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Die Freien Gewerkschaften und die Debatte über Rationalisierung in der Weimarer Republik

©2013 Bachelorarbeit 49 Seiten

Zusammenfassung

Nach der Überwindung der Hyperinflation infolge des verlorenen Ersten Weltkrieges trat schlagartig die Rückständigkeit der deutschen Wirtschaft zutage. Hatte die mangelnde Konkurrenzfähigkeit in den ersten Jahren der Weimarer Republik noch durch billige Exporte aufgrund der schwachen Währung mehr oder weniger kaschiert werden können, war sie nun für alle an der Wirtschaft Beteiligten offensichtlich. Um die internationale Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen, sollte die deutsche Wirtschaft strukturell und technisch-organisatorisch erneuert werden. Die zu dieser Zeit wirtschaftlich sehr erfolgreichen Vereinigten Staaten von Amerika galten als Mutterland dieses „Rationalisierung“ genannten Prozesses und waren daher das große erstrebenswerte Vorbild.
Unter diesen Vorzeichen entstand die deutsche Rationalisierungsbewegung, deren hauptsächlicher Wirkungszeitraum in den Jahren 1924 bis 1929 lag, den Jahren zwischen der Währungsstabilisierung und der Weltwirtschaftskrise. Diese Zeitspanne, auch als die „Goldenen Zwanziger“ bekannt, war zwar eine Hochzeit der Kunst und Kultur vor allem des großstädtischen Milieus, jedoch war sie trotz ihrer relativen Stabilität auch von Problemen, insbesondere in der Wirtschaft, geprägt.
Forciert durch diese Rationalisierungsbewegung kam es mutmaßlich zu einer Rationalisierungswelle enormen Ausmaßes, die alle Bereiche der Wirtschaft erfasste und die Arbeitswelt insgesamt wie auch das Arbeitsleben vieler Menschen völlig veränderte. Tatsächlich ist der Realisierungsgrad von Konzepten der Rationalisierung jedoch eine nicht abschließend geklärte Frage, die wohl auch mangels belastbaren gesamtwirtschaftlichen Zahlenmaterials letztendlich nicht zu klären ist. Diese Arbeit befasst sich daher nicht mit der tatsächlichen (Nicht-)Umsetzung der Rationalisierung, sondern mit ihrer publizistischen Seite.
Die freie (sozialistische) Gewerkschaftsbewegung, mit rund zwei Dritteln aller gewerkschaftlich organisierten Personen die mit Abstand wichtigste deutsche Gewerkschaftsorganisation, nahm nach anfänglicher Ablehnung eine klar – geradezu rücksichtslos – befürwortende Haltung zur Rationalisierung ein. Dies scheint verwunderlich, zumal man aus heutiger Sicht von einer Arbeitnehmerorganisation eine eher skeptisch zögerliche Position erwarten würde. Wieso nahmen die Freien Gewerkschaften als Vertreter der Arbeitnehmerschaft eine positive Haltung zur Rationalisierung ein und welche strategietheoretischen Überlegungen beeinflussten ihre Meinung?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis



1Einleitung
Nach der Überwindung der Hyperinflation infolge des verlorenen Ersten Weltkrieges trat
schlagartig die Rückständigkeit der deutschen Wirtschaft zutage. Hatte die mangelnde
Konkurrenzfähigkeit in den ersten Jahren der Weimarer Republik noch durch billige
Exporte aufgrund der schwachen Währung mehr oder weniger kaschiert werden können,
war sie nun für alle an der Wirtschaft Beteiligten offensichtlich. Um die internationale
Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen, sollte die deutsche Wirtschaft strukturell und
technisch-organisatorisch erneuert werden. Die zu dieser Zeit wirtschaftlich sehr
erfolgreichen Vereinigten Staaten von Amerika galten als Mutterland dieses
,,Rationalisierung" genannten Prozesses und waren daher das große erstrebenswerte
Vorbild.
Unter diesen Vorzeichen entstand die deutsche Rationalisierungsbewegung, deren
hauptsächlicher Wirkungszeitraum in den Jahren 1924 bis 1929 lag, den Jahren zwischen
der Währungsstabilisierung und der Weltwirtschaftskrise. Diese Zeitspanne, auch als die
,,Goldenen Zwanziger" bekannt, war zwar eine Hochzeit der Kunst und Kultur vor allem
des großstädtischen Milieus, jedoch war sie trotz ihrer relativen Stabilität auch von
Problemen, insbesondere in der Wirtschaft, geprägt.
1
Forciert durch diese Rationalisierungsbewegung kam es mutmaßlich zu einer
Rationalisierungswelle enormen Ausmaßes, die alle Bereiche der Wirtschaft erfasste und
die Arbeitswelt insgesamt wie auch das Arbeitsleben vieler Menschen völlig veränderte.
Dies ist sowohl die zeitgenössische Sicht als auch die Prämisse, unter der die meiste
geschichtswissenschaftliche Literatur zu diesem Thema verfasst ist. Man muss hier jedoch
Vorsicht walten lassen. Das Wort ,,Rationalisierungsbewegung" ist zwar zweifelsohne
richtig, denn diese Bewegung hat es aus programmatischer und propagandistischer
Sichtweise definitiv gegeben, der Begriff ,,Rationalisierungswelle" jedoch, der die
tatsächliche Durchdringung der Wirtschaft mit Rationalisierungsmaßnahmen beschreibt, ist
sehr problematischer Natur. Der Realisierungsgrad von Konzepten der Rationalisierung ist
eine nicht abschließend geklärte Frage, die wohl auch mangels belastbaren
gesamtwirtschaftlichen Zahlenmaterials letztendlich nicht zu klären ist. Von der
zeitgenössischen Rationalisierungsliteratur, die ein geradezu überbordendes Ausmaß
erreichte, und dem ,,gefühlten" Durchdringungsgrad der Rationalisierung in einigen
Betrieben ist es auf jeden Fall nicht möglich, allgemeingültige Aussagen zu treffen.
1
Vgl. U. Kluge, Die Weimarer Republik, 129.
1

Diese Arbeit befasst sich daher nicht mit der tatsächlichen (Nicht-)Umsetzung der
Rationalisierung, sondern mit ihrer publizistischen Seite. Die freie (sozialistische)
Gewerkschaftsbewegung, mit rund zwei Dritteln aller gewerkschaftlich organisierten
Personen die mit Abstand wichtigste deutsche Gewerkschaftsorganisation, nahm nach
anfänglicher Ablehnung eine klar ­ geradezu rücksichtslos ­ befürwortende Haltung zur
Rationalisierung ein. Dies scheint verwunderlich, zumal man aus heutiger Sicht von einer
Arbeitnehmerorganisation eine eher skeptisch zögerliche Position erwarten würde. Es soll
also die Frage erörtert werden: Wieso nahmen die zunächst skeptischen Freien
Gewerkschaften als Vertreter der Arbeitnehmerschaft eine positive Haltung zur
Rationalisierung ein und welche strategietheoretischen Überlegungen beeinflussten ihre
Meinung?
Um dieser Frage nachzugehen wird zuerst das Wesen der Rationalisierung beleuchtet, denn
was man eigentlich unter dem Begriff ,,Rationalisierung" versteht bzw. verstand und
welches Ausmaß seine Wahrnehmung in der Gesellschaft erreichte, muss zum Verständnis
seines Faszinationspotenzials näher betrachtet werden. Als Nächstes wird das für die
Rationalisierungsphase in der Weimarer Republik beträchtliche Problem von
Wahrnehmung und Wirklichkeit erörtert, das oftmals vernachlässigt wird. Danach werden
Strukturen des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) beschrieben, die
allgemein für die Meinungsbildung und speziell für den Umgang mit der
Rationalisierungsfrage Bedeutung haben. Das kommende Kapitel befasst sich mit
Frederick W. Taylor, seinem Beitrag zur Rationalisierungsbewegung und dessen
Beurteilung aus gewerkschaftlicher Sicht im zeitlichen Verlauf. Das darauffolgende Kapitel
hat Henry Ford, das durch ihn perfektionierte Konzept der Fließarbeit und die
Vorreiterrolle und Vorbildfunktion Amerikas zum Inhalt. Die Person Henry Ford ist in
Verbindung mit seiner Wirtschaftsphilosophie für die freigewerkschaftliche
Rationalisierungsdebatte von enormer Relevanz. Nun werden mit Lohnerhöhung,
Arbeitszeitreduzierung und Wirtschaftsdemokratiekonzeption die ­ aus Sicht der
Gewerkschaften ­ Zielsetzungen der Rationalisierung vorgestellt, bevor zuletzt auf das
Problem der Fehlrationalisierung eingegangen wird, das die Debatte über Rationalisierung
in den letzten Jahren der Weimarer Republik dominierte.
In den zwanziger Jahren entstand eine schier unüberschaubare Masse an Publikationen
zum Thema Rationalisierung. Als Quellen aus dieser Zeit sollen für die Bearbeitung der
Fragestellung in erster Linie Veröffentlichungen der Gewerkschaften bzw. ihnen
nahestehender Personen herangezogen werden. Bahnbrechende Veröffentlichungen sind
z. B. die ,,Amerikareise deutscher Gewerkschaftsführer", von Spitzenvertretern der Freien
2

Gewerkschaften unternommen, um den wirtschaftlichen Erfolg der USA vor Ort
analysieren zu können, und nach ihrer Rückkehr in Buchform veröffentlicht, die oft zitierte
und bereits 1929 in dritter Auflage vorliegende Schrift des Gewerkschaftsmitglieds Fritz
Tarnow
2
,,Warum arm sein?" und der vom Mitglied des Gewerkschaftsvorstands Wilhelm
Eggert
3
gehaltene Vortrag ,,Rationalisierung und Arbeiterschaft". Des Weiteren finden
Artikel aus ,,Die Arbeit", der freigewerkschaftlichen theoretisch orientierten Zeitschrift für
Gewerkschaftspolitik und Wirtschaftskunde, Texte der ,,Gewerkschafts-Zeitung", dem
offiziellen Organ des Vorstandes des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, und
Beiträge zur gewerkschaftlichen Rationalisierungsdebatte aus dem ,,Gewerkschafts-Archiv
­ Monatsschrift für Theorie und Praxis der gesamten Gewerkschaftsbewegung"
Verwendung. Außerdem spielt die von Otto Bauer verfasste politisch-wirtschaftliche
Schrift ,,Rationalisierung ­ Fehlrationalisierung" von 1931 eine wichtige Rolle vor allem
für die spätere Rationalisierungsdiskussion.
Hinsichtlich der für diese Arbeit gewählten gewerkschaftlichen Schwerpunktsetzung ist die
bedeutendste zeitgenössische wissenschaftliche Veröffentlichung die 1930 erschienene
Untersuchung von Elisabeth Schalldach zu den ,,Rationalisierungsmaßnahmen der
Nachinflationszeit im Urteil der deutschen freien Gewerkschaften". Ebenfalls hilfreich ist
Erich Eckerts Dissertation ,,Die Gewerkschaften und die Rationalisierung der Wirtschaft"
von 1929.
Die ,,moderne" Erforschung der Weimarer Rationalisierungsbewegung beginnt Mitte der
siebziger Jahre und ist seitdem auch in Bezug auf die Gewerkschaften recht umfassend
untersucht worden. Das Interesse an einem (wirtschafts-)historischen Rückblick auf die
Rationalisierungsphase der zwanziger Jahre ist vermutlich auf den damaligen akuten
Rationalisierungsdruck durch erstmals in der Nachkriegszeit verstärkt auftretende
wirtschaftliche Probleme und die beginnende weitläufige Einführung der digitalen
Informationstechnologie zurückzuführen. In ,,Industrieller Friede? Arbeitswissenschaft,
Rationalisierung und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik" von Peter Hinrichs und
Lothar Peters aus dem Jahr 1976 befassen sich die Autoren schwerpunktmäßig mit den
Voraussetzungen und der Entstehung der Arbeitswissenschaft in Deutschland seit der
Jahrhundertwende, wobei die Rationalisierung zur Zeit der Weimarer Republik einen
wichtigen Stellenwert einnimmt. Günter Neubauer unternimmt in seiner
2
Ab Februar 1925 Stellvertretender Vorsitzender des wirtschaftspolitischen Ausschusses. (Vgl. D. Brunner,
Bürokratie und Politik des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes 1918/19 bis 1933, 168.) Ab 1928
unbesoldetes Vorstandsmitglied. (Vgl. D. Brunner, 108.)
3
Ab September 1924 bis September 1931 Sekretär, ab September 1931 bis 1933 3. Vorsitzender. (Vgl. D.
Brunner, 107.)
3

wirtschaftswissenschaftlichen Dissertation von 1981, ,,Sozioökonomische Bedingungen
der Rationalisierung und der gewerkschaftlichen Rationalisierungsschutzpolitik", den
Versuch, die beiden Rationalisierungsphasen von 1918 bis 1933 und von 1945 bis 1968
hinsichtlich der Umsetzung einer gewerkschaftlichen Rationalisierungsschutzpolitik
vergleichend zu untersuchen. Für Gunnar Stollberg ist in seinem Buch ,,Die
Rationalisierungsdebatte 1908 ­ 1933" von 1981 die Frage nach dem ambivalenten
Charakter der Rationalisierung, die ,,den Arbeitern Wohl und Wehe bringen kann"
4
von
zentraler Bedeutung, Thomas von Freyberg untersucht in seinem 1989 erschienenen Buch
,,Industrielle Rationalisierungspolitik in der Weimarer Republik" betriebliche Aspekte der
Rationalisierung in der Maschinenbau- und Elektroindustrie. Richard Vahrenkamp schreibt
in seinem 1983 in den ,,Gewerkschaftlichen Monatsheften" publizierten Artikel
,,Wirtschaftsdemokratie und Rationalisierung" über die technologiepolitischen Ziele der
Gewerkschaften.
Trotz ihres inhaltlichen Nutzens sollte noch angemerkt werden, dass aus heutiger Sicht
einige der Werke ­ vermutlich dem Zeitgeist der siebziger Jahre entsprechend ­ bisweilen
wenn nicht politisch gefärbt dann doch zumindest wenig sachlich bzw. wissenschaftlich
neutral formuliert sind. Dies gilt z. B. für die Dissertation von Günter Neubauer und vor
allem für das Buch von Peter Hinrichs und Lothar Peters, in dem Wörter und
Redewendungen wie ,,Monopolbourgeoisie", ,,Verfeinerung der Ausbeutungsmethoden"
oder ,,Arbeiter gegen das Kapital"
5
zu finden sind.
Als Literatur zu den Freien Gewerkschaften, die zumindest auf der Ebene der
Zentralverbände gut erforscht sind, bieten sich die Titel ,,Freie Gewerkschaften
1918-1933" von Heinrich Potthoff aus dem Jahr 1987 und Detlev Brunners ,,Bürokratie
und Politik des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes 1918/19 bis 1933" von 1992
an. Beide Werke sind strukturanalytisch angelegte Gesamtdarstellungen, die sich
schwerpunktmäßig mit dem freigewerkschaftlichen Dachverband ADGB befassen.
4
G. Stollberg, Die Rationalisierungsdebatte 1908-1933, 13.
5
P. Hinrichs/L. Peters, Industrieller Friede? Arbeitswissenschaft, Rationalisierung und Arbeiterbewegung in
der Weimarer Republik, 26.
4

2DieFreienGewerkschaftenunddieRationalisierung
2.1DasWesenderRationalisierung
Es gibt zahllose Versuche der Definition des Wortes und der Beschreibung des
wirtschaftlichen Vorgangs ,,Rationalisierung". Zunächst muss festgehalten werden, dass es
eine ,,allgemein anerkannte und allgemeingültige Definition von Rationalisierung"
6
nicht
gibt.
Das Wort hat zuerst eine wirtschaftliche Bedeutung. Günther Neubauer begreift
Rationalisierung als die "stetige Verwissenschaftlichung der Technik, der
Arbeitsorganisation, der Verwertung der menschlichen Arbeitskraft und der
Betriebsführung zum Zweck der Leistungssteigerung"
7
. Jürgen Bönig charakterisiert sie
wenig versöhnlich als eine ,,aus Amerika kommende Form der Leistungserzwingung"
8
.
Die Rationalisierung ist auf einer historischen Bedeutungsebene aber auch die
Umschreibung für eben jene zeitliche Epoche der Weimarer Republik, in der sie am
häufigsten diskutiert (und relativ gesehen auch durchgeführt) wurde. Darüber hinaus hat
das Wort auch noch den diffusen Bedeutungshorizont eines Schlagwortes erhalten. Der
Definitionsansatz von Peter Hinrichs und Lothar Peters versucht alle drei Aspekte zu
adressieren:
,,Technischer Fortschritt, Verbesserung der Arbeitsorganisation, Verwissen-
schaftlichung der Verausgabung von Arbeitskraft und psychosoziale Anreize der
Leistungssteigerung verschmolzen in der Kapitalbewegung der 20er Jahre zu jenem
konkreten historischen Prozeß der Produktivkraftentwicklung, der unter dem
Schlagwort >Rationalisierung bekannt wurde."
9
Diese Definition weist auch auf zwei grundlegend unterschiedliche Tendenzen der
Rationalisierung hin: die Arbeitserleichterung durch organisatorische und technische
Verbesserungen einerseits und die verstärkte Ausbeutung der Arbeitskraft, die
Arbeitsintensivierung, andererseits. Diese Differenzierung von Produktivkraftentwicklung
und Arbeitsintensivierung ist zwar für den Arbeitnehmer von enormer, für den
Unternehmer unter Gesichtspunkten der Profitabilität jedoch nur von untergeordneter
Bedeutung, denn Rationalisierungsmaßnahmen beider Richtungen tragen zur Steigerung
des Unternehmenserfolges bei, so dass oftmals der Fall eintritt, dass die Vorteile
6
G. Stollberg, 17.
7
G. Neubauer, Sozioökonomische Bedingungen der Rationalisierung und der gewerkschaftlichen
Rationalisierungsschutzpolitik, 7.
8
J. Bönig, Die Einführung der Fliessbandarbeit in Deutschland bis 1933, 81.
9
P. Hinrichs/L. Peters, 20.
5

verbesserter Technik und Organisation, die der Arbeitnehmer erfährt, durch eine erhöhte
Arbeitsintensität wieder nivelliert werden.
10
Eine andere wichtige Unterscheidungsmöglichkeit ist die Einteilung in eine
,,betriebsorganisatorische" und eine ,,wirtschaftsorganisatorische" Rationalisierung. Zu
betriebswirtschaftlicher Rationalisierung können z. B. technische Innovationen,
Normierung und Neustrukturierungen von Arbeitsvorgängen gezählt werden, mit
wirtschaftsorganisatorischer Rationalisierung ist die Summe der kaufmännischen und
organisatorischen Maßnahmen gemeint, die zu einer stärkeren vertikalen oder horizontalen
Konzentration von Betrieben und Unternehmen führen.
11
Die wirtschaftliche Definition, die man als Ausgangspunkt weiterführender Überlegungen
in nahezu allen schriftlichen Darstellungen der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre zum
Thema der Rationalisierung lesen kann, ist die ,,offizielle" Definition des
Reichskuratoriums für Wirtschaftlichkeit (RKW), das, seit Mitte der zwanziger Jahre durch
den Staat finanziell unterstützt
12
, sich die ,,Förderung der Rationalisierung auf allen
Gebieten der Wirtschaft" zur Aufgabe gemacht und in seine Satzung geschrieben hat.
13
Sie
lautet: ,,Rationalisierung ist die Erfassung und Anwendung aller Mittel, die Technik und
planmäßige Ordnung zur Hebung der Wirtschaftlichkeit bieten. Ihr Ziel ist Steigerung des
Volkswohlstandes durch Verbilligung, Vermehrung und Verbesserung der Güter."
14
Über
diese positivistische Definition, die für jeden etwas zu bieten hat, spottet Siegfried
Kracauer: ,,In der Definition des Reichskuratoriums für Wirtschaftlichkeit fehlt das Wort
Mensch. Vermutlich ist es vergessen worden, weil es keine so wichtige Rolle mehr
spielt."
15
Franz Slavetinsky beschränkt sich in seiner zeitgenössischen adäquaten
Definition auf die Rationalisierung in einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung:
"Rationalisierung [...] ist der gelungene Versuch des kapitalistischen Unternehmers, seine
Produktionskosten pro Produkteinheit
[16]
mit wissenschaftlichen Methoden zu senken,
10
Vgl. H. Kern, Gewerkschaft und Rationalisierung in der Weimarer Zeit. In: Gewerkschaftliche
Monatshefte. Jg. 29, 414.
11
Vgl. U. Heinemann, Rationalisierung in der Sackgasse. In: WSI-Mitteilungen. Zeitschrift des Wirtschafts-
und Sozialwissenschaftlichen Instituts des Deutschen Gewerkschaftsbundes 3/1985, 153.
12
Vgl. H. Hinnenthal, Die deutsche Rationalisierungsbewegung und das Reichskuratorium für
Wirtschaftlichkeit, 19.
13
Vgl. H. Hinnenthal, 33.
14
H. Hinnenthal, 33.
15
S. Kracauer, Die Angestellten, 30.
16
In das Zitat eingearbeitete Korrekturanmerkung am Ende des Buches (Produkteinheit statt
Produktionseinheit).
6

wobei er das Ziel verfolgt, seine Profite zu steigern."
17
Er legt dar, dass Rationalisierung
,,Kostensenkung"
18
ist und die ,,Substitution von Arbeit durch Kapital"
19
zum Ziel hat.
Die Definition der Rationalisierung aus geschichtlicher Perspektive ist keine nachträgliche
geschichtswissenschaftliche Einordnung, sondern sie wurde bereits zur damaligen Zeit
vorgenommen, was die große Bedeutung des Wortes untermauert. Otto Bauer nennt die
Rationalisierung einen ,,einmaligen geschichtlichen Vorgang"
20
. Den "ganzen Prozeß
ruckhafter, sprunghafter Anpassung der deutschen Industrie an ihre neuen
Existenzbedingungen, der sich in den Jahren 1924 bis 1929 vollzog, faßte man als
Rationalisierung zusammen"
21
.
Auch über die Janusköpfigkeit der Rationalisierung für die Arbeitnehmerschaft war sich
Otto Bauer bereits im Klaren:
,,In vielen Fällen erspart die Rationalisierung dem Arbeiter nutzlose, unproduktive
Anstrengung. [...] Man erhöht nicht den Energieaufwand der menschlichen Arbeit,
sondern verbessert ihren Wirkungsgrad. [...] In anderen Fällen dagegen zwingen die
neuen Arbeitsverfahren die Arbeiter, intensiver zu arbeiten, mehr Energie in jeder
Arbeitsstunde zu verausgaben."
22
Wilhelm Eggert stellt fest: ,,Grundsätzlich Neues liegt [...] im Begriffe der
Rationalisierung nicht. Denn seitdem die Menschen ihre Werke mit Überlegung verrichten,
streben sie rastlos nach Erfindung von Hilfsmitteln für die Arbeit, nach deren
Vervollkommnung und nach höherer Planmäßigkeit in der Wirtschaft."
23
Hans Hinnenthal,
Leiter des RKW, hält dagegen: ,,Wenn Rationalisierung wirklich nichts neues oder nichts
anderes ist, als das, was man schon immer getan hat, so ist die erstaunliche Schlagkraft des
Wortes unerklärlich."
24
Ein Grund dafür, dass in der relativen Stabilitätsphase der Weimarer Republik die
,,betrieblich-technische Rationalisierung die größte Aufmerksamkeit gefunden"
25
hat, ist
neben ihrer wirtschaftlichen Relevanz und einer diffusen Bedeutungsspanne, die sie für ein
breites Interpretationsspektrum öffnet, der damals weit verbreitete utopische Glaube an den
technisch-wissenschaftlichen Fortschritt. Man dachte, die aufgrund ihres technisch-
17
F. M. Slavetinsky, Ist die Rationalisierung schuld an der Krise?, 13.
18
F. M. Slavetinsky, 14.
19
F. M. Slavetinsky, 40.
20
O. Bauer, Rationalisierung ­ Fehlrationalisierung, 158.
21
O. Bauer, 158.
22
O. Bauer, 79.
23
W. Eggert, Rationalisierung und Arbeiterschaft, 5.
24
H. Hinnenthal, 7.
25
H. Homburg, Rationalisierung und Industriearbeit, 4.
7

wissenschaftlichen Fundaments gesellschaftspolitisch ,,neutrale" Rationalisierung berge
die Chance zur Lösung aller sozialen Konflikte.
26
,,Es war die verblüffende Leistung der Rationalisierungsbewegung, daß sie den
verschiedensten Interessengruppen die Möglichkeit bot, sich unter dem gemeinsamen
Dach einer generellen Legitimation zu versammeln und ihre diversen, partikularen
Interessen in eine gemeinsame Konsens- und Friedensformel einzutragen."
27
Durch die mit ihr verbundene Fortschrittsverheißung wurde die Rationalisierung ein
gesellschaftliches Schlagwort von immenser Popularität über den Horizont der
Erwerbsarbeit hinaus. Rationalisierung wurde in den zwanziger Jahren zu einer
,,Projektionsfläche für zahllose Zuschreibungen"
28
, ,,zu einem Schlüsselbegriff modernen
Gesellschaftsverständnisses"
29
, zu einer ,,Heilsbotschaft"
30
, zu einem ,,geradezu magischen
Begriff"
31
, der viele Lebensbereiche durchdrang, durch die neue Sachlichkeit und das
Bauhaus auch in Kunst und Literatur Einzug hielt und sogar vor der Forderung nach der
Rationalisierung der individuellen Lebensführung nicht Halt machte.
32
Hausfrauen sollten
nun in rationell eingerichteten Küchen möglichst effektiv ihre Arbeit verrichten.
33
Man mag bemängeln, die Rationalisierung sei ,,zu einem leeren Schlagwort der
Unkundigen geworden, abgenutzt durch immer erneute Wiederholung"
34
, und Eugen
Schmalenbach mag bedauern, dass die Rationalisierung ,,ein Gegenstand geworden ist,
über den man schon etwas reichlich viel gesprochen hat, [...] dessen Bezeichnung man im
allgemeinen schon etwas überdrüssig geworden ist"
35
. Er vergleicht die Rationalisierung
sogar mit einer ,,Drehorgelmelodie, die man nicht mehr hören mag"
36
. Hans Hinnenthal
teilt diese Auffassung allerdings nicht, wenn er schreibt, die Rationalisierung sei
26
Vgl. T. von Freyberg, Industrielle Rationalisierungspolitik in der Weimarer Republik, 320f.
27
T. von Freyberg, 19f.
28
T. von Freyberg, 312.
29
R. Vahrenkamp, Wirtschaftsdemokratie und Rationalisierung. In: Gewerkschaftliche Monatshefte.
Jg. 34, 723.
30
T. von Freyberg, 19.
31
R. Hachtmann/A. von Saldern, ,,Gesellschaft am Fließband". In: Zeithistorische Forschungen 6, 188.
32
Vgl. R. Vahrenkamp, 723.
33
Vgl. C. Koch, Schreibmaschine, Bügeleisen und Muttertagssträuße. In: Kristine von Soden/Maruta
Schmidt (Hrsg.), Neue Frauen. Die zwanziger Jahre. 93f.
34
K. Lange, Bilanz und Kritik der deutschen Wirtschaftskrise unter besonderer Berücksichtigung der
Maschinenindustrie. In: Der deutsche Maschinenbau nach der Gesundungskrise, 18.
35
E. Schmalenbach, Die geschäftliche und finanzielle Seite der Rationalisierung für den einzelnen Betrieb.
In: Der deutsche Maschinenbau nach der Gesundungskrise, 30.
36
E. Schmalenbach, 30.
8

,,eine die ganze Wirtschaft durchsetzende Bewegung, der sich niemand ohne Schaden
entziehen kann. Ein Streit um ihren Namen ist zur Zeit ein unnützer Kräfteverbrauch.
Schließlich kann man nicht verordnen, was unter Rationalisierung zu verstehen sei.
Vielleicht ist sogar ein zugkräftiges Schlagwort besser als eine tiefschürfende
Definition."
37
2.2WahrnehmungundWirklichkeit
Es gibt ein kaum zu überschätzendes Problem in Bezug auf die Rationalisierung in der
Weimarer Republik. Die geradezu unerschöpfliche Masse an Theoriediskussionen zur
Weimarer Zeit suggeriert ein Ausmaß an Rationalisierung, das in der Praxis mit an
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht umgesetzt wurde.
Die Vertreter der Gewerkschaften freilich waren von den Wirkungen der Rationalisierung
überzeugt. Wilhelm Eggert hält es für allgemein anerkannt, ,,daß sie auf der ganzen Linie
sowohl in der Gütererzeugung wie in der Güterverteilung zu verzeichnen sind"
38
. ,,Fast alle
Wirtschaftszweige haben infolge der Rationalisierungsmaßnahmen hohe Leistungs-
steigerungen zu verzeichnen, die oft bei stark verminderter Belegschaft erzielt worden
sind. Nach Berichten aus der Industrie beträgt die Leistungssteigerung durchweg 20 bis 30
Prozent."
39
Und obwohl Fritz Tarnow feststellt, es stehe ,,keine Statistik zur Verfügung, an
der wir das Wachsen der Produktivität ablesen und verfolgen können"
40
, ist er auf jeden
Fall davon überzeugt, dass jeder, der ,,die deutsche Wirtschaft auch nur oberflächlich
betrachtet"
41
deutliche Leistungssteigerungen wird feststellen können. Doch bereits damals
war diese Meinung keinesfalls einhellig. Adolf Scheffbuch schreibt, er stoße bei dem
Versuch, seine arbeitsmarktpolitischen Thesen zur Rationalisierung statistisch verifizieren
zu wollen,
,,auf erhebliche Schwierigkeiten. Eine allgemeine Rationalisierungsstatistik ist, wie
uns die Reichsarbeitsverwaltung unter dem 14. September 1927 meldet, bisher nicht
aufgestellt worden. Die Reichsarbeitsverwaltung empfiehlt daher, die
Arbeitsnachweisstatistik sowie die Erwerbslosenziffern als Anhaltspunkte zu
nehmen, was allerdings mehr als gewagt erscheint in Anbetracht der Mannigfaltigkeit
der Ursachen, die bestimmend auf den Arbeitsmarkt einwirken."
42
Kurt Mendelsohn räumte bezüglich der Rationalisierungsfolgen für Produktivität und
Arbeitsmarkt ein, es müsse "in erheblichem Masse zu statistischer Akrobatik Zuflucht
37
H. Hinnenthal, 7f.
38
W. Eggert, 15.
39
W. Eggert, 13.
40
F. Tarnow, Warum arm sein?, 29.
41
F. Tarnow, Warum arm sein?, 29.
42
A. Scheffbuch, Der Einfluss der Rationalisierung auf den Arbeitslohn (Arbeitsmarkt), 239.
9

genommen werden, um überhaupt zu Vorstellungen zu gelangen."
43
Otto Schulz-Mehrin
beklagt in der Monatsschrift des Vereins deutscher Ingenieure grundsätzlich:
,,Man hat fast immer nur die technische Seite der Fließarbeit gesehen, aber ihre
wirtschaftlichen Wirkungen nicht genügend erkannt und vor allem nicht rechnerisch
genau erfaßt. [...] Es fehlt bei uns im Wirtschaftlichen überhaupt am exakten
Rechnen mit Zahlen. Alle Versuche, hierin weiter zu kommen, werden als Theorie
bezeichnet. Man hält angebliche praktische Erfahrung und Routine für wertvoller.
Wirtschaftliche Wirkungen und Möglichkeiten werden nicht zahlenmäßig berechnet,
sondern gefühlsmäßig beurteilt."
44
Wenn schon vielen Zeitgenossen eine qualifizierte Aussage über die Auswirkungen der
Rationalisierung aufgrund des sehr validen Arguments fehlenden oder nicht belastbaren
Zahlenmaterials nicht möglich war, ist zu bezweifeln, dass dies Jahre später ohne neue
statistische Daten besser funktionieren soll. Auf der einen Seite schreibt z. B. Thomas von
Freyberg: ,,Über das reale Ausmaß der industriellen Rationalisierungsbewegung in den
zwanziger Jahren der Weimarer Republik ist sicher ein halbwegs genaues und umfassendes
Gesamtbild nicht mehr erstellbar." Auf der anderen Seite nimmt er ,,Annäherungen und
begründete Schätzungen"
45
vor, obwohl er sich dabei in Teilen auf eine Erhebung des
Deutschen Metallarbeiter-Verbandes (ADGB-Mitgliedsverband) stützt, die zwar ,,wichtige
Hinweise, aber keine auch nur halbwegs abgerundete Gesamtbilanz der Weimarer
Rationalisierungswelle"
46
ermögliche. Immerhin macht er auf dieses Datenproblem
aufmerksam. Viele seiner Vorgänger (und auch Nachfolger) übernehmen die von
verschiedenen Interessensgruppen verlautbarten Wirkungsgrade der Rationalisierungs-
bewegung ohne Hinterfragung, oder sie extrapolieren einzelbetriebliche oder branchen-
spezifische Detailaufnahmen für zu große Teile der Wirtschaft. Andreas Hoff stellt fest:
,,Über den tatsächlichen Umfang der deutschen Rationalisierung liegt kein brauchbares
Zahlenmaterial vor".
47
Zudem waren die zwanziger Jahre ökonomisch durch starke
konjunkturelle Schwankungen gezeichnet, wodurch es kaum möglich ist, die Auswirkung
von Rationalisierungsmaßnahmen isoliert für sich zu untersuchen.
48
Dies gilt auch für die
Wahrnehmung der Arbeitnehmer selbst, denn auch eine Beschleunigung des Arbeitstempos
43
K. Mendelsohn, Fünf Jahre Rationalisierung. In: Die Arbeit. Zeitschrift für Gewerkschaftspolitik und
Wirtschaftskunde. Jg. 7, 118.
44
O. Schulz-Mehrin, Rationalisierung und Kapitalbedarf unter besonderer Berücksichtigung der Fließarbeit.
In: Technik und Wirtschaft. Monatschrift (sic!) des Vereins deutscher Ingenieure. Jg. 19, 268.
45
T. von Freyberg, 30.
46
T. von Freyberg, 35.
47
A. Hoff, Gewerkschaften und Rationalisierung ­ die freigewerkschaftliche Rationalisierungsdebatte
1924-1929, 55.
48
Vgl. C. Kleinschmidt, Rationalisierung als Unternehmensstrategie, 298.
10

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2013
ISBN (PDF)
9783961160006
ISBN (Paperback)
9783961165001
Dateigröße
568 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität zu Köln – Historisches Institut
Erscheinungsdatum
2016 (Juni)
Note
2,5
Schlagworte
Weimarer Republik Rationalisierungsbewegung Gewerkschaftsbewegung Gewerkschaft Arbeitnehmerorganisation
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