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Der "Psychiatrie-Rahmen"

Goffmans Rahmen-Analyse am Beispiel einer psychiatrischen Einrichtung

©2015 Akademische Arbeit 20 Seiten

Zusammenfassung

Die Frage „Was geht hier eigentlich vor?“ gilt als Ausgangspunkt in Erving Goffmans Rahmen-Analyse ― es ist die Frage, die man sich in einer gegebenen sozialen Situation stellt. Es ist auch die Frage, die sich die Autorin in Bezug auf die soziale Einrichtung der psychiatrischen Klinik stellt und welche den Leitfaden dieser Arbeit darstellt.
Ziel der vorliegenden Arbeit ist es aufzuzeigen, welche besondere Rahmung in der psychiatrischen Einrichtung vorliegt. Der Psychiatrie-Rahmen bietet ein sehr umfangreiches und nahezu unerschöpfliches Spektrum an Fragestellungen, Problematiken
und Forschungsbereichen. Aus diesem Grund beschränkt sich die Autorin bei ihrer Untersuchung auf vier Hauptgesichtspunkte: Die psychiatrische Klinik als totale Institution, die psychiatrische Klinik im Vergleich zum öffentlichen Raum, die Grenzziehung von "normalem" und "abweichendem" Verhalten sowie um die Wichtigkeit von face-to-face-Interaktionen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1
1 Einleitung
Die Frage ,,Was geht hier eigentlich vor?" gilt als Ausgangspunkt in E
RVING
G
OFF-
MAN
s
(1922-1982) Rahmen-Analyse
es ist die Frage die man sich in einer gege-
benen sozialen Situation stellt (vgl. Goffman 1977: 16). Es ist auch die Frage, die
ich mir in Bezug auf die soziale Einrichtung der psychiatrischen Klinik stelle und
welcher den Leitfaden dieser Arbeit darstellt.
G
OFFMAN
geht davon aus, ,,daß wir gemäß gewissen Organisationsprinzipien für
Ereignisse [...] und für unsere persönliche Anteilnahme an ihnen Definitionen einer
Situation aufstellen" (ebd. 1977: 19), dessen Elemente er Rahmen nennt. Die
Rahmen-Analyse ist ,,eine Kurzformel für die entsprechende Analyse der Organisa-
tion der Erfahrung" (Goffman 1977: 19). Die Einrichtung der Psychiatrie, die ich in
dieser Arbeit betrachte, stellt, wie wir sehen werden, einen besonderen Rahmen
dar. Die Befremdung der Normalität ist ein wichtiger Bestandteil der Soziologie
(vgl. Dellwing 2014: 170), was sich in beliebigen Alltagssituationen von miteinander
agierenden Personen und deren Interaktionen anwenden lässt. Dabei bedienen wir
uns der Ethnomethodologie, deren Hauptgegenstand die alltägliche Interaktion ist.
Wir analysieren also, in welchem Rahmen wir uns befinden und was diesen
ausmacht. Außerdem betrachten wir soziale Situationen innerhalb dieses Rah-
mens und den damit einhergehenden face to face-Interaktionen.
Mein Ziel ist dabei nicht, mögliche soziale oder (neuro-)biologische Ursachen
und Erklärungen einer psychischen Krankheit zu erörtern; genau so wenig geht es
mir um das Individuum an sich, dessen Gefühle, Gedanken, Ansichtsweisen, Per-
sönlichkeit und Identität. Außerdem werde ich die Vorgeschichte der Patienten,
sowie die Situation nach ihrem Aufenthalt in der Klinik außer Acht lassen.
Ziel der Arbeit ist es aufzuzeigen, welche besondere Rahmung in der psychiat-
rischen Einrichtung vorliegt. Der Psychiatrie-Rahmen bietet ein sehr umfangrei-
ches und nahezu unerschöpfliches Spektrum an Fragestellungen, Problematiken
und Forschungsbereichen. Aus diesem Grund werde ich mich auf vier von mir ein-
geteilte Gesichtspunkte beschränken: Als erstes möchte ich kurz die psychiatri-

2
sche Klinik, die G
OFFMAN
als totale Institution bezeichnet, vorstellen. Dabei schau-
en wir uns an, was den Totalitätscharakter der Institution ausmacht und gehen kurz
auf den Konflikt zwischen den (eingeschränkten) Freiheiten und Rechte der Patien-
ten und der Verantwortung und Fürsorgepflicht des Personals ein. Der zweite Teil
der Arbeit bezieht sich auf den Vergleich der psychiatrischen Einrichtung zum öf-
fentlichen Raum. Hier wird noch klarer, warum die Psychiatrie eine andere Rah-
mung darstellt. Ich gehe dabei kurz auf die Definition des Rahmens von G
OFFMAN
ein und die verschiedenen Lebenswelten von Individuen. Außerdem betrachten wir
die unterschiedliche Bedeutung der Institution für die zwei Einheiten innerhalb des
Psychiatrie-Rahmens: Das Personal und die Patienten. Der dritte Abschnitt der
Arbeit befasst sich mit der Grenzziehung von ,,normalem" und ,,abweichendem"
Verhalten. Wir untersuchen die Wichtigkeit der Definition der Situation und der
Konstruktion der Wirklichkeit, wobei ich u.a. darauf eingehen werde, wie sich ,,nor-
males" von ,,abweichendem" Verhalten auseinander halten lässt und welche Be-
deutung diese Unterscheidung hat. Im letzten Unterpunkt meiner Arbeit geht es um
soziale Situationen und face to face-Interaktionen und deren Wichtigkeit. Des Wei-
teren gehe ich kurz darauf ein, welche Rolle die körperliche Präsenz in sozialen
Situationen spielt und welche Bedeutung die Sprache in einer Interaktion hat.
Ich werde in meiner Arbeit auf Fragen eingehen wie: Wieso hat die Psychiatrie
einen besonderen Rahmen? Was ist gemeint mit der Rahmen-Analyse? Wie lässt
sich diese auf die totale Institution anwenden? Welche Unterschiede gibt es inner-
halb des Psychiatrie-Rahmens im Vergleich zur Alltagswelt? Welche Bedeutung
hat der Rahmen für die Patienten, welche für das Personal? Was ist ,,normal" und
ab wann ist ein Verhalten ,,abweichend"? Wie lassen sich Verhaltens- und Normali-
tätserwartungen definieren? Und vor allem: Was geht hier eigentlich vor?
Das methodische Vorgehen beruht auf teilnehmende, verdeckte Feldbeobach-
tungen, welche in einer psychiatrischen Einrichtung durchgeführt wurden. Durch
eine Teilzeit-Anstellung als Pflegehelferin, welcher ich seit zweieinhalb Jahren
nachgehe, habe ich regelmäßigen Zugang zu einer psychiatrischen Station, in der
ich einige Beobachtungen durchführen konnte. Die Ergebnisse und einige Passa-
gen der Feldbeobachtungen werde ich in meiner Arbeit miteinbeziehen, da sich so
eine gute Möglichkeit bietet die theoretischen Standpunkte durch die Empirie zu

3
stützen und anhand einiger Beispiele anschaulich zu machen. In der Arbeit bezie-
he ich mich hauptsächlich auf G
OFFMAN
, der als einer der einflussreichsten Sozio-
logen gilt. Von ihm stammen u.a. die Werke Asyle und Rahmen-Analyse, auf die
ich mich beziehen werde. So hat Asyle ,,die von der Normalität der Alltagswahr-
nehmung und des Alltagshandeln abweichenden Extreme zum Analysegegen-
stand" (Raab 2014: 94). Dabei geht es G
OFFMAN
um ,,die soziale Situation psychi-
atrischer Patienten [...] in ,totalen Institutionen`" (Raab 2014: 94), was auch Thema
meiner Arbeit darstellt. Anders als G
OFFMAN
jedoch, der sich in seiner Feldarbeit
auf die subjektive Wahrnehmung der Patienten fokussiert (vgl. ebd. 1973: 7), un-
tersuche ich die Gesamtsituation in der psychiatrischen Klinik
den ,,Psychiatrie-
Rahmen".

4
2 Der ,,Psychiatrie-Rahmen"
"If men define situations as real,
they are real in their consequences."
W.
I.
T
HOMAS
& D.
S.
T
HOMAS
(Raab 2014: 39)
Der Spielfilm Die Truman Show (orig. The Truman Show, USA 1998) handelt von
Truman Burbank, welcher bemerkt, dass sein ganzes Leben und sein Umfeld eine
reine Inszenierung ist und als Sendung im Fernsehen übertragen wird. Daraufhin
versucht er aus diesem ,,Rahmen" auszubrechen. Im Film geht es um das Verhält-
nis von Illusion und Realität, wobei Realität als das definiert wird, was die Medien
als diese darlegen. Der Regisseur im Film sagt wir ,,akzeptieren die Realität der
Welt die uns dargeboten wird" und bedienen uns unbewusst dem Alltags-Rahmen
bis Störungen eintreten.
Das Beispiel im Film zeigt den Bezug zum Thomas-Theorem auf, welches be-
sagt: ,,Wenn die Menschen Situationen als real definieren, so sind auch ihre Folgen
real" (Brock et al. 2009: 31). Demnach handeln Individuen entsprechend den ge-
gebenen Situationen, wobei die Beteiligten von Handlungsmotiven und ihren
Wahrnehmungen beeinflusst werden
sie handeln nach der Definition der Situati-
on (vgl. Brock et al. 2009: 31; Lüdke 1979). R
EGINE
G
ILDEMEISTER
(geb. 1949) sieht
diese Definition der Situation als das ,,Fundament jeder symbolisch vermittelten
Interaktion" (ebd. 1989: 147), die von Normalitätserwartungen eines angemesse-
nen Verhaltens gefestigt wird (vgl. ebd. 1989: 147). Soziale Situationen beruhen
dabei auf face to face-Interaktionen der Beteiligten. G
ILDEMEISTER
geht es in ihrem
Werk Institutionalisierung psychosozialer Versorgung u.a. um ,,die soziale Kon-
struktion von alltäglicher Normalität in sozialen Einrichtungen" (ebd. 1989: 69).
In dem ersten Teil meiner Arbeit stelle ich die Einrichtung der psychiatrischen
Klinik vor. Es soll dabei deutlich gemacht werden, inwiefern die Psychiatrie einen
besonderen Rahmen darstellt und was diesen charakterisiert.

5
2.1 Die Einrichtung: Eine psychiatrische Klinik
"Psychiatry is a strange field because, unlike any other
field of medicine, you never really finish. Your greatest
instrument is you, yourself, and the work of
self-understanding is endless. I'm still learning."
I
RVIN
Y
ALOM
(GoodReads [rev. 11.03.2015])
Das folgende Kapitel beschreibt die Einrichtung, auf die ich mich beziehe und ver-
sucht, die Bedeutung dieser für die vorliegende Arbeit zu erläutern, sowie einen
groben Überblick des Psychiatrie-Rahmens zu schaffen.
Bei der Einrichtung handelt es sich um eine allgemeine Psychiatrie in einer
süddeutschen Kleinstadt. In der Klinik befinden sich offene und beschützende
(,,geschlossene") Stationen, wobei ich in meiner Arbeit auf eine der beschützenden
Stationen eingehe. Auf dieser Akutstation werden Patienten mit (schizophrenen)
Psychosen, Depressionen, Persönlichkeits- und Affektstörungen bei Selbst- und
Fremdgefährdung behandelt. Der Schwerpunkt liegt auf der Diagnose, Kriseninter-
vention und u.U. medikamentösen Behandlung.
G
OFFMAN
führte den Begriff der totalen Institution ein: Eine ,,Wohn- und Arbeits-
stätte einer Vielzahl ähnlich gestellter Individuen [...], die für längere Zeit von der
übrigen Gesellschaft abgeschnitten sind und miteinander ein abgeschlossenes,
formal reglementiertes Leben führen" (ebd. 1973: 11). Eine totale Institution ist u.a.
die psychiatrische Einrichtung, welche einen Doppelcharakter aufweist, da sie zum
einen Wohn- und Lebensgemeinschaft und zum anderen eine formale Organisati-
on darstellt (vgl. Gildemeister 1989: 61, 82f; Goffman 1973: 23).
Der Totalitätscharakter der Institution ist einerseits auf einer ,,Herstellung und
Aufrechterhaltung einer [...] Grenzziehung nach außen, also gegenüber der sie
umgebenden Alltagswirklichkeit" (Raab 2014: 98f) begründet. Auf der psychiatri-
schen Station macht sich das dadurch bemerkbar, dass die Türen geschlossen

6
sind, sodass ,,ein ,Normaler` weder einfach hinein noch einfach wieder heraus"
(Raab 2014: 99) kommt.
Andererseits lässt sich eine ,,radikale Aufhebung von Grenzziehungen im Inne-
ren" (Raab 2014: 99) erkennen. Die Grenzen, die normalerweise in der Alltagswelt
die verschiedenen Lebensbereiche voneinander trennen, sind in der Einrichtung
aufgehoben: Die Patienten schlafen und erholen sich nun am gleichen Ort, mit den
gleichen Personen und unter den gleichen Autoritäten, bei denen sie einem gere-
gelten Tagesablauf folgen (vgl. Goffman 1973: 17; Raab 2014: 99).
Patienten, die in der Psychiatrie untergebracht sind und einer vom Arzt ange-
ordneter Ausgangsregelung folgen, können z.B. nicht ohne Weiteres in die Stadt
gehen, wenn das Personal nicht ausreichend belegt ist oder die Situation auf der
Station es nicht zulässt, was dieses Beispiel verdeutlich soll:
,,Eine junge Patientin kommt zum Stationszimmer vor. Sie spricht sehr leise und fragt,
ob sie in die Stadt gehen darf. Regina schaut in die Patientenakte und sagt der Patien-
tin, dass sie nur mit examiniertem Personal die Station verlassen darf und es im Mo-
ment wegen Personalmangel nicht möglich ist. Die Patientin nickt und geht in Richtung
des Patientenzimmers. Tom sagt, dass es gut ist, dass die Patientin nur mit examinier-
tem Personal raus gehen darf, da sie eine multiple Persönlichkeitsstörung hat und sie
sehr schwer einzuschätzen ist, auch weil sie unvorhergesehen in ihrer Stimmung ,swit-
cht`
1
." (Beobachtung Nr. 5, Seite 3, Zeile 4-12)
2
In der psychiatrischen Einrichtung herrschen besondere Regelungen, die den Pati-
enten, so wie dem Personal einen neuen Rahmen darlegen. Es scheint so als
würden Patienten bei dem ,,Betreten" des Psychiatrie-Rahmens Rechte, aber auch
Verantwortungen verlieren bzw. abgeben. Bei manchen Patienten, die neu auf die
Station kommen kann in einer ,,einfachsten Form eine stark durch Angst gekenn-
zeichnete Verwirrung" (Goffman 1973: 131) festgestellt werden. G
OFFMAN
be-
schreibt, dass ,,für einen Menschen, der sich selbst ­ wie berechtigt auch immer ­
als seelisch unbalanciert ansieht [...] die Einlieferung in eine Heilanstalt manchmal
Erleichterung bringen [kann]" (ebd. 1973: 132). Die Institution kann Patienten von
Verantwortungen des Alltags befreien und Sicherheit bieten, die oft nur durch die
1
Aus dem Englischen ,,to switch" = ,,wechseln" bzw. ,,(um-)schalten"
2
Regina und Tom (Namen aus datenschutzrechtlichen Gründen geändert) sind Gesundheits- und
Fachkrankenpfleger in der Psychiatrie

7
Kenntnis der Tatsache, dass die Tür verschlossen ist, bedingt ist (vgl. Goffman
1973: 361f). Dazu ein Auszug einer Feldbeobachtung:
,,Tom sagt [...] dass es für manche Patienten auch eine Erleichterung darstellt, dass
die Türen geschlossen sind ­ immerhin heißt es ,beschützende` Station, sodass auch
Patienten von möglichen Gefahren außerhalb beschützt sind. Er erzählt von dem Alt-
bau der Psychiatrie. Dort gab es eine große Stationstür, die aus Holz war und immer
wenn diese zu fiel, machte sie einen lauten Knall. Er erzählte, dass er es jedes Mal
wenn die Tür zu fiel fühlen konnte wie die Patienten vor Erleichterung tief ,durch-
schnauften`." (Beobachtung Nr. 5, Seite 4, Zeile 16-22)
Die Psychiatrie stellt also einen besonderen Rahmen dar aufgrund der besonderen
Regelungen und Umständen innerhalb der Einrichtung. Die Auffälligkeiten und Be-
sonderheiten, die sich ,,drinnen" im Vergleich zur ,,Welt da draußen" ergeben,
schauen wir uns im nächsten Kapitel an.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783961161034
ISBN (Paperback)
9783961166039
Dateigröße
197 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen – Soziologie
Erscheinungsdatum
2017 (März)
Note
1,7
Schlagworte
Goffman Psychiatrie Rahmenanalyse öffentlicher Raum soziale Situation abweichendes Verhalten face-to-face Interaktionen
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