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Erziehungsberatung unter dem Einfluss sozialen Wandels

Einfluss familiärer Veränderungen auf die Erziehungsberatung

©2015 Masterarbeit 135 Seiten

Zusammenfassung

Unsere Welt ist in einem stetigen Prozess der Wandlung und Veränderungen. Unter anderem versuchen BiologInnen, HistorikerInnen, TheologInnen, GeologInnen, SoziologInnen, PsychologInnen, diese Veränderungen zu verstehen und zu erklären. Dabei können sich die je nach Profession zu untersuchenden Gegenstände stark voneinander unterscheiden oder aber miteinander in Verbindung stehen oder sich gar überschneiden.
Einer dieser zu untersuchenden Gegenstände ist der des sozialen Wandels, welcher eines der „Ur-Themen sozialwissenschaftlicher Theorie und Empirie“ darstellt. Dabei steht die Frage, wie und warum sich Strukturen in der Gesellschaft verändern, im Mittelpunkt, um Prognosen für die Zukunft treffen zu können oder Lösungsansätze für aktuelle Probleme und Veränderungen zu finden. Dabei sind solche Vorhersagen immer nur Spekulationen. Veränderungen wie der Klimawandel, Wirtschaftswachstum, und Krisen in der Welt lassen sich schwer prognostizieren. Dennoch können deren Auswirkungen die Strukturen einer Gesellschaft gravierend mitgestalten. Auch aktuelle Krisen, wie z.B. der Ukrainekonflikt zeigen uns, wie brüchig der Frieden in Europa ist.
Spätestens seit der Veröffentlichung von Ulrich Becks „Risikogesellschaft“ im Jahr 1986 sind globale Risiken wie Umweltverschmutzung und Nuklearkatastrophen wie in Fukushima und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft stärker in den Fokus der Wissenschaft gerückt. Aber wie wirken sich solche Veränderungen auf die deutsche Gesellschaft aus? Welche Auswirkungen haben Globalisierung, Krisen und Veränderungen der Wirtschaftssysteme aber auch Phänomene wie Individualisierung, Pluralisierung und Enttraditionalisierung auf die Gesellschaft und das einzelne Individuum? Welche Folgen zeigen sich in gesellschaftlichen Bereichen wie der Familie und welche Hilfen und Unterstützungen gibt es für Menschen und Familien, um mit derartigen Veränderungen zurechtzukommen?
Um solche Themen und Fragen soll es in dieser Arbeit gehen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


II
Kapitel 3
Der Blick in die Praxis ... 46
3.1 Forschungsdesign ... 46
3.1.1 Forschungsfrage ... 46
3.1.2 Erhebungsmethode ... 47
3.1.3 Sampling... 49
3.1.4 Durchführung der Erhebung... 50
3.1.5 Auswertungsmethode ... 51
3.2 Ergebnispräsentation ... 54
3.2.1 Gegenwärtige Situation ... 56
3.2.2 Herausforderungen ... 58
3.2.3 Reaktionen ... 64
3.3 Zwischenfazit ... 68
Resümee ... 73
Literaturverzeichnis ... 75
Internetquellen ... 78
Anhang: ... 81
Leitfaden ... 81
Transkription der Interviews ... 84
Interview I ... 84
Interview II ... 96
Interview III... 112
Interview IV: ... 118
Kategoriensystem ... 126

III
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Geburtenzahlen von 1871 bis 2012. Bmfsfj, S. 5. ... 13
Abbildung 2: Familien nach Anzahl der minderjährigen Kinder, 1975 bis 2011, Bmfsfj
(2012), S. 19 ... 19
Abbildung 3: Situation in der Herkunftsfamilie im Jahre 2012. Bke: Ausgewählte
Ergebnisse der Bundesstatistik aus den Jahren 1993 bis 2012, S. 3. ... 43
Abbildung 4: Ablaufschema einer inhaltlich strukturierenden Inhaltsanalyse. Kuckartz
(2014), S. 50. ... 52
Abbildung 5: Familiäre Formen, welche die BeraterInnen als relevant erachten ... 57
Abbildung 6: Wünschen von BeraterInnen für die Zukunft ... 68

Danksagung
An dieser Stelle möchte ich mich bei allen bedanken, die mich in der Zeit dieser Arbeit
und meines Studiums getragen und unterstützt haben. Dies waren in erster Linie meine
Eltern und Großeltern, die mich während meiner Studienzeit finanziell unterstützt haben
und immer für mich da waren. Bei meiner Freundin, die mich in dieser Zeit ermutigt
und getragen hat und bei meiner Schwester, welche mir mit viel Liebe und Zeit diese
und alle anderen meiner Arbeiten Korrektur gelesen hat, ohne die ich als Legastheniker
aufgeschmissen gewesen wäre.
Aber vor allem danke ich meinem Vater im Himmel, der mir sowohl die Fähigkeit, als
auch die Möglichkeit geschenkt hat, diese Arbeit zu verfassen.

1 |
S e i t e
Vorwort
Wenn ich zu Hause mit meinen Großeltern und Eltern am Tisch sitze und wir uns unter-
halten, bin ich immer wieder erstaunt, wie sich die Welt in den letzten Jahren gewandelt
hat. Meine Oma erzählt mir immer wieder, dass sie schon mit 14 Jahren voll berufstätig
war und dabei mithelfen musste, ihre große Familie zu ernähren und zu versorgen, da es
nach dem zweiten Weltkrieg an allem gemangelt hat. Nur eines der fünf Geschwister
durfte das Gymnasium besuchen, da es zu dieser Zeit noch sehr teuer war. An Reisen
oder Selbstverwirklichung war zu dieser Zeit noch gar nicht zu denken. Mit 21 Jahren
hatte man erst die Volljährigkeit erreicht und dann wurde meist auch schon geheiratet,
wie das bei meiner Oma mit 19 Jahren ebenso der Fall war.
Danach kam die Generation meiner Eltern, welche den Wirtschaftsaufschwung und die
,,wilden 68er" miterleben durften. Aber auch ihre Zeit war geprägt von negativen Ereig-
nissen, wie dem Eisernen Vorhang und der Mauer in Berlin, wo meine Eltern damals
noch lebten. Dennoch gab es mehr Freiheiten und Möglichkeiten das eigene Leben zu
gestalten als zur Zeit meiner Großeltern.
Darauf folgte schließlich meine Generation. Ich kannte Krieg und Armut nur aus dem
Fernsehen und den Nachrichten. Meine Freiheiten waren enorm, im Gegensatz zu denen
meiner Großeltern und Eltern. Ich reiste einmal um die Welt und erhielt Einblicke in
verschiedene Länder und Kulturen, was ich als sehr großes Privileg empfinde. Nicht nur
gegenüber älteren Generationen, sondern auch gegenüber Menschen aus meiner Genera-
tion. Dennoch spricht meine Oma oft davon, dass sie nicht mit uns tauschen möchte. Sie
spricht von all den Möglichkeiten und Dingen zwischen denen man sich entscheiden
muss und der Technik, die immer komplizierter wird.
Welche neuen Wege die folgenden Generationen beschreiten können wird, wage ich
nicht vorherzusagen. Fakt ist aber, dass sie andere Dinge erleben und die Welt mit ande-
ren Gegebenheiten vorfinden werden, als die Generationen vor ihnen. Was davon nun
besser oder schlechter ist und sein wird, hängt immer davon ab, wie man die Welt, Ge-
sellschaft und eigene Erlebnisse für sich persönlich bewertet und wahrnimmt. Wir kön-
nen nicht sagen, ob es besser oder schlechter war oder wird, nur das es anders war und
sein wird.
Das Thema ,,sozialer Wandel" finde ich deshalb sehr spannend, weil er jeden Menschen
betrifft und sich ihm keiner entziehen kann. Er bietet den Rahmen für die Gestaltung

2 |
S e i t e
des eigenen Lebens. Um sein Gegenüber besser verstehen zu können, ist es wichtig zu
verstehen, wie er oder sie seine Welt erlebt und erfahren hat, unter welchen Umständen
er oder sie lebt und unter welchen gesellschaftlichen Rahmenbedingung er oder sie groß
geworden ist. Wir leben in einer sich ständig verändernden Welt. Alle Bereiche unseres
Lebens sind davon betroffen. Auch Institutionen der sozialen Arbeit, die Menschen in
kritischen Lebenslagen unterstützen sollen. Diese Institutionen und deren AkteurInnen
müssen sich mit den gesellschaftlichen Veränderungen auseinandersetzten und Antwor-
ten darauf finden, um den Menschen und den Krisen, in denen sie sich befinden, ange-
messen begegnen zu können.
Für dieses Thema habe ich mich entschieden, da ich bald in das Berufsleben einsteigen
werde und gerne im Bereich der Erziehungsberatung arbeiten würde. Um dies zu kön-
nen und die Menschen in ihren Ängsten, Nöten und Zweifeln zu verstehen, könnte der
erste Schritt sein, sich mit der Welt, in der wir alle leben, auseinanderzusetzten, und zu
verstehen, wie sie sich in den letzten Jahren verändert hat und welche Auswirkungen
dies auf die Arbeit in den Erziehungsberatungsstellen hat.

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S e i t e
Einleitung
Unsere Welt ist in einem stetigen Prozess der Wandlung und Veränderungen. Unter
anderem versuchen BiologInnen, HistorikerInnen, TheologInnen, GeologInnen, Sozio-
logInnen, PsychologInnen, diese Veränderungen zu verstehen und zu erklären. Dabei
können sich die je nach Profession zu untersuchenden Gegenstände stark voneinander
unterscheiden oder aber miteinander in Verbindung stehen oder sich gar überschneiden.
Einer dieser zu untersuchenden Gegenstände ist der des sozialen Wandels, welcher ei-
nes der ,,Ur-Themen sozialwissenschaftlicher Theorie und Empirie"
1
darstellt. Dabei
steht die Frage, wie und warum sich Strukturen in der Gesellschaft verändern, im Mit-
telpunkt, um Prognosen für die Zukunft treffen zu können oder Lösungsansätze für ak-
tuelle Probleme und Veränderungen zu finden. Dabei sind solche Vorhersagen immer
nur Spekulationen. Veränderungen wie der Klimawandel, Wirtschaftswachstum, und
Krisen in der Welt lassen sich schwer prognostizieren. Dennoch können deren Auswir-
kungen die Strukturen einer Gesellschaft gravierend mitgestalten. Auch aktuelle Krisen,
wie z.B. der Ukrainekonflikt zeigen uns, wie brüchig der Frieden in Europa ist.
Spätestens seit der Veröffentlichung von Ulrich Becks ,,Risikogesellschaft" im Jahr
1986 sind globale Risiken wie Umweltverschmutzung und Nuklearkatastrophen wie in
Fukushima und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft stärker in den Fokus der Wis-
senschaft gerückt. Aber wie wirken sich solche Veränderungen auf die deutsche Gesell-
schaft aus? Welche Auswirkungen haben Globalisierung, Krisen und Veränderungen
der Wirtschaftssysteme aber auch Phänomene wie Individualisierung, Pluralisierung
und Enttraditionalisierung auf die Gesellschaft und das einzelne Individuum? Welche
Folgen zeigen sich in gesellschaftlichen Bereichen wie der Familie und welche Hilfen
und Unterstützungen gibt es für Menschen und Familien, um mit derartigen Verände-
rungen zurechtzukommen?
Um solche Themen und Fragen soll es in dieser Arbeit gehen. Im 1. Kapitel liegt der
Fokus dabei in erster Linie auf dem sozialen Wandel, der in Deutschland in den letzten
Jahren beobachtet werden konnte. Dieser Blick ist wichtig, um den Kontext zu verste-
hen, in welchem sich AkteurInnen einer Gesellschaft bewegen und welche Auswirkun-
gen dies auf verschiedene Institutionen einer Gesellschaft hat. Strukturelle Veränderun-
gen haben auch immer Einfluss auf die Lebensläufe und Lebensphasen von Menschen,
1
Homepage: Schader- Stiftung(2004).

4 |
S e i t e
aber wie sehen diese Veränderungen aus und welche Folgen haben sie für Familien und
familiäre Lebensformen in Deutschland?
Nach dem Blick auf den sozialen Wandel wird es in Kapitel 2 weitergehen mit der Be-
trachtung eines Bereiches, welcher in der heutigen Zeit - einer Zeit raschen Wandels
und ,,krisenhaften Veränderungen"
2
- Menschen dabei helfen und unterstützen soll,
,,passagere Überforderungen zu mildern, individuelle Lebensentwürfe zu hinterfragen
oder Krisensituationen abzufangen".
3
Es geht um den Bereich der Beratung. Dabei wird
in diesem Kapitel ein spezielles Handlungsfeld der Beratung herausgegriffen, die Erzie-
hungsberatung. Das Kapitel soll dazu dienen, diese vorzustellen und in ihrem histori-
schen Kontext zu betrachten, um zu sehen, welche Einflüsse Veränderungen von Ge-
sellschaft und Individuen aus der Vergangenheit hatten und wie diese die Erziehungsbe-
ratung beeinflusst und mitgestaltet haben. Diese Betrachtung ist hilfreich und nötig, um
zu erkennen, wie sozialer Wandel und Erziehungsberatung zusammenhängen und dem
letzten Teil dieser Arbeit einen angemessenen Rahmen zu geben, welcher nötig ist, um
das Forschungsgebiet kennenzulernen. Autoren, auf welche sich in dieser Arbeit haupt-
sächlich berufen wird, sind unter anderem Klaus Menne und Andreas Hundsalz, welche
einen großen Beitrag für die Erziehungsberatung in Deutschland geleistet haben und
dies bis heute tun.
4
Im letzten Kapitel dieser Arbeit, in Kapitel 3 werden die ErziehungsberaterInnen selbst
zu Wort kommen. Dies wird mithilfe von Experteninterviews umgesetzt, in welchen
BeraterInnen zu ihrem Arbeitsfeld befragt worden sind. Dabei soll es um folgende Fra-
gen gehen:
1.
Nehmen Erziehungsberater und -beraterinnen Veränderungen von Lebens-
formen und Familien wahr und wenn ja, wie?
2.
Entstehen daraus Probleme und wenn ja, welche und
3.
welche Reaktionen von Seiten der Praxis nötig sind, um auf solche Verände-
rungen reagieren zu können,
damit eine professionelle Arbeit im Bezug auf sich wandelnde Gegebenheiten sicherge-
stellt werden kann und passende Hilfsangebote bereitgestellt werden können.
2
Schnoor (2013), S. 9.
3
Ebd., S.9.
4
Sind beide mehrfach bei Veröffentlichungen der ,,Jahrbücher für Erziehungsberatung" beteiligt
gewesen und haben viele andere Bücher und Artikel im Bereich der Erziehungsberatung veröffentlicht.

5 |
S e i t e
Am Ende dieser Arbeit soll ein besseres Verständnis für die Themen sozialer Wandel,
Erziehungsberatung und die Einflüsse von sozialem Wandel- und im Speziellen Verän-
derungen von familiären Lebensformen - auf die Erziehungsberatung vorherrschen.
Damit soll ein Beitrag zur Beantwortung der Frage geleistet werden, ob
x Erziehungsberatung auf aktuelle Veränderungen von familiären Lebensformen
reagiert,
x diese richtig einschätzt,
x BeraterInnen über ausreichend Wissen verfügen,
x und die bestehenden Angebote für die KlientenInnen von Erziehungsberatung,
welche von familiären Wandlungsprozessen betroffen sind, ausreichend sind,
um mit diesen die Ziele von Erziehungsberatung erreichen zu können und somit
dem Auftrag von Erziehungsberatung und schlussendlich den KlientenInnen ge-
recht zu werden.

6
|
S e i t e
Kapitel 1
Sozialer Wandel
Bei einer Suche mit Google und dem Suchbegriff sozialer Wandel, werden 430.000
Einträge als Ergebnis angezeigt. Von Büchern, Artikeln, Vorlesungen bis hin zu Analy-
sen ist alles zu finden. Sozialer Wandel ist und bleibt ein Thema, welches in einer sich
immer schneller ändernden Welt nicht an Präsenz verliert. Institutionen, Professionen,
Organisationen und Politik wollen Veränderungen verstehen und Antworten darauf fin-
den, um Spannungen, Problemen und Ängsten, welche mit sozialem Wandel einherge-
hen, entgegenwirken zu können, um wenn nötig auch einen ,,sozialen Ausgleich zu er-
möglichen".
5
Aber was genau kann unter Sozialem Wandel verstanden werden? Dies
soll im ersten Teil dieses Kapitels kurz erklärt werden.
Der Fokus der anschließenden Unterkapitel wird darauf liegen, wie sich der soziale
Wandel auf Deutschland auswirkt. Dabei soll es in erster Linie um Bereiche und The-
men gehen, welche für die Erziehungsberatung als relevant erscheinen. Aus diesem
Grund werden die Themengebieten Kindheit, Jugend und Familie herausgegriffen und
betrachtet, wie diese durch den sozialen Wandel in den letzten Jahren verändert und
beeinflusst worden sind und welche Chancen und Risiken sich daraus ergeben.
1.1 Einführung in den sozialer Wandel
Sozialer Wandel ist ein Begriff, welcher viele Facetten aufweist. Aber was genau ist
darunter zu verstehen? Die Bundeszentrale für politische Bildung definiert den Begriff
,,sozialer Wandel" nach Schubert und Klein. Sozialer Wandel ist für sie eine
,,Sammelbezeichnung für
1) langfristige gesellschaftliche Veränderungen (z. B. von der Stände- zur Klas-
sen- und zur pluralistischen Gesellschaft) oder
2) für beobachtbare wirtschaftliche Veränderungen (von der Industrie- zur
Dienstleistungsgesellschaft) bzw.
3) für beobachtbare (schnelllebige) gesellschaftliche Veränderungen (von der
Hippie- zur No-Future- und zur Yuppie-Kultur etc.)."
6
5
Maihofer/Böhnisch/Wolf (2001), S. 5.
6
Schubert/Klein(2011) aus: Bundeszentrale für politische Bildung.

1.1 Einführung in den sozialer Wandel
7 |
S e i t e
Kurz gefasst, geht es um Wandlungserscheinungen der Gesellschaft oder ihrer Teilbe-
reiche, welche aus der Sicht der Soziologie immer auf strukturelle Wandlungen zurück-
zuführen ist. Eine dieser Veränderungen der modernen Gesellschaft, welche in der west-
lichen Gesellschaft oft durch ,,Konkurrenzdemokratie, Marktwirtschaft, Wohlfahrtstaat
und Massenkonsum"
7
definiert wird, ist die Verabschiedung von der Industriegesell-
schaft.
8
Auch wenn sich SoziologenInnen dabei meist einig sind, ist das mit Nichten der
Fall bei der Frage, welche Gesellschaftsform oder -modell die Industriegesellschaft heu-
te ersetzten soll. Alternativen könnten Modelle wie Dienstleistungs- oder Informations-
gesellschaft sein. Auch wenn diese Frage im Rahmen dieser Arbeit nicht geklärt werden
kann, so ergeben sich aus dieser Veränderung wiederum Wandlungsprozesse in anderen
Bereichen. Diese lassen sich immer auf verschiedenen Ebenen der Gesellschaft be-
obachten. Auf der Makroebene in Sozialstruktur und Kultur, auf der Mesoebene bei
Institutionen, Organisationen, Vereinen und Gemeinschaften und auf der Mikroebene
der Personen und deren Lebensläufen.
9
Ein Beispiel der jüngsten Vergangenheit in Deutschland stellt die Wiedervereinigung
im Jahre 1989 dar. So verschwand im Osten Deutschlands eine gesamte Gesellschafts-
ordnung, was Folgen für viele Institutionen, soziale Gemeinschaften und Biografien
hatte und immer noch hat.
10
Gesellschaftliche Veränderungen werden mit Begriffen wie Risiko-, Erlebnis, Konsum-
und Wissensgesellschaft charakterisiert.
11
Dabei darf nicht aus den Augen verloren wer-
den, dass bei solchen Alternativmodellen immer nur bestimmte Aspekte des sozialen
Wandels herangezogen und in den Mittelpunkt gestellt werden.
12
Sie stellen immer nur
Teile der Realität dar. Wird z.B. der Begriff ,Informationsgesellschaft` genauer betrach-
tet, wird deutlich, dass dieser in erster Linie auf technikdeterministischen Ansätzen be-
ruht und somit eine verkürzte Realität und einen verflachten Sinn darstellt.
13
Somit blei-
ben diese Alternativmodelle vorerst Thesen, wobei einige sehr ernst zu nehmen sind.
14
7
Weymann (1998), S. 15.
8
Vgl. Jäger/Weinzierl (2011), S. 10
9
Vgl. Weymann (1998), S. 15.
10
Vgl. Weymann (1998), S. 14.
11
Vgl. Jäger/Weinzierl (2011), S. 10.
12
Vgl. ebd., S. 10.
13
Vgl. Weymann (1998), S. 14.
14
Vgl. Jäger/Weinzierl (2011), S. 10.

1.2 Sozialer Wandel in Deutschland
8 |
S e i t e
Neben diesen verschiedenen Begrifflichkeiten gibt es auch zahlreiche soziologische
Theorien, die versuchen eine Erklärung dafür zu finden, warum es überhaupt einen so-
zialen Wandel gibt und welche Voraussetzungen dafür erfüllt sein müssen. Dabei wird
versucht, ,,gravierende gesellschaftliche Veränderungen der jüngsten Zeit (Globalisie-
rung, Verschwinden großer Makrosysteme, Terrorismus, Demontage des Wohlfahrtsys-
tems u.a.) zu erklären",
15
zu analysieren und Prognosen für die Zukunft zu treffen. Bei
all den unterschiedlichen Ansätzen und Ansichten lässt sich eines jedoch als gemeinsa-
men Nenner herausarbeiten, nämlich dass sozialer Wandel ,,auf welche Weise auch im-
mer, durch Akteure beeinflussbar, planbar, steuerungsfähig [und] der Gestaltung zu-
gänglich"
16
ist. Dabei bleiben aber viele Fragen offen. Fragen wie z.B. wer gestaltet den
Wandel und wer sind die Akteure, die diesen gestalten?
,,Obwohl sozialer Wandel einen Elementarbegriff der Soziologie darstellt, ist sein Inhalt
nicht klar präzisiert".
17
Klar ist nur, dass die Gesellschaft sich stetig ändert und wandelt
und Institutionen, Organisationen und Politik auf Wandlungsprozesse reagieren müssen.
Wohin dieser Wandel führt lässt sich schwer sagen. Daher ist es in erster Linie bei Fra-
gen zum sozialen Wandel immer wichtig, zu klären, um was genau es geht und was
untersucht werden soll.
18
Da es in dieser Arbeit in erster Linie um Erziehungsberatung geht, stellt sich die Frage,
welchem Einfluss die Erziehungsberatung und deren Akteure unterliegen und wie sich
dieser auf sie auswirkt. Da die Akteure immer Teil der Gesellschaft, in welcher sie le-
ben, sind, soll zunächst ein Einblick in die Veränderungen der letzten Jahre, welche
speziell in Deutschland stattgefunden haben, vorgenommen werden.
1.2 Sozialer Wandel in Deutschland
Zunächst soll die Thematik der Bevölkerungsentwicklung beleuchtet werden.
Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen, dass auf der einen Seite durch die
Entwicklungen in der Medizin, Ernährungswissenschaft, Lebens- und Arbeitsbedingun-
gen und den Rückgang der Kindersterblichkeit, die Lebenserwartung in Deutschland in
den letzten Jahren stetig gestiegen ist, mit der Tendenz, dass diese auch in den nächsten
15
Jäger/Weinzierl (2011), S.9.
16
Ebd., S. 11.
17
Ebd., S. 13.
18
Vgl. Müller/Schmid (1995), S.57.

1.2 Sozialer Wandel in Deutschland
9 |
S e i t e
Jahren weiter zunehmen wird.
19
Auf der anderen Seite hat die Geburtenrate in den letz-
ten Jahren stark abgenommen. Haben Frauen, welche 1937 geboren wurden im Schnitt
2,1 Kinder bekommen, so sind es bei Frauen mit dem Jahrgang 1963 noch 1,6.
20
Um die
Bevölkerungszahl in Deutschland langfristig auf dem gleichen Stand zu halten, müsste
jede Frau im Schnitt 2,1 Kinder bekommen. Wenn jedoch davon ausgegangen wird,
dass der Trend der niedrigen Geburtenrate und der steigenden Lebenserwartung weiter
zunimmt, würde bei einer Zuwanderung von 100.000 Menschen pro Jahr, die Bevölke-
rung in Deutschland von ca. 82 Millionen auf ca. 65 bis 70 Millionen Menschen zu-
rückgehen.
21
Aktuell gibt es schon die ersten Auswirkungen dieses Trends. So hat in
den letzten Jahren eine Verschiebung der Altersstruktur stattgefunden, hin zu einer älter
werdenden Gesellschaft. ,,Die Menschen in Deutschland werden älter, die geborenen
Kinder werden mit jeder Generation weniger".
22
Diese Veränderung hat weitreichenen-
de Folgen.
Der Soziologe Stefan Hradil macht auf vier Aspekte dieser Folgen aufmerksam. Erstens
steigt das Durchschnittsalter der Erwerbstätigen immer mehr, wodurch die erste Ausbil-
dung bei immer mehr Arbeitenden länger zurückliegt und wodurch Weiterbildungen
immer wichtiger werden. Zweitens sinkt der Anteil der Personen, welche im erwerbsfä-
higen Alter sind. Ein dritter Aspekt ist die damit kleiner werdende Gruppe der Beitrags-
zahlenden für Sozialleistungen und der letzte Aspekt, die Zunahme des Anteils von
Menschen über 60 Jahren und die damit verbundenen Kostensteigerungen der Sozial-
leistungen.
23
Die Zunahme von erwerbstätigen Frauen wird die Lücke der sinkenden
Anzahl von Personen im erwerbstätigen Alter alleine nicht füllen können. Somit wird
nach Hradil ,,über eine systematische und wachsende Arbeitsmigration nachzudenken
sein", was jedoch bei fehlenden ,,Integrations- und Bildungsmaßnahmen"
24
weitere
Probleme hervorrufen könnte. Dennoch sind viele Menschen in den letzten Jahren nach
Deutschland eingewandert und werden das voraussichtlich auch in den nächsten Jahren
tun, wodurch unsere Gesellschaft immer mehr zu einer ,,multiethnischen Gesellschaft"
25
wird.
19
Vgl. Homepage Statistisches Bundesamt (2015).
20
Vgl. Ebd..
21
Vgl. Statistisches Bundesamt (2009), S. 13ff.
22
Bmfsfj (2014).
23
Vgl. Hradil (2013), S. 792ff.
24
Ebd., S. 793.
25
Geißler (2002), S. 436.

1.2 Sozialer Wandel in Deutschland
10 |
S e i t e
Neben der Veränderung der Bevölkerung hat sich auch der Bereich der Erwerbstätigkeit
in den letzten Jahren stark verändert. So gewinnt der Dienstleistungssektor immer mehr
an Bedeutung, wohingegen ,,traditioneller Bereiche, wie die der Land- und Forstwirt-
schaft sowie des Produzierenden Gewerbes"
26
zurückgehen. 2015 waren 74% der Er-
werbstätigen in Deutschland im Dienstleistungssektor tätig.
27
Durch diesen Trend wur-
den auch Frauen immer stärker in die Erwerbstätigkeit einbezogen. Außerdem stieg
(und steigt) die Nachfrage nach qualifiziertem Personal.
28
Durch das Zurückgehen der
Gruppe der Erwerbstätigen, steigenden Qualifikationsanforderungen und eine zuneh-
mende Flexibilisierung des Arbeitsmarktes lassen sich Zunahmen von ,,Teilzeitbeschäf-
tigungen, befristeten Arbeitsverhältnissen, Leiharbeit und geringfügiger Beschäfti-
gung"
29
erkennen, welche als atypische Beschäftigungen bezeichnet werden. Der Wert
hat sich 2013 (21,4%) im Gegensatz zum Jahr 1992 (12,8%) deutlich erhöht.
30
Dieser
Trend hat sowohl Chancen als auch Risiken. Gerade bei steigender Individualisierung
entsteht hier die Chance auf individuelle Arbeitsgestaltung. Gelangt man jedoch unfrei-
willig in eine solche atypische Beschäftigung, können sich die Folgen als sehr proble-
matisch erweisen.
Einen großen Beitrag zu diesem Thema leistete der Soziologe Ulrich Beck mit seinem
Werk ,,Risikogesellschaft". Beck prägte damit den Begriff der Individualisierung und
brachte ihn, ,,als eines der wichtigsten Stichworte gesellschaftlichen Wandels in die
Diskussion"
31
ein. In diesem Zusammenhang spricht er von einer
Enttraditionalisierung. Darunter versteht er nicht das Wegfallen von Traditionen, son-
dern, dass Traditionen bewusst gewählt und erarbeitet werden müssen. Sie sind also
nicht mehr fest vorgegeben von außen. Institutionelle Einrichtungen, Berufs- und Ge-
schlechterrollen und soziale Milieus verlieren somit an Orientierungshilfe. Durch diesen
Wegfall müssen sich Menschen heute stärker individuell entscheiden und sind mehr von
Institutionen abhängig, welche die Biographie steuern, wie beispielsweise der Arbeits-
markt oder Bildungseinrichtungen.
32
Dies bringt eine neue Gestaltungsvielfalt mit sich.
Jeder kann heute prinzipiell seine Lebensphase bewusst mitgestalten und ist nicht mehr
26
Statistisches Bundesamt (2015).
27
Wenn man Handel, Gastgewerbe, Verkehr, Unternehmensdienstleister und übrige
Dienstleistungsbereiche zusammenzählt. Quelle: Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB):
Daten zur kurzfristigen Entwicklung von Wirtschaft und Arbeitsmarkt 06/2015.
28
Vgl. Hradil (2013), S. 796.
29
Ebd., S. 797.
30
Statistisches Bundesamt (2015).
31
Homepage Bmfsfj (2015), S. 1.
32
Vgl. Beck (1986)., S. 115 ff.

1.2 Sozialer Wandel in Deutschland
11 |
S e i t e
an fest vorgegebene biografische Abläufe gebunden, auch wenn es in der Realität oft-
mals anders aussieht. Somit ergeben sich auf der einen Seite für viele Menschen neue
Chancen und Möglichkeiten, da ,,Alter, Herkunft, Religion und Geschlecht"
33
an Be-
deutung, Notwenigkeit und Verbindlichkeit bei der Lebensplanung verloren haben
34
aber auf der anderen Seite steigen Risiken wie Arbeitslosigkeit und Armut, besonders
für benachteiligte Gruppen wie ,,erwerbstätige Mütter, Personen ohne berufliche Aus-
bildung, Kranke, Ältere und Ausländer sowie gering qualifizierte Jugendliche".
35
Somit
werden Lebensläufe ,,mit der Individualisierung vielfältiger, gegensätzlicher, brüchiger,
unsicherer und auch für katastrophale Einbrüche anfälliger".
36
Ein weiteres Phänomen fasst der Soziologe Geißler unter dem Begriff der ,,Lockerung
und Pluralisierung [...] des Schichtgefüges"
37
zusammen. Darunter versteht er, dass
soziale Milieus und Schichten vielfältiger werden, was im Umkehrschluss nicht bedeu-
tet, dass diese komplett wegfallen.
Auch bei der Verteilung der Güter haben sich Veränderungen ergeben. Deutschland
erlebte, wie viele andere Industriegesellschaften auch, einen zunehmenden Wohlstand,
besonders in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg. Durch die Wiedervereinigung, höhe-
re Sozialleistungen, höhere Belastungen durch die Alterung der Gesellschaft, Schulden
von Bund, Ländern und Kommunen und steigenden Nebenkosten, ist dieses Wachstum
in den letzten Jahren jedoch bei großen Teilen der Bevölkerung kaum mehr spürbar.
38
So berichtet das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, dass ,,die Netto-Reallöhne
[...] in Deutschland seit Anfang der 90er Jahre kaum gestiegen [sind]. Von 2004 bis
2008 gingen diese sogar zurück",
39
bei stetig steigendem Bruttoinlandsprodukt. Wie
sich das auf die deutsche Gesellschaft auswirkt, zeigte sich in den letzten Jahren immer
stärker. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1970er Jahre veränderte sich
die Einkommensverteilung kaum, wodurch eine große Mittelschicht entstand. ,,Seitdem
lässt sich eine Verschärfung der Einkommensungleichheit beobachten".
40
Durch einen
stärker zunehmenden gesellschaftlichen Auf- und Abstieg wird die Mitte der Gesell-
33
Hurrelmann/Quenzel (2012), S. 17.
34
Vgl. ebd., S. 16 ff.
35
Homepage Bmfsfj (2015), S. 1.
36
Ebd., S.1.
37
Geißler (2002), S. 436.
38
Vgl. Hradil (2013), S. 797.
39
DIW (2009), S. 550.
40
Hradil (2013), S. 798

1.2 Sozialer Wandel in Deutschland
12 |
S e i t e
schaft kleiner.
41
So ergeben sich auf der einen Seite für viele Menschen neue Chancen,
an dem steigenden Wohlstand teilzuhaben, auf der anderen Seite lässt sich in den letzten
Jahren auch eine steigende Armut in Deutschland erkennen.
42
2011 waren 16,1% der
deutschen Bevölkerung armutsgefährdet. Am stärksten betroffen sind drei Gruppen: Die
Gruppe der Arbeitslosen, in welcher 69% gefährdet sind, die der Alleinerziehenden mit
38% und die der Alleinlebenden über 65 Jahren mit 36%.
43
Welche Auswirkungen das
auf die Gesellschaft in den nächsten Jahren haben wird, ist noch offen. Dabei hängt die
Entwicklung auch davon ab, welche Antworten Wirtschaft, Gesellschaft und Politik
darauf finden, um möglichen Spannungen und Konflikten innerhalb der Gesellschaft
entgegen zu wirken.
In diesem Kontext gewinnt der Bereich der Bildung zunehmend an Bedeutung. Denn in
Deutschland stieg mit der Zunahme der Dienstleistungsberufe der Bedarf an hoch quali-
fiziertem Personal. Die Bildung wird zum Schlüssel für ,,individuelle Lebensgestaltung
[...] und zur Erlangung persönlicher Selbstverwirklichung".
44
Auswirkungen dieses
Trends zeigen sich darin, dass Hauptschulen in den letzten Jahren stetig geschrumpft
sind und ,,die Entwicklung auf ein zweigliedriges Schulwesen zuläuft".
45
Mit solchen
Phänomenen befassen sich unter anderem Modelle der Wissens- und Bildungsgesell-
schaft. Neben dieser Entwicklung gewinnt auch das Lebenslange Lernen weiter an Be-
deutung,
46
um an dem sich ständig ändernden Arbeitsmarkt zu bestehen. Dadurch erge-
ben sich jedoch auch weitere soziale Ungleichheiten, gerade im Hinblick auf Menschen
am Rande der Gesellschaft. So entsteht in Deutschland eine Unterschicht, welche sich
,,kaum mehr aus der Arbeiterschaft, sondern aus denen zusammen[setzt], die durch ge-
ringe Ausbildung und/oder ethnische Benachteiligung am Rande oder außerhalb des
Arbeitsmarktes stehen".
47
Auch wenn auf der einen Seite neue Ungleichheiten entstehen, so gibt es auch Bereiche
in denen diese sich verringern. Bei den geschlechtsspezifischen Unterschieden zum Bei-
spiel, ist besonders im Bildungswesen und der Arbeitswelt ein Rückgang der Unter-
schiede erkennbar.
48
41
Vgl. ebd., S. 798.
42
Vgl. Geißler (2002), S: 436.
43
Vgl. Bpb (2014).
44
Hradil (2013), S. 795.
45
Ebd., S. 795.
46
Vgl. Ebd., S. 795.
47
Ebd., S,. 799.
48
Vgl. Geißler (2002), S. 436.

1.2 Sozialer Wandel in Deutschland
13 |
S e i t e
1.2.1 Kindheit und Jugend
Welche Auswirkungen haben die im vorherigen Kapitel beschriebenen Veränderungen
auf Kindheit und Jugend?
Noch bis ins 19. Jahrhundert galten Kinder als Absicherung und Reichtum für Familien
,,in der ländlichen und handwerklichen Bevölkerung".
49
Sie wurden von klein auf in die
täglichen Arbeiten mit eingebunden. Von Kinderbetreuung oder Ausbildung war man in
dieser Zeit noch weit entfernt. Erste Veränderungen kamen Mitte des 19. Jahrhunderts
mit der Industrialisierung. Durch das Aufkommen erster Sozialversicherungen und Ver-
sorgungssysteme waren Kinder zur Absicherung des Alters immer weniger von Belang.
,,Im Gegenteil: Ihr Unterhalt kostete sehr viel Geld und ihre Erziehung verlangte den
Eltern erhebliche Einschränkungen und Disziplinierungen ab".
50
Was sich auf die An-
zahl von Kindern und Personen, die in einem Haushalt zusammenlebten, erheblich aus-
wirkte. Das folgende Schaubild zeigt den Geburtenrückgang, als Folge dieser Entwick-
lungen, sehr deutlich.
Abbildung 1: Geburtenzahlen von 1871 bis 2012. Bmfsfj, S. 5.
49
Hurrelmann/Quenzel (2012), S. 11.
50
Ebd., S. 12.

1.2 Sozialer Wandel in Deutschland
14 |
S e i t e
Werden die Motive für eine Entscheidung für Kinder in der heutigen Gesellschaft be-
trachtet, so lassen sich noch größere Kontraste erkennen. Laut Hurrelmann entscheiden
sich Eltern nicht mehr nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten für oder gegen Kinder,
sondern danach, ob sie eine persönliche Bereicherung durch das Zeugen von Kindern
erwarten können.
51
Dies zeigt einen deutlich steigenden Trend von kinderlosen Paaren
in den letzten Jahren, ganz besonders bei Paaren mit akademischen Abschlüssen.
52
Was sind die Folgen einer nachlassenden gesellschaftlichen Relevanz von Kindern und
welche Bedeutung hat das für die Phase der Jugend?
Folgen, bei Betrachtung der demografischen Struktur, sind ein zahlenmäßiger Rückgang
von Kindern und Jugendlichen in unserer Gesellschaft. Betrug im Jahre 1950 der Anteil
der jungen Menschen unter 20 Jahren noch 30%, so liegt er heute bei 18%.
53
Die Kon-
sequenzen für die Sozialpolitik sind weitreichend. Durch die Vergrößerung der Gruppe
von Älteren und Kinderlosen verändert sich auch deren Einfluss auf die Politik, wo-
durch Familien und junge Menschen zunehmend um Gehör kämpfen müssen. Eines der
Hauptmerkmale der Veränderung der Kindheit- und Jugendphase ist die starke Ausdeh-
nung an Jahren. Einer der wichtigsten Faktoren war, damals wie heute, der Ausbau der
allgemeinen Schul- und Berufsausbildung zum Ende des 19. Jahrhunderts hin und deren
Relevanz.
54
War die Ausbildungsphase anfänglich noch eine relativ kurze Zeitspanne,
gewann sie immer mehr an Zeit und somit auch an Bedeutung. Heute kann sie bereits
eine Lebensspanne von 10 bis zu 20 Jahren.
55
Die immer länger werdende Ausbildungs-
zeit ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass die ,,Jugend zu einer allgemeinen gesell-
schaftlichen Kategorie"
56
geworden ist, welche von den Jugendlichen nicht nur durch-
lebt, sondern heute auch aktiv mitgestaltet wird und eine steigende Individualisierung
erlebt.
57
Dadurch erhält die Jugendphase eine zunehmende Eigendynamik und gerät
immer stärker in den Prozess der Biographisierung mit hinein, indem Jugendliche stär-
ker beteiligt und gefordert werden. Sie bewegt sich weg von einer ,,separierte[n] Son-
derphase", hin zu einem ,,sozial früh erfassten Teil des Lebenslaufs".
58
Dennoch bleibt
51
Vgl. ebd., S. 10 ff.
52
Vgl. Datenreport 2011, S. 42.
53
Vgl. Hurrelmann/Quenzel (2012), S. 14.
54
Vgl. Böhnisch (2008), S. 126 ff.
55
Vgl. Scherr (2009), S. 21 ff.
56
Hurrelmann/Quenzel (2012), S. 22.
57
Vgl. ebd., 20 ff.
58
Böhnisch (2008), S. 143.

1.2 Sozialer Wandel in Deutschland
15 |
S e i t e
die Jugend als eine Art ,,Statuspassage"
59
bestehen, in der sich Kinder von der unselbst-
ständigen Kindheit hin zu der selbstständigen Phase des Erwachsenseins entwickeln.
Die Phase der Jugend stellt also ein Konstrukt unserer Gesellschaft dar,
60
ein ,,historisch
entstandenes soziales Phänomen".
61
In dieser Zeit müssen Jugendliche sich mit verschiedenen, sogenannten Entwicklungs-
aufgaben, auseinandersetzten. Diese sind der Aufbau von tieferen Beziehungen zu
Gleichaltrigen, eigene Geschlechterrolle finden, Verständnis des eigenen Körpers und
Umgang mit ihm, Unabhängigkeit von den Eltern, Ausbildung für das Berufsleben, Pla-
nung einer eigenen Familie, Erarbeiten von eigenen Werten und vieles mehr.
62
Wobei
auch diese Aufgaben dem sozialen Wandel unterliegen. Durch eine zunehmende Parti-
zipation in Bereichen wie Konsum, sozialen Kontakten, Sexualität und vielem mehr,
muss die Phase der Jugend heute auf der einen Seite aktiver und individueller durchlebt
und mitgestaltet werden, auf der anderen Seite haben die Risiken und die Möglichkeit
des Scheiterns zugenommen.
63
Auch die Aussicht auf eine Berufstätigkeit oder das le-
benslange Ausüben eines erlernten Berufes, besteht heute nicht mehr. Wohingegen der
Druck, den Anschluss an Bildung und Kapital zu verlieren, zunimmt. Jugendliche
kommen immer stärker in den Konflikt, dass sie mehr Engagement zeigen müssen, ein
positiver Erfolg daraus aber nicht garantiert werden kann.
64
Dadurch zeigt sich, dass
diese Phase zu einer ,,biografisch vielfältig variierten Bewältigungskonstellation gewor-
den"
65
ist, was eine steigende Suche nach neuen Orientierungshilfen zur Folge hat.
66
Wurde die Jugend in Teilen des letzten Jahrhunderts noch als Humankapital, ,,als eine
der wichtigsten Erfindungen der Modernen"
67
gesehen, welche gefördert und qualifi-
ziert wurde, müssen sich junge Menschen heute, im steigenden Konkurrenzkampf um
Arbeitsplätze, stärker um individuelle Bildung und Weiterbildung bemühen. Dies hat
auch Auswirkungen auf die Wertorientierung von jungen Menschen, was sich unter
anderem darin zeigt, dass ,,arbeits- und versorgungsbezogene"
68
Orientierungen bei jun-
gen Menschen in den letzten Jahren zugenommen haben. So können Familien auch wei-
59
Hurrelmann /Quenzel (2012), S. 40.
60
Vgl. Scherr (2009), S. 21.
61
Sanders/Vollbrecht (2000), S. 7.
62
Vgl. Grob/Jaschinski (2003), S. 24 ff.
63
Vgl. Gudjons (2008), S. 138.
64
Vgl. Böhnisch (2008), S. 145 ff.
65
Böhnisch (2008), S. 144.
66
Vgl. Sting in: Homepage Böhnisch, S. 1.
67
Böhnisch (2008), S. 143.
68
16. Shell Jugendstudie (2010), S. 195.

1.2 Sozialer Wandel in Deutschland
16 |
S e i t e
terhin erste Orientierungen in bestimmten Bereichen, wie beispielsweise im Erlernen
von ersten intimen Beziehungen, geben, wohingegen Gesellschaft, Kultur und ihre Insti-
tutionen stärkere Orientierungen für Bereiche des späteren Berufsleben und gesell-
schaftlichen Anforderungen geben können. Somit zeigt sich wieder, dass Veränderun-
gen auf einer Ebene meist Veränderungen auf anderen Ebenen nach sich ziehen.
1.2.2 Familien und Lebensformen
Doch nicht nur Kindheit und Jugend, sondern auch die Familie unterliegt nach wie vor
den Veränderungen der Industrialisierung. Mit der ,,Trennung von Arbeits- und Wohn-
stätte, büßte die Sozialform des `ganzen Hauses` enorm an Bedeutung ein".
69
Die Groß-
familie verlor ihre Funktion der Absicherung durch das Aufkommen staatlicher Sozial-
hilfen. Die Versorgung der Alten, Kranken und die Erziehung der Kinder wurden und
werden zunehmend in staatliche Institutionen ausgelagert. Das Ergebnis solch eines
,,funktionalen Differenzierungsprozesses von Gesellschaft" war unter anderem das Her-
ausbilden von sogenannten ,,bürgerlichen Kleinfamilien[, in welchen] intim-expressive
Funktionen (die Befriedigung subjektiver Bedürfnisse nach Intimität, persönliche Nähe,
Geborgenheit, Sexualität"
70
im Zentrum stehen.
Einen weiteren Aspekt stellt die Entstehung der Kindheitsphase dar, welche es zu dieser
Zeit besonders durch die Mütter zu fördern galt, wodurch auch eine ,,Neudefinition der
Geschlechterrolle"
71
stattfand, bei welcher es galt, dass Frauen sich um Kinder und
Haushalt kümmern sollten und Männer die finanzielle Sicherung der Familie gewähr-
leistetet.
72
Diese sogenannten Normalfamilien (Vater-Mutter-Kind) etablierten sich bis
in den 1950er und 1960er Jahren sehr stark in Deutschland und wurden zum vorherr-
schenden Familienmodell.
73
Sie galten als ,,kulturelle Selbstverständlichkeit und ein
millionenfach fraglos gelebtes Grundmuster".
74
Ab Mitte/Ende der 60er Jahre kam es
mit diesem Modell zu einem Bruch. Auf der einen Seite gingen Eheschließungen und
die Zahl der Geburten stetig zurück, wohingegen auf der anderen Seite Scheidungen
zunahmen.
75
69
Peuckert (2008), S. 18.
70
Ebd., S. 20.
71
Ebd., S. 20.
72
Hurrelmann/Quenzel (2012), S. 143.
73
Vgl. Meyer (2002), S. 402 f.
74
Ebd., S. 402.
75
Vgl. Maihofer/Böhnisch/Wolf (2001), S. 8.

1.2 Sozialer Wandel in Deutschland
17 |
S e i t e
Ein Prozess, welcher auch hier eine große Rolle spielt, ist die Individualisierung und
Enttraditionalisierung. Besonders Frauen erlebten, gestärkt durch emanzipatorische Be-
wegungen, Frauenrechte, stärkeren Einbezug in die Erwerbstätigkeit und steigende fi-
nanzielle Unabhängigkeit, eine zunehmende Partizipation und Selbstbestimmung der
eigenen Lebensentwürfe. Dadurch wurde eine Pluralisierung von familiären Lebens-
formen vorangetrieben.
,,Pluralisierung der Lebensformen bedeutet dies, dass nun verstärkt die Vorstellung
zweier selbstständiger Individuen mit jeweils eigenen Lebensplänen koordiniert werden
müssen, dass neue Arrangements von Familie und Beruf, neue Lebensformen des Um-
gangs miteinander gefunden werden müssen".
76
Der Mann als Haupt der Familie wurde nach und nach ersetzt durch eine gleichgestellte
Partnerschaft, wobei dieser Prozess noch bis in die Gegenwart andauert. Solche Prozes-
se bleiben nicht ohne Folgen. Es ergeben sich Fragen nach Vereinbarkeit von Familie
und Beruf, familiengerechtes Wohnen oder Kinderbetreuung, worauf Unternehmen und
Politik Antworten finden müssen, um Spannungen, Unzufriedenheit vorzubeugen bzw.
zu vermeiden und Entlastungen für Familien zu schaffen.
77
Daher ergeben sich laut
Klaus Hurrelmann und Gudrun Quenzel (2012) neue Merkmale für Familienformen im
Gegensatz zu den 1950er und 1960er Jahren:
x ,,Die Ehe als Lebensform der Eltern ist nicht mehr selbstverständlich;
x die Kinder müssen nicht unbedingt leiblich sein:
x die Arbeitsteilung der Eltern kann verschiedenste Formen annehmen, insbeson-
dere weil immer mehr Ehefrauen auch als Mütter nach der Geburt ihrer Kinder
berufstätig sind;
x für verheiratete oder unverheiratete Paare ist es keineswegs mehr, wie noch in
den 1960er Jahren, sicher, dass sie sich für die Gründung einer Familie, also die
Geburt eines eigenen Kindes entscheiden; etwa 20 Prozent der Paare bleiben
gewollt oder ungewollt ohne ,,Nachwuchs";
x die Trennung und Scheidung der Eltern ist viel häufiger geworden; heute werden
in Deutschland rund 40 Prozent aller Ehen durch Scheidung beendet, in den
1960er Jahren waren es nicht viel mehr als 10 Prozent;
76
Peuckert (2008), S. 31.
77
Vgl. Hradil (2013), S. 794.

1.2 Sozialer Wandel in Deutschland
18 |
S e i t e
x hierdurch bedingt wächst die Zahl alleinerziehender Eltern; ihr Anteil an allem
Haushalten mit Kindern liegt derzeit bei fast 20 Prozent
x viele geschiedene Eltern heiraten erneut und bringen ihre eigenen Kinder aus der
vorigen Beziehung mit in die neue ,,Patchwork"- Familie;
x immer mehr Eltern leben in einer homosexuellen Partnerschaft.
"78
Auch wenn es diese Vielfalt zum Teil früher auch schon gab, verändert sich die Domi-
nanz der einzelnen Lebensformen. Auch die Monopolstellung der Normalfamilie hat
sich dadurch geändert.
79
Dennoch ist die auch heute noch dominierende Lebensform die
der ,,traditionellen Kernfamilie",
80
sprich, verheiratete Eltern und leibliche Kinder, auch
wenn diese an Bedeutung abgenommen hat. Lebten 1996 noch 81% der Erwachsenen
mit Kindern als Ehepaare zusammen lebten, sank dies im Jahr 2013 auf 69% herab. Le-
bensgemeinschaften mit Kindern sind hingegen von 5% auf 10% gestiegen und die
Gruppe der Alleinerziehenden von 14% auf 20%.
81
Was sich ebenfalls vollzieht, ist eine Zunahme der Akzeptanz der verschiedenen Le-
bensformen als Familie.
82
Diese Zunahme an alternativen Lebensformen zur Normalfa-
milie ist auf der einen Seite für viele
,,attraktiv und wählbar geworden, denn viele Menschen verfügen über mehr Ressourcen
als früher und streben nach Selbstverwirklichung [und auf der anderen Seite] werden
Menschen in diese Lebensformen gegen ihren Willen hineingetrieben, unter anderem
infolge von Scheidungen, beruflichen Zwängen und schwierig gewordener Beziehungs-
gestaltung".
83
Ein weiteres Phänomen, neben der Pluralisierung von Lebensformen ist die Verkleine-
rung von Familien. Familien mit einem Kind sind von 1975 bis 2011 von 46% auf 53%
gestiegen und Großfamilien mit mehr als 4 Kindern von 6% auf 2% (siehe Abbildung
Nr.2).
78
Hurrelmann/Quenzel (2012), S. 143f.
79
Vgl. Maihofer/Böhnisch/Wolf (2001), S. 13.
80
Ebd., S: 144.
81
Vgl. Statistisches Bundesamt.
82
Vgl. Maihofer/Böhnisch/Wolf (2001), S. 8.
83
Hradil (2013), S, 794.

1.2 Sozialer Wandel in Deutschland
19 |
S e i t e
Abbildung 2: Familien nach Anzahl der minderjährigen Kinder, 1975 bis 2011, Bmfsfj
(2012), S. 19
Somit werden Kinder in Zukunft weniger Familienangehörige wie Onkel, Tanten, Cou-
sinen und Cousins haben, dafür aber Familien mit bis zu vier Generationen durch die
steigenden Lebenserwartungen.
84
Trotz all dieser Veränderungen bleibt Familie als So-
zialinstanz nach wie vor bestehen. Auch wenn sie sich in Form und Inhalt unterscheidet,
,,findet [sie] nach wie vor in einer emotionalen und sozialen Intensität statt, wie es in
keiner anderen Sozialisationsinstanz möglich ist".
85
Pluralisierung der Lebensformen bedeutet jedoch mitnichten einen Werteverlust von
Familie. So zeigt der Familienreport 2012 von Bundesministerium für Familie, Senio-
ren, Frauen und Jugend, dass knapp 80% der Menschen in Deutschland angeben, dass
sie Familie braucht um glücklich zu sein.
86
Auch bei Jugendlichen zeigt sich, dass sie
der Familie einen hohen Stellenwert einräumen. Dreiviertel der Jugendlichen gehen
davon aus, ,,dass man eine Familie braucht um wirklich glücklich zu sein".
87
Außerdem
wollen 69% später einmal eigene Kinder haben. Auch bei der Werteorientierung von
Jugendlichen liegt der Wert ,,ein gutes Familienleben führen"
88
auf Platz drei, hinter
84
Vgl. ebd., S. 144.
85
Hurrelmann/Quenzel (2012), S. 145.
86
Bmfsfj (2012), S. 12.
87
Shell Jugendstudie (2010), S. 17.
88
Ebd., S. 197.

1.2 Sozialer Wandel in Deutschland
20 |
S e i t e
Freunden und einem Partner dem sie vertrauen können und wird von 92% der Jugendli-
chen als wichtig eingestuft.
All diese Veränderungen zeigen, dass es nicht die Familie gibt und diese auch nie gab,
sondern dass Familie immer auch ,,von kulturellen Wandlungsprozessen maßgeblich
beeinflusst"
89
worden ist. Wenn wir heute von Veränderungen der Lebensformen spre-
chen, dann nur in einem Vergleich zu den Jahren davor. ,,Klar ist jedoch, dass die Fami-
lie als zentrale Institution der Gesellschaft"
90
vorerst bestehen bleibt.
1.2.3 Chancen und Risiken
Dass steigende Individualisierung und Pluralisierung Schlüsselbegriffe in der Debatte
um sozialen Wandel sind, wurde in den vorherigen Kapiteln herausgearbeitet. Aber dies
mit der schlichten Annahme, dass Biographien einfach ,,netter, bunter, vielfältiger [wer-
den] zu verwechseln"
91
wäre ein Trugschluss. Auf der einen Seite sind diese Verände-
rungen natürlich eine Chance, das Leben frei von ,,konventionellen Zwängen"
92
zu le-
ben und das Leben dadurch individueller gestalten und planen zu können aber auf der
anderen Seite steigt damit auch das Risiko der Orientierungslosigkeit und Verunsiche-
rung, auf die es gilt, Antworten und Lösungen zu finden. Somit wird das Leben zu ei-
nem Drahtseilakt, bei welchem versucht werden muss ,,Unterschiedliches und Wider-
sprüche"
93
in Balance zu bringen. Es müssen, ob gewollt oder nicht, Entscheidungen
getroffen werden, wodurch die Freiheit zum Zwang werden kann, bei welcher immer
auch die Gefahr des Scheiterns im Raum steht.
Als Beispiel könnte hier der Wunsch nach Kindern stehen. So besteht bei einer Mehr-
heit der Jugendlichen nach wie vor der Wunsch nach eigenen Kindern, ,,doch die Art
und Weise, wie und wann sie dies tun, ist keineswegs mehr selbstverständlich".
94
Neben
den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen müssen Werte und Orientierungen stärker
individuell geklärt und entschieden werden. Der Psychologe Heiner Keupp kommt zu
dem Schluss, dass Lebensläufe heutzutage etwas ,,unheilbar Bruchstück-, Flickenhaftes
oder Fragmentarisches"
95
haben. Aufgrund ,,sozialer Wandlungsprozesse, brüchiger
89
Peter (2012), S. 19.
90
Maihofer/Böhnisch/Wolf (2001), S. 9.
91
Ebd., S. 39.
92
Ebd., S. 39.
93
Gudjons (2008), S. 135.
94
Maihofer/Böhnisch/Wolf (2001), S. 39.
95
Keupp (2009), S. 21.

1.2 Sozialer Wandel in Deutschland
21 |
S e i t e
Beziehungs- und Familienkonstellationen und geforderter beruflicher Flexibilität",
96
wird die Frage nach der eigenen Gestaltung des Lebens zu einem lebenslangen Prozess,
was ,,mehr oder weniger gelungene Einpassung des Subjekts mit all seinen oft wider-
streitigen Anteilen in eine ebenfalls ambivalente, dynamische und komplexe Welt" be-
deutet.
97
Für den Wert Familie haben die angesprochenen Prozesse zur Folge, dass die-
ser Begriff weniger durch eine bestehende Norm definiert wird, wie das noch vor eini-
gen Jahren der Fall war, sondern durch den individuellen Wert, der ihr zugeschrieben
wird. Dadurch ist es möglich, dass alle familiären Lebensformen (verheiratete und nicht
verheiratete Paare, homosexuelle und heterosexuelle Paare, alleineerziehende Paare
usw.) als Familie angesehen werden können. ,,Das heißt, Familie wird [heute] vor allem
über ihre emotionale Qualität bestimmt".
98
Somit werden der Familie Werte wie Ver-
trautheit und Geborgenheit zugeordnet anstatt sie durch den reinen Akt des Heiratens zu
definieren.
Ein weiterer Aspekt ist der Wandel der Geschlechterrollen. Durch eine Zunahme der
Unabhängigkeit beider Geschlechter, wird deren Verhältnis zueinander ebenfalls zu
einem individuellen Aushandlungsprozesses. ,,Nun müssen zwei Lebensentwürfe
gleichberechtigt miteinander vereinbart werden".
99
Um solche komplexen Aushand-
lungsprozesse gestalten zu können, bedarf es auch einer Zunahme an Kompetenzen:
,,von einem hohen Maß an kommunikativer (Aushandlungs-) Kompetenz über die Sou-
veränität, Unsicherheiten auszuhalten, Risiken einzugehen bis hin zu einer großen psy-
chischen Flexibilität und Mobilität",
100
damit diese auch von den Akteuren positiv er-
lebt werden. Bisher verfügen jedoch nur wenige Menschen über solche Kompetenzen,
was den Individualisierungsprozess zu einem solchen Drahtseilakt werden lässt und
noch einmal verdeutlicht wie eng Chancen und Risiken beieinander liegen. Außerdem
verweisen Autoren wie Gerd-Günter Voss und Hans Pongratz darauf, dass der berufli-
che Wandel auch ,,neue Macht- und Disziplinarmechanismen"
101
entstehen lässt und es
einer Anpassung von Lebens- und Arbeitsbedingungen bedarf, um dem entgegenzuwir-
ken, damit zum Beispiel die Vereinbarung von Familie und Beruf ermöglicht wird.
102
96
Ebd., S. 20.
97
Vgl. Keupp (1999), S. 276.
98
Maihofer/Böhnisch/Wolf (2001), S. 40.
99
Ebd., S. 41.
100
Ebd., S. 42.
101
Ebd., S. 42.
102
Vgl. Ebd., S. 42.

1.3
Zwischenfazit
22 |
S e i t e
1.3 Zwischenfazit
Die vorhergehenden Kapitel zeigen wie komplex das Thema sozialer Wandel ist und
bleiben wird. Auf allen Ebenen der Gesellschaft finden Entwicklungen statt, welche
sich wiederum auf andere Bereiche der Gesellschaft auswirken. So passiert es, dass
Antworten auf Probleme und Spannungen neue Widersprüche produzieren. Solange
Menschen miteinander interagieren, wird es immer Veränderungen und Wandlungspro-
zesse geben. Ob diese nun positiv oder negativ sind, bleibt dabei offen. Wurden diese
Bewertungen früher noch stärker von einzelnen Institutionen - wie über lange Zeit von
den Kirchen - vorgenommen, müssen diese heute stärker hinterfragt und individuell
erarbeitet werden. Neue Sinnanbieter, Werte, Weltanschauen, Ideologien, Institutionen
wie traditionelle Kirchen, religiöse Bewegungen aus anderen Gesellschaften (insbeson-
dere Buddhismus), unterschiedliche esoterische Anschauungen, Lebensberatungen und
Therapien, politische und ideologische Ansichten sowie konservative Ausrichtungen,
welche versuchen, zu alten Werten und Normen zurückzukehren,
103
,,Arbeitsmarkt, Bil-
dungssysteme, Systeme sozialer Sicherung, Massenmedien und moderne Medizin",
104
bieten Orientierungsmöglichkeiten und Bewertungskategorien an. Dabei müssen sich
Menschen immer die Frage stellen: ,,Wer bin ich in einer sozialen Welt, deren Grundriss
sich unter Bedingungen der Individualisierung, Pluralisierung und Globalisierung radi-
kal verändert?".
105
Um dabei den Überblick nicht zu verlieren und sich in diesem
Dschungel der Möglichkeiten zurecht zu finden, bedarf es verschiedenen Ressourcen
und Kompetenzen, wobei sich daraus wieder neue soziale Ungleichheiten ergeben, bei
der Frage nach dem Zugang und der Möglichkeit, diese zu erlernen.
Daher ist es wichtig, dass die Gesellschaft versucht, solche Veränderungen zu verstehen
und aufzuarbeiten, um adäquate Lösungen und Wege zu finden, um Spannungen und
Ängsten entgegenzuwirken. Wobei sich die provokante Frage stellt, ob und in wieweit
dies überhaupt gewünscht wird. Fakt bleibt jedoch, dass sich die Gesellschaft stark ge-
wandelt hat in den letzten Jahren hat und sowohl familiäre Lebensformen als auch die
Kindheit- und Jugendphase von diesen Veränderungen nicht unberührt geblieben sind.
Im Gegenteil, auch sie haben fundamentale Veränderungen erlebt. Wohin dieser Trend
in den nächsten Jahren führen wird und welche Auswirkungen er auf die deutsche Ge-
sellschaft haben wird, bleibt abzuwarten.
103
Vgl. Scherr (2009), S. 133.
104
Bmfsfj (2015).
105
Keupp (2009), S. 1.

1.3
Zwischenfazit
23 |
S e i t e
Welche Antworten, Reaktionen und Wege die (Erziehungs-)Beratung auf Veränderun-
gen, im Speziellen bezüglich Veränderungen von familiären Lebensformen und Prob-
lemen von Kindern und Jugendlichen, bereithält, wird in den folgenden Kapiteln darge-
stellt.

24
|
S e i t e
Kapitel 2
Erziehungsberatung
Wie Kapitel 1 zeigt, unterliegen auch Institutionen und Professionen dem sozialen
Wandel oder sind Reaktionen und Antworten auf diesen. Ob dies auch auf die Erzie-
hungsberatung zutrifft, was genau Erziehungsberatung ist, auf welcher rechtlichen
Grundlage sie arbeitet und welchen Wandel sie in den letzten Jahren vollzogen hat, soll
in diesem Kapitel näher beleuchtet werden. Die Darstellung soll dazu dienen, ein besse-
res Verständnis für den Bereich der Erziehungsberatung zu erhalten, um anschließend
mit dem Blick aus der Praxis anzuknüpfen.
Das Kapitel beginnt mit einer Einführung in den allgemeinen Bereich der Beratung,
bevor es um Erziehungsberatung gehen wird und welche Aufgabe diese heute zu erfül-
len hat. Danach findet ein Blick in die Vergangenheit und Entwicklung der Erziehungs-
beratung statt, um den Zusammenhang zwischen sozialem Wandel und institutioneller
Veränderungen zu verdeutlichen und um aktuelle Kontroversen besser verstehen zu
können.
2.1 Einführung in die Beratung
Beratung hat in den letzten Jahren enorm an Bedeutung gewonnen. Beratungsstellen für
verschiedene Lebensbereiche, wie die Erziehungsberatung, Paarberatung, Schwanger-
schaftsberatung usw., haben sich etabliert und sind in den letzen Jahren stetig gewach-
sen. Dabei lässt sich dieser Trend nach Heike Schnoor auf zwei Phänomene zurückfüh-
ren. Das eine ist der, in Kapitel 1 beschriebe gesellschaftliche Wandel, durch welchen
sich oftmals eine unübersichtliche ,,Vielfalt potentieller Lebensperspektiven" ergeben.
In diesen Entscheidungsprozessen wird Beratung ,,zu einer Dienstleistung, die Men-
schen in unterschiedlichen Lebensabschnitten und mit wechselnden Fragestellungen in
Anspruch nehmen, um passagere Überforderungen zu mildern, individuelle Lebensent-
würfe zu hinterfragen oder Krisensituationen abzufangen".
106
Das zweite Phänomen
zeigt sich in den Aufgaben und dem Verständnis der Pädagogik, welches sich ebenfalls
in den letzten Jahren gewandelt hat. ,,[I]n dem Maße, in dem Pädagogen von einer mün-
digen Klientel ausgehen, die autonom und selbstorganisiert über die Belange ihres Le-
106
Schnoor (2013), S. 9.

2.1 Einführung in die Beratung
25 |
S e i t e
bens entscheidet und deshalb nicht erzogen oder bevormundet, sondern unterstützt und
beraten werden kann",
107
gewinnt auch die Profession der Beratung an Bedeutung. Da-
bei beschränkt sich die Beratung nicht nur auf den Bereich der Pädagogik, sondern ist
auch in verschiedenen anderen Disziplinen wie der Psychologie verankert.
Wenn von Beratung im professionellen Kontext gesprochen wird, ist eine klare Abgren-
zung der professionellen Beratung von der Alltagsberatung wichtig. Beratung ist auf der
einen Seite eine ,,eigenständige Methode, praktiziert in Beratungsstellen und Sprech-
stunden oder in aufsuchenden Angeboten" und auf der anderen Seite ,,zieht sich Bera-
tung auch als `Querschnittsmethode` durch nahezu alle an anderen Hilfeformen wie
Betreuung, Pflege, Einzelfallhilfe etc.".
108
Dabei lässt sich festhalten, dass:
,,Beratung [...] zunächst eine Interaktion zwischen zumindest zwei Beteiligten [ist], bei
der die beratende(n) Person(en) die Ratsuchende(n) - mit Einsatz von kommunikativen
Mitteln ­ dabei unterstützt, in Bezug auf eine Frage oder auf ein Problem mehr Wissen,
Orientierung oder Lösungskompetenz zu gewinnen. Die Interaktion richtet sich auf
kognitive, emotionale und praktische Problemlösung und -bewältigung von KlientenIn-
nen oder Klientensystemen [...] sowohl in lebenspraktischen Fragen wie auch in psy-
chosozialen Konflikten und Krisen."
109
Dabei geht es nicht darum, den Klienten einen Rat zu erteilen, sondern diese auf ihrem
Weg anzuleiten, eine Entscheidung selbst zu treffen. Es geht um einen Austausch, bei
welchem Klienten durch Reflexion und Interaktion lernen sollen, eigenen ,,Bewälti-
gungskompetenzen"
110
(neu) zu entdecken und zu fördern, damit sie lernen, ihre Prob-
leme selbst zu lösen. Allgemein lässt sich also formulieren, dass Menschen sich vor
allem in aktuellen Krisensituationen an Beratungsstellen wenden, wenn ,,ihre einge-
spielten und bis dato gewährenden Konfliktmuster versagen oder zu versagen dro-
hen".
111
Da sich Beratung auf verschiedene Disziplinen und Schulen beruft, sind die Methoden,
Vorgehensweise und Definitionen sehr unterschiedlich. Die Deutsche Gesellschaft für
Beratung e.V. (DGfB), welche versucht, ,,der Fachöffentlichkeit, der Politik und dem
Verbraucher einen Orientierungsrahmen für die Qualität von Beratungsleistungen zu
107
Ebd., S. 9.
108
Sickendiek/Engel/Nestmann (1999), S. 13.
109
Ebd., S. 13.
110
Ebd., S. 13.
111
Hundsalz und Schrödter (1995), S. 5.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783956365911
ISBN (Paperback)
9783956369353
Dateigröße
2.1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Philipps-Universität Marburg
Erscheinungsdatum
2015 (November)
Note
1,7
Schlagworte
erziehungsberatung einfluss wandels veränderungen
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Titel: Erziehungsberatung unter dem Einfluss sozialen Wandels
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