Leonora Carrington – Eine Untersuchung der Auswirkungen biographischer Entwicklungen auf die künstlerische Selbstdarstellung
					
	
		©2016
		Masterarbeit
		
			
				106 Seiten
			
		
	
				
				
					
						
					
				
				
				
				
			Zusammenfassung
			
				Diese interdisziplinäre Masterarbeit beschäftigt sich mit der surrealistischen Künstlerin Leonora Carrington und ihren Selbstdarstellungen. Wie diese sich auf ihre Identitätsentwicklung beziehen, sollte im Laufe der Arbeit herausgefunden werden. Hierzu wurden zum einen die Bildhermeneutik nach Panofsky für die Untersuchung der Selbstdarstellungen herangezogen, zum anderen die objektive Hermeneutik nach Oevermann für die Analyse der Lebensdaten der Künstlerin. Als Bindeglied zwischen der kunsthistorischen und der sozialwissenschaftlichen Methode fungiert die Indentitätstheorie Erik H. Eriksons, unter deren Berücksichtigung die gesamte Arbeit aufgebaut ist.
			
		
	Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
2 
1. Einleitung 
Diese Arbeit befasst sich mit einem interdisziplinären Thema, das sowohl in die Be-
reiche der Pädagogik als auch in diejenigen der Kunstgeschichte hineinreicht. Vor-
rangig geht es um die Entwicklung der Selbstbildnisse
1
 der surrealistischen Künstle-
rin Leonora Carrington (1917-2011) in Kohärenz mit der  Entwicklung ihrer Identi-
tät. Somit soll hier ein kunsthistorisches Thema mithilfe kunstgeschichtlicher und 
sozialwissenschaftlicher Methoden  der Bildhermeneutik und der objektiven Her-
meneutik  und einer pädagogischen Fragestellung untersucht werden. Die Kunstge-
schichte hat bisher noch kein klares Regelwerk für das Behandeln von Biographien 
und deren möglicher Tragweite für die Interpretation des Oeuvres einer Künstlerin 
oder eines Künstlers aufgestellt. Doch genau dies, der Zusammenhang zwischen Bi-
ographie und Oeuvre, soll bei dieser Arbeit im Vordergrund stehen. Ob es möglich 
ist, eine Biographie aus der pädagogischen Disziplin heraus in Zusammenhang mit 
einem künstlerischen Lebenswerk zu deuten, soll im Verlauf der Arbeit herausgefun-
den werden. Bei Leonora Carrington sind rein objektiv immer wieder Bezüge her-
stellbar, die deutlich erkennen lassen, dass sie eigene Lebensphasen und eigene Er-
lebnisse aus ihrer Biographie in ihre Kunst überträgt. Aus diesem Grund, weil bereits 
ohne wissenschaftliche Methoden klare Verbindungen zwischen Kunst und Leben 
herstellbar sind, stehen sie und ihre Selbstbildnisse im Mittelpunkt dieser Arbeit. Die 
anhand ihrer Selbstbildnisse erkennbare Entwicklung soll mit ihrer Biographie ver-
glichen werden, um zu untersuchen, in wie weit letztere möglicherweise Auswirkun-
gen auf Stil und Bildthema hatte. 
Sowohl aus den Sozialwissenschaften als auch aus der Kunstgeschichte soll jeweils 
eine Methode zum Einsatz kommen: Zum ersten wird die Bildhermeneutik genutzt, 
1
 Das Selbstbildnis ist eingeteilt in verschiedene Kategorien, für diese Arbeit ist jedoch nur das 
Selbstbildnis in Assistenz relevant, da Leonora Carringtons Werke in diesem Kontext ausschließlich 
in dieser Form erstellt wurden. Hierzu zählen das Selbstbildnis als Signatur, das Selbstbildnis im Bild 
und das Identifikationsporträt. Letzteres trifft die Darstellungen Leonora Carringtons von sich selbst 
präzise. Der Künstler/die Künstlerin zeigt sich selbst im Bild involviert, er identifiziert sich also mit 
einer am Bildgeschehen beteiligten Person; vgl. Schweikhart, Gunter: Das Selbstbildnis im 15. Jahr-
hundert, in: Italienische Frührenaissance und nordeuropäisches Spätmittelalter. Kunst der frühen 
Neuzeit im europäischen Zusammenhang, hg. v. Joachim Poeschke, München 1993, S. 7-11, hier S. 
11. Trotz des Autorenbezugs zum 15. Jahrhundert besitzt die Definition von Schweikhart auch für die 
Werke Leonora Carringtons noch Gültigkeit  nicht zuletzt durch die bei ihr immer wiederkehrenden 
Bezüge zur Renaissance. Darum wird im Folgenden von Selbstbildnissen gesprochen werden, wenn 
es um die drei in dieser Arbeit zentralen Werke Leonora Carringtons geht. 
3 
um die Selbstbildnisse von Leonora Carrington zu analysieren. Das Drei-Stufen-
Modell von Erwin Panofsky (1892-1968) stellt dabei die geeignetste Methode dar, da 
sie in der Kunstgeschichte etabliert ist und sich immer wieder bewehrt hat. Das Drei-
Stufen-Modell befasst sich zunächst mit der vorikonographischen Beschreibung, 
dann mit der ikonographischen Analyse und zuletzt mit der ikonologischen Interpre-
tation. Die reine Beschreibung dessen, was man sieht, die Bedeutung dessen, was 
man sieht, und die anschließende Interpretation bezogen auf den historischen Kon-
text der Entstehungszeit ermöglichen es, den eigentlichen Inhalt eines Werkes fun-
diert und umfassend begreifen zu können.
2
 Um dies zu unterstützen und eine Verbin-
dung zu den Sozialwissenschaften herstellen zu können, werden weitere Ansätze von 
Christian Rittelmeyer (geb. 1940) und Michael Parmentier (geb. 1943) mit einflie-
ßen: Die strukturale und die kontextuelle Interpretation untersuchen den Aufbau und 
den Kontext der Entstehung eines Bildes und können dadurch Ansätze unterstützen, 
die durch das Stufenmodell Panofskys gefunden wurden.
3
 Die psychologi-
sche/mimetische Interpretation geht noch einen Schritt weiter: Der Betrachter soll 
sich in den Künstler/die Künstlerin hineinversetzen und hinterfragen, was die Dar-
stellung für den Künstler/die Künstlerin selbst bedeutet, was er/sie sich dabei gedacht 
hat.
4
 Um Überinterpretationen zu vermeiden, soll diese Betrachtungsweise aber nur 
am Rande berücksichtigt und nicht explizit als eigene Methodik durchgeführt wer-
den. Sie wird in die Analyse mit dem Drei-Stufen-Modell eingearbeitet. Auf die in 
der Kunstgeschichte üblichen ausführlichen Vergleiche mit anderen Künst-
lern/Künstlerinnen der gleichen Epoche wird in dieser Arbeit weitestgehend verzich-
tet werden. Andere surrealistische Künstler/innen werden zwar am Rande Erwäh-
nung finden, aber es wird kein direkter Vergleich von Werken stattfinden. Denn es 
geht in dieser Arbeit nicht darum, Belege für Ähnlichkeiten oder Unterschiede zu 
anderen surrealistischen Künstlern/Künstlerinnen zu finden, sondern vorrangig um 
die Entwicklung Leonora Carringtons in Biographie und Selbstbildnis. Aus diesem 
Grund wird die Methode nach Panofsky weniger detailliert durchgeführt, als es nor-
malerweise üblich wäre  sie dient hier als Grundlage für die Betrachtung der Bild-
2
 Vgl. Bätschmann Oskar: Einführung in die kunstgeschichtliche Hermeneutik: Die Auslegung von 
Bildern, 6. gegenüber der 5. unveränd. Aufl., Darmstadt 2009, S. 69. 
3
 Rittelmeyer,
Christian und Parmentier, Michael: Bildhermeneutik, in: Einführung in die Pädagogi-
sche Hermeneutik. Mit einem Beitrag von Wolfgang Klafki, Darmstadt 2001, S. 72-104, hier S. 72 
und S. 76 f. 
4
 Vgl. ebd., S. 82 ff. 
4 
werke. Somit lässt sich sagen, dass ein pädagogisch-sozialwissenschaftliches For-
schungsinteresse im Vordergrund steht. 
Zum Zweiten wird die Objektive Hermeneutik nach Ulrich Oevermann (geb. 1940) 
als Methode herangezogen, um die objektiven Daten des Lebens von Leonora Car-
rington von Geburt an bis 1947 zu untersuchen. 1947 ist das letzte Selbstbildnis ent-
standen, das somit den zeitlichen Abschluss für diese Arbeit bildet. Die Autobiogra-
phie Carringtons, Down Below, soll am Rande auch in diese Arbeit einfließen und als 
Quelle für die eigene Sichtweise der Künstlerin auf ihre Erlebnisse bezogen auf ei-
nen Anstaltsaufenthalt 1940 dienen. Durch das gleichnamige Selbstbildnis zum sel-
ben Thema, das noch im Jahr des Anstaltsaufenthaltes entstanden ist, lassen sich 
möglicherweise Parallelen feststellen, die den Fokus der Künstlerin auf bestimmte 
Aspekte des Anstaltsaufenthaltes verdeutlichen können. Die Objektive Hermeneutik 
dient der Analyse der Lebensdaten von Leonora Carrington. Dies ist höchst relevant 
für die Darstellung einer Identitätsentwicklung innerhalb der Selbstbildnisse und 
bildet gleichzeitig das Forschungsinteresse, die Motivation, die der Arbeit zugrunde 
liegt. Die Objektive Hermeneutik betrachtet den Text (hier die objektiven Daten) als 
eine autonome Struktur. Mit ihrer Hilfe soll aufgedeckt werden, was der objektive 
Sinn des Textes ist.
5
 Dabei werden die eigenen Aussagen in der Autobiographie au-
ßer Acht gelassen. Denn es muss beachtet werden, dass Leonora Carrington auch 
fiktive Literatur veröffentlicht hat, sodass der Wahrheitsgehalt ihrer eigenen Aussa-
gen ausführlich durch Archivarbeit zu prüfen wäre. Das durch die objektiven Le-
bensdaten von Leonora Carrington Konstituierte soll im Laufe der Arbeit rekonstru-
iert werden.
6
 Die objektiven Daten sind als Konstrukt vorsichtig zu behandeln, da 
keinerlei persönliche Sichtweisen der betroffenen Person eingearbeitet sind. Sie müs-
sen also so neutral wie möglich formuliert und ohne Vorbehalt durch den Leser/die 
Leserin untersucht werden.  Das Leben Carringtons wird daraufhin sequentiell be-
trachtet: Satz für Satz wird analysiert, um eine Kreisbewegung der Interpretation 
durch Vorkenntnisse des Fortgangs der Biographie zu vermeiden.
7
 Die Recherche 
der historischen und kontextuellen Bedingungen steckt den Rahmen ab, in dem sich 
die Interpretation bewegt (zum Beispiel: Wie werden Frauen im Surrealistenzirkel 
5
 Vgl. Garz, Detlef und Uwe Raven: Theorie der Lebenspraxis. Einführung in das Werk Ulrich 
Oevermanns, Wiesbaden 2015, S. 139 
6
 Vgl. ebd. 
7
 Vgl. ebd., S. 139 f. und S. 145 
5 
betrachtet? Was bedeutet ein Anstaltsaufenthalt um 1940?). Daraufhin werden alle 
möglichen Lesarten eines Datums betrachtet in Bezug auf die Frage, welche Bedeu-
tung hinter den Worten stecken könnte. Das Endergebnis bildet die objektive Kon-
struktion einer von der Verfasserin/dem Verfasser eingebetteten Sinnstruktur und 
daraus eine für jede/n Leser/in nachvollziehbare Deutung des Geschriebenen nach 
der Bildung von Hypothesen bezogen auf das Forschungsinteresse. Diese vermutete 
Sinnstruktur muss daraufhin an weiteren Textsequenzen überprüft werden, bis eine 
Sinnstruktur, eine Entwicklungsrichtung im Leben, festgelegt werden kann, die dem 
Text zugrunde liegt.
 8
 Beide Forschungsmethoden zusammen bilden eine umfassende 
Analyse der relevanten Werke auf der einen und sorgen für ein tiefgehendes Ver-
ständnis des Lebens Leonora Carringtons auf der anderen Seite.  
Das Oeuvre von Leonora Carrington ist im Ganzen sehr vielseitig. Zu Beginn wirken 
ihre Darstellungen noch eher naturgetreu, als wären sie in der Realität genau so auf-
findbar. Davon entfernt sie sich mit der Zeit jedoch immer mehr. Während der surre-
alistische Einfluss anfangs nur angedeutet erscheint, wird er mit der Entwicklung 
ihrer Malweise immer klarer: Ihre Hinwendung zum Traumhaften und Unbewussten 
wird beispielsweise durch Mischwesen  Hybride oder Groteske  ersichtlich. Die 
Wahrnehmung und die Wirkung der Darstellung werden vorranging behandelt ge-
genüber der Schönheit ihrer äußeren Erscheinung. Auch religiöse Praktiken, Mystik 
und Alchemie kommen in den Werken Carringtons zum Tragen. Die anfänglich hel-
len, klar und strukturiert aufgebauten Gemälde werden immer mystischer, dunkler 
und Strukturen sind schwer lesbar. Diese spätere Werkphase wird, wie im Folgenden 
erläutert werden wird, für diese Arbeit aber keine Rolle spielen. Leonora Carringtons 
Anlehnung an den niederländischen Künstler Hieronymus Bosch (1450-1516) ist 
anhand von Mischwesen und anhand des Bildaufbaus in einigen Werken deutlich 
erkennbar. Das letzte für diese Arbeit relevante Werk zeigt diese Verbindungen noch 
auf. Innerhalb ihres Oeuvres befasst sich Leonora Carrington auch mit Skulptur, die 
in dieser Arbeit aber keine weitere Erwähnung finden wird, da der Fokus dieser Ar-
beit auf die Selbstbildnisse gerichtet ist. Die Bezüge zu ihrem eigenen Leben sind 
deutlich aus ihren Werken ablesbar. So stellt sie zum Beispiel Max Ernst (1891-
8
 Vgl. ebd., S. 153 
6 
1976) dar, als sie zusammenleben, sie malt alte Frauen, als sie selbst älter wird, und 
sie stellt sich selbst in drei Werken bildlich dar. 
Um diese drei Werke soll es in dieser Arbeit gehen: Das erste nennt sich ,,Self-
Portrait  Inn of the Dawn Horse" (1937/38) (Abb. 1), das zweite, das sich  wie 
allein schon am Titel erkennbar  auf die gleiche Lebensphase wie auch Carringtons 
Autobiographie bezieht, heißt ,,Down Below" (1941) (Abb. 3) und das dritte be-
zeichnet sie als ,,Chiki, ton pays" (1947) (Abb. 10). Diese Werke bilden den Kern der 
nachfolgenden Überlegungen. Das Interesse der Arbeit liegt darin, eine Entwicklung 
in Carringtons Biographie mit einer Entwicklung in ihren Selbstbildnissen in Korres-
pondenz zu setzen. Dies kann zum einen durch ihre überlieferten Lebensdaten, zum 
anderen durch die Analyse ihrer Selbstbildnisse gelingen. Zu den ersten Phasen ihrer 
Identitätsfindung wird das ,,Self-Portrait  Inn of the Dawn Horse" herangezogen, zu 
ihrem Anstaltsaufenthalt ,,Down Below" und zu einer späteren Lebensphase ,,Chiki, 
ton pays". Diese Werke bilden den Rahmen, der es ermöglicht, eine stilistische und 
möglicherweise auch eine persönliche Entwicklung Carringtons aufzuzeigen. Die 
Identitätstheorie von Erik H. Erikson (1902-1994) soll hierbei in ihren Grundzügen 
einfließen und eine Grundlage für die Betrachtung der Persönlichkeitsentwicklung 
Carringtons bilden. Sie stellt jedoch nur ein Teilgebiet dar, mit dessen Hilfe das ei-
gentliche Thema dieser Arbeit  die Frage nach der Übereinstimmung von Biogra-
phie und Selbstbildnissen  fundiert untersucht werden kann. Um die Identitätstheo-
rie Eriksons in vollem Umfang verstehen und auf Leonora Carrington anwenden zu 
können, wird sie mit ihren Phasen in einem eigenen Kapitel vorgestellt. Gerade diese 
Identitätstheorie erscheint hierfür geeignet, da sie aus der Psychoanalyse abgeleitet 
wurde und somit zu dem surrealistischen Themenfeld passt: Der Surrealismus arbei-
tet viel mit der Psychoanalyse und bezieht sich immer wieder auf Sigmund Freuds 
(1856-1939) Theorien. Da Freud selbst sich aber nur indirekt mit der Identität be-
schäftigt hat und den Begriff eher umging, bezieht sich die Arbeit auf seinen Schüler 
Erikson. Um eine Identitätsentwicklung Carringtons neben ihrer stilistischen Ent-
wicklung aufzeigen zu können, ist die Bezugnahme zu einer Identitäts- oder Ent-
wicklungstheorie unumgänglich. 
Die zentrale Forschungsfrage dieser Arbeit lautet: Auf welche Weise beeinflusst Le-
onora Carringtons Biographie die Selbstbildnisse in ihrem künstlerisch-malerischen 
7 
Werk? Es gibt des Weiteren mehrere Fragestellungen, die sich als eine Art roter Fa-
den durch die Arbeit ziehen und die es im Laufe der Untersuchungen zu beantworten 
gilt: In wie weit zeigt sich eine Identitätsentwicklung in den Selbstbildnissen von 
Leonora Carrington? Wie verändert sich der Stil von Leonora Carrington innerhalb 
ihrer Selbstbildnisse? Wie stark ist die Veränderung des Stils von den Entwicklungen 
innerhalb des Surrealismus beeinflusst worden und ist diese damit ausschließlich ein 
Produkt der zeitlichen Umstände? In welchem Verhältnis stehen die Entwicklung 
ihres Stils und die Entwicklung ihrer Identität? Welche Verbindungen lassen sich 
zwischen Stil- und Identitätsentwicklung aufzeigen? 
Zu den Fragen nach dem Anstaltsaufenthalt und nach der Stilentwicklung lassen sich 
im Voraus bereits Thesen aufstellen: Die Identitätsentwicklung Carringtons schlägt 
sich in der Themenwahl ihrer Selbstbildnisse nieder. Der Stil Carringtons steht in 
Korrespondenz mit ihrer Identitätsbildung: Je weiter ihre Identitätsbildung voran-
schreitet, desto kleinteiliger und detaillierter werden ihre Darstellungen. Weitere 
Thesen werden sich im Erstellungsprozess der Arbeit bilden lassen. 
Zum Forschungsstand lässt sich sagen, dass es generell nur wenige interdisziplinäre 
Arbeiten in den Fächern Pädagogik/Kunstgeschichte gibt. Daher lassen sich auch 
speziell zu diesem Thema keine anderen Arbeiten finden. Oevermann und Freud 
haben selbst Arbeiten zu Künstlerbiographien verfasst, diese aber nicht mit kunsthis-
torischen Methoden verknüpft. Zu den einzelnen Themengebieten  Objektive Her-
meneutik, Bildhermeneutik, Identitätstheorie (nach Erikson) und Leonora Carrington 
 ist, wie aus den begleitenden Fußnoten ersichtlich, Literatur vorhanden, die auch 
herangezogen wird, um die Arbeit zu untermauern. Bezüglich der Methoden lässt 
sich sagen, dass es eine Verbindung beider hermeneutischer Ansätze  der Bildher-
meneutik und der Objektiven Hermeneutik  bisher noch nicht gegeben hat. Zwar 
wurden Bildwerke mit der Objektiven Hermeneutik untersucht, jedoch wurden die 
Objektive Hermeneutik und die Bildhermeneutik als eigenständige Methoden bisher 
noch nicht mit dem Ziel der Beantwortung einer oder mehrerer Fragestellungen 
kombiniert. Zudem soll durch die Analyseschritte in dieser Arbeit herausgefunden 
werden, ob es zukünftig sinnvoll ist, Künstlerbiographien mit der Methode der Ob-
jektiven Hermeneutik zu untersuchen oder ob diese eher ungeeignet ist. Dies soll 
aber nur exemplarisch gelten, da diese Arbeit lediglich ein Beispiel für die Kombina-
8 
tion der Methoden ist. Um eine allgemeingültige Aussage hierzu treffen zu können, 
müssten viele verschiedene Künstlerbiographien zusammen mit ihrem Oeuvre unter-
sucht werden. Dagegen ist es nicht Ziel der Arbeit, eine reine Biographie oder eine 
Stilkritik zu Leonora Carrington und ihrem Oeuvre zu schreiben. Auch soll keine 
Kritik an der Kunstgeschichte bezüglich des Umgangs mit Künstlerbiographien ge-
übt werden. Im Kontext dieser Arbeit soll nur ein Vorschlag für einen anderen inter-
disziplinären Umgang mit Künstlerbiographien gemacht werden. Dies ist lediglich 
der Ort für die Erprobung einer neuen Herangehensweise zum erweiterten Verständ-
nis von Künstler/in und Oeuvre. 
Der Aufbau dieser Arbeit ist wie folgt gestaltet: Auf die Einleitung folgt die Erläute-
rung des methodischen Vorgehens. Hierfür werden zunächst die Methoden vorge-
stellt, zuerst die Bildhermeneutik und dann die Objektive Hermeneutik. Daraufhin 
wird ein Einblick in die Identitätstheorie nach Erik H. Erikson gegeben, da diese die 
Grundlage für die Untersuchung der Biographie und der Selbstbildnisse Leonora 
Carringtons bildet. Ansätze anderer Identitätstheorien sollen hierbei nicht berück-
sichtigt werden, da diese Arbeit ihren Fokus begründet auf Erikson legt. Den vierten 
Abschnitt bildet der Surrealismus. Die Ansichten des entsprechenden Künstlerkreises 
werden hier betrachtet und können bereits einen Beitrag zu der späteren Analyse der 
Stilentwicklung Carringtons leisten. Ihre Zeitgenossen und die Geschichte der Zeit 
werden hier untersucht. Der fünfte Abschnitt über Leonora Carrington bildet den 
Kern dieser Arbeit, da es um die eigentliche Analyse von Werk und Biographie geht: 
Unter Punkt 5.1 wird die bildhermeneutische Analyse der Werke durchgeführt und 
unter Punkt 5.2 die Analyse der objektiven Lebensdaten mithilfe der Objektiven 
Hermeneutik. Der sechste Punkt wird beide Analyseschritte zusammenführen und 
die Ergebnisse der verschiedenen Analysen einander gegenüberstellen. Im letzten 
Schritt soll zum einen das Gelingen der Anwendung der Methoden bewertet und zum 
anderen ein Ausblick auf weiterführende Arbeiten oder Forschungsansätze gegeben 
werden. 
9 
2. Methodisches Vorgehen 
Wie bereits in der Einleitung erwähnt, orientiert sich die Arbeit methodisch sowohl 
an Panofsky und Rittelmeyer/Parmentier als auch an Oevermann. Die beiden Ansätze 
der Bildhermeneutik und die Objektive Hermeneutik sollen im Folgenden vorgestellt 
werden, damit die späteren Analyseschritte, bezogen auf Biographie und Werke Le-
onora Carringtons, nachvollziehbar sind. 
2.1 Bildhermeneutik 
Erwin Panofsky gilt als Begründer des Drei-Stufen-Modells zur Interpretation von 
Kunstwerken. Dieses Modell wird in der Kunstgeschichte genutzt, um sowohl die 
äußere Form eines Werkes zu analysieren als auch die Bedeutung und die Interpreta-
tion dessen Schritt für Schritt fundiert herauszuarbeiten. Es ist wie folgt aufgebaut: 
Die vorikonographische Beschreibung benennt unter anderem Format und Maße ei-
nes Kunstwerkes, untersucht den Bildaufbau sowie die Strukturen und Formen des 
Dargestellten.
9
 Es geht im ersten Schritt also um die reine Beschreibung des äußeren 
Ausdrucks eines Werkes. Wichtig ist hierfür die praktische Erfahrung der Betrachte-
rin/des Betrachters, die dargestellten Gegenstände und Handlungen müssen ihm/ihr 
bekannt sein. Der Stil, die Darstellungsweise von Gegenständen und Handlungen in 
den verschiedenen historischen Kontexten, muss dem Anwender/der Anwenderin 
vertraut sein (,,Stil-Geschichte").
10
 Im zweiten Schritt, der ikonographischen Analy-
se, werden die Bildthemen benannt, die sich aus den äußeren Formen erkennen las-
sen.
11
 Die einzelnen Formen und Farben eines Werkes werden zusammengeführt und 
die Bedeutungen herausgelesen. Der Betrachter/die Betrachterin muss Textquellen 
kennen oder wissen, wo diese zu finden sind, um diesen Schritt ausführen zu können. 
Die Art und Weise sowie die Gegenstände, mithilfe derer Künstler/Künstlerinnen 
bestimmten Bildthemen in den verschiedenen historischen Kontexten Ausdruck ver-
liehen haben, müssen bekannt sein (,,Typen-Geschichte").
12
 Im dritten und letzten 
Schritt, der ikonologischen Interpretation, wird der Gehalt der Ausdrucksgestalten 
untersucht, also die Bedeutung dessen, was im ersten und zweiten Schritt erkannt 
9
 Vgl. Bätschmann 2009 (wie Anm. 2), S. 58 
10
 Vgl. ebd., S. 69 
11
 Vgl. ebd., S. 58 
12
 Vgl. ebd., S. 69 
10 
wurde.
13
 Einfach gesagt, handelt es sich in diesem Schritt um Menschen- und Ge-
schichtskenntnis. Der Betrachter/die Betrachterin muss die Handlungsmuster und die 
Eigenschaften der Menschen kennen und nachvollziehen können, um zu verstehen, 
welchen symbolischen Gehalt ein Kunstwerk zum Ausdruck bringt (,,Geschichte 
kultureller Symptome").
14
 Insgesamt geht die Ikonographie von einem vom Künst-
ler/von der Künstlerin intendierten Sinn aus, der einer Darstellung zugrunde liegt. 
Nur so lässt sich der Inhalt eines Werkes vom Betrachter/von der Betrachterin in 
einem Sinnzusammenhang deuten. Bestimmte Attribute und deren Bedeutungen 
können ein Wegweiser zu einer möglichen Deutung sein, die aber meist nur dann 
erfolgt, wenn eine Textquelle der bildlichen Darstellung vorausgeht.
15
 Gibt es keine 
Textquelle, auf die sich das Werk bezieht, kann der Inhalt beziehungsweise der in-
tendierte Sinn auch benannt werden, jedoch können weitere Sinnzusammenhänge 
bestehen, die der Rezipient/die Rezipientin nicht erkennt oder entschlüsseln kann.
16
Diese Sinnstrukturen und weitere Analyseschritte wurden auch von Rittelmeyer und 
Parmentier bearbeitet. Die Bildhermeneutik bietet nach Rittelmeyer und Parmentier 
viele verschiedene Forschungsfelder. Hier sind jedoch lediglich die Bereiche der 
historischen Bildanalyse und der Analyse von Kunstwerken von Relevanz, mit deren 
Hilfe sich historische Veränderungen abbilden und in Bezug auf ihre jeweilige Epo-
che deuten lassen.
17
 Die elementaren Methoden, die in die nachfolgende Analyse der 
Bildwerke einbezogen werden, sind die strukturale, die kontextuelle und die psycho-
logische oder auch mimetische Interpretation. 
Die strukturale Interpretation bezieht sich auf den Eindruck, den ein Bildwerk in sei-
ner gesamten Komposition auf den Betrachter macht. Hierbei werden die Ikonogra-
phie, also ,,(...) der Zweig der Kunstgeschichte, der sich mit dem Sujet (Bildgegen-
stand) oder der Bedeutung von Kunstwerken im Gegensatz zu ihrer Form beschäftigt 
(...)"
18
, die Anordnung einzelner Elemente im Verhältnis zueinander und die Farb-
wahl in die Überlegungen mit einbezogen.
19
 Dieses Vorgehen ähnelt also sehr der 
13
 Vgl. ebd., S. 58 f. 
14
 Vgl. ebd., S. 69 
15
 Vgl. ebd., S. 65 f. 
16
 Vgl. ebd. 
17
 Rittelmeyer und Parmentier 2001 (wie Anm. 3), S. 72 
18
 Panofsky, Erwin: Ikonographie und Ikonologie. Bildinterpretation nach dem Dreistufenmodell, 
Köln 2006, S. 36 
19
 Vgl. Rittelmeyer und Parmentier 2001 (wie Anm. 3), S. 74 f. 
11 
vorikonographischen Untersuchung bei Panofsky. Die kontextuelle Interpretation 
will das Werk im Zusammenhang mit seiner Entstehungszeit deuten. Die Merkmale 
jener Zeit müssen hierfür herausgearbeitet werden. Die grundlegenden Fragestellun-
gen lauten hier: Warum hat der Künstler/die Künstlerin ausgerechnet diese Darstel-
lungsweise und keine andere gewählt? Was zeichnet sie in Bezug auf ihre Epoche 
aus? Haben zeitgenössische Künstler/Künstlerinnen ähnliche Darstellungsweisen 
gewählt? Der Betrachter/die Betrachterin muss sich dafür Hintergrundwissen über 
die jeweilige Zeit aneignen, um die Symboliken hinter den einzelnen ikonographi-
schen Bildelementen in einem allgemeinen Zusammenhang entschlüsseln zu kön-
nen.
20
 Hier lassen sich Parallelen zu der ikonologischen Interpretation bei Panofsky 
ziehen. Bei der psychologischen oder mimetischen Interpretation wird das Abgebil-
dete als ein vom Künstler subjektiv wahrgenommener, visueller Eindruck verstan-
den. Dieser muss vom Betrachter/von der Betrachterin erkannt und verstanden wer-
den, er/sie muss sich also in die Gedanken und Gefühle des Künstlers/der Künstlerin 
hineinversetzen.
21
 Dieser Interpretationsansatz kann zu Fehldeutungen führen, da der 
Betrachter/die Betrachterin Symbole falsch interpretieren oder mit Bedeutungen be-
legen könnte, die der Künstler/die Künstlerin nicht bezwecken wollte. Daher kann 
dieser Ansatz nur peripher mit einfließen und der Anwender muss sich und seine 
Interpretationsansätze immer wieder in Frage stellen.
22
Grundlage dieser Arbeit bildet das Drei-Stufen-Modell von Panofsky. Die Ansätze 
von Rittelmeyer und Parmentier werden zwar in die Betrachtungen mit einfließen, 
sind kunsthistorisch jedoch nicht immer korrekt (siehe psychologische/mimetische 
Interpretation), sodass sie nicht als Hauptregelwerk für diese Arbeit gelten können. 
2.2 Objektive Hermeneutik 
Die von Ulrich Oevermann 1969 begründete Objektive Hermeneutik bildet das zwei-
te Standbein dieser Arbeit. Die Objektive Hermeneutik bezieht ihre Gültigkeit aus 
Ausdrucksgestalten, also aus allen ,,Fußspuren", die Menschen in dieser Welt hinter-
lassen. Diese Ausdrucksgestalten müssen allerdings protokolliert sein, der symboli-
20
 Vgl. ebd., S. 76 f. 
21
 Vgl. ebd., S. 82 ff.
22
 Zu dem Abschnitt über die Methode nach Rittelmeyer/Parmentier siehe Starck, Eva: Die Geschichte 
der Universität. Ein bildhermeneutischer Blick auf das Verhältnis von Professor und Student, (= Ba-
chelorarbeit an der Phil. Fak. der CAU), Kiel 2014, S. 2 f. 
12 
sche Gehalt und die äußere Abbildung müssen somit existieren, um sie untersuchen 
zu können.
23
 Die Untersuchung unterliegt dabei einem gewissen Regelwerk. Die 
latente Sinnstruktur, diejenige Struktur, die unbewusst von demjenigen/derjenigen, 
der/die sie erschaffen hat, in die Ausdrucksgestalt eingebettet wurde, wird vom For-
schenden rekonstruiert und in ihrem äußeren Zusammenhang, dem Kontext der Situ-
ation, interpretiert. ,,Dass Lebenspraxis [...] immer schon als eine Sequenzfolge zu 
verstehen ist, als ein regelgeleiteter Ablauf und ein Ineinanderübergehen von Ver-
gangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem [...]"
24
, erklärt sich in der Betrachtung 
von Biographien und wird durch die Analyse derjenigen von Leonora Carrington 
belegt werden. Ein Ereignis in der Vergangenheit eines Menschen wirkt hinein bis in 
die Gegenwart und kann seine Zukunft verändern. Somit hat die Biographie eines 
jeden Menschen etwas an sich, was sie einzigartig werden lässt.
25
 Keine Biographie 
ist mit einer anderen identisch, nicht einmal die von Zwillingen, die in ein und der-
selben Familie aufwachsen, dieselbe Schule besuchen und dieselben sozialisatori-
schen Bedingungen haben. Denn die Wahrnehmung bleibt individuell, die durchleb-
ten Situationen sind verschieden interpretiert und verarbeitet worden und damit auch 
die gemachten Erfahrungen, die die Gegenwart und die Zukunft beeinflussen. Es 
lässt sich daher sagen, dass das menschliche Leben in aufeinander folgende Sequen-
zen unterteilt werden kann. Die Objektive Hermeneutik ist wiederum ihrerseits ,,[...] 
dem Wechselspiel von Neuem, Emergenz und Krise einerseits, und Vorbestimmtem, 
Determiniertem und Routinen andererseits [...]"
26
 nachempfunden. Welche Methode 
könnte also geeigneter sein, die Biographie eines Menschen zu untersuchen, als die-
jenige, die genauso aufgebaut ist, wie das Leben selbst? Die Datenauswertung steht 
im Mittelpunkt der Objektiven Hermeneutik. Die Datenerhebung ist dabei zweitran-
ging anzusiedeln, da die Methodik der Auswertung für die korrekte Interpretation 
und somit für das Ergebnis eines Falls eine bedeutendere Rolle spielt als die Qualität 
des Protokolls an sich.
27
 Die Vorgehensweise läuft folgendermaßen ab: Das in Text-
form vorliegende Protokoll wird auf eine bestimmte Fragestellung hin sequenziell 
interpretiert. Die einzelnen Sequenzen, die sich aus Sinneinheiten ableiten, werden 
unabhängig voneinander analysiert und gedeutet. Im Laufe der sich mehrenden Se-
23
 Vgl. Garz und Raven 2015 (wie Anm. 5), S. 138 
24
 Garz und Raven 2015 (wie Anm. 5), S. 139 
25
 Vgl. ebd., S. 140 
26
 Ebd., S. 140 
27
 Vgl. ebd., S. 142 f. 
13 
quenzinterpretationen werden einzelne Deutungen bezüglich der anfangs festgelegten 
Fragestellung erarbeitet, verändert oder negiert, bis sich verschiedene Lesarten ent-
wickeln. Diese Lesarten müssen intersubjektiv verständlich, also für andere nach-
vollziehbar sein, um bestehen zu bleiben. Während der gesamten Sequenzanalyse 
darf die- oder derjenige, die oder der sie anwendet, nicht vorgreifen und somit keine 
Vorkenntnisse über den weiteren Verlauf der Biographie einbringen. Jede Sequenz 
wird unabhängig von den darauffolgenden interpretiert, da sonst eine kreisförmige 
Bewegung entstehen kann  man sucht in diesem Fall lediglich Belege für eine im 
Voraus getroffene Annahme und ist nicht mehr offen für neue Lesarten. Ist bei dem 
Forschenden bereits Wissen über den Kontext der Sequenzen vorhanden, darf dieses 
nicht mit in die Analyse einbezogen werden. Bei der Sequenzanalyse ist die Qualität 
wichtiger als die Quantität. Die Detailgenauigkeit spielt für die Entwicklung und das 
Belegen beziehungsweise das Widerlegen von Lesarten eine größere Rolle als die 
Anzahl der Sequenzen oder objektiven Daten. Diese Sequenzen und Daten können je 
nach Relevanz gewählt werden, der Forschende unterliegt also keinem gezielten 
Auswahlverfahren.
28
Zusammengefasst geht es bei der Objektiven Hermeneutik um die Rekonstruktion 
einer latenten Sinnstruktur in einem Protokoll in Bezug auf eine konkrete Fragestel-
lung. In Bezug auf die objektiven Lebensdaten von Leonora Carrington scheint die 
Objektive Hermeneutik das ideale Verfahren zur Entschlüsselung der Verbindung 
von Oeuvre und Biographie zu bieten. 
3. Identität nach Erik H. Erikson 
Erik Homburger Erikson hat ein Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung for-
muliert, welches die Entwicklungsphasen eines Menschen im Reifungsprozess dar-
stellt. Dieses Stufenmodell soll bei der Betrachtung der Biographie Leonora Carring-
tons dabei helfen, ihren Entwicklungsprozess nachzuvollziehen und mögliche Erklä-
rungen für die gewählte Machart der Selbstbildnisse und vor allem die Art der Ver-
änderungen dieser zu liefern. 
28
 Vgl. ebd., S. 143-147 
14 
Zunächst soll nun der Begriff der Identität so erläutert werden, wie Erikson ihn ver-
steht, um seine Theorie grundlegend verstehen zu können. Seine Definition stützt 
sich auf Annahmen von Sigmund Freud und William James (1842-1910).
29
 Das Ich 
wird hier als ,,[...] bewusstes, autonomes und intentionales Agens begriffen [...]"
30
. 
Zum Ersten formuliert Erikson Identität als ,,Ich-Gefühl", als aktives Ich, das sich 
imstande fühlt, bewusst zu handeln, beteiligt ist an äußeren Geschehnissen und sich 
nicht dem Schicksal ausgeliefert fühlt. Dieses bewusste Ich muss gleichzeitig in einer 
Beziehung zu Anderen stehen, um sich vergleichen und abgrenzen, um die eigene 
Realität wahrnehmen zu können. Zum Zweiten bezeichnet Erikson Identität als ein 
Zusammenwirken vom ,,persönlichen Ich"  dem Wissen um die eigene Existenz und 
die eigenen bestehenden Wesenszüge  und der Umwelt, also dem soziokulturellen 
Umfeld. Die Identität und ihre Entwicklung werden von diesem Umfeld beeinflusst. 
Und zum Dritten wird die Identität geprägt von den immer wiederkehrenden Prozes-
sen der Anpassung an die Umwelt. Für die Ausbildung einer Identität ist es also not-
wendig, grundlegende Eigenschaften und Charakterzüge zu behalten, jedoch gleich-
zeitig das Bedürfnis nach Weiterentwicklung aufrechtzuerhalten.
31
 Somit ist die 
Identitätsbildung ein lebenslang andauernder Prozess und ein Wechselspiel von Er-
haltung und Erneuerung. Das ,,Identitätsgefühl" lässt den Menschen sich selbst als 
etwas Beständiges und Dauerhaftes erleben, was in einer ,,Ich-Identität" mündet. Die 
Ich-Identität ist das Bewusstsein darüber, dass alle Anpassungsprozesse gleich oder 
zumindest ähnlich ablaufen, dass es Aspekte gibt, die immer bestehen bleiben. Diese 
Kontinuität zu bewahren, die grundlegenden Persönlichkeitsmerkmale unter wech-
selnden äußeren Bedingungen nicht zu verlieren, ist die Hauptaufgabe während des 
Prozesses der Identitätsbildung.
32
 Somit lässt sich zusammenfassend sagen, dass die 
Identität nach Erikson sowohl auf der Kontinuität grundlegender Persönlichkeits-
merkmale als auch auf der ständigen Anpassung an die Umwelt beruht. 
Eriksons Theorie der psychosozialen Entwicklung leitet sich aus der Theorie der 
psychosexuellen Entwicklung nach Freud ab und ist Teil seiner Theorie der lebens-
langen Entwicklung. Aus der Theorie Freuds übernimmt er die Prämissen, dass das 
29
 Vgl. Noack
Juliane: Erik H. Eriksons Identitätstheorie, (= Pädagogik: Perspektiven und Theorien, 
Bd. 6), Oberhausen 2005, S. 209 
30
 Ebd., S. 209 
31
 Vgl. ebd., S. 210 f. 
32
 Vgl. ebd., S. 212 
15 
Unbewusste Träume und Tätigkeiten im Tagesbewusstsein beeinflusst und dass Er-
fahrungen in der frühen Kindheit die Persönlichkeitsentwicklung beeinflussen.
33
 Al-
lerdings findet bei Erikson eine Verschiebung des Schwerpunktes vom Psychischen 
zum Psychosozialen hin statt, wie sich allein schon in der Bezeichnung der Theorie 
zeigt. Erikson geht es darum, ,,soziale Leitbilder", also Eltern, Großeltern usw., und 
den einzelnen Menschen in einem Verhältnis der gegenseitigen Beeinflussung zu 
betrachten.
34
 Aus dem Zusammenwirken von Gruppen- und Ich-Identitäten bildet 
sich das aus, was Erikson als Realität begreift. Somit ließe sich behaupten, dass 
Erikson eine konstruktivistische Sicht auf den Realitätsbegriff postuliert, wenn er 
annimmt, dass sich die Welt aus individuellen Wahrnehmungsmustern konstituiert.
35
Die Persönlichkeit eines Menschen beinhaltet nach Erikson seine Ich-Identität. Die 
Ich-Entwicklung findet im Gleichschritt mit den Stufen der psychosozialen Entwick-
lung statt, endet aber mit der Adoleszenzphase. Die erste Phase der Ich-Entwicklung 
wird als ,,Introjektion" bezeichnet, bei der das Kind durch die Interaktion mit einer 
festen Bezugsperson sich selbst und die Abgrenzung zu anderen Menschen wahrzu-
nehmen lernt.
36
 Die grundlegenden Bedürfnisse werden im Idealfall befriedigt, so-
dass sich ein überwiegend positives Gefühl bezogen auf die eigene Existenz beim 
Kleinkind bemerkbar macht.
37
 In der zweiten Phase, der ,,Identifikation", beruft das 
Kind sich nicht mehr nur auf eine feste Bezugsperson, sondern erweitert sein Spekt-
rum auf andere Familienmitglieder, von denen es Verhaltensweisen, Charakterzüge 
oder ähnliches übernimmt. Diese Übernahme findet unbewusst statt und variiert in-
dividuell.
38
 Hierfür muss eine Abgrenzung von der ersten Bezugsperson vollzogen 
werden, damit das Kind lernt, für eigene Handlungen die Verantwortung zu über-
nehmen. Die dritte Phase, die ,,Identitätsbildung", findet überwiegend in der Adoles-
zenz statt und ist wichtig, um eigene Standpunkte, Eigenschaften und Handlungs-
muster zu entwickeln, um nicht länger von den Identifikationen mit anderen sozialen 
Leitbildern abhängig zu sein.
39
 Bis der Mensch ein Identitätsgefühl entwickelt, ver-
gehen laut Erikson 20 Jahre. In der Adoleszenz muss ein Gleichgewicht hergestellt 
33
 Vgl. Noack, Juliane: Erik H. Erikson: Identität und Lebenszyklus, in: Schlüsselwerke der Identitäts-
forschung, hg. v. Benjamin Jörissen und Jörg Zirfas, Wiesbaden 2010, S. 37-54, hier S. 37 
34
 Vgl. ebd., S. 38 
35
 Vgl. Noack 2005 (wie Anm. 28), S. 66 ff. 
36
 Vgl. ebd., S. 176 
37
 Vgl. ebd., S. 177 
38
 Vgl. ebd. 176 f. 
39
 Vgl. ebd. 
16 
werden zwischen dem, was man durch die Prägung in seiner Vergangenheit gewor-
den ist, und dem, was man in der Zukunft werden will. All das wird schließlich ab-
geglichen mit der eigenen Außenwirkung, mit dem, was, subjektiv vermutet, andere 
über die eigene Identität denken und wie sich die eigene Identität gegenüber anderen 
unterscheidet. Die Bewusstwerdung über das eigene Selbst und das Vergleichen mit 
Gleichaltrigen sowie das Suchen neuer Vorbilder außerhalb der Familie lösen die 
reine Identifikation mit innerfamiliären Bezugspersonen ab, und die Ich-Identität 
bildet sich aus.
40
Im Folgenden sollen nun die acht Stufen der psychosozialen Entwicklung nach 
Erikson skizziert werden. All diese Phasen sind Teil der Entwicklung einer Ich-
Identität nach Erikson. Die Theorie ist im Ganzen höchst normativ, da es entweder 
eine positive oder viel mehr ,,gesunde" Entwicklung der Identität gibt oder aber eine 
negative, die zur Entstehung von psychischen Krankheitsbildern führen kann. Die 
aus der Kindheit gewonnenen Erfahrungen bilden nach Erikson die Grundlage für die 
Bewältigung des Lebens als Erwachsener. Eine eindeutige Definition des Begriffs 
,,Identität" ist schwer greifbar. Sie schließt sich zusammen aus den eigenen, indivi-
duellen Erfahrungen und Werten des einzelnen Menschen einerseits und den histori-
schen Entwicklungen und dem Wertesystem seines soziokulturellen Umfeldes und 
der Gesellschaft, in der er aufwächst, andererseits.
41
 Der einzelne Mensch prägt also 
seine Umwelt ebenso wie die Umwelt den einzelnen Menschen prägt. Diese Symbio-
se besitzt so lange Kontinuität und Gültigkeit, wie es Menschen und Gesellschaften 
gibt. 
3.1 Kindheit 
Ur-Vertrauen versus Ur-Misstrauen (erstes Lebensjahr) 
Die erste Phase der psychosozialen Entwicklung bildet die Grundlage für eine ,,ge-
sunde Persönlichkeit".
42
 Sie bezieht sich auf die aus der Psychoanalyse stammende 
,,orale Phase", in der das Kind seine Umwelt über den Mund wahrnimmt. Als Kurz-
40
 Vgl. ebd., S. 212 ff. 
41
 Vgl. ebd., S. 124 
42
 Vgl. Erikson, Erik H.: Identität und Lebenszyklus, 27. Aufl., Frankfurt am Main 2015, S. 63 
17 
zusammenfassung ließe sich sagen, dass das Kind ist, was es bekommt.
43
 Das meiste 
Erleben bezieht sich in der ersten Hälfte dieser Phase auf die Nahrungsaufnahme, das 
Aufnehmen der Muttermilch. Das Saugen wird jedoch auch auf andere Gegenstände 
übertragen, alles wird in den Mund genommen. Darum wird diese Phase auch als 
,,Einverleibungs-Phase" bezeichnet.
44
 Die Mutter ist daher also die Gebende und das 
Kind das Nehmende. Dass das Kind lernt, dass es durch bestimmtes Verhalten Nah-
rung bekommt, also eine Reaktion bei der Mutter auslöst, ist essenziell für die späte-
re eigene Entwicklung der Fähigkeit zu geben.
45
 Die Beziehung zwischen Mutter und 
Kind ist hierbei aber wechselseitig. Das heißt, wenn die Mutter die Bedürfnisse des 
Kindes nicht deuten kann, fühlt sich das Kind vernachlässigt, sodass sein Verhältnis 
zur Umwelt geschädigt werden kann. Das Kind zieht noch keine Grenze zwischen 
sich selbst und seiner Mutter, es nimmt sich als Teil der Bezugsperson und damit 
nicht als Einzelwesen wahr. Ganzheitlich gesehen ist das Verhalten der Mutter ge-
genüber dem Kind zusätzlich von der eigenen Kultur geprägt, sodass das Kind meist 
so behandelt wird, wie es für das Hineinwachsen in die Kultur notwendig ist.
46
 Damit 
das Vertrauen in sich selbst und in die Umwelt des Kindes wachsen kann, ist die 
Qualität der Mutter-Kind-Bindung wichtiger als die Quantität. Eine Erziehung im 
traditionellen Sinn der Kultur scheint hierbei erfolgreich zu sein; wenn das Kind fest-
stellt, dass hinter jeder Handlung ein Sinn verborgen ist, lässt sich das Vertrauen des 
Kindes fundierter ausbilden. Ebenso scheint die Religion beziehungsweise der Glau-
be an etwas Größeres, auf das man sich verlassen kann, die Vertrauensbildung beim 
Kind positiv zu beeinflussen.
47
In der zweiten Hälfte dieser Entwicklungsphase kommt es zu einer Krise, in der das 
Kind lernt, über andere Körperteile als nur den Mund seine Umwelt wahrzunehmen. 
Der Bewegungsspielraum des Kindes wird größer, das Zahnwachstum beginnt und es 
kann Dinge visuell und akustisch aufnehmen und unterscheiden.
48
 Somit hat das 
Kind ein immer größer werdendes Bedürfnis nach Aufnahme jeglicher Art. Es muss 
zudem mit der Veränderung im Mundbereich zurechtkommen. Es beginnt sich selbst 
43
 Vgl. ebd., S. 98 
44
 Vgl. ebd., S. 64 
45
 Vgl. ebd., S. 65 
46
 Vgl. ebd., S. 64 f. 
47
 Vgl. ebd., S. 72-75 
48
 Vgl. ebd., S. 67 f. 
18 
als eigenes Wesen wahrzunehmen und identifiziert sich nicht mehr mit der Mutter. 
Zusätzlich wird der in den ersten Wochen und Monaten höchst enge Kontakt zwi-
schen der Mutter und ihrem Kind weniger, da sie sich wieder intensiver mit anderen 
Dingen beschäftigt.
49
 Wenn zur gleichen Zeit das Stillen beendet wird, kann es beim 
Kind zu einer Depression kommen, da es die Situation als Liebesentzug und großen 
Verlust empfinden kann. So kann sich ein Ur-Misstrauen manifestieren.
50
 Aus die-
sem Ur-Misstrauen können sich im späteren Leben Verlustängste und Esssüchte 
entwickeln. Wenn das Kind in dieser oben beschriebenen Krise jedoch nicht sich 
selbst und seinen negativen Gefühlen überlassen bleibt, sondern von der Mutter be-
sonders liebevolle Zuwendung erfährt, wächst ein Gefühl des Vertrauens. Dieses 
bezieht sich sowohl auf die Versorgungssicherheit und die Sicherheit in der äußeren 
Welt als auch auf das Kind selbst, die Leistungsfähigkeit der Organe und die Fähig-
keit, die Bezugsperson als Versorger/Versorgerin halten zu können.
51
 Hierbei kann 
aber auch ein Abhängigkeitsverhältnis entstehen, das später durch jegliche Sehnsüch-
te und Hoffnungen Ausdruck findet. In Verbindung mit den darauffolgenden ,,[...] 
Phasen führt [diese erste Phase] beim Erwachsenen zu einer Kombination von Glau-
ben und Realismus."
52
Autonomie versus Scham und Zweifel (zweites und drittes Lebensjahr) 
In der zweiten Phase kommt es zur Entwicklung der eigenen Autonomie, für die das 
in der ersten Phase entstandene Vertrauen die Grundlage bildet. Hier geht es um die 
Erkenntnis des eigenen Willens, sodass das Kind in dieser Phase mehr oder weniger 
ist, was es will.
53
 Das Kind lernt nun, dass es festhalten und loslassen kann, weil es 
sich körperlich verändert und stärker wird. Dies überträgt sich ebenfalls auf die Psy-
che, sodass das Kind einen eigenen Willen ausbildet.
54
 Festhalten und Loslassen 
spielt hier auch für das soziale Leben eine große Rolle: Je nach Entwicklung kann 
das Festhalten einem Akt des Erdrückens und Unterdrückens, aber auch des Umsor-
gens und liebevollen Haltens gleichkommen.
55
 Ebenso kann das Loslassen als 
49
 Vgl. ebd., S. 68 
50
 Vgl. ebd., S. 69 
51
 Vgl. ebd., S. 70 
52
 Ebd., S. 70 
53
 Vgl. ebd., S. 98 
54
 Vgl. ebd., S. 76 
55
 Vgl. ebd., S. 80 f. 
19 
Gleichgültigkeit oder Toleranz verstanden werden. Erikson wendet auf diese Phase 
den aus der Psychoanalyse stammenden Begriff ,,Analität" an. Denn in dieser Zeit 
lernt das Kind, seine Ausscheidungen ansatzweise zu kontrollieren und so damit um-
zugehen, wie seine Kultur es ihm vorlebt.
56
 Wird das Kind zu früh und zu streng von 
den Windeln entwöhnt, kann dies zu starkem Widerstand oder großer Frustration 
führen, worauf das Kind mit sichtbarem Rückschritt in Verhaltensweisen der ersten 
Phase oder Scheinentwicklung reagiert.
57
 Mit 24 bis 28 Monaten beginnt das Kind 
sich seiner Autonomie bewusst zu werden. Zu dieser Zeit sollte nicht mit der Sau-
berkeitserziehung begonnen werden, weil das Kind seinen Willen gegen den der El-
tern stellt und das Gefühl des gebrochenen Willens in dieser Anfangszeit einen 
schlechten Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung darstellt.
58
 Das Kind lernt, 
dass es ein Individuum ist und sollte in dieser Erkenntnis mit seinem eigenen Willen 
zunächst uneingeschränkt akzeptiert werden. 
Diese zweite Phase ist geprägt von Widersprüchen: Die Entwicklung des Kindes 
bildet hier den Grundstein für seine Einstellung gegenüber Liebe und Hass, Folg-
samkeit und Eigensinn, Auslebung seines Selbst und Unterdrückung.
59
,,Aus einer Empfindung der Selbstbeherrschung ohne Verlust des Selbstgefühls 
entsteht ein dauerndes Gefühl von Autonomie und Stolz; aus einer Empfindung 
muskulären und analen Unvermögens, aus dem Verlust der Selbstkontrolle und 
dem übermäßigen Eingreifen der Eltern entsteht ein dauerndes Gefühl von 
Zweifel und Scham."
60
Wecken die Eltern im Kind Schamgefühle für die nicht schnell genug erlernte Sau-
berkeit, hat das Kind Schuldgefühle und empfindet sich selbst als klein. Dies hat 
wiederum Einfluss auf die Wahrnehmung des Kindes, das soeben lernt sich aufzu-
richten und zu stehen, bezüglich seiner eigenen Stärke im Verhältnis zu seiner Um-
gebung. Was für das Kind mit Scham belegt ist, wird nun umso interessanter, sodass 
es zur heimlichen Auslebung dieser Dinge kommt.
61
 Wenn das Kind seinen Wunsch 
nach Betasten und Untersuchen von Dingen nicht ausleben kann, wendet es diesen 
56
 Vgl. ebd., S. 76 f. 
57
 Vgl. ebd., S. 78 
58
 Vgl. ebd., S. 83 
59
 Vgl. ebd., S. 78 
60
 Ebd., S. 78 f. 
61
 Vgl. ebd. 2015, S. 79 f. 
20 
nach innen, was zu Selbstkritik und einem verfrüht entwickelten Gewissen führen 
kann. Dies äußert sich meist durch die Bildung eines Zwangscharakters oder einer 
Scheinautonomie.
62
 Wenn die Eltern dem Kind gegenüber jedoch sowohl akzeptie-
rend als auch bestimmt auftreten, kann sich die Autonomie frei ausbilden und es 
kann sich selbst und anderen gegenüber Akzeptanz entwickeln. Was die Eltern dem 
Kind vorleben, was sie für Werte vermitteln, prägt das Kind und lässt es in eine ähn-
liche Richtung streben. Die Autonomie des Kindes spiegelt also das Selbstgefühl der 
Eltern wider.
63
 Hierfür spielt die soziale und gesellschaftliche Einbindung der Eltern 
eine wichtige Rolle: Wenn das Kind erlebt, dass die Eltern sozial eingebunden sind, 
sich gegenseitig respektvoll behandeln, zur politischen Obrigkeit und zum Arbeitge-
ber ein gutes Verhältnis haben, glaubt das Kind an die eigene Autonomie. Reagieren 
die Eltern aber wiederum mit Frustration auf die eben genannten Aspekte, kann dies 
im Kind zu Scham und Zweifel führen. Akzeptanz der hierarchischen Position in der 
Gesellschaft seitens der Eltern ist in dieser Phase besonders wichtig.
64
 Die Autono-
mie des Kindes ist eng verknüpft mit der Autonomie des Erwachsenen in Beruf, Poli-
tik und Gesellschaft.
65
 Heterogenität und Homogenität müssen sich in dem, was vor-
gelebt wird, die Waage halten, wenn die Konstitution der Autonomie im Kind erfolg-
reich sein soll. 
Initiative versus Schuldgefühl (drittes bis sechstes Lebensjahr) 
Wie in der zweiten Phase bereits angedeutet, gehen das Lebensgefühl und die Ein-
stellung der Eltern auf das Kind über. Die Eltern sind die direkten Vorbilder für das 
Kind. Diese Phase ließe sich so zusammenfassen, dass das Kind ist, was es sich in 
seiner Phantasie vorstellen kann.
66
 In dieser Phase entwickelt sich der Bewegungsap-
parat des Kindes erneut weiter, sodass es sich weitläufiger betätigen kann, und es 
verbessert seine Sprache. Beides zusammen führt zur Ausbildung einer ausgeprägten 
Phantasie- und Traumwelt, die im Kind auch Angst auslösen kann.
67
 Diese Krise darf 
aber die Initiative des Kindes nicht einschränken, da sie den Ausgangspunkt für den 
Wunsch nach Eigenständigkeit und Leistung darstellt. Wenn die Krise überstanden 
62
 Vgl. ebd., S. 81 
63
 Vgl. ebd., S. 84 
64
 Vgl. ebd., S. 85 
65
 Vgl. ebd., S. 113 
66
 Vgl. ebd., S. 98 
67
 Vgl. ebd., S. 87 
21 
ist, lernt das Kind, Unterschiede deutlicher wahrzunehmen. Größe, Geschlecht und 
Rolleneinteilungen stehen hier im Fokus. Nun findet auch die erste Begegnung mit 
der ,,infantilen Sexualität" statt, während der das Kind erkennt, dass ein großer Un-
terschied zwischen ihm und seinem Vater (beim Jungen) beziehungsweise ihm und 
seiner Mutter (beim Mädchen) besteht.
68
 Erikson erwähnt an dieser Stelle den von 
Freud erforschten Ödipus-Komplex, laut dem sich die erste sexuelle Regung bei 
Mädchen auf den Vater und bei Jungen auf die Mutter bezieht und aus der eine Eifer-
sucht auf Mutter oder Vater erwachsen kann. Mädchen erkennen hier, dass sie ge-
genüber den Jungen durch den fehlenden Phallus benachteiligt sind, da sie in man-
chen Kulturen dadurch niemals mit den Männern gleichgestellt werden können.
69
In dieser Phase entwickelt das Kind die ersten Ziele bezüglich sozialer Stellung so-
wie den Ehrgeiz, diese Ziele zu erreichen. Da dies mit dem Eintritt in die Schule zu-
sammentrifft, verändert sich die Persönlichkeit des Kindes. Einstige Wünsche und 
Sehnsüchte werden durch das Anpassen an das Schulsystem unterdrückt. Dies ergibt 
sich zum einen aus der Erziehung und zum anderen aus der geistigen Neuausrich-
tung, die durch die Biologie, hier den Aufschub der Geschlechtsreife, und die Psy-
che, dort die unterdrückten Wünsche aus der Kindheit, bedingt sind.
70
 Auch in dieser 
Phase kommt es zu einer erneuten Krise, wenn das Kind sich selbst als Gegner der 
Älteren sieht und diese übertrumpfen möchte. Durch den Kampf gegen den Vater 
(beim Jungen) beziehungsweise gegen die Mutter (beim Mädchen) und die durch die 
altersbezogene Hierarchie bedingte Niederlage kommt es beim Kind zu Schuld- und 
Angstgefühlen. Sie führen beim Jungen zur Angst vor Penisverlust und beim Mäd-
chen zur Gewissheit, ihn bereits verloren zu haben. All dies sieht das Kind als Folge 
seiner sexuellen Phantasien bezüglich Vater oder Mutter.
71
 Um diese Situation zu 
verlassen, suchen sich die Kinder meist andere Vorbilder in ihrer Umwelt, identifi-
zieren sich aber weiterhin mit Mutter oder Vater. Dem Geschlecht entsprechend, 
kann jedoch auf diese Phase reagiert werden, indem der Vater mit dem Sohn oder die 
Mutter mit der Tochter durch gemeinsame Interessensbildung und Aktivitäten gegen-
seitige Solidarität und Akzeptanz bildet.
72
 So kann sich aus dieser Krise heraus 
68
 Vgl. ebd., S. 90 
69
 Vgl. ebd., S. 90 f. 
70
 Vgl. ebd., S. 92 
71
 Vgl. ebd., S. 93 
72
 Vgl. ebd., S. 96 f. 
22 
schließlich ein Gewissen entwickeln, das die Initiative antreibt. Dieses kommt aber 
nur zustande, wenn das Kind in sich selbst und sein Leben in Abhängigkeit Vertrau-
en hat. Die Angst, dass Verstöße entdeckt werden könnten, wächst, und das Kind 
empfindet Schuld für schlechte Gedanken. Daraus kann sich mit der Zeit moralisches 
Denken ausbilden.
73
 Gehen die Eltern zu streng mit ihrem Kind um, kann das Gewis-
sen rigide werden. Auch wenn die Eltern bei sich selbst andere Maßstäbe anlegen als 
beim Kind und Regeln überschreiten, die für das Kind gelten, kann es dazu kommen, 
dass das Kind meint, das Leben bestehe aus Selbstherrlichkeit und Machtausübung. 
Vergeltung und Ausbeutung anderer Menschen versteht das Kind unter diesen Um-
ständen später als moralisch korrekt.
74
 Durch Schwierigkeiten in dieser Phase kann 
es später dazu kommen, dass der Mensch sich selbst in Rollen drängt, die seinem 
Wesen nicht entsprechen, oder er sich selbst unter Leistungsdruck setzt, um seine 
Initiative zu demonstrieren. All dies kann in psychosomatischen Erkrankungen resul-
tieren.
75
 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Initiative des Kindes mit der 
Einstellung der Menschen in seinem direkten und weiteren Umfeld korrespondiert. 
Es ist eine Art Lebensgefühl und Lebenseinstellung, die von der Gesellschaft ausge-
hen und vom Kind wahrgenommen werden.
76
Werksinn versus Minderwertigkeitsgefühl (sechstes Lebensjahr bis Pubertät) 
In der vierten Phase entwickelt das Kind neue Fähigkeiten; es möchte neben dem 
bekannten Spiel auch etwas Sinnvolles schaffen. Es ließe sich sagen, dass das Kind 
ist, was es lernt.
77
 Hier kommt die Initiative des Kindes zum Tragen: Es macht Dinge 
nach, die es bei anderen beobachtet. Allerdings wird es für das Kind durch die stark 
ausgeprägte Pluralisierung immer schwieriger zu erfassen, in welche Richtung seine 
Initiative geht. Auch die Schule scheint nicht in die reale Welt eingebunden zu sein, 
sondern stellt eher einen abgetrennten Lebensbereich dar, in dem andere Wünsche, 
Misserfolge und Regeln bestehen als in der Außenwelt.
78
 Hier sollte das Kind zum 
einen spielerisch an das Lernen herangeführt werden, um den Spaß daran nicht zu 
verlieren, zum anderen sollte das Kind mit Konzentration und Disziplin bei der Sa-
73
 Vgl. ebd., S. 94 f. 
74
 Vgl. ebd. 
75
 Vgl. ebd., S. 95 f. 
76
 Vgl. ebd., S. 113 
77
 Vgl. ebd., S. 98 
78
 Vgl. ebd., S. 99 f. 
23 
che bleiben. Wenn das Kind nach und nach mit logischen und lebenspraktischen Zu-
sammenhängen konfrontiert wird, bekommt es ein Gefühl der Teilhabe an der Er-
wachsenenwelt. Scheitert die Zusammenführung von Spaß und Ernsthaftigkeit sowie 
Unterweisung und Selbstständigkeit bezüglich des Lernens, kann sich das Kind ent-
weder von den Anweisungen anderer ein Leben lang abhängig machen oder aber es 
verliert die Lust am eigenständigen Lernen.
79
 Das Spiel hat bei Kindern in dieser und 
den vorangehenden Phasen zudem eine ganz andere Bedeutung als die der Entspan-
nung und Ablenkung, die es bei Erwachsenen hat. Über das Spiel hat das Kind die 
Möglichkeit, schwierige Situationen und Erlebnisse zu verarbeiten. Beherrscht es im 
Spiel die Dinge, entwickelt das Kind das Gefühl, dass es auch die Dinge des realen 
Lebens beherrscht.
80
 Neben der Konzentration auf Schule und Spiel beginnt das Kind 
in dieser Stufe den ,,Werksinn" zu entwickeln, den Erikson als Gefühl der eigenen 
Nützlichkeit beschreibt. Das Kind möchte etwas sehr gut beherrschen und dadurch 
eine Bedeutung für die Gesellschaft entwickeln. Bezogen auf den psychoanalyti-
schen Begriff des Latenzstadiums lenkt der junge Mensch seinen Wunsch nach El-
ternschaft auf den Werksinn um. Er überbrückt so die Zeit bis zur Geschlechtsreife.
81
Erlebt das Kind in dieser Zeit Enttäuschungen oder wird zu früh in diese Phase hin-
eingedrängt, kann dies zu Selbstzweifeln und einem Selbstgefühl der Mangelhaf-
tigkeit führen. Das unterstützende und fördernde Einwirken von Eltern und Lehrerin-
nen/Lehrern kann das Kind jedoch auffangen und neuerlich motivieren.
82
 Doch auch 
hier bestehen verschiedene Gefahren, die zu einer fehlerhaften Entwicklung führen 
können: Das Kind könnte den Eindruck bekommen, es könne die Erwartungen der 
Lehrer/Lehrerinnen nicht erfüllen. Es könnte sich aber auch dem Lehrer/der Lehrerin 
gegenüber zu unterwürfig verhalten, um bevorzugt zu werden, was sich in einem 
verfrühten Identitätsgefühl niederschlagen würde. Oder aber es könnte keine Freude 
an der Arbeit beziehungsweise am Lernen entwickeln, wenn es nie auf etwas stolz 
war, was es vollbracht hat.
83
 In dieser Phase gibt es zwar keine direkten Krisen, wie 
sie das Kind in den anderen Phasen oft durchleben muss, da die bisher präsenten 
Triebe nun schlummern. Aber trotzdem ist dieses Stadium relevant in Bezug auf Ge-
rechtigkeit und Zusammenarbeit mit anderen, sodass sich hier ein grundlegendes 
79
 Vgl. ebd. 
80
 Vgl. ebd., S. 101 f. 
81
 Vgl. ebd., S. 102 f. 
82
 Vgl. ebd., S. 103 f. 
83
 Vgl. ebd., S. 104 f. 
Details
- Seiten
 - Erscheinungsform
 - Originalausgabe
 - Erscheinungsjahr
 - 2016
 - ISBN (Paperback)
 - 9783956367199
 - ISBN (PDF)
 - 9783956368677
 - Dateigröße
 - 6.8 MB
 - Sprache
 - Deutsch
 - Institution / Hochschule
 - Christian-Albrechts-Universität Kiel – Allgemeine Pädagogik
 - Erscheinungsdatum
 - 2016 (Juni)
 - Note
 - 1,7
 - Schlagworte
 - leonora carrington eine untersuchung auswirkungen entwicklungen selbstdarstellung
 - Produktsicherheit
 - Diplom.de