unmittelbar zu teilen. Es gibt aber eine durchaus bedrohlichere Stelle in seiner
Begegnung mit dem Sandmann, die von Nathanael nicht im Präsens, sondern ganz
normal im Präteritum erzählt wird:
Und damit fasste er mich gewaltig, dass die Gelenke knackten, und schrob mir
die Hände ab und die Füße und setzte sie bald hier, bald dort wieder ein. »'s
steht doch überall nicht recht! 's gut so wie es war! ­ Der Alte hat's
verstanden!« So zischte und lispelte Coppelius; aber alles um mich her wurde
schwarz und finster, ein jäher Krampf durchzuckte Nerv und Gebein ­ ich
fühlte nichts mehr.
(SM 9-10)
Es drängen sich demnach, anstatt die vorangegangenen Fragen zu beantworten,
weitere Fragen auf. Warum werden nur diese zwei Stellen so gehandelt? Was ist so
besonders daran? Eine mögliche aber auf jeden Fall problematische und für manch
einen sogar weithergeholte Erklärung könnte die Tatsache sein, dass Nathanael,
während er in seinem Versteck auf den Sandmann wartete, müde wurde und
einschlief. Es würde zum Beispiel erklären, warum sich die Zeit der Narration
plötzlich und ohne jegliche Vorwarnung ändert. Einerseits wird so die Grenze
zwischen Wirklichkeit und Traum sichtbar gemacht. Andererseits verschiebt sich
diese Grenze immer wieder, so dass der Leser nicht in der Lage ist, zwischen der
Wirklichkeit und dem Traum zu unterscheiden. Anscheinend ist Nathanael selber
nicht in der Lage zwischen den beiden Ebenen zu unterscheiden, weil er eben gegen
die Müdigkeit ankämpft und immer wieder sowohl in die eine als auch in die andere
Ebene eintaucht. Wenn das der Fall sein sollte, dann muss im Text eine Schnittstelle,

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783961161126
ISBN (Paperback)
9783961166121
Dateigröße
606 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin – Institut für deutsche Literatur
Erscheinungsdatum
2017 (April)
Note
2,3
Schlagworte
Sandmann E.T.A. Hoffmann Erzähltheorie Gérard Genette Zeit der Narration Narrative Ebenen Stellung der narrativen Instanz zum Geschehen
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