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Rezeption von Ovids Metamorphosen in Japans Populärkultur: Publius Ovidius Naso bei Tawada Yōko

©2013 Diplomarbeit 167 Seiten

Zusammenfassung

Was die Geisteswissenschaft ausmacht, ist nicht nur eine Begeisterung für bildende Kunst, Kultur, Gesellschaft, Politik, Philosophie und Literatur, sondern vor allem auch für die Sprache: Sprache, aus der alles entsteht und kommt, mit welcher wir nicht nur jede Form der Wissenschaft betreiben und neue Ideen und Konzepte formulieren und verbreiten, sondern uns auch versuchen zu verständigen und jedes Gefühl, jeden Gedanken auszudrücken. Im Zeitalter der modernen Kommunikation, in der von Menschen geschaffene Grenzen immer unbedeutender werden, Bildung und Information immer öffentlicher und in welcher die Welt, in der wir leben, sich eher früher denn später als global begreifen lernen wird müssen, werden auch die Forscher und Wissenschaftler, die der Sprache mächtig sind, ihre Ideen und Überzeugungen am besten verbreiten und durchsetzen können. Selbst bei praktischen Erfindungen der Technik kann sich aufgrund von „gutem“ Marketing erstaunlicher Weise auch das eigentlich schlechtere Produkt durchsetzen. Sprache ist nicht nur ein Instrument der Macht und Manipulation, der wir uns entweder unhinterfragt ausliefern oder die wir kritisch hinterfragen und erkennen können oder auch selbst anwenden, sondern auch zu einem Werkzeug des Zugangs zu Information und Bildung geworden.
Als Kunst interessierte Person ist für mich persönlich Sprache auch Kunst, eins mit ihr und Ausdrucksmittel von Kreativität einer neuen Weltsicht. Sprache ist Möglichkeit, die Möglichkeit zu einem neuen, anderen Leben, und in jedem Fall eine Bereicherung. Jede einzelne Sprache birgt das Geheimnis einer menschlichen Kultur, Weltanschauung und Wahrnehmung, ebenso wie das Potential, Ideen aus einem anderen Blickwinkel heraus zu betrachten und dadurch zu einer neuen Erkenntnis über unsere Welt zu gelangen. Und wie Tawada Yōko gleich auf einer der ersten Seiten ihres Talismans sagt, bedeutet eine neue Sprache zu erlernen, gleichzeitig die Möglichkeit, die Welt noch einmal aus der Sicht eines Kindes zu erleben, denn in der Muttersprache sind die Worte eines Menschen angeheftet, sodass man selten spielerische Freude an der Sprache empfinden kann. Dort klammern sich die Gedanken so fest an die Worte, dass weder die ersten noch die letzteren frei fliegen können. [...]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Einleitung

2. Publius Ovidius Naso: Westliche Literatur in Japan
2.1 Erste Kontakte mit dem Westen
2.2 Rangaku - das Wissen des Westens
2.3 Moderne japanische Literatur unter dem Einfluss des Westens
2.4 Der Einfluss Ovids auf die japanische Literatur

3. Die Schriftstellerin Tawada Yōko 多和田 葉子
3.1 Das Leben von Tawada Yōko
3.2 Tawada Yōko als Autorin der Mehrsprachigkeit
3.3 Tawada Yōko und Publius Ovidius Nasos Metamorphosen
3.3.1 Opium für Ovid
3.3.2 Orpheus oder Izanagi
3.3.3 Das Bad
3.3.4 Schwager in Bordeaux

4. Textstellen zu Pyramus und Thisbe
4.1 Text Pyramus und Thisbe bei Ovid
4.2 Text Pyramus und Thisbe in japanischer Übersetzung: ピュラモスとティスベ
4.3 Text Pyramus und Thisbe bei Tawada Yōko

5. Übersetzung
5.1 Übersetzung von Pyramus und Thisbe bei Ovid (Met. 4,55-166)
5.2 Übersetzung von Pyramus und Thisbes japanischer Version des Ovidtextes(変身物語巻四 p.139- 145): ピュラモスとティスベ

6. Kommentar
6.1 Kommentar zu Pyramus und Thisbe bei Ovid
6.2 Kommentar zu Pyramus und Thisbes japanischer Version: ピュラモスとティスベ
6.3 Kommentar zu Pyramus und Thisbe bei Tawada Yōko

7. Die Stellen im Kontext
7.1 Kontext von Pyramus und Thisbe bei Ovid und in japanischer Übersetzung ピュラモスとティスベ
7.2 Kontext von Pyramus und Thisbe bei Tawada Yōko

8. Interpretation
8.1 Interpretation von Pyramus und Thisbe bei Ovid
8.2 Interpretation von Pyramus und Thisbes japanischer Version: ピュラモスとティスベ
8.3 Interpretation von Pyramus und Thisbe bei Tawada Yōko

9. Analyse von Tawada Yōkos eigener japanischer Übersetzung ihres Textes: [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]
9.1 Textstelle [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]
9.2 Übersetzung [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]
9.3 Kommentar [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]
9.4 Analyse und Interpretation[Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]

10. Nachwirkungen: Publius Ovidius Naso as a poet between two worlds, the East and the West

11. Ergebnisse und Gesamtinterpretation

12. Resümee

13. Bibliographie
13.1 Japanologische Werke in japanologischer Zitierweise
13.2 Werke der klassischen Philologie
13.2.1 Primärliteratur
13.2.2 Kommentare und Nachschlagewerke
13.2.3 Sekundärliteratur
13.3 Abbildungsverzeichnis

14. Lebenslauf

15. Summary

Vorwort

Nach meiner Masterarbeit der Japanologie habe ich nun erneut vor, mit dieser Diplomarbeit aus dem Bereich der klassischen Philologie zu zeigen, was ich in den letzten zwölf Jahren neben meiner Arbeit als Lehrerin auch wissenschaftlich geleistet habe. In diesem Sinne möchte ich nochmals meinen Eltern und meiner Familie insgesamt für ihre Geduld und Unterstützung danken, ohne die es nicht möglich gewesen wäre, diese Arbeit fertigzustellen, weiters all den Professoren, die mich über die Jahre hinweg auf verschiedenste Art und Weise unterstützt, ermutigt, motiviert und inspiriert haben, das alles zu schaffen, besonders erwähnen möchte ich hierbei Prof. Farouk Grewing, Prof. Ina Hein und Prof. Wolfram Manzenreiter, Prof. Ingrid Getreuer-Kargl, außerdem vor allem Prof. Franz Römer, Dr. Sonja Schreiner und schließlich Prof. Kurt Smolak, Dr. Hildegrund Müller, Prof. Erich Woytek, Prof. Michael Metzeltin, Mag. Nieves Anna Čavić-Podgornik, Mag. Margarita Massanés Vilaplana, Mag. Annie-Paule Longatte, weiters natürlich Prof. Sepp Linhart und Dr. Noriko Brandl und Dr. Susanne Formanek, Mag. Dona Mark und last but not least Prof. Velizar Savtchov-Sadovski.

Meinen Studentinnen und Studenten, Schülerinnen und Schülern und all meinen Freunden

1. Einleitung

Was die Geisteswissenschaft ausmacht, ist nicht nur eine Begeisterung für bildende Kunst, Kultur, Gesellschaft, Politik, Philosophie und Literatur, sondern vor allem auch für die Sprache: Sprache, aus der alles entsteht und kommt, mit welcher wir nicht nur jede Form der Wissenschaft betreiben und neue Ideen und Konzepte formulieren und verbreiten, sondern uns auch versuchen zu verständigen und jedes Gefühl, jeden Gedanken auszudrücken. Im Zeitalter der modernen Kommunikation, in der von Menschen geschaffene Grenzen immer unbedeutender werden, Bildung und Information immer öffentlicher und in welcher die Welt, in der wir leben, sich eher früher denn später als global begreifen lernen wird müssen, werden auch die Forscher und Wissenschaftler, die der Sprache mächtig sind, ihre Ideen und Überzeugungen am besten verbreiten und durchsetzen können. Selbst bei praktischen Erfindungen der Technik kann sich aufgrund von „gutem“ Marketing erstaunlicher Weise auch das eigentlich schlechtere Produkt durchsetzen. Sprache ist nicht nur ein Instrument der Macht und Manipulation, der wir uns entweder unhinterfragt ausliefern oder die wir kritisch hinterfragen und erkennen können oder auch selbst anwenden, sondern auch zu einem Werkzeug des Zugangs zu Information und Bildung geworden.

Als Kunst interessierte Person ist für mich persönlich Sprache auch Kunst, eins mit ihr und Ausdrucksmittel von Kreativität einer neuen Weltsicht. Sprache ist Möglichkeit, die Möglichkeit zu einem neuen, anderen Leben, und in jedem Fall eine Bereicherung. Jede einzelne Sprache birgt das Geheimnis einer menschlichen Kultur, Weltanschauung und Wahrnehmung, ebenso wie das Potential, Ideen aus einem anderen Blickwinkel heraus zu betrachten und dadurch zu einer neuen Erkenntnis über unsere Welt zu gelangen. Und wie Tawada Yōko gleich auf einer der ersten Seiten ihres Talisman s sagt, bedeutet eine neue Sprache zu erlernen, gleichzeitig die Möglichkeit, die Welt noch einmal aus der Sicht eines Kindes zu erleben, denn in der Muttersprache sind die Worte eines Menschen angeheftet, sodass man selten spielerische Freude an der Sprache empfinden kann. Dort klammern sich die Gedanken so fest an die Worte, dass weder die ersten noch die letzteren frei fliegen können.[1]

In diesem Sinne möchte ich zu einer Verbindung von Kreativität und Wissenschaft gelangen, zu einer besseren Form der Wissenschaft durch die kritische und genaue Betrachtung von Sprache, immer wieder durch Kreativität und Begeisterung zu neuen Ideen, die wichtig sein könnten, und zu neuer Inspiration.

Tawada Yōko ist eines der Beispiele, warum lateinische Literatur auch heute noch wichtig ist und wie sie bis in die entferntesten Gegenden der Welt reicht und die Menschen dort berührt. Außerdem wird dadurch ein wichtiger Teilbereich der Migrationsforschung von Japan behandelt: die Exophonie - Anderssprachigkeit in der Literatur.

Meine Hauptfragestellung für die folgende philologische Arbeit Rezeption von Ovids Metamorphosen in Japans Populärkultur: Publius Ovidius Naso bei Tawada Yōko wird lauten: Wie geht Tawada Yōko als Japanerin mit dem lateinischen Autor Publius Ovidius Naso und seinem Werk Metamorphosen um und wie setzt sie seine Texte, seine Gedanken und Ideen in ihrem Werk ein?

Viele weitere spannende Fragen gilt es dabei gleichzeitig zu bedenken: Kann Tawada Yōko Latein oder hat sie Ovid auf Deutsch, Japanisch oder gar Russisch gelesen? Wie bekannt ist Ovid als wichtiger Autor der Weltliteratur in Japan? Sind die Metamorphosen ein häufig gelesenes Werk dort? Wie sieht die Übersetzung der Metamorphosen in Japanisch aus? Wie gehen Japaner mit lateinischen Texten und ihren Inhalten um? Was begeistert Japaner an der klassischen lateinischen und griechischen Literatur Europas? Welche Vergleichsmomente entstehen zwischen japanischen und griechisch-römischen Mythen? Wie kombinieren japanische Autoren europäische Literaturgattungen, Stilfiguren und phraseologische Sprachelemente mit japanischen?

Dazu möchte ich drei Hypothesen aufstellen, unter deren Aspekt und Blickwinkel diese Arbeit aus dem Bereich der Populärkultur verfasst werden soll:

1. Die Bildersprache Japans macht aus Ovids Metamorphosen ein neues visuelles Erlebnis, in welchem der Klang des Textes zurücktritt, aber dafür die Bildlichkeit allgemein und die Ekphrasis im Sinne des Autors zunimmt.
2. Der Name einer mythischen Gestalt, den Tawada Yōko verwendet, bringt mit seiner Erwähnung als ein einziges Wort die Tiefe einer ganzen Geschichte während des Lesens mit sich und wird so fast selbst zum magischen japanischen Ideogramm.
3. Tawada Yōko nähert sich dem Text der Metamorphosen eher als Sprachkünstlerin denn als Autorin der Migrationsliteratur: sie experimentiert bewusst mit den für sie unberechenbaren Buchstaben, deren Bedeutung nicht auf den ersten Blick wie bei einem Schriftzeichen zu erkennen ist und die sich während des Lesens noch magisch wandeln kann, mit ihrer Phantasie aus der Sicht eines Kindes und zeigt uns damit unbewusst die Schwierigkeiten, Chancen und Möglichkeiten der Exophonie, dem Schreiben in einer Fremdsprache, und der Mehrsprachigkeit, der Polyglottie, auf und mögliche Lösungen zur Überwindung von gegenwärtigen Problemen, die bei Migration auftreten.

Dazu ist es notwendig, die Begriffe Populärkultur und Ekphrasis genau zu bestimmen und für die wissenschaftliche Arbeit zu definieren.

Das Wort Populärkultur ist eine Zusammensetzung aus populär und Kultur, populär ist entlehnt aus dem Französischen populaire, dieses aus populāris „zum Volk gehörig“, „landsmännisch“, „volkstümlich“ zu populus bzw. älter poplus „Volk“, dazu auch die Abkürzung Pop - und das Abstraktum Popularität. Woher das Wort populus genau kommt, und was es ursprünglich bedeutet, scheint noch wissenschaftlich in Diskussion zu sein und nicht ganz geklärt.[2] Der Begriff Kultur stammt aus dem 17. Jahrhundert, entlehnt aus cultūra, das seit Cato belegt ist, zu colere „pflegen, bebauen“. Davon kommt dann auch incola „Einwohner“. Gemeint sind zunächst der Landbau und die Pflege von Ackerbau und Viehzucht. Im 17. Jahrhundert findet die Übertragung statt auf cultūra animi „Erziehung zum geselligen Leben, zur Kenntnis der freien Künste und zum ehrbaren Leben“.[3] Populärkultur bedeutet heute Massenkultur. Allgemein wird sie als Sache und Textur des Alltagslebens der gewöhnlichen, gemeinen Leute im städtischen Bereich bezeichnet.[4]

Wie bereits bei meiner Seminararbeit zur Gestalt der Kirke in Ovids 14. Buch der Metamorphosen, möchte ich Ekphrasis in ihrer ursprünglichen Bedeutung verstanden wissen und für mich definieren, als Beschreibung, die sich Anschaulichkeit (ἐνάργεια) zum Ziel setzt, die so lebendig ist, dass der Leser den Gegenstand förmlich vor Augen hat wie bei einem Film, d.h. dem Leser ihren Gegenstand klar vor Augen stellen will: Personen, Sachen, Situationen, Orte, Jahreszeiten, Feste usw. Erst Niklaos Rhetor (5. Jhdt. n. Chr.) spezifiziert als ihr Objekt vor allem Statuen und Bildwerke (εἰκόνες). Sie ist Ruhepunkt der Handlung, retardierendes Moment und wird zur Fokussierung der Aussage benutzt. Als erste literarische Ekphrasis gilt die homerische Schildbeschreibung. Zentrales Element der Ekphrasis sind die vielfachen Wechselwirkungen von Kunst und Literatur.[5]

Methodisch möchte ich so vorgehen, dass ich drei Texte um eine berühmte Sagengestalt gegenüberstellend philologisch betrachte, analysiere und miteinander vergleiche: einen lateinischen Text der Metamorphosen, eine aktuelle japanische Übersetzung der Metamorphosen, durch die man die Übertragung westlicher Konzepte auf einen japanischen Text bzw. in japanisches Denken herausarbeiten und analysieren kann, und einen deutschen Text bzw. japanischen Text - falls vorhanden - aus dem Werk von Tawada Yōko, in dem sie Bezug auf die Metamorphosen Ovids nimmt. Denn die Autorin hat Ovid wohl auf Deutsch - wie das alte Wort Färse[6] beweist, das sie benützt - und Japanisch gelesen, daher ist auch die japanische Übersetzung relevant.[7] Es ist wichtig zu sehen, wie sich die Gedanken der Menschen von Übersetzung zu Übersetzung weiterspinnen und entwickeln, um zu erkennen, was die durch Sprache geformte Realität ausmacht, in der wir leben. Zudem werde ich ihr deutsches und japanisches Werk insgesamt auf Spuren des lateinischen Autors untersuchen und diese besprechen und Sekundärliteratur von Autoren in unterschiedlichen Sprachen zur Hand nehmen, die sich mit der Schriftstellerin oder ähnlichen Themen beschäftigt haben, um noch mehr Erfahrung mit Exophonie zu machen.

Was den Forschungsstand zu diesem Thema betrifft, so gibt es noch viel zu wenige Werke, die den Einfluss der klassischen lateinischen Literatur auf die japanische Literatur untersuchen, und wenn es Abschnitte dazu gibt, so sind sie schwierig zu finden. Die meisten Werke zur Rezeption antiker lateinischer Literatur und Kunst beziehen sich, wie nach anfänglicher Recherche deutlich wird, auf den romanischen Kulturbereich, den deutschen und allgemein auf den europäischen oder anglo-amerikanischen Kulturkreis.[8] Der Einfluss der klassischen griechischen und lateinischen Literatur und Kunst auf den Osten, sei es nun im Bereich der Slawistik, sei es in der Japanologie und Sinologie ist meiner Meinung nach aus europäischer Sicht noch viel zu wenig erforscht und daher möchte ich mich auch in Zukunft auf einen Teilbereich daraus spezialisieren.

2. Publius Ovidius Naso: Westliche Literatur in Japan

2.1 Erste Kontakte mit dem Westen

Die ersten westlichen Texte, Einflüsse und Ideen kamen mit der Missionierung der Jesuiten durch die Portugiesen nach Japan. Die westliche Kultur, das heißt Mathematik, Astronomie, Geographie, Navigation und Schiffbau, europäische Medizin und Pharmazie zusammen mit der Drucktechnik der lateinischen Buchstaben und der Lehre des lateinischen Alphabets, wurden vermittelt. Europäer waren es, die luxuriöse und praktische Dinge ins Land brachten, darunter die raue Haut des Rochens, die den Griff des japanischen Schwertes umspannte, und das Kobolt für das Blau der Porzellanmalerei. Sie vermittelten Wissen über die Welt außerhalb Japans, nicht nur über den Bau des Gewehres, sondern auch über das Zusammenspiel der Sterne, über die Segnungen der Medizin oder das Funktionieren einer Uhr und einer Feuerwehrspritze. Auch die ersten Werke europäischer Kunst, Malerei, Skulptur und Gravur, Musik, kamen nach Japan. Durch die Portugiesen lernten die japanischen Maler die Perspektive kennen.[9]

1571 wurde Manila gegründet: die Spanier eroberten die muslimische Niederlassung auf den Philippinen. Dies machte regelmäßigen transpazifischen Handel zwischen Mexiko und China möglich. Die Verbindung zwischen Amerika und Ostasien kam also mit der Ankunft der Spanier in diesem Raum zustande und dem Versuch Kolumbus Indien zu erreichen. Das Interesse Amerikas an China und Japan wurde schnell wieder belebt durch die wirtschaftlichen Verbindungen und erreichte neue Höhen. Tausende Menschen überquerten den Ozean, um die ersten amerikanischen Kolonien in Asien zu gründen und Mexiko wurde zum Informationsknotenpunkt über Asien, auch wenn es immer wieder Verspätungen, Piratenüberfälle - wie die der japanischen Piraten im Ostchinesischen Meer - und Schiffbrüche gab. Die Spanier waren aber vor der transpazifischen Route gewarnt worden wegen der Gefahren der Reise und der Wildheit und Grausamkeit der Japaner. Hernán Cortés, der Eroberer von Mexiko, unternahm verschiedene Expeditionen von der Westküste Amerikas aus in der Hoffnung auf eine Seeroute nach Asien, bis die Philippinen entdeckt wurden. Die Jesuiten berichteten von den ersten chinesischen Gütern, von Seide und Porzellan, deren Ankunft in Spanien und der Freude der Bevölkerung darüber. Sie sahen sofort ihre Möglichkeiten, Reichtümer und Seelen zu erlangen. Die intensivste Verbindung entstand also durch die Missionare, die davon träumten, ihren Glauben überallhin zu verbreiten.[10]

Während es innerhalb Japans durch die Machtkämpfe der Daimyō langsam zu einer Einung des Landes gekommen war, fanden außerhalb Japans große Veränderungen statt: die Europäer drangen nach dem Zeitalter der Renaissance immer mehr über die Schifffahrt in den asiatischen Raum ein. Die Kontakte mit dem Westen in Japan begannen mit der Landung der Portugiesen 1543 auf der südlichen Insel Tanegashima [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] einer Insel im Südwesten von Kyūshū. Zentraler Stützpunkt der Portugiesen wurde aber Macau in China. Dann folgten die Spanier, die Holländer und Engländer.[11]

In Japan galten die Portugiesen anfangs als Barbaren aus dem Süden nanbanjin [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten], die wie Dämonen waren oder übernatürliche Wesen, denen man bereitwillig tierische Eigenschaften zusprach. Im Volk ging die Mär, dass sie wie ein Hund das Bein heben würden, wenn sie urinierten. Sie aßen auf unzivilisierte Weise mit Fingern statt wie die Japaner mit Stäbchen, sie zeigten ihre Gefühle ohne Selbstbeherrschung, sie konnten die Schriftzeichen nicht lesen. Die danach auftretenden Niederländer wurden die „Rothaarigen“ genannt und machten einen diabolischen Eindruck. In Japan galten die Europäer nicht als die unangreifbaren Herren, die über mächtige Schiffe und Waffen verfügten. In der Beurteilung der Europäer schnitt Japan hingegen in der Mitte des 17. Jahrhunderts sehr gut ab.[12]

Die Europäer, die nach Japan kamen, kamen aus unterschiedlichen Zeiten und Kulturen: es kamen - wie bereits erwähnt - die katholisch-klerikal geprägten Portugiesen des 16. und 17. Jahrhunderts, die ihre Religion und Herrschaftsform verbreiten wollten, wenn es sein musste mit Gewalt. Das verband sie mit den Kaufleuten, die an Profitmaximierung interessiert waren. Die Portugiesen trafen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Japan auf ein instabiles, von Bürgerkriegen zerrissenes und verwüstetes Land ohne starke zentrale Führung. Das begünstigte zunächst das Eindringen des katholischen Glaubens in die japanische Kultur. Mit dem erneuten Erstarken einer zentralen Macht begannen folgerichtig die Schwierigkeiten für die fremden Eindringlinge und ihre Lehre. Außerdem kamen die Europäer aus den protestantischen Ländern, denen kein Druck durch die Mission entstand, denn die Niederländer und Engländer waren in religiösen Dingen zurückhaltend. Sie kamen zu Beginn des 17. Jahrhunderts in ein anderes, stärkeres Japan als die Portugiesen 60 Jahre zuvor. Der Profit des Handels war ihnen wichtiger als kulturell Einfluss zu nehmen. Die restriktive Handelspolitik, die zwischen dem zerstrittenen China und Japan herrschte, führte zum Aufblühen des portugiesischen Handels, der eigentlich ein indirekter China-Japanhandel war.[13]

Man bemühte sich, die transpazifische Route zu verbessern und zu diesem Zwecke Kalifornien zu kontrollieren, denn es war immer schwierig, die fernen Inseln Japans zu erreichen, was die Anzahl der Besucher begrenzte. Der Jesuitenmissionar Eusebius Kino legte Karten von der Region an, denn die Jesuiten wollten Japan zum Christentum bekehren. Es wurden viele Stützpunkte von den Portugiesen, Spaniern und Holländern gegründet, aber mit dem Hauptinteresse am Handelsmarkt China und nicht an Japan. Perú und México versorgten China mit Silber. Im 17. Jahrhundert lag 84% der globalen Silberproduktion in Lateinamerika. Außerdem wurden mexikanischer Kakao, Koschenille und spanisches Öl nach Asien transportiert. Aus Asien kamen Seide, Zimt, Baumwolle, Porzellan und Pfeffer nach Lateinamerika. Die Chinesen erzeugten sogar extra Porzellan für die Jesuiten und ihre religiösen Zwecke. Bilder des Bodhisattwas der Gnade Guanyin wurden mit der Mutter Gottes, Maria, verwechselt und dadurch ebenfalls sehr populär. Bei der Überquerung des Himalayas bekam diese Gottheit ein neues Geschlecht, bei der Überquerung des Pazifiks eine neue Religion. Auch als die spanische Krone aufgrund der Verluste der Seidenindustrie in Lateinamerika und Spanien und dem Verlust von Silber an China Handelsverbote verhängte, blühte der illegale Handel unter den Jesuiten weiter, denen es weiterhin erlaubt war, Seide zu transportieren. Von der offiziellen Kirche wurde der Profit durch den Handel jedoch verurteilt.[14] Es gab intensiven Kontakt zu China, und die Missionare kamen über Mexiko nach Asien, auch das bakufu [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] die Shōgunatsregierung, handelte zunächst mit den Europäern und der Handel blühte, aber die Jesuiten-Mission war in Japan nicht so erfolgreich: es kam zuerst zu Ausweisungen und Enteignungen, dann zu Verfolgungen.[15]

Die christlichen Missionare hielt man zunächst für Mitglieder einer neuen buddhistischen Sekte, die toleriert werden konnten. Als sich herausstellte, dass die Fremden eine unendlich weite Seereise hinter sich gebracht hatten, nur um die Japaner von ihrem Glauben an eine unsterbliche Seele und an einen Erlöser zu überzeugen, beeindruckte das durchaus. Der Einfluss der Missionare war aber meist auf Kyūshū begrenzt und verschwand nach 90 Jahren so schnell, wie er gekommen war. Aber es bedurfte harter Maßnahmen und großer Opfer an Menschenleben, um das Christentum in Japan so gründlich zu vernichten, dass es praktisch keine Spuren hinterließ.[16] Sein Niedergang begann mit der zunehmenden Macht des Shōguns. Japanische Historiker schätzen, dass in den Jahren 1614-1635 mehr als 280 000 Christen, die an ihrem Glauben festhielten, infolge der Antichristengesetze ihr Leben verloren.[17]

Fabian Fucan, ein japanischer Jesuit, der zum Buddhismus zurückkehrte, meinte über die Padres in Japan 1620:

„Der Teufel selbst reichte nicht an ihre Arroganz heran.“[18]

Als 1610 João Rodrigues, der portugiesische Dolmetscher und Berater des Shōguns Ieyasu, das Land verlassen musste, wurde er durch William Adams, den Engländer in niederländischen Diensten ersetzt. Das Misstrauen den Christen gegenüber wuchs. Alles, was die Stabilität und Autorität der Regierungsmacht in Frage stellen konnte, wurde dem Einfluss der Christen zugeschrieben. Es kam schließlich zu grausamen Christenverfolgungen und Christenfeindlichkeit. Die Missionare wurden vertrieben und die Kirchen zerstört. Wer sich trotz Folterung weigerte, den christlichen Glauben abzulegen, wurde bei lebendigem Leibe verbrannt. Die Toten wurden zu Märtyrern. Zur Verblüffung der Buddhisten schnitten die Christen, Portugiesen und japanische Christen, in der Nacht Teile aus den verbrannten Leichen und hoben sie als Reliquien auf. Es gab auch Provinzen, in denen man sich zwar öffentlich vom christlichen Glauben lossagte, aber innerlich dabei blieb. In anderen Gebieten mussten die Dorfvorsteher einmal im Jahr vor dem Daimyō erscheinen und versichern, dass es in ihrem Dorf keine Christen gibt. Jeder Bürger Japans musste nun zum Sprengel eines buddhistischen Tempels gehören. Dort wurde über alle Mitglieder genau Buch geführt. Wer nicht auf diesen Listen stand, kam schnell in den Verdacht Katholik zu sein. Das erhöhte den Einfluss des Buddhismus in Japan. Wenn die Christen ihren Glauben nicht aufgeben wollten, wurden sie zunächst enteignet. Manche Jesuiten gingen in den Untergrund, andere schifften sich aus und kehrten später wieder zurück. Nach dem Gesetz der goningumi [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] “Fünfergruppe“, das zur Überwachung der Bevölkerung zusammen mit dem Bildertreten eingeführt wurde, wurden alle Personen eines Haushalts, die einen Christen versteckten, zum Tode verurteilt, auch wenn sie selbst keine Christen waren.[19] 1614 war es mit der Toleranz Ieyasus gegenüber den Christen, der von den Niederländern immer wieder vor den gefährlichen Portugiesen gewarnt worden war, endgültig vorbei. Die Mission wurde als Vorbereitung eines Aufstandes oder einer militärischen Invasion dargestellt. Die Verbreitung des Christentums wurde streng untersagt. Portugiesische Seeleute und Händler, die Missionare nach Japan einschmuggelten, wurden nach japanischem Recht auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Ieyasus Konkurrent um die absolute Macht war Toyotomi Hideyori, der in der Festung von Ōsaka lebte, wo auch Jesuiten, Franziskaner und Augustinermönche ein und aus gingen. Ein solches Machtzentrum musste beseitigt werden. Daher mussten zuerst die Christen in Kyūshū dezimiert werden, die sich nicht erheben sollten, bevor Hideyoshi mit seiner Streitmacht gegen Ōsaka vorrücken ließ.[20] Die in Japan verbliebenen Missionare versuchten sich zu verbergen. Sie saßen in Hütten Lepröser und zwischen doppelten Wänden oder im Bretterverschlag hinter der Latrine. Die Grausamkeiten gegenüber Christen nahmen zu. Ziel der Quälereien war aber eigentlich nicht der Tod, sondern der Abfall von der Religion. Schließlich wurden im Aufstand von Shimabara die bisher noch davongekommenen Christen Kyūshūs an einem einzigen Ort vernichtet. Bei vielen japanischen Christen lag die Todesbereitschaft auch eher an der Pflichterfüllung als an der genauen Kenntnis der Religion. Treue und Beständigkeit stehen in japanischer Ethik über dem eigenen Wohlergehen. Es wurden zwar trotz der Verfolgungen immer wieder Christen entdeckt. Doch aus Mangel an kundigen Priestern verwandelte sich der christliche Glaube in eine Volksreligion mit magischen Elementen, pseudolateinischen oder pseudoportugiesischen Formeln, mit der Verehrung abgebildeter Kreuze und anderer Symbole. Die katholische Mission in Japan war endgültig gescheitert.[21]

Die europäischen Ärzte, die nach Japan kamen, waren wegen ihrer chirurgischen Kenntnisse sehr geschätzt und hatten ihre große Zeit, als die wenigen Niederländer in Nagasaki auf ihrer künstlichen Insel Deshima bzw. Dejima die einzigen Europäer waren, die im Lande geduldet wurden. Denn in der sino-japanischen Medizin waren chirurgische Kenntnisse rar. Einer der berühmtesten war Engelbert Kämpfer (1651-1716), der neben seinem Beruf als Arzt notierte, skizzierte und das Leben Japans beobachtete und damit ein Werk schuf, das das prosperierende Japan der Genroku-Periode (1688-1704) zeigte.[22]

Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts mit dem Beginn des Zeitalters der Aufklärung, als Europa glaubte, den Höhepunkt der Schöpfung erreicht zu haben, hielt nichts im Vergleich damit stand. Man sagte Japan ein despotisches Regierungssystem und unmenschliche Grausamkeit nach. Es entstand das Bild vom nachahmenden Japaner, das sich noch bis ins 20. Jahrhundert hielt. Denn einzelne weitsichtige Japaner, und dann auch der Shōgun, begannen sich für die Ergebnisse der westlichen Wissenschaften zu interessieren. Überhaupt entstand durch den beschränkten Zugang der Ausländer zu Japan ein oberflächliches, idealisiertes Bild dieser Insel in Reiseberichten, das später dann von den Europäern benutzt wurde, um Missstände in der Heimat zu kritisieren.[23] Die Macht der Niederlande ließ aufgrund von Aufständen und Fremdherrschaft nach, man versuchte aber vor den Japanern die schwindende Bedeutung zu verbergen. Um 1800 begannen die Russen in die Fußstapfen der Niederländer in Bezug auf Japan zu treten und wollten am Handel partizipieren. In den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts gab es einen letzten Höhepunkt in der Begegnung von Europa und dem alten Japan. Das war der Aufenthalt des deutschen Arztes Philipp Franz von Siebold in Nagasaki (1823-1829), der unerlaubter Weise eine unvergleichliche Sammlung von Naturalien, Gegenständen des japanischen Alltags und der Kunst anlegte.[24]

Die Welt außerhalb Japans änderte sich im 19. Jahrhundert erheblich und es wurde für das Inselreich immer schwieriger die Isolationspolitik der Edo-Zeit (1600-1848) aufrecht zu erhalten, die sich seit mehr als zwei Jahrhunderten als relative Friedenszeit bewehrt hatte. Das Interesse der seefahrenden Mächte am nördlichen Pazifik wuchs. Die Wale in der Japanischen See lockten die amerikanischen Walfänger an. Die industrielle Revolution brachte das Dampfschiff hervor und die Waffentechnik machte Fortschritte. Japan war nicht mehr das abgelegene, schwer erreichbare Land. 1853-1854 erzwang der amerikanische Kommandant Matthew C. Perry mit seinen Dampfschiffen, Waffen und Geschenken die Öffnung des Landes. Die japanische Regierung dieser Zeit war schwach und es entstanden die berühmten ungleichen Verträge mit Holland, Russland, England und Frankreich: Japan konnte nicht selbst den Zoll bestimmen und Ausländer, die Straftaten begingen, konnten nicht belangt werden.[25]

2.2 Rangaku - das Wissen des Westens

Das erste westliche Buch, das nach Japan kam, war der Catechismus Christianae Fídei, der in Lissabon gedruckt worden war. Ab 1591 wurden Bücher auf Lateinisch, Portugiesisch und Japanisch in Japan in westlicher Drucktechnik gedruckt. Die meisten von ihnen waren religiöse Bücher. Darunter war auch Contemptus Mundi von Thomas à Kempis. Aesops Fabeln wurden 1593 in Amakusa als Esopo no Fabulas gedruckt (später wurden sie von Yukata Watanabe 1873 unter dem Titel Isoppu Monogatari übersetzt). Es wurden auch Auszüge von Homer, Aristoteles, Plato, Caesar, Seneca, Cicero und anderen griechischen und lateinischen Autoren übersetzt. Außerdem entstanden das erste japanische Wörterbuch Vocabulario da Lingoa de Iapam und die erste japanische Grammatik Arte da Lingoa de Iapam, die 1604 veröffentlicht wurden von einem Portugiesen, der nach Japan kam, als er 17 Jahre alt war: João Rodrigues. Ein anderer Priester, Luis Frois, schrieb die erste Geschichte Japans aus der Sicht eines Ausländers. Nach der Abschließung des Landes setzte Japan seinen Kontakt mit dem Westen dennoch durch die Holländer auf Deshima bzw. Dejima 出島 fort, einer künstliche Insel, die im Hafen vor Nagasaki 1635 errichtet wurde. Die Holländer hatten ab 1641 dort eine Faktorei und zusammen mit den Chinesen das Monopol beim Handel mit Japan. Der Import von westlichen Büchern, auch von deren chinesischen Übersetzungen, war strengstens verboten bis 1720.[26]

Wie China galt auch Japan als Zentrum der wirklich zivilisierten Welt. Die Länder und Reiche im Westen und Süden - auch Europa - gehören aus japanischer Sicht nicht dazu. Die wirklich für sie wertvollen Dinge kamen seit jeher aus China. Daher kam es unter anderem auch zur Abschließung Japans vor dem Einfluss des Fremden. Nur China und Korea bildeten eine Ausnahme. Die Fremden mit ihren Importen waren nur dazu gut, den Bedarf der herrschenden Klasse nach Luxus und Kuriositäten zu befriedigen. Unter dem Shōgun Tokugawa Yoshimune (1716-1744) begann man die Fertigkeiten und Kenntnisse der Europäer höher einzuschätzen. Er war ein Reformer mit besonderem Interesse an Landwirtschaft, Medizin und vor allem an der Astronomie. Seine Maßnahmen zielten auf eine Verbesserung der Verwaltung und des Erziehungssystems. 1720 lockerte er das Verbot der Einfuhr wissenschaftlicher Bücher aus dem Ausland und erlaubte aus China die Einfuhr von Werken über Astronomie, die dort von den fachkundigen Jesuiten in der Landessprache verfasst worden waren. Es wurde jedoch nicht daran gedacht, die Japaner aus reiner Freundlichkeit nun mit den Ergebnissen der westlichen Naturwissenschaften bekannt zu machen. Schließlich bestand die Vereinigte Ostindische Kompanie (VOC) aus Kaufleuten, die das Schicksal der Portugiesen in Japan noch nicht vergessen hatten. So vermittelten sie das Wissen des westlichen Kulturkreises eigennützig und häppchenweise. In den 40er Jahren des 18. Jahrhunderts nahm das Interesse einiger Mitglieder der japanischen Elite an den westlichen Wissenschaften weiter zu. Die jährliche Anwesenheit der Niederländer in Edo wurde wichtiger: sie lieferten schusssichere Rüstungen, Uhren und Landkarten. Sie brachten unbekannte Tiere und Pflanzen nach Japan, die Erstaunen auslösten. Es gab zunächst jedoch keinen Japaner, der die niederländischen Bücher lesen konnte, denn das war den Dolmetschern verboten gewesen, vor allem weil es darin so viele Passagen gab, die sich auf den christlichen Glauben bezogen. So hatten alle Dolmetscher Niederländisch zuerst nur durch Hinhören gelernt ohne schriftliche Notizen. Yoshimune hob dieses Verbot auf und die Dolmetscher durften wieder aktiv Niederländisch in Schrift und Laut lernen. Es hatte in Japan lange gedauert, bis die Scheu vor dem Fremden überwunden war. Rangaku [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten], das Studium des Wissens der Europäer, eigentlich „Hollandstudien“, hatte endlich einen offiziellen Charakter erhalten. Der Verkauf wissenschaftlicher Literatur an die Japaner war damals ein Nebenerwerb der Niederländer auf der künstlichen Insel Deshima bzw. Dejima.[27]

Der japanische Arzt Sugita Genpaku [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] war der Sohn eines auf holländische Weise arbeitenden Chirurgen und erwarb das Buch Tabulae Anatomicae von Johann Adam Kulmus, das 1731 aus dem Deutschen ins Niederländische übersetzt worden war: Basis war also Ontleedkundige Tafelen aus dem Jahr 1734. Er entdeckte, dass die Abbildungen menschlicher Eingeweide sich stark von dem unterschieden, was er gelernt hatte, denn die Notwendigkeiten, eine Leiche zu öffnen, um mehr über die Krankheiten zu erfahren, war nach konfuzianischer Ansicht nicht zwingend. Der tote Körper war heilig und man durfte ihn nicht verletzen. Also beauftragten die japanischen Ärzte einen Eta, einen Unberührbaren, einen toten Körper für sie zu öffnen, damit sie den Inhalt des Buches überprüfen konnten. So wurden sie sich ihres eigenen Unwissens bewusst und beschlossen das europäische Anatomiebuch ins Japanische zu übersetzen: Kaitai shinsho [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] „Das neue Buch über Anatomie“ entstand. Es war - abgesehen von einem Pferdebuch - die erste Übersetzung eines wissenschaftlichen Werkes der „Holländer“ für Japan. Danach erschienen die ersten Bücher, die das heliozentrische Weltbild des Westens vermittelten und der Name Kopernikus tauchte zum ersten Mal in einem japanischen Text auf. Doch das Wissen aus dem Westen war damals nur einem elitären Zirkel vorbehalten.[28]

Das Friedens- und Handelsabkommen, das unter Kommodore Perry 1854 zwischen den USA und Japan unterzeichnet wurde, beendete die lange Abschottungspolitik sakoku [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] zwischen Japan und dem Westen. Seit dem ersten Kontakt zum Westen hat dieser enorme technische und wissenschaftliche Fortschritte gemacht, während Japan durch seine Abschließungspolitik nach außen auf derselben Stufe stehengeblieben war wie vor drei Jahrhunderten. Trotzdem war es zur Überraschung des Westens ein zivilisiertes Land geblieben und eine im Ständesystem organisierte Gesellschaft (shi-nō-kō-shō [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]. Die Leute, die Geld hatten, die Händler und Kaufleute, hatten innerhalb der Hierarchie die niedrigste Stufe inne. Man hatte versucht, ihre Verschwendungssucht einzudämmen, was mehr schlecht als recht gelungen war. Die Samurai waren im sankinkōtai [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]- System gefangen und verarmten zusehends. Auch die Bauern hatten durch die hohe Pacht und durch hohe Steuern kein leichtes Leben und es kam immer wieder zu Aufständen. Der christliche Einfluss hatte im Untergrund weiterbestanden, und als sich die französischen Missionare 1863 in Nagasaki einrichteten, fanden sie etwa 20 000-50 000 Christen vor.[29]

Beim zweiten Kontakt mit dem Westen kurz vor dem Anbruch der Meiji-Zeit (1868-1912) standen wieder die Liebe und Neugierde zu neuen Ideen im Konflikt mit der Bindung zur Konformität und Tradition. Manche Japaner waren entsetzt über die Tatsache, dass die Christen ihren Gott über den Kaiser stellten. Sie wollten den Kaiser wieder einsetzen und die Ausländer hinauswerfen: Ihr Motto war sonnō jōi [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] „Verehrt den Kaiser und vertreibt die Barbaren!“. Vor allem die Gruppen der Bewegung aus Satsuma und Chōshū leisteten den Großmächten im Kampfe Widerstand, wurden aber besiegt. Der Kaiserhof in Kyōto gab den Befehl zur Auflösung der Shōgunatsregierung. Das bestimmende Schlagwort derer, die die moderne Gesellschaft in Japan einführen wollten, war bunmei kaika [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]„Zivilisation und Erleuchtung“: Japan wurde in der Meiji-Zeit stark von der europäischen Kultur beeinflusst: Eisenbahn, Telegraphie, Gaslaternen, westliche Kleidung, Schuhe und Ähnliches und die Anerkennung des Christentums formten eine völlig neue Alltagskultur aus. Was den Charakter der Meiji-Zeit außerdem noch maßgeblich bestimmte, war der Ruf nach einem starken Militär und einer starken Industrie, die mit dem Westen mithalten können: fukoku kyōhei 富国強兵 „Bereicherung des Landes und Stärkung des Militärs“. Die technische Überlegenheit des Westens, wie sie sich auch im Opiumkrieg ahen sensō 阿片戦争 (1840-1842) zeigte, in dem China von England besiegt worden war, die Furcht vor ihren berühmt-berüchtigten schwarzen Kriegsschiffen黒船 - Black Pearls it seems -, brachte sogar die Konservativen zu der Meinung, es sei das Beste, die westliche Wissenschaft, Medizin, Astronomie, Geographie und Waffenerzeugung anzunehmen und zu erlernen. Es wurde die allgemeine Wehrpflicht eingeführt, die alle jungen Männer ab 20 zu leisten hatten, der Kaiserhof nach Tōkyō - so hieß Edo nun - verlegt und den Bauern die Besitzrechte über ihre Länder gegeben, die nun nach der Grundsteuerreform besteuert wurden, mit welcher die Industrie gefördert wurde. Die alte Ethik, die konfuzianischen Werte, sollten aber erhalten bleiben, da sie der westlichen Moral überlegen waren. Im Gegensatz zu Europa konnten in Japan viele Menschen zu dieser Zeit lesen, vor allem in den großen Städten: ungefähr 50 % der Buben und 15 % der Mädchen gingen zur Schule, obwohl sie nicht verpflichtend war. Das Ideal vieler progressiver Intellektueller war es, die östliche Ethik mit der westlichen Wissenschaft zu verbinden. Der Westen galt als verachtenswerte Zivilisation der Maschinen, der Osten als vornehme spirituelle. Andererseits wurden der westliche Sinn für Freiheit, Liberalismus, Individualismus und Unabhängigkeit bewundert. Um den Westen besser verstehen zu können, wurden Gesandte und Austauschstudenten nach Europa und Amerika geschickt. Außerdem wurden Leute aus dem Westen, vor allem Techniker und Wissenschaftler, nach Japan eingeladen. Die japanische Gesellschaft stand dem Westen mit gemischten Gefühlen gegenüber. Die Zeichen der westlichen Zivilisation waren überall: Schirme, Armbanduhren, Pferdewagen, kurze Haarschnitte, Telegramme. Außerdem wurde der Konsum von Rindfleisch empfohlen, was zuvor nicht üblich war, um seine neue patriotische Pflicht zu erfüllen. Der Enthusiasmus für den Westen ging so weit, dass man an der Universität die Abteilungen für japanische und chinesische Literatur eliminieren wollte, und an manchen Schulen englische Literatur und Geschichte statt japanische unterrichtete. Deutsche, französische, englische, amerikanische Philosophie wurden eingeführt und übten einen großen Einfluss auf die japanischen Intellektuellen aus: Descartes, Kant und Schopenhauer lösten unter den Studenten Begeisterung aus. Die westliche Literatur strömte in das Land und es kam zu einer enormen Welle an Übersetzungen von wichtigen und unwichtigen Werken. Schriftsteller wie Mori Ōgai 森 鴎外 (1862-1922) stellten großartige Werke des Westens vor. Politische Romane und Science Fiction wie Jules Vernes waren von besonderem Interesse. Shakespeare nahm eine wichtige Stellung in der japanischen Literatur ein. Das erste westliche literarische Werk, das übersetzt wurde, war Defoes Robinson Crusoe, das in der Edo-Zeit übersetzt wurde, 1872 veröffentlicht und in der Meiji-Zeit neu übersetzt wurde. Dann wurde Swifts Gulliver´s Travels übersetzt. Es folgten weitere Werke der Weltliteratur wie unter anderen Dostojewskis Verbrechen und Strafe, Hoffmanns Fräulein von Scudéry und Ibsens Puppenheim. Viele japanische Werke basierten auf Material aus der westlichen Literatur. Binnen kürzester Zeit machte man sich mit den literarischen Strömungen im zeitgenössischen Europa vertraut, da nicht wenige Literaten die Texte auch in Originalsprache oder in der jeweiligen englischen Übersetzung lasen. Man war fasziniert von Unbekanntem und Neuem. Zu dieser Zeit fehlte es der japanischen Literatur selbst etwas an Vitalität, Originalität und Imaginationskraft. Von diesem Erschöpfungszustand wurde sie durch den Kontakt mit dem Westen gerettet.[30]

2.3 Moderne japanische Literatur unter dem Einfluss des Westens

In der Geschichte Japans wird der Beginn der Moderne (kindai [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]) mit der Landesöffnung und der Meiji-Restauration von 1868 angesetzt, der Abschaffung der Shōgunatsregierung und der Wiedereinsetzung des Kaisers mit einer Fülle von staatlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Reformen. Der Beginn der Gegenwart (gendai [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]) wird in den meisten Literaturgeschichten mit dem Ende des zweiten Weltkriegs angesetzt.[31]

Alle Werke aus der Meiji-Zeit (1868-1912) reflektieren einen starken westlichen Einfluss auf die japanische Literatur, die mehr als zwei Jahrhunderte isoliert war fast ohne fruchtbare Anregungen von außen. Natürlich gab es schon zuvor westliche Beeinflussung, vor allem im Bereich der Dichtung, aber nicht in einem so großen Ausmaß. Eine ganze Welt von neuen Ideen und neuen Formen stand plötzlich offen. Die japanische Literatur strebte mehr denn je danach, sich in den Kanon der Weltliteratur einzuordnen. In Tōkyō, dem Zentrum von Politik und Verwaltung, Publizistik und Verlagswesen, Kunst und Kultur, Auslandskontakten und Wirtschaftsverbindungen, leben bis heute die meisten japanischen Autoren. In den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts bildeten zahlreiche neugegründete Zeitschriften und Zeitungen ein wichtiges Forum für die Literatur. Die Tageszeitungen veröffentlichten zwischen 1908 und 1915 in Fortsetzungsromanen repräsentative Werke der Naturalisten und sie versorgten die Leser mit Hintergrundinformation über das Leben der Autoren.[32]

Auch die Autoren der Meiji-Zeit standen unter dem Einfluss der Politik, wollten das Beste aus dem Westen und Osten kombinieren und gleichzeitig im Kern japanisch bleiben: eine kombinierte Gesinnung von nationaler Mission, sozialer Verantwortung und kultureller Identität, wie die beiden großen Schriftsteller der Zeit Natsume Sōseki [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] (1867-1916) und Mori Ōgai [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] (1862-1922) zeigen. Literatur wurde wie die Wissenschaft behandelt. Mori Ōgai studierte Holländisch und Deutsch und fertige Übersetzungen an, auch aus dem Englischen. Er verbrachte vier Jahre in Deutschland und arbeitete als Militärarzt in Japan. Als Kind aus einer Samurai-Familie wurde er zu traditionellen Werten des Konfuzius erzogen und studierte auch die chinesischen Klassiker. Er kombinierte alte traditionelle Werte mit den neuen Ideen aus dem Westen, schrieb Dichtung, Prosa, Dramen und Kritiken. Mori Ōgais Kritik und literarische Schriften förderten die Intellektualisierung der Meiji-Literatur. Er zeigte Interesse an philosophischen Aspekten von Literatur und führte einen idealistischen und wissenschaftlichen Geist in die Literatur ein. Natsume Sōseki, der englische Literatur studiert hatte und mit dem Roman „ I am a cat“ Wagahai wa neko dearu [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] berühmt wurde, Dozent englischer Literatur und Journalist der Asahi Shinbun, war zerrissen zwischen der Anziehung, die die westliche Literatur auf ihn ausübte, und dem alten östlichen Kanon. Er konnte die beiden seiner Meinung nach nicht so gut kombinieren, war aber mehr fasziniert von den Gedanken, die aus Übersee kamen, als von den Traditionen seiner eigenen Ahnen. Er kombinierte Romantizismus mit einer realistischen Technik. Dennoch war die Quelle seiner Inspiration japanisch. Er machte sich auch über japanische Eigenheiten und Rituale lustig und hatte Spaß an der neuen kreativen Gestaltungsfreiheit. Zentrale Themen in seiner Literatur sind die Vereinsamung eines sich selbst entfremdenden Individuums zwischen höheren Moralvorstellungen und korrupten Verhaltens in der Gesellschaft seiner Zeit. Außerdem kritisierte er den in Egoismus mündenden westlichen Individualismus, der Fuß fasste. Die beiden Autoren waren die wichtigsten ihrer Zeit und auch später in der Taishō-Ära (1912-1926) zusammen mit Akutagawa Ryūnosuke, der mit 35 Jahren Selbstmord beging.[33]

Akutagawa Ryūnosuke [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] (1892-1927) lebte nur für sein Schreiben und war eine Art literarischer Asket, Intellektueller mit enzyklopädischem Wissen. Er schrieb 140 Werke, fast nur Kurzgeschichten. Er kombinierte seinen Hintergrund von englischer Literatur mit den alten Legenden und Geschichten aus Japan wie in seiner berühmten Kurzgeschichte Kappa, hatte eine Vorliebe für die Vergangenheit, das Merkwürdige und Bizarre. Sein künstlerisches Ideal war L´art pour l´art: er versuchte sich in Realismus, Symbolismus und Surrealismus. Er wird von intensiven Themen und dunklen Szenen des Horrors angesprochen wie auch seine Novelle Rashōmon zeigt. Akutagawa ist das Produkt einer verwirrten Gesellschaft, die vor eine neue Zivilisation gestellt wird, zu der sie sich sowohl hingezogen als auch von ihr abgestoßen fühlt: seine Sehnsucht nach eleganter Einfachheit und Ruhe kollidierte mit der westlichen Kultur.[34]

Doch es wurden auch Zweifel und Kritik an westlichen Konzepten, die übermittelt wurden, angebracht, da viele Ideen einander zu widersprechen schienen, wie der Darwinismus, der den christlichen Lehren entgegenstand, aber auch weil man die eigene kulturelle Identität heftig verleugnet hatte, sodass es zu einer Gegenbewegung kommen musste. Daher kann man im geistigen Leben Japans eine Reihe von Wellenbewegungen feststellen: auf eine Phase der Europasehnsucht folgt stets eine Phase der Rückbesinnung auf die eigene Tradition, aber der westliche Einfluss ist immer gegenwärtig. Große japanische Autoren der Gegenwart sind den großen westlichen Autoren näher als ihren eigenen Klassikern: es gibt technische Verbesserungen in der Dichtung und im Roman und neue Richtungen von Gedankengängen.[35]

Marxismus und Christentum waren die Haupteinflüsse aus dem Westen nach dem Krieg. Dennoch bleibt das Christentum eher ein Fremdkörper, christliche Kontroversen bleiben den japanischen Autoren in ihrem Verständnis und in ihrer Logik ein Rätsel. Warum, beispielsweise, ist körperliche Liebe schlecht im Gegensatz zur geistigen Liebe, wo doch beide meist ein und dasselbe zu sein scheinen? Bei vielen Autoren findet sich eine neue Freiheit von Subjekt und Ausdrucksform vor.[36]

Bei dem berühmten Tanizaki Junichirō [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] (1886-1965) beispielsweise wird die westliche Technik der Exposition mit der Verdichtung klug kombiniert mit der japanischen Fähigkeit, die dunkle Welt der Instinkte und die teuflischen Kräfte im Menschen zu erforschen. Er nahm seine Inspiration aus japanischem Boden und aus dem Westen die literarische Technik. Seine erotische Literatur wurde als dekadent und fast pornographisch bezeichnet. In seinen späten Romanen kombiniert er die japanische Tradition der Erotik mit dem westlichen Trend psychoanalytischer Fiktion.[37]

Auffallend an der modernen japanischen Literatur ist die weiterhin bestehende Tradition und Vorliebe für Kurzformen, die auch im 20. Jahrhundert einen hohen Anteil ausmacht. Das rührt daher, dass fast 90 Prozent der literarischen Prosa vor ihrem Erscheinen in Buchform in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht worden ist. Außerdem ist auch eine Vorliebe für eine assoziative Verknüpfung lyrischer Prosaskizzen, Anekdoten, Legenden oder Einzelepisoden im Rahmen größerer Erzählwerke auch schon für die gesamte vormoderne Tradition charakteristisch. Mit der Aufwertung der Erzählprosa kam es zur Aufspaltung in gehobene Literatur (junbungaku 純文学) und die populäre Massenliteratur (taishū bungaku [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]), wobei der Nicht-Fiktionalität der Vorzug gegeben wurde, während Phantastisches und Fiktives mit dem Odium des Trivialen behaftet war. Mitte der zwanziger Jahre gab es den sogenannten enbon -Boom: enbon 円本waren preiswerte Buchausgaben (ein Yen pro Band), die als große Serien mit mehr als hunderttausend Exemplaren auf den Markt kamen. 1927 gründete der Verlag Iwanami nach dem Vorbild von Reclams-Universalbibliothek die Iawanami-Bibliothek. Die Taishō-Zeit (1912-1926) gilt als Epoche relativer Liberalität und Weltoffenheit im geistigen und politischen Leben: Der Marxismus galt als Stimulans. Es kam zur ersten proletarischen Literatur durch die neuen Lebensbedingungen in der industriellen Arbeitswelt. Auch die ersten Zeitschriften der Frauenbewegungen wie die berühmte Seitō 青鞜 „Blaustrumpf“ kamen heraus. Unter dem Eindruck westlicher Stilrichtungen wie Futurismus, Kubismus, Surrealismus und Expressionismus experimentierten die Autoren und suchten nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Doch bei vielen Autoren lässt sich nach einer Phase intensiver Rezeption abendländischer Kunst wieder eine bewusste Hinwendung zur einheimischen Tradition ausmachen, wie bei Tanizaki, der das Epos Genji-Monogatari [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] der Hofdame Murasaki Shikibu [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] ins moderne Japanisch übersetzt. Ab 1942 wurde die japanische Zensur von der Edo-Zeit ins neue System übernommen und das intellektuelle Leben zunehmend geknebelt.[38]

Nach dem zweiten Weltkrieg erholte sich die publizistische Welt rasch. Bereits im November 1945 wurde die erste Literaturzeitschrift neu gegründet mit dem Namen Shinsei[Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] „Vita Nova“. Bis 1949 etablierten sich mehr als 110 Zeitschriften, die regelmäßig Werke der höheren Literatur veröffentlichten. 1947 wurde eine demokratische Verfassung ausgerufen, die den Frauen das Wahlrecht gab. Auch das Bildungswesen wurde erneut reformiert. 1951 wurde der Friedensvertrag unterzeichnet und die Besatzungszeit endete. Ein wirklicher Neubeginn kann aber in der Literatur nur für Schriftsteller festgestellt werden, die erst jetzt begannen zu publizieren. Die Literatur der Nachkriegsjahre handelt von der trostlosen Realität in den zerstörten Städten. Mangel, Hoffnungslosigkeit und moralische Desorientierung prägen die Erzählwerke der sich u.a. auf den Existenzialismus von Sartre und Camus berufenden sogenannten Libertins. Es kam zum komplexen Intellektualismus mit experimentell-abstrakten Texten, die der Avantgarde zugeteilt werden. Der Wiederaufbau war Mitte der fünfziger Jahre erreicht, für viele Historiker aber erst mit dem Ende der Shōwa-Zeit 1989. Auf die Nachkriegsgruppe folgte die dritte Newcomer Generation (daisan no shinjin [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]). Sie schreiben weniger spektakuläre und weniger an gesellschaftlichen und Zeitproblemen als am Privaten sich orientierende Prosa. Sie setzen auch auf die in Japan nach wie vor große Beliebtheit des autobiographischen Schreibens.[39]

Endō Shūsakus zentrales Thema bis in die neunziger Jahre ist das Christentum in Japan und der sich daraus ergebende Kulturkonflikt. Kojima Nobuo und Shōno Junzō behandeln die Auflösung der japanischen Familie. Tanizaki und Kawabata erkunden in ihren Erzählwerken der fünfziger und sechziger Jahre die Sexualität als fundamentale Triebkraft menschlichen Handelns und Strebens nach Erfüllung. Mishima Yukio hatte die Aneignung europäischer Stile und Formen vom fin de siècle bis zu Thomas Mann, vom französischen Klassizismus bis zu Radiguet und Mauriac zum Programm erhoben und arbeitete seit den fünfziger Jahren an einer Synthese abendländischer und einheimischer Erzähl- und Theatertradition. Die Schriftstellerin Enchi Fumiko (1905-1986) schildert vom patriarchalischen System unterdrückte Frauengestalten, die dennoch durch ihre Kunst oder eine geheime schamaninnenhafte Macht die Ereignisse nach ihrem Willen lenken. Sie hatte 1973 auch das Genji-Monogatari ins moderne Japanisch übertragen. Besonders populär waren Autoren, die die Grenzen zwischen gehobener Literatur und Unterhaltungsliteratur verwischten und sich schon bald als gehobene Unterhaltungsliteratur (chūkan shōsetsu) etablierten. Überhaupt waren die Grenzen fließend, da anerkannte Autoren der sogenannten „reinen“, das heißt hohen Literatur, sich gleichzeitig in den Regionen der Trivialproduktion bewegten.[40]

Immer mehr Autoren machen seit den sechziger Jahren von den Möglichkeiten, ins Ausland zu reisen Gebrauch, was ihnen auch die Chance bot, die stofflichen Horizonte der Literatur zu erweitern und neue Erlebnisräume und Erfahrungsweisen zu erschließen. Besonders berühmt ist der poeta doctus Ōe Kenzaburō, der 1994 den Nobelpreis erhielt und dessen erzählerisches Interesse Randfiguren und Ausgestoßenen der Gesellschaft gilt und der Brutalität und Absurdität des Lebens. Er konstruiert existentialistische Antihelden, die ihre unerfüllten Träume nur in aggressiver Sexualität ausleben. Es entstand auch, als die Zensur nach Kriegsende aufgehoben wurde, die sogenannte „Atombombenliteratur“ (genbaku bungaku v, denn in den sechziger Jahren wurden Hiroshima und Nagasaki erneut zum Thema: 1965 erschienen Kuroi ame [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] „Schwarzer Regen“ und Ōes Reportage über Hiroshima. Berühmt ist auch Oda Makotos Roman Hiroshima aus dem Jahr 1981. Die Literatur der Frauen griff Probleme in der Gesellschaft auf wie die Leiden im quecksilberverseuchten Minamata oder die Versorgung alter Menschen. Die Schriftstellerinnen haben seit den sechziger Jahren eine zunehmend wichtige Position innerhalb der Gegenwartsliteratur erobert. „Frauenliteratur“ verweist im japanischen Kontext auf die stilbildenden und für die literarische Tradition so bedeutenden Werke der klassischen Hofdamenliteratur zurück, weshalb Literatur von japanischen Kritikern auch heute bisweilen zum genuin weiblichen Metier erklärt wird. In der Literatur der siebziger Jahre ist ein Rückzug einiger Autoren auf die Innerlichkeit und erneute Hinwendung zum Privaten charakteristisch. Sie konzentrieren sich auf die Beschreibung ihres von Einsamkeit geprägten Seelenzustands.[41]

Bei den nach 1950 geborenen und in der Wohlstandsgesellschaft aufgewachsenen Autoren wird ein neues hedonistisches konsumorientiertes Lebensgefühl artikuliert. Man nennt sie die Generation der Leere (kūkyo no sedai [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]. Die Kommerzialisierung nimmt zu, auch ist die Literatur noch intensiver mit dem Medium Film verbunden: Viele Autoren produzieren Fernsehromane (terebi shōsetsu [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] und Drehbücher für Serien. Einer der berühmtesten japanischen Autoren auch in Europa ist wohl Murakami Haruki [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten], dessen erfolgreichstes Werk Noruwei no mori [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] (Norwegian wood) ist. Er übersetzt auch fleißig amerikanische Gegenwartsliteratur. Yoshimoto Bananas romantische Erzählungen sind stets um eine junge Frau Anfang zwanzig zentriert, in der sich die begeisterte Leserschaft wiederfindet. Sie ist ebenfalls in Europa sehr bekannt. Diese Autoren gehören also der Generation der shinjinrui [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten], der „neuen Menschheit“, an, denn sie führen mit Ausnahme von Murakami Haruki ein medienpräsentes Leben als sogenannte tarento „Talente“ und sie werden kritisiert, sich angeblich hauptsächlich für Absatzzahlen zu interessieren. Die Medienkonzerne machen erhebliche Gewinne mit Klatsch- und Sensationsblättern und der stetig zunehmenden Produktion von Comics für Erwachsene und Kinder. Nach den siebziger Jahren entsteht ein neues Interesse an der eigenen Identität und die Frage nach der Definition der japanischen Literatur, die bisher nur als eine von japanisch-sprachigen Japanern in Japan sozialisierte angenommen wurde. Außerdem zeigt sich die Lyrik mit ihren haiku, senryū und tanka ungebrochen in ihrer Tradition. Nach einer Statistik des haiku -Literaturmuseums verfasst eine Million Japaner regelmäßig haiku. Das haiku lässt kaum Spielraum für Innovationen, denn es fordert bei nur geringem Umfang die genaue Befolgung von Grundregeln wie Jahreszeitenbezug und Unterteilung in 5-7-5 Moren und Zweipoligkeit der Aussage durch eine Zäsur. Es gibt auch eine aus dem Kulturkontakt mit dem Westen entstandene Lyrik, die shi genannt wird. Typisch für die vormoderne und moderne japanische Literatur ist hier wieder das Ineinander-Gleiten von verschiedenen Genres, so auch von Prosatexten und Gedichten, Essayistik und Erzählliteratur, Fiktion und Autobiographie.[42]

In den neunziger Jahren, geprägt durch Platzen der Bubble-Economy, den Anschlägen von Randgruppen wie der Aum-Sekte und dem Erdbeben von Kōbe 1995, lassen sich japanische Autoren von Sensationsnachrichten inspirieren und beschreiben Durchschnittsmenschen, die durch einen plötzlichen Ausbruch von Gewalt ihrem Leben eine neue Wendung geben. Beliebt werden auch Horror- und Mystery-Romane, die mit Science Fiction-Elementen oder auch historischen Stoffen kombiniert sind. Immer mehr Autoren siedeln ihre Erzählwerke in fremden Weltregionen und Zeiten an: Mishima Yukio schreibt über die Hexenjagd im europäischen Mittelalter in der Region von Lyon, erlebt aus der Perspektive von Dominikanermönchen. Auch die Werktitel sind teilweise in englischer Sprache, teils in lateinischen Buchstaben, teils als Lehnwörter in Katakana-Silbenschrift, was einen hybriden Eindruck schafft.[43]

Die jüngeren japanischen Autoren der Moderne, die zur Kriegszeit in ihren Zwanzigern waren, und der Postmoderne unterscheiden sich also bereits nicht mehr sehr von ihren westlichen Kollegen, denn sie leben in einer Gesellschaft, die der westlichen bereits sehr ähnlich ist. Die jüngere Moderne ist gekennzeichnet durch die schrittweise Auflösung der konfuzianischen Moral und der Übernahme der neuen westlichen Freiheiten für Frauen und dem westlichen Konzept von Familie. Man findet in den neuen Autoren eine Atmosphäre der moralischen Verwirrung, grausamen Kompensation und des Nihilismus gepaart mit einer Lust nach Leben. So wie Japan alte japanische Räume mit modernen Fernsehgeräten verbindet, die modernste Elektronik erzeugt und gleichzeitig durch alte japanische Gärten spaziert, so schauen auch die Schriftsteller gleichzeitig in die Zukunft und in die Vergangenheit.[44]

2.4 Der Einfluss Ovids auf die japanische Literatur

Die starke Wirkung des Publius Ovidius Naso (43v.Chr.-17n.Chr.) zeigt sich noch zu Lebzeiten des Dichters, als Elegien unter seinem Namen veröffentlicht wurden. Außerdem wird seine Popularität deutlich durch die zahlreichen Verse, die als Graffiti auf die Wände der Häuser von Pompeji gekritzelt wurden. Die christlichen Schriftsteller der Spätantike bezogen sich auf Ovid und verwendeten die Metamorphosen als mythologisches Handbuch. Hieronymus warf den Menschen vor, an Ovid zu glauben und nicht an die Bibel. Im Mittelalter wurde Ovid in karolingischer Zeit (9. Jhdt.) wieder gelesen, Ovid war in dieser Zeit Schulautor. Es entstanden zahlreiche freie Nachdichtungen unter seinem Namen.[45] Ovid beeinflusst die europäische Literatur am stärksten spätestens seit dem 12.-13. Jahrhundert, der aetas ovidiana, bis ins Zeitalter des Barock und darüber hinaus. Jahrhundertelang schöpften Literaten bildende Künstler und Musiker den Stoff für ihre Werke aus Ovids Repertoire. Die Metamorphosen im Speziellen galten als Vorbild in Fragen der Erzählkunst und des Stils, als Lehrbuch der Moral und als Enzyklopädie gelehrten Wissens. All diese Aspekte schlugen sich in einer Fülle von Paraphrasen, Allegorien, Kommentaren, Bearbeitungen und volkssprachlichen Übertragungen nieder, deren ununterbrochene Reihe vom Mittelalter bis in die Neuzeit führt. Sein Werk wurde je nach Geist der rezipierenden Epoche verändert. Vor allem die volkssprachlichen Wiedergaben spielten eine große Rolle und dienten bildenden Künstlern als Inspirationsquelle für mythologische Darstellungen. Bereits im ersten Jahrhundert des Buchdrucks begannen diese beliebten Texte den Markt zu erobern. Oft waren die Editionen mit Illustrationen geschmückt, zunächst mit Holzschnitten, später mit Kupferstichen und Radierungen.[46] In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstand in Frankreich das Epos De vetula. Darin wird Ovids Lebensweg vom jungen Liebhaber bis zur angeblichen Bekehrung zum Christentum in der Verbannung vorgeführt. Außerdem war Ovid im mittelalterlichen Spanien sehr bekannt für seine Werke zur Liebe aber auch zur Mythologie. Ovid wirkte also auf die nationalsprachige Literatur des Mittelalters: die Metamorphosen wurden sogar in mittelhochdeutsche Reime gebracht. Auch sein Einfluss auf England und Shakespeare ist natürlich nicht zu unterschätzen. Goethe und Schiller waren ebenfalls von ihm beeinflusst. Die Humanisten beschäftigen sich mit allen Gebieten des Wissens, die man in Ovids Werk Metamorphosen, das man auch als mythisches Lehrgedicht interpretieren kann, findet: Philosophie, Geschichte, Geographie, Naturwissenschaft, Astrologie. In der Neuzeit und auch zur Zeit des Ostblocks im 2. Jahrhundert war neben Metamorphosen und Heroides vor allem die Verbannungsdichtung wichtig für Schriftsteller, die sich mit Ovid identifizierten: Milton, Gottsched und Grillparzer, und schließlich Bochenski und Lange. Es gibt auch ein Ballett Die Metamorphosen des Ovid aus jüngster Zeit und 1988 erschien der Erfolgsroman Die Letzte Welt von dem österreichischen Autor Christoph Ransmayr.[47]

Im Westen, das heißt im europäischen und anglo-amerikanischen Kulturkreis, ist Ovids Werk gut rezipiert und bekannt. Aber wie sieht es mit Ovid in Japan aus?

Das allererste Zeugnis von einem durch einen Japaner übersetzten lateinischen Text haben wir von einer feierlichen Rede, die von Martino Hara (1569-1629) übertragen und 1588 gedruckt wurde: Oratio habita a Farad. Martino Iaponio. Wenn wichtige Werke im Kulturkontakt übersetzt werden, werden traditionell zuerst Werke übersetzt, die man am dringendsten braucht, das heißt wissenschaftliche Werke, oder die von besonderem Interesse sind. So auch in diesem Fall, dem Kontakt zwischen der japanischen und der zunächst indirekt über die portugiesischen Jesuiten übermittelten lateinischen Literatur. Es wurden japanische Wörterbücher und Grammatiken (1604) herausgegeben, religiöse Werke und Werke zu Moral und Ethik wie die Fabeln Äsops (1593 ins Japanische übersetzt, immer wieder neu herausgegeben, auch 1873 wieder übersetzt). Dann folgten ein anatomisches Buch (1731) und ein Buch über Pferde, die man übersetzte, und weitere Werke aus dem Bereich Landwirtschaft, Medizin und Astronomie, verschiedene Werke der Literatur auszugsweise. Werke der Dichtung, die vor allem der Unterhaltung dienen, werden meist erst später übersetzt. Dadurch, dass Japan so lange nach außen hin in der Edo- Zeit (1600-1868) relativ abgeschottet war, konnten eher wenige westliche Werke in dieses Land vordringen und erst wieder ab 1720 unter Yoshimune. Auch in der Meiji-Zeit (1868-1912), zu der es eine rege Übersetzertätigkeit gab, war wohl am wichtigsten, was dem schnellen militärischen und wirtschaftlichen Fortschritt des Landes dienen sollte, eine Verbindung östlicher Ethik mit westlicher Wissenschaft wurde angestrebt, politische Romane und Science Fiction, Philosophie übersetzt, aber durchaus auch Shakespeare.

Der Vater der klassischen Philologie im modernen Sinn ist in Japan ein gewisser Dr. Raphael von Koeber, der im Jahr 1893 durch eine Einladung der Universität von Tōkyō nach Japan kam, um dort Philosophie zu unterrichten. Er lehrte in Japan 20 Jahre lang, war von der Nationalität her Russe, war aber in Deutschland geboren worden und dort aufgewachsen. Latein und Griechisch werden heute an allen großen Universitäten in Japan angeboten. 1949 wurde die „Classical Society of Japan“ bzw. Nippon Seiyōkoten Gakkai [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] gegründet als erste nationale Organisation von klassischen Philologen in Japan mit Hauptsitz an der Universität von Kyōto, deren Hauptversammlung im Herbst stattfindet. Seit 1953 gibt es eine jährliche Publikation „Journal of Classical Studies“, wobei der Hauptfocus der klassischen Philologie in Japan auf dem Griechischen liegt, einerseits wegen dem historischen Interesse der Japaner für griechische Philosophie und andererseits natürlich wohl auch wegen den Fabeln Aesops, die als eines der ersten Werke im Kulturkontakt mit dem Westen übersetzt wurden. Die Begeisterung der Japaner für die klassische Philologie ergibt sich aus dem Verständnis, die europäische Kultur nur dann vollständig verstehen zu können, wenn man auch ihre Vergangenheit kennt und versteht, woher sie kommt und wie sie entstanden ist.[48]

Über Ovid gibt es kaum Information, aber wir haben die Nachricht davon, dass ein früher japanisch-lateinischer Autor namens Ryōjun Gotō (1580-1655), getauft Miguel, der im Jesuitenseminar von Nagasaki herangezogen wurde, während seines Aufenthalts auf den Philippinen ovidische Elegie von acht Zeilen geschrieben haben soll, um seine erste Übersetzung der Bibel in die indigene Ilokano-Sprache zu feiern.[49] Ovid wurde wohl zuerst nur auszugsweise übersetzt, denn manche seiner Texte wurden von den Jesuiten und anderen als gefährlich angesehen, und auf jeden Fall indirekt über Shakespeare vermittelt. Dann kamen schon die Kriege und großen Weltkriege bis 1945.

Eine der frühesten wissenschaftlichen japanischen Übersetzungen Ovids scheint aus dem Jahr 1966, also aus der Nachkriegszeit, zu stammen: Tenshin-Monogatari [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten].Diese wurde von Tanaka Hidenaka (1886-1974), einem Linguisten und Pionier der klassischen Philologie in Japan, und Maeda Takashi angefertigt, als die japanische Altertumswissenschaft klassischer europäischer Werke dort noch im Entstehen war. Viele Werke Ovids wurden in den sechziger und achtziger Jahren übersetzt.[50] Dies bedeutet, dass der richtig intensive Einfluss Ovids auf die japanische Literatur tatsächlich noch relativ jung ist, was noch zu spannenden Effekten führen kann. Auch die Übersetzung von Nakamura Zenya, die ich in dieser Arbeit behandelt habe, stammt ursprünglich aus dem Jahr 1984, geht wohl auf den alten lateinischen Belles Lettres - Text von Lafaye (1966) zurück und kam im Jahr 2010 als 21. Auflage neu heraus. Nakamura Zenya (1925-1985) war Literaturwissenschaftler der klassischen Antike in Japan. Er übersetzte viele griechische und lateinische Werke ins Japanische, wie die Medea von Euripides und Ciceros De Legibus.[51]

Zahlreiche Autoren - wie bereits erwähnt - lassen sich von Griechenland und Rom inspirieren und nehmen die Themen in ihren Romanen auf: Mishima Yukio, Ayako Sono oder Shiono Nanami, um nur ein paar beispielsweise zu nennen. Tatsächlich nimmt das Interesse Japans an der Antike und vor allem der jungen Japaner an klassischen Sprachen wie Griechisch und Latein in den letzten Jahren immer mehr zu, vor allem auch inspiriert durch Hollywood-Filme wie Troy oder 300, die in Japan große Erfolge feierten.[52]

3. Die Schriftstellerin Tawada Yōko [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]

3.1 Das Leben von Tawada Yōko

„Um Europa sehen zu können, muss ich mir eine japanische Brille aufsetzen…“[53]

Tawada Yōko empfindet das Schreiben auf Deutsch, das für sie zunächst eine Fremdsprache war, als eine Möglichkeit, ihre Erfahrungs- und Erinnerungsräume zu erweitern. Sie verfasst Werke auf Deutsch und auf Japanisch: Lyrik, Prosa, Theaterstücke, Essays und Hörspiele.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten[54] Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten[55]

Sie wurde 1960 als Tochter eines Buchhändlers in Nakano (Tōkyō), Japan, geboren. Im Alter von zwölf Jahren schrieb sie ihren ersten Romanversuch, den sie fotokopiert verteilte.[56] Sie studierte in Japan Literaturwissenschaft (mit dem Schwerpunkt auf russischer Literatur). 1979 kam sie mit der transsibirischen Eisenbahn zum ersten Mal nach Deutschland. Ab 1982 wohnte sie in Hamburg. Dort studierte sie Neuere Deutsche Literaturwissenschaft. Seit 2007 lebt sie in Berlin. Sie publiziert in Japanisch und Deutsch und ist in zahlreichen Literaturzeitschriften veröffentlicht. Ihre Werke wurden in viele weitere Sprachen übersetzt und sie erhielt einige Auszeichnungen. Von Kritikern wird sie mit Kafka verglichen.[57]

„When I went to Germany, it was not with the intention of writing in German. I would not have wanted to. It simply happened. And when I wrote the other two books and poems - although they were written in Japanese - the German language was always in my head, while I wrote in Japanese. And I started to write differently in Japanese.”[58]

Tawada Yōko sieht sich selbst nicht als Feministin und sie lässt sich ungern in bestimmte Schubladen einteilen. Dennoch identifiziert sie sich mit deren Anliegen, denn ein feministischer Kontext sei in ihren Büchern sicherlich vorhanden. Schließlich promovierte sie bei Sigrid Weigel, einer der bekanntesten feministischen Literaturwissenschaftlerinnen im deutschsprachigen Raum und konzentriert sich in ihrem literarischen Werk besonders auf Frauen und ihre Erfahrungen, da sie - wie sie selbst sagt- „diese Sachen“ über die Männer nicht weiß.[59] Ist es nicht so, dass eigentlich jede Frau automatisch, ob sie will oder nicht, - manchmal inkognito, manchmal offen und ehrlich - in Wahrheit eine Feministin ist?

3.2 Tawada Yōko als Autorin der Mehrsprachigkeit

Tawada Yōko ist eine interessante Autorin und Sprachkünstlerin der Migrationsliteratur, die mit ihrer Person und ihrem Œuvre auch spannende Vorurteile aufdeckt. Beispielsweise wurde von ihr, nur weil sie Japanerin ist, automatisch angenommen, dass sie sich mit Nō-Theater auskennt und alles darüber weiß. Tatsächlich aber war sie in Japan nie hingegangen und hatte sich überhaupt nicht damit beschäftigt.[60] Was sie wohl von ihrem Russischstudium, ihrer Großmutter und ihren Reisen weiß, ist aber, dass die russische Puppe Matrjoschka ursprünglich erst Ende des 19. Jahrhunderts nach alten japanischen Vorbildern in Russland hergestellt wurde, was wiederum viele Russen nicht wissen, vielleicht von einer kokeshi, einer schlichten Holzpuppe, die für jedes Kind, das aus Armut getötet werden musste, hergestellt wurde.[61] Die Holzpuppen kokeshi [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Tōhoku-Region, im Nordosten Japans, dem Zentrum des Onsen-Gebiets, erfunden und waren der Schutz-Talisman der Kinder in Abwesenheit ihrer Eltern, wenn sie nach dem Einbringen der Ernte auf Badekur ins Onsen gingen. Später zu Beginn des 20. Jahrhunderts erreichten von Tōkyō aus auch ausgefeilte feine Spielzeuge aus Zelluloid und Blech die Region und dadurch wurden die kokeshi vernachlässigt. Ursprünglich gab es in den verschiedenen Dialekten, die die Kinder benutzten, um die 60 differenzierte Bezeichnungen für die unterschiedlichen Puppensorten. Die Art der Herstellung, die sehr aufwendig ist und lange dauert, wurde immer vom Meister an den Schüler weitergegeben und man musste sehr lange üben, bis man ein gutes Niveau erreichte. Heute werden sie von Sammlern wertgeschätzt wegen ihrer Schönheit der Einfachheit und ihrem aufwendigen Design, doch versteckt sich dahinter eine Geschichte der Armut und des Lebens unter rauen klimatischen Bedingungen.[62]

Sobald man ins Ausland geht, ist man sofort Experte über jeden Bereich seiner eigenen Kultur, auch wenn er nicht im eigenen Interessensgebiet liegt, und deren repräsentativer Vertreter und Botschafter, ob man will oder nicht. Dies konnten sicherlich schon viele Reisende, die sich länger im Ausland aufhielten, beobachten und erleben.

„I grew up in Japan, where only Japanese is spoken. Everything else is rather … unbelievable. It´s not like Europe, where you have people, who speak other languages very well…”[63]

Tawada Yōko meint, dass man durchaus mehr Ahnung von der eigenen Kultur hat, als diejenigen, die im Land geblieben sind, aber auf eine andere Weise. Denn denjenigen, die immer nur im eigenen Land bleiben, oder nur kurz im Ausland sind, fehlt die Perspektive und Reflexion von außen und damit ein entscheidender Blickwinkel auf dem Weg zur Realität und zur Wahrheit des menschlichen Daseins. So schärft auch eine fremde Sprache das Bewusstsein für die eigene Sprache dadurch, dass man sie ganz anders von außen wahrnimmt. Die ritualisierten Handlungen - im Guten wie im Schlechten - fallen meistens den Fremden stärker auf als den Einheimischen, die sie automatisch durchführen, und Übersetzungen der Körpersprache sind noch viel schwieriger als eine Fremdsprache zu sprechen, weil sich das Körpergefühl nicht so schnell umstellen kann. Ein Ritual besteht schließlich aus vielen Körperbewegungen.[64] Tawadas Auseinandersetzung mit Europa und dessen Denkweise und ihre eigens entwickelte „ethnologische Poetologie“, in der sie spielerisch mit Sprachmagie umgeht, erweisen sich als bereichernde Denkherausforderung, im Eigenen das Fremde zu erkennen. Vor allem in der Sprache findet Tawada immer Lücken und Spalten, die auf längst Vergessenes oder nicht Sichtbares hinweisen, mit Hilfe derer sie neue Blickwinkel erschaffen möchte.[65]

„Why do you write, Ms. Yōko Tawada?” - “This question, of course, is always difficult. You might as well ask: Why do you live?”[66]

Aus der eigenen Mehrsprachigkeit mit all seiner Schwierigkeit kann man Kreativität schöpfen und gewinnen, die Bedeutung und Empfindung der Idee eines einzelnen Wortes und Gegenstands je nach Sprache erweitern und bereichern, und schließlich zu einem neuen, außergewöhnlichen Stil gelangen.[67]

„Seitdem ich auf Deutsch denke, denke ich in Dialogform. Es wird dort geredet, diskutiert, argumentiert, gefragt, geantwortet oder protestiert. Dabei stelle ich mir keinen einzigen Buchstaben bildlich vor.“[68]

Manche Gefühle und Empfindungen oder Ideen von Gegenständen kann man nur in der einen Sprache ausdrücken und nicht in der anderen. Unterschiedliche Sprachen bilden auch andere klangliche und schöpferische Möglichkeiten, die in anderen Sprachen schwer wiedergefunden werden können oder der Klang spielt in einer bestimmten Sprache eine bestimmte Rolle, die er in der anderen nicht spielt. Oder aber in einer Sprache wie dem Japanischen wiederum ist das Visuelle und Bildliche das eigentlich Wichtige und damit auch in der japanischen Kultur wichtiger als in anderen Kulturen wie der deutschen Kultur, in welcher der Klang wichtiger ist als das Visuelle: der Aufbau des Satzes wird plastischer durch das Vorlesen. Die Leute in Japan reden nicht miteinander, sie schauen. Jede Silbe kann aus einem Bild und einer kleinen Bildgeschichte bestehen oder ein Wort kann eine ganze Geschichte beinhalten. Jedes Ideogramm ist Magie und Zauber einer tiefen, geheimnisvollen Geschichte eines Menschen, die dahinter steckt.[69] Damit wird ein japanischer Text zu einer unglaublich reichhaltigen Kulturgeschichte einer Gesellschaft. Für einen Begriff gibt es oft mehrere Möglichkeiten ihn bildsprachlich zu schreiben und damit andere Aspekte auszudrücken. In der japanischen Sprache kann es durch die vielen Homophone beim Sprechen und Vorlesen zu mehr Missverständnissen kommen, mit welchen man aber auch spielen kann und sie bewusst hervorrufen. Jede Sprache hat mehrere Möglichkeiten, die zunächst nicht sichtbar sind. Diese Möglichkeiten werden durch eine Fremdsprache sichtbar. Die kulturelle Differenz, die Wahrnehmung der anderen Kultur, lässt uns die Unmöglichkeiten unserer eigenen erkennen.[70]

Mehrsprachigkeit kann aber auch zu ungeahnten Schwierigkeiten führen, wie Tawada Yōko es beschreibt, die aber aus wissenschaftlicher Sicht eigentlich wiederum ein Vorteil sind:

„ … denn immer, wenn ich ganz intensiv an einem deutschen Text gearbeitet habe, habe ich danach das Gefühl, dass ich gar kein Japanisch mehr kann und umgekehrt auch. … und ich habe diesen Nachteil und dieses Immer-wieder-nicht-Können von Sprache in mein Programm aufgenommen, d.h., ich muss bei jedem Text zurückgehen zu dem Punkt Null, wo man keine Sprache mehr hat, wo man sich nicht mehr ausdrücken kann und überhaupt die Sprache als solche in Frage stellt, …“[71]

Autoren der Migrationsliteratur werden in der Literaturkritik manchmal in vermeintlicher „Fremdheit“ und „Exotik“ wahrgenommen, anstatt dass die inhaltliche und sprachliche Qualität gewürdigt wird.[72] Weiters wird jede Abweichung zur Norm vorschnell und auf arrogante Weise als Fehler wahrgenommen, der sich manchmal in Wahrheit als Einfall von Kreativität und Vielfältigkeit herausstellen soll.[73]

Selbst die Kommunikation innerhalb der eigenen Muttersprache gestaltet sich oft schwierig:

„Are we certain that we know what our words mean?”[74]

Laut Tawada kann der Mensch die Sprache des Gegenübers nicht verstehen, sondern nur nachahmen, aber gerade durch konzentrierte Nachahmung entsteht ein klares Abbild einer fremden Sprache. Nachdem man genug nachgeahmt hat, wird man in der eigenen Muttersprache blind und ist sich ihrer nicht mehr bewusst. Ein Mensch, der eine fremde Sprache spricht, ist für Tawada Yōko immer zugleich jemand, der die fremde Sprache erforscht und nachahmt, nie aber kopiert, da dies nicht möglich ist. Man ist Betrachter und Betrachteter zugleich. Erst durch das Heraustreten aus alten Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten sehen wir die Welt in einem neuen, anderen Licht und sind der Wirklichkeit ein Stück näher.[75]

Betrachtet man die Texte von mehrsprachigen Autoren, so enthüllen ihre Texte und Themen politische und gesellschaftliche Realitäten und bringen neue Kreativität in alte Sprachen. Es findet ein Paradigmenwechsel statt: der Westen in seiner subjektorientierten Wahrnehmung muss lernen, sich von dieser Denkweise zu verabschieden und sich den Denkweisen der fremden Kulturen und deren Andersheit zu öffnen und vice versa.[76] In mehreren Sprachen und Kulturen beheimatet und ausgestattet mit interkulturellem Wissen wird der Mensch nach und nach in einem schwierigen Prozess zum Weltbürger.

Tatsache ist, dass jede Kultur die Chance hat, von der anderen zu lernen: einerseits die besten Ideen für sich selbst zu gewinnen und an sich anzupassen, andererseits das Schlechte öffentlich und ehrlich zu kritisieren, um im Gegenzug und auch als Dank eine Verbesserung zu bewirken, die doch in Wahrheit allen zu Gute kommt. Der Schlüssel zum gegenseitigen kulturellen Lernen ist die Sprache.

Eine weitere Tatsache ist auch, dass wenn das Zusammenspiel der verschiedenen Kulturen besser funktionieren und ein tatsächliches Verständnis für die wirklichen Probleme der Welt statt Gier und Egoismus bereits vorherrschen würde, die Menschen größere Fortschritte in der Wissenschaft, in gesellschaftlichen Belangen, in Politik, Kunst und Kultur machen könnten und in manchen Teilen der Gesellschaft ist das ja bereits der Fall.

Daher brauchen wir in der aktuellen Globalisierungsentwicklung und Migrationsdebatte die Geisteswissenschaft und Sprach- und Kulturkenntnisse eigentlich mehr denn je zuvor in der Geschichte der Menschheit.

3.3 Tawada Yōko und Publius Ovidius Nasos Metamorphosen

“Transsibirische Metamorphosen” lautet Siegrid Weigels Titel ihrer Laudatio auf Tawada Yōko zur Verleihung des renommierten Chamisso Preises 1996, in der sie über deren Obsession für Metamorphosen und ihrer Auseinandersetzung mit Homers Epos Odyssee spricht.[77]

1998 hatte Tawada Yōko die prestigeträchtige Poetik-Dozentur in Tübingen inne, für die sie drei Vorlesungen mit dem Titel „Metamorphosen“ hielt. Sie benützt das ovidische Material auf eine völlig neue Weise und verbindet östliche mit westlicher Literaturtradition.[78]

Sie zeigt die Wandelbarkeit der Begriffe anhand des Kapitels zur Entstehung der Welt von Ovids Metamorphosen. Nur durch die jeweiligen Begriffe „Erde“ und „Wasser“ selbst würden Erde und Wasser, die eigentlich untrennbar miteinander verbunden seien, getrennt werden können. Die Begriffe allein würden nichts über deren Beschaffenheit selbst aussagen. Tawada unterscheidet außerdem in europäischen Märchen zwischen zwei Arten der Verwandlungen: ein Mensch, der sich unfreiwillig in ein Tier verwandelt oder ein Tier, das sich aus eigenem Willen in einen Menschen verwandelt. In japanischen Märchen käme noch eine Verwandlungsform hinzu: Tiere, die sich in Frauen verwandeln, einen Menschen heiraten, sich wieder in ein Tier verwandeln und den Menschen verlassen.[79]

In den japanischen Mythen gibt es zahlreiche Metamorphosen und Verwandlungen, wie auch die unzähligen Erscheinungsformen von Geistern in Japan zeigen, die man in drei Gruppen einteilt: die erste Gruppe ist die der yōkai [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] der Gespenster, die außergewöhnliche Gestalten besitzen. Zur zweiten Gruppe gehören die henge [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten], Gespenster, die sich verwandelt haben, und die dritte Gruppe der yūrei [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] besteht aus den Seelen der Toten und Lebenden, die sich von ihrem Körper gelöst haben. Diese yūrei erscheinen gezielt vor bestimmten Menschen - oft mit einer Botschaft -, während die yōkai und henge an bestimmte Orte gebunden sind. Es gibt nicht nur traditionelle Geister, sondern immer wieder neue. So gibt es beispielsweise Computergeister, die plötzlich Umlaute in Kombination mit bestimmten Buchstaben zu Ideogrammen machen. Tawada entdeckt die Buchstaben selbst als Geister.[80] Das inspirierte die Autorin wieder zu neuen Sprachexperimenten in ihren Gedichten, in welchen sie Ideogramme mit deutschen Buchstaben mischt oder deutsche Gedichtformen und Ideen in japanischer Schrift ausdrückt und umsetzt.[81]

Interessant für die folgende Bearbeitung der Metamorphosen ist auch Tawadas Einstellung zu Original und Übersetzung: nach ihrer Meinung gibt es keine Originale, sondern nur Übersetzungen, denn Schreiben selbst ist für sie bereits eine Übersetzung aus einem nicht sprachlichen Bereich heraus. Der Reiz einer Übersetzung liege darin, den Leser die Existenz einer anderen Sprache spüren zu lassen.[82]

Außerdem gibt es bereits lange in der Wissenschaft Theorien wie die des japanischen Wissenschaftlers Minakata Kumagusu, der sich mit der Europa zentristischen Ausrichtung der entstehenden Wissenschaften auseinandergesetzt hat und in Korrespondenz mit Yanagita Kunio stand, dass die Mythen und Sagen verschiedener Kulturen von West und Ost in wechselseitigen Beziehungen zueinander stehen. Er entdeckte die Verbindungen zwischen dem Eigenen und dem Fremden und überwand die orientalisch-eurozentristische Dichotomie. Er entwickelte die Vorstellung, dass die europäischen und asiatischen Kulturen durch Übersetzungsprozesse von alters her verbunden gewesen waren.

Übersetzung ist für Tawada ein Prozess von bilingualem Schreiben, das den Text nicht im herkömmlichen Sinn übersetzt, sondern transformiert und umdichtet.[83]

3.3.1 Opium für Ovid

Das Kopfkissenbuch des 11. Jahrhunderts, einer der Klassiker der japanischen Literatur, besteht aus eine Mischung aus merkwürdigen Fakten, Geschichten, Beobachtungen, skurrilen Listen von beispielsweise besonderen Dingen oder Sachen, die zufriedenstellen, und den Memoiren und Erinnerungen in 320 Sektionen von Sei Shōnagon, einer Hofdame der Kaiserin Sadako. Tawadas Arbeit Opium für Ovid. Ein Kopfkissenbuch von 22 Frauen besteht aus einer Sammlung von 22 verträumten Szenen, die das Innen- und Außenleben von verschieden Frauen darstellen und auch an Virgina Woolfs Mrs. Dalloway und Orlando erinnern. Charaktereigenschaften von Ovids Sagengestalten spiegeln sich in ihren Figuren wider, die für die Autorin wie ein assoziatives Netz voll von Bildern und Gedanken wirken. Intuitiv wirken viele logische Gedanken dadurch gleichzeitig und parallel.[84] Das Buch wurde ursprünglich in der Originalsprache Deutsch geschrieben - im Jahr 2000 kam bereits die dritte Auflage davon heraus -, aber 2001 wurde es auch ins Japanische übersetzt als [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] Henshin no tame no opiumu. „Opium zur Metamorphose“.[85]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten[86]

Der Titel erklärt sich zum Teil aus der ehrgeizigen Filmregisseurin Pomona, die Drogen nimmt in der Vorahnung auf kommenden Schmerz. Außerdem erinnert die Autorin an ein Ereignis der Geschichte zwischen China und England, als England ökonomisch abhängig von Chinas Tee-Produktion war, worauf es beschloss, Opium in großen Mengen in Indien zu erzeugen und es teuer nach China zu verkaufen: Nur Opium oder der Kommunismus können wohl ein Land wie China regieren. Außerdem gab es zahlreiche Handelsbeschränkungen für Ausländer in China, die nicht nur mit Tee, sondern auch mit Seide und Porzellan handeln wollten. Die Handelsbilanz fiel so lange positiv aus für China, bis England den Opiumhandel von Indien aus verstärkte und damit sein Silber wieder zurückbekam. Es kam zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen China und England, bei welchen sich aber England im Opiumkrieg (1840-1842) durchsetzte und China indirekt von sich abhängig machte. Dies hatte auch in Japan große Auswirkungen auf die Meiji-Restauration. Die Autorin will also ihre Abhängigkeit von Ovid mit Opiumhandel mildern.[87] Andererseits erzeugt und ist sie selbst ja die Droge, von der sie abhängig ist, bzw. eigentlich die Ich-Erzählerin, produziert wie Karl Marx statt Opium für das Volk eben Opium für Ovid. Das heißt, sie versucht mit ihrem Buch andere von Ovid abhängig zu machen und von Ovid zu begeistern.

Opium galt - im Gegensatz zu Wein - als stilvolle Droge, eine Droge, mit der man sich wirklich berauschen kann. Der Alkohol sei männlich, während das Opium für Konkubinen und homoerotische Dichter bestimmt sei. China sah sich den westlichen Barbaren gegenüber als überlegen an, wollte aber den Opiumhandel unterbinden. Auch Tawadas Frauencharaktere ziehen Opium dem Alkohol vor. Rausch ist in diesem Buch eine Art Raum des Dazwischen, nämlich zwischen Traum und Realität.[88]

Außerdem wird Rausch zu etwas Weiblichem, während er normalerweise eher dem Männlichen zugeordnet wird. Einige Frauen in ihrem Buch sind süchtig: Io ist alkoholabhängig, Leda tablettensüchtig, Galanthis hat früher Drogen genommen, Thetis tanzt exzessiv, Iphis ist ein Workaholic. Tawada treibt den Gedanken auf die Spitze, indem sie den Körper einer Frau zum Produzenten eines Rauschmittels werden lässt: die Substanz ist eine Droge, die die Frau selbst erzeugt. Durch diese Eigenproduktion der Droge wird impliziert, dass die Frau alles in sich birgt, was sie für ihre Selbstzufriedenheit und Unabhängigkeit braucht: Heilung, Schutz vor der Umwelt, Glück und Lust und Berauschung. Es wird deutlich, dass diese Art von Rausch nicht die Sinne trübt, im Gegenteil, er schärft den Blick und ruft eine glasklare Sicht der Dinge hervor.[89]

Mit Ein Kopfkissenbuch für 22 Frauen deutet dem Leser Tawada Yōkos zweites literarisches Vorbild an: Sei Shōnagon, die Hofdame der Kaiserin Fujiwara no Sadako, Gemahlin des Ichijō-Tennō. Die Hofdame trat mit 30 Jahren in den Dienst der Kaiserin aus der Heian-Zeit ein und war ihre bevorzugte Dienerin bis zu deren Tode im Jahre 1000. Danach zog sie sich in die Provinz zurück und wurde vermutlich in den letzten Lebensjahren buddhistische Nonne. Aus einer berühmten Gelehrten- und Dichterfamilie hervorgegangen, zeichnete sie sich durch Klugheit und hohe Bildung aus und war Murasaki Shikibu (?-1016) zumindest ebenbürtig. Ihre im Makura no sōshi „Kopfkissenbuch“ gesammelten Aufzeichnungen entstammen wahrscheinlich mehreren Lebensabschnitten von der Zeit ihres Hofdienstes an. Das Werk hat sie in drei aufeinander folgenden Manuskripten niedergeschrieben, die nach Stil- und Sachkriterien zu urteilen, in den Jahren zwischen 995-1021 entstanden sein dürften. Der Titel ihres Werks bezieht sich auf die Skizzenhaftigkeit, den privaten Charakter und die Anordnung der tagebuchartigen Aufzeichnungen unter Sachtiteln, die kurze Stimmungsmomente aneinanderreihen, wie auch in der renga -Dichtung präsentiert. Sie schreibt nicht von Göttern, Herrschern und Weltreichen, sondern von Mücken, schnarchenden Liebhabern, überhaupt ulkigen Männerfiguren, schwer gehassten weiblichen Konkurrentinnen, Haustieren, Vögeln und Blumen.[90] Die Heian-Zeit (794-1192) ist berühmt für Legenden und Tagebuch-Literatur, die vorwiegend von weiblichen Schriftstellerinnen verfasst wurde. In dieser Zeit wurde auch das Genji-Monogatari [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten], der älteste Roman der Weltgeschichte, geschrieben.[91]

Die meisten Frauen, um die es geht, sind schon älter und schauen auf ihr Leben aus einer erwachsenen, reifen Perspektive: Alter wird bei Tawada zu einem positiven Aspekt aufgrund der in ihm enthaltenen Freiheit. Nun sind sie alt und können tun, leben und aussehen, wie sie wollen. Sie lassen sich von niemandem mehr etwas vorschreiben. Jegliche Normen, ob Schönheits-, Verhaltens-, oder Sprachnormen haben inzwischen an Wichtigkeit verloren. Die Frauen durchleben Metamorphosen, sie werden zu Männern, Dingen, Tieren oder vierbeinigen Fantasiegeschöpfen. Die Frauen verwandeln sich immer wieder in etwas Neues. Tawada ironisiert gesellschaftliche Normen und belächelt mit Hilfe von Mimikry und Parodie stereotype Frauen- und Männerrollen, aber auch feministische Vorstellungen, die nicht der Realität entsprechen: Männer seien technisch, Frauen künstlerisch begabt. Bescheidenheit, Höflichkeit, Sparsamkeit werden von Tawadas Charakteren als lächerliche Tugenden angesehen. Sie macht sich über gesellschaftliche Regeln lustig und bringt die androgyne Realität unserer menschlichen Gesellschaft zu Tage wie in einer Sex in the City - Folge bzw. in der New Yorker Kunst aktuell behandelt.[92]

Die 22 weiblichen mythischen Figuren sind dem Epos Metamorphosen von Ovid entliehen, wie die Namen Leda, Daphne, Clymene und Thetis verraten. Unterlagen die weiblichen mythischen Figuren bei Ovid der göttlichen Macht und Hegemonie, innerhalb derer sie der Verwandlung unterzogen wurden oder selbst die Verwandlungskunst ausübten, durchlaufen sie nun eine Verwandlung, die folgendermaßen gestaltet ist: Sie unterhalten Beziehungen zueinander und tauchen unerwartet in der Umgebung anderer auf. Sie sind teilweise Erfindungen der anderen Figuren, einschließlich der Ich-Figur: Salmacis schneidet Thetis aus einer Zeitung aus. In dieser variierten Form der Metamorphosen kombiniert die Autorin die Tradition der westlichen Literatur und das Verwandlungsmotiv mit der Tradition der japanischen Literatur, dem Kopfkissenbuch, einer Tagebucherzählung, Literaturgattung der Frauen der gebildeten und kultivierten Aristokratie, der Hofdamen und kaiserlichen Nebenfrauen. Damit würdigt sie die weiblichen Schriftstellerinnen aus ihrer Kultur. Die Struktur des Textes weist auf eine Übernahme der romanartigen Form der Tagebucherzählung der Hofdame Sei Shōnagon hin, welche aus mehreren kleinen Episoden besteht.[93]

Einer Filmaufnahme von Großstadtbildern gleich, spielt sich der Mythos im Alltag der Großstadt Hamburg und Umgebung ab. Die darin auftauchenden Figuren weisen im Wesentlichen eine an den Mythos angelehnte Charakterisierung auf: Leda, Tochter des Ätolischen Königs Thestius, Gattin des spartanischen Königs Tyndareus und Mutter der Clytaimnestra, der Dioskuren und der aus einem Ei geborenen Helena, welche von Jupiter in Gestalt eines Schwanes berückt wurde (Met. 6, 109), ist in Tawadas Text eine Frau mit Lähmung an beiden Armen, die im Wasser mit ausgebreiteten Flügeln sitzt und die wasserdichten, cremeweißen Federn mit dem Schnabel reinigt (Kapitel 1).[94] Daphne, Tochter des Peneus, die alle Männer wie auch Leukippos zurückwies, welche von Apollon geliebt und auf der Flucht vor diesem in einen Lorbeerbaum verwandelt wurde (Met. 1, 452-567), erscheint in Tawadas Text zunächst wie eine Birke mit weißen Verbänden, die sich als Frau im Tennisanzug entpuppt und die Rolle einer Birke, die in der Ecke des Tennisplatzes steht, spielt (Kapitel 3).[95] Thisbe, sie schöne Babylonierin, Geliebte des Pyramus, mit dem sie durch einen Spalt in der Wand über Liebe flüstert (Met. 4. 55-166), übt den Beruf einer Friseurin aus und hat als Kind eine Liebesbeziehung zu einem Nachbarsjungen, mit dem sie durch einen Riss in der Wand spricht (Kapitel 18).[96]

Die mythischen Figuren behalten also im Wesentlichen ihre ursprüngliche Charakteristik: Leda steht in Verbindung mit dem Schwan, Thisbe mit dem Wandmotiv. Sie treten aber in unterschiedlichen Variationen auf: Clymene begegnet zufällig in einer Buchhandlung Daphne, Scylla und Iphis lernen sich in Hamburg als Nachbarinnen kennen. Wie bei Ovid unterliegen die weiblichen Figuren zwar libidinösen Auseinandersetzungen und Beziehungsgeflechten, jedoch sind ihre Begegnungen teilweise eine Art Sublimierung lesbischer Liebe: Leda unterdrückt den heimlichen Wunsch, in einen Frauenkörper einzudringen, mit Tabletten, Diana verführt Pomona mit Gerüchen, die Szene zwischen den Nachbarinnen Scylla und Iphis spielt sich wie in einer lesbischen Beziehung ab. Im Vergleich zu den Metamorphosen des Ovid, in welchen die weiblichen Figuren dem unwiderstehlichen sexuellen Verlangen von Zeus, den Göttern oder männlichen Figuren unterworfen sind, hegen die weiblichen Figuren bei Tawada den Wunsch, das eigene Geschlecht zu verführen oder gar sich in das männliche Geschlecht zu verwandeln. Es wird eine Verschiebung der Perspektive der Figuren aus dem Epos vorgenommen und durch diese wird der den Figuren von Ovid eingeschriebene mythische Charakter parodiert und die Geschlechteridentität innerhalb der Zwangsheterosexualität in Frage gestellt. Das wird verstärkt durch die provokative Aussage der Ich-Figur, welche sich wie eine Provokation gegen Ovid vernehmen lässt (Kapitel 16): „Ein Opium gegen Ovid, mein Opiumkrieg ist noch nicht zu Ende.“ Es gibt im Text weitere Hinweise auf eine Opposition gegen die abendländische Erzählkunst. Salmacis schneidet die Figur Thetis aus einer Zeitung aus als Geburt einer Papierpuppe, was an ein Kompositionsverfahren dadaistischer Gedichte erinnert. Im Dadaismus offenbart sich eine Opposition gegen das traditionelle System der Kunst. Um sich einer Widergabe in ständigen Sinnzusammenhängen zu widersetzen, wird experimentellen Operationen der Sprache wie Wortgestammel, Laut ohne Rücksicht auf Wortsinn, freien Assoziationen und primitiven Äußerungen Raum gegeben. Man ist gegen Systeme und das annehmbarste System ist grundsätzlich keines zu haben. Der Sage nach soll Thetis, Mutter des Achilles, einen Sohn gebären, der größer sein würde als sein Vater Peleus. Ihre ausgeschnittene Figur hat selbst keinen Charakter und keine Ernsthaftigkeit, sondern wellt sich und lacht. Der Text Tawadas subvertiert das Epos von Ovid. In ihrem Text wird ein Verfahren des Dadaismus zum Figurenkonzept adaptiert, womit sie aber auch gleichzeitig eine westliche Kulturtradition übernimmt.[97]

Ein weiterer Mythos, den Tawada in ihrem Buch streift, ist der von Galanthis (griech. gale = Wiesel), eine junge Sklavin der Alkmene, die Eleithyia, welche mit gekreuzten Beinen vor dem Schlafzimmer der Alkmene saß, überlistete. Eleithyia wollte mit Magie die Geburt des Herakles verhindern. Zur Strafe wurde Galanthis dann in ein Wiesel verwandelt (Met. 9, 281-323). In Tawadas Geschichte ist sie eine alte und kranke Frau, eine stockmagere Holzfrau, hochgewachsen und mit buschigen grauen Haaren, die viel spazieren geht und die Ich-Erzählerin nach einem Unfall im Krankenhaus besucht (Kapitel 2).[98]

Berühmt ist auch die Geschichte der Göttin Latona, die Tawada in Kapitel 4 verwendet. Latona (bzw. Leto aus Lykisch lada = Frau) hat dem Jupiter die Zwillinge Diana und Apollo geboren, was Juno erzürnt. Die Titanin Latona, Tochter des Koios und der Phoibe, kommt unter anderem nach Lykien, wo ihr die Bauern verweigern an einer Quelle zu trinken, worauf sie diese in Frösche verwandelt (Met. 6, 331-381). Als sie herangewachsen waren, nahmen ihre Kinder dann Rache, an allen Personen, die Latona Unrecht getan hatten und ihr nicht geholfen hatten.[99] Bei Tawada macht Latona einen Wochenendkurs über Tibetanischen Buddhismus, mit dem sie schlussendlich dann nicht zufrieden ist, denn der Seminarleiter scheint alles einem Computerspiel entnommen zu haben. Sie lässt Frauen bei sich baden, die keine Badewanne haben, hört heftiges Flügelschlagen aus dem Badezimmer. Außerdem hat sie keine Berufsausbildung beendet, weil sie alles liebt und sich für nichts richtig entscheiden kann.

Scylla ist bei Tawada Verkäuferin in einem Antiquitätenladen und hat nie Geld. Deshalb wird sie von ihrer Nachbarin Iphis gerne belästigt, die ihr Geld borgt und sie begehrt. Sie verkauft Spiegel, Blumentöpfe, Handtaschen, antike Holzkästchen und viele andere Gegenstände aus Holz, Leder, Glas, Stein und anderen Materialien. Einmal arbeitet ein Student bei Scylla, der Sohn ihrer Freundin Juno. Er geht ihr auf die Nerven und steht ihr im Weg. Schließlich verschluckt er sie, wie der Mann in der Geschichte, der ein jungfräuliches Mädchen verschluckt, die eigentlich mit einer alten Frau schlafen wollte (Kapitel 5). In der griechischen und römischen Mythologie ist Scylla ein Meeresungeheuer in der Straße von Messina, die schließlich in Stein verwandelt wird. Ursprünglich war sie eine wunderschöne Nymphe, die alle Männer verschmähte. Der Meeresgott Glaukos verliebte sich in sie und bat Kirke um einen Zaubertrank. Doch Kirke wollte den Meeresgott für sich selbst haben, wurde aber von Glaukos abgelehnt. Also verwandelte die Zauberin ihre arme Rivalin Scylla in ein Monster mit sechs Köpfen und drei Reihen von Zähnen pro Maul. Sie soll zwölf Füße gehabt haben und Hundeköpfe um ihren Unterleib, die bellten und nach Beute schnappten (Met. 13, 898-968, Met. 14, 1-74).[100]

Salmacis, die sich in der Mythologie in den schönen Jüngling Hermaphroditus verliebt, den Sohn von Hermes und Aphrodite, zurückgewiesen wird, aber sich mit ihm in ihrer Quelle vereinigt, sodass ein Zwitterwesen mit Brüsten und männlichem Geschlechtsteil entsteht (Met. 4, 276-388), ist bei Tawada Schauspielerin und dann Dramaturgin. Sie schneidet gerne Figuren aus Zeitungen aus. Da nun - wie bei Ovid beschrieben - jeder Mann, der mit der Quelle in Berührung kommt, zu einem androgynen Wesen wird, kann es auch passieren, dass Salmacis solche erschafft. Das Wasser, das Mann und Frau miteinander vermischt, verbindet auch die Kontinente miteinander. Sie verlangt von einem Dramatiker, dass dieser ein Theaterstück für sie schreibe. Er kreiert für sie die Rolle eines Schwimmers, der Angst vor Wasser bekommt, und als er an einem Strand einschläft, eine Frau auf und in ihm sitzen hat. Salmacis kauft in Scyllas Antiquitätenladen ein. Der Schlaf ist ihr Geliebter, in ihm kann sie so richtig androgyn werden. Er ist ihr wichtiger als ein Mann, zu dem sie selbst halb wird, denn wie Narziss spricht sie gerne von sich (Kapitel 6).[101]

Coronis ist ursprünglich die Geliebte von Apollo, schwanger mit Asclepius, dem späteren Gott der Heilskunst. Sie hatte eine Affäre mit Ischys. Apollo bestrafte die Krähe, die nicht gut genug auf seine Frau aufgepasst hatte, mit schwarzer Farbe ihres bis dahin weißen Federkleides und hieß daraufhin seine Schwester Artemis (=Diana) die Untreue umbringen. Erst als sie eingeäschert wurde, tat es ihm leid und er schnitt sein Kind aus ihrem Körper heraus und rettete es. Asclepius wuchs dann bei Chiron auf (Met. 2, 542-630).[102] Bei Tawada ist Coronis eine Migrantin und Schriftstellerin. Ihr Mann ist Comic-Strip Zeichner, aber mit seinem Beruf nicht zufrieden. Er möchte lieber Ölbilder malen. Sie haben keine Kinder, denn für Coronis sind ihre Bücher ihre Kinder (Kapitel 7).

Clymene gebärt dem Helios (Sol) den Sohn Phaeton und gibt vor ihrem Sohn damit an, dass ihr Vater der Sonnengott sei. Phaeton will daraufhin mit dem Sonnenwagen fahren, hat ihn nicht unter Kontrolle und verwüstet die Erde, sodass Jupiter dazu gezwungen ist, ihn mit seinem Blitz zu töten, um eine größere Katastrophe zu verhindern (Met. 1, 747-774, Met. 2, 1-400).[103] Clymene hat in vielen Städten gelebt und einige Fächer unterrichtet und studiert. Sie ist eine kosmopolitische Gelehrte, die aber auch Kritik am Universitätsbetrieb und an der Welt der Akademiker übt. Außerdem unterrichtet sie Sprachen (Kapitel 8).

In Ovids Version des Mythos von der Io (Met. 1, 568-746) erblickt Jupiter (Zeus) sie an einem Fluss, breitet eine Wolke über einen Wald aus und schläft dort mit ihr. Die eifersüchtige Juno (Hera) erbittet sie als Geschenk, teilt ihr den Wächter Argos zu, den Merkur (Hermes) dann überlistet. Juno schickt Io auch eine Bremse, die sie über die Erde treibt. Als Io nach Ägypten kommt, wird sie als Isis verehrt, ihr Sohn Epaphos als Stiergottheit Apis. In Aischylos Darstellung ist nach Io noch das Ionische Meer benannt und die Meerenge Bosporus (eigentlich „Kuh-Furt“).[104] In Tawadas Version liebt Io Wein und Männer, die an die Märchenfigur des Zwerges erinnern. Sie hat Träume, in denen sie sich in eine Kuh verwandelt. Sie wird von einem Freund besucht, einem Privatdozent, der sie Färse nennt. Es gibt Anspielungen auf Ägypten wie Vielgötterei und die Ich-Erzählerin verwandelt sich kurz in eine Katze. Io erwähnt das Wort Bremse und ufert bei jedem Schritt aus, überschreitet die eigene Körperform wie eine Kuh (Kapitel 9).

Thetis ist in Tawadas Buch (Kapitel 10) eine Tänzerin, die Salmacis aus einer Zeitung ausschneidet. Sie wollte alt werden und sehr lange leben. Als Fünfundzwanzigjährige wandert sie mit fünf Freunden fünf Monate lang durch Griechenland. Sie hat nicht so viel Geld und bekommt Angebote von Investoren, die sie aber ablehnt. Thetis ist mit Io befreundet und liest das Buch Metamorphosen von der ersten bis zur letzten Seite. Das Buch ist wie eine Mausefalle und Thetis verwächst schließlich mit dem Buch, denn als Tänzerin kann sie sich in alle Formen verwandeln. In der griechischen und römischen Mythologie ist Thetis eine Meeresgöttin, die aber von Juno aufgezogen wurde. Sie erhält das Orakel, dass ihr Sohn größer sein wird als sein Vater. Deshalb können Jupiter (Zeus) und Neptun (Poseidon), die sie beide begehren, sich nicht mit ihr vereinen. Ihr wird der Sterbliche Peleus zugeteilt, dem sie zuerst versucht zu widerstehen, indem sie sich in zahlreiche Formen wandelt. Aber Peleus hält durch und es wird Hochzeit gefeiert, zu der alle Götter eingeladen sind bis auf Eris, der Göttin der Zwietracht, die einen Zankapfel in die Mitte der Gäste wirft, worüber sich Athene (Minerva), Aphrodite (Venus) und Hera (Juno) dann streiten. Thetis Sohn war Achilleus, den sie Zeit seines Lebens beschützt. Sie hält ihn in Feuer oder in das Wasser des Styx, um ihn unverwundbar zu machen (Met. 11, 221-265).[105]

Limnaea, Mutter von Athis, einem Meister im Bogenschießen, der von Perseus besiegt wird, und Tochter des Gangesflusses (Met. 5, 46-73), tritt in Tawadas Buch (Kapitel 11) als mondförmige Frau auf. Sie hat ein Tanzstück von Thetis gesehen und sieht überall Ansätze von Tanzbewegungen. Limnaea war vor ihrer Reise zwanzig Jahre lang Hausfrau gewesen und verließ mit Vierzig ihr Haus. Sie reist nach Indien, hat wenig Gepäck und nimmt dort Drogen mit Studenten.

Niobe, Tochter des Tantalos und der Dione, verschmäht in Ovids Epos sui generis am Festtag der Leto (= Latona) diese und prahlt mit ihren 14 Kindern. Latonas Kinder Apollo und Artemis töten daraufhin ihre Kinder. Niobe selbst wurde in einen Marmorblock verwandelt, aus dem Wasserströme wie Tränen flossen (Met. 6, 146-312).[106] Tawada macht aus ihr in Kapitel 12 eine gereizte, politisch engagierte Studentin, die als Lektorin arbeitet und irgendwann nicht mehr auf Demos gehen will, die sich von einem Soziologen trennt und mit einem kurzsichtigen Sinologen zusammenzieht, der von seinen Kollegen „Maulwurf“ genannt wird. Beide trinken gerne Wein. Ein homosexueller Dichter und guter Freund von Niobe, der zu Besuch kommt und den der Maulwurf nicht leiden kann, meint Wein sei ein Rauschmittel für Spießbürger. Niobe trifft gerne Göttinnen, die höher gewachsen sind als sie selbst. Eine Provokation schenkt ihr neue Kräfte. Sie ist kampfbereit und hat schon gewonnen.

Iphis, die Tochter von Lygdus und Telethusa, borgt ihrer Nachbarin Scylla in Kapitel 13 Geld, um mit ihr in Kontakt bleiben zu können und homoerotische Befriedigung zu erlangen. Iphis will ihrem taubenartigen Körper schon mit fünfzehn Jahren entfliehen und nimmt Tanzunterricht. Sie wirft Geldscheine in die Luft, die Scheine verwandeln sich in Tauben und fliegen wieder zurück in ihre Hand. Herr Nagelzieher ist öfter zu Besuch und fragt sie, ob sie ein Mann sein will und Iphis schließt einen Vertrag mit diesem Teufel. In der Mythologie gelingt es durch die List und das Gutdünken der Isis, dass Iphis schließlich wirklich ein Mann werden kann und seine Ianthe heiraten darf (Met. 9, 666-797).[107]

Semele ist die Tochter des Kadmos und der Harmonia, die wiederum die Tochter des Ares (Mars) und der Aphrodite (Venus) ist, und Mutter des Gottes Dionysos (Bacchus). Das Wort Semele ist nicht griechischen Ursprungs und scheint aus dem thrakischen zemelo (Erde) zu kommen. Zeus (Jupiter) erscheint ihr in Theben als Sterblicher und wird ihr Geliebter. Hera (Juno) ist eifersüchtig, verwandelt sich in ihre Amme Beroë, die behauptet, ihr Geliebter sei gar nicht Zeus. Also bittet Semele Zeus sich ihr in seiner ganzen Herrlichkeit zu zeigen, wovon er ihr abrät, aber es trotzdem tut, um sein Versprechen einzuhalten. So wird Semele verbrannt und stirbt. Zeus gelingt es aber Dionysos zu retten: er näht ihn in seine Hüfte ein und gebärt ihn (Met. 3, 253-315).[108] Kadmos, Bruder der Europa und Begründer der Stadt Kadmeia bzw. Theben, die er auf der Suche nach Europa gründet (Met. 4, 563-603),[109] ist in Tawadas Version Semeles Vater und ein Zahnarzt. Semele ist Modeschöpferin, die wegen dem Zauber der Stoffe, die duftende Falten werfen, diesen Beruf gewählt hat. Sie hat einen Sohn, der Seidenraupen nicht mag, 20 Jahre alt ist und in Berlin studiert. Semele ist von ihrem Mann Zeus, der auch Zahnarzt war, geschieden. Die Seidenraupen kriechen zu Semele ins Bett, ebenso wie ein Prinz Taschenlampe. Ihre Freundin heißt Ariadne. Nachts kann sie nicht schlafen, weil sie alt wird, was genauso ist, wie verliebt zu sein: Bauchweh, Unruhe, Schlaflosigkeit und Tränen. Sie mag gerne die Farbe Indigo, was laut ihrer alten Amme besser geeignet ist für Baumwolle als für Seide. Semele zieht ihre Hose aus, aus der Hosentasche rollt ihr Sohn Dionysos. Da taucht der Vater auf, greift nach ihm und steckt die Frühgeburt in seine Hosentasche (Kapitel 14).

Ceres (Demeter) ist eine Göttin der Fruchtbarkeit, Erdgöttin, Göttin der Eleusischen Mysterien, eines der sechs Kinder von Kronos und Rhea. Sie wurde in alter Zeit auch mit Kybele gleichgesetzt. Gemeinsam mit ihrem Bruder Zeus zeugt sie Proserpina (Persephone), ihre Tochter, die ebenfalls eine Fruchtbarkeitsgöttin ist. Proserpina wird heimlich von Jupiter (Zeus) dem Pluto (Hades) versprochen und so von diesem mit einer List geraubt. Ceres verbreitete aus Trauer darüber Dürre und Hungersnot, solange bis Zeus erkannte, dass die Menschen aussterben würden und die Götter keine Opfer mehr erhalten. Also willigte er ein, dass Proserpina ein halbes Jahr an der Oberwelt (Frühling und Sommer) und ein halbes Jahr in der Unterwelt (Herbst und Winter) bleiben sollte (Met. 5, 341-661).[110] Nach Tawada hat Ceres vergessen, ihre Zwillingsschwester auf die Welt zu bringen, die als Vergessene verloren ging, irgendwo zwischen Diesseits und Jenseits. Sie bekam eine Tochter, die genauso hieß wie sie und nicht sesshaft war. Ceres´ Beine haben etwas von Agrikultur, wie eine Tanzlehrerin meint. Ceres ist eine Figur in einer Erzählung von Coronis (Kapitel 15).

In Kapitel 16 von Tawadas Buch Opium für Ovid wird uns Pomona vorgestellt. Pomona ist ursprünglich die römische Göttin der Früchte und des Obstbaumes (lat. pomum = Apfel, frz. pomme). Vertumnus verliebte sich in sie, doch sie wies ihn zurück. Vertumnus (lat. vertere) konnte sich verwandeln und so erschien er ihr als alte Frau, die so beredt von ihm sprach, dass Pomona ihn schlussendlich doch nahm (Met. 14, 622-771).[111] Pomona liebte als Kind die Stadtbücherei, in der es entweder Pferdebücher gab oder Bücher über erwachsene Männer, die Frauen liebten. Pomona ist Filmschauspielerin, Drehbuchautorin und Regisseurin. Pomona lernte von Diana das Kochen, in die sie sich verliebte. Pomona spürte erotische Knoten im Bauch. Zwiebeln und Knoblauch. Zum Schluss verehrte sie Diana mit Lorbeerblättern. Pomona liebt es, Zeit zu verschwenden. Sie wollte einen Film über Gerüche drehen und bittet deshalb bei der Bank um Geld. Aus Angst vor Schmerzen wird sie abhängig. Sie schläft neben sich selbst, einer alten Frau, als Rotkäppchen ein.

Die Nymphe Echo vom Berg Helikon verliebt sich in den Jüngling Narziss, der aber nur sich selbst lieben kann. Echo hatte ihre Sprache verloren und konnte nur die letzten Worte ihres Gegenübers wiederholen, weil sie durch ihr beharrliches Geschwätz verhinderte, dass Juno die Liebschaften ihres Mannes Jupiter aufdecken und beweisen konnte. Aus Gram über die verschmähte Liebe ihres Lebens zieht sich Echo in eine Höhle zurück, hört auf zu essen und zu trinken, wird zu Haut und Knochen und bleibt nur noch als Echo ihrer eigenen Stimme in unserer Welt zurück (Met. 3, 339-510).[112] In Tawadas Story wird die Nymphe zu einer Redakteurin, die sich in einen älteren englischen Gentleman verliebt und aus Trauer, dass dieser nicht wieder auftaucht, sogar ihren Job aufgibt. Sie trifft ihn aber beim Tanzen wieder (Kapitel 17).

Auf das Kapitel mit Thisbe folgt im 19. Kapitel die Geschichte von Juno, der Krankenschwester (Kapitel 2 Ende). Sie hatte in Coronis Phantasie Kunstgeschichte studiert und auch als Museumswärterin gearbeitet. In Griechenland, wo sie die Sommer verbrachte, nannte sie sich Hera. Juno soll Kinder gebären, das ist ihre Rolle. Coronis erfindet sie als Figur für ihr nächstes Buch. Sie hat zwei Töchter und einen Sohn namens Mars, der Informatiker ist. Ihr Mann Jupiter ist Rechtsanwalt, geht oft fremd und macht viele Dienstreisen. Semele war ebenfalls eine verdächtige Klientin von ihm. Juno bekommt schließlich einen Tumor im Bauch. Coronis wirft am Ende ein Heft mit der Überschrift „Juno“ in den Papierkorb. Juno (vielleicht von iuvenis „jung“ im Sinne von „Braut“) ist eigentlich die römische Göttin der Frauen und der Ehe, Gemahlin des Jupiter und seit frühesten Zeiten mit Hera identifiziert. Hera gebiert Hephaistos ohne Hilfe des Zeus, Mars ist Sohn von Hera und Zeus. Sie versucht Jupiters Betrug zu entlarven und seinen Geliebten zu schaden, wo es nur geht (Met. 1, 568-746, Met. 3 253-315).[113]

Ariadne ist ursprünglich die Tochter des Königs Minos von Kreta und der Pasiphaë. Als Theseus nach Kreta kam, um den Minotaurus zu töten, verliebte sich Ariadne in ihn und gab ihm ein Schwert und ein Stück Garn, damit er aus dem Labyrinth wieder herausfände. Theseus hatte versprochen, sie mitzunehmen und zu heiraten. Er ließ sie aber nach verrichteter Mordtat auf der Insel Naxos zurück, wo Ariade von dem Gott Dionysos gerettet wurde, der sie heiratete. (Met. 8, 152-182).[114] In Kapitel 20 von Tawadas Buch wandert sie im Schlaf von einer Umzugsszene zur nächsten und, als sie aufwacht, fühlt sie sich von jemandem verlassen. Sie geht in der Stadt spazieren, die ein Tier mit zahlreichen Körperöffnungen ist, von welchen sie verschlungen wird. Die Gassen haben keine Namen. Die Wegbeschreibung zu dem Haus der Geliebten könnte man mit Minus und Plus markieren nach Sympathiegrad des Weges. Wenn jemand nicht gefunden werden will, zum Beispiel ein Familienvater, der eines Tages keine Lust mehr hat, der selbige zu sein, kann er im Labyrinth der Gassen einfach verschwinden.

Ocyroë, die Tochter von Chiron und Chariclo, wurde in ein Pferd verwandelt, weil sie ihrem Vater sein Schicksal weissagte, ihr Vater ein Kentaur war und sie kastanienbraunes Haar hatte. Die Fähigkeit zu sprechen wurde ihr genommen (Met. 2, 633-675). Bei Tawada (Kapitel 21) ist sie Theaterschauspielerin, isst sehr geräuschvoll ihr Essen wie ein Pferd, wird krank, will ihren Beruf nicht mehr ausüben, weil da zu viel Menschenfleisch geopfert wird. Sie kennt Coronis und Clymene war ihre Sprachlehrerin. Sie bewundert gemeinsam mit einer anderen Frau die Kunst der Tänzerin Thetis.

Tawada schließt mit der mythischen Figur der Diana im 22. Kapitel ihr Buch ab. Diana ist die Göttin der Jagd, eine alte italische Waldgottheit, Beschützerin der Wildnis und der Frauen. Sie wird mit der griechischen Artemis identifiziert (Met. 3, 131-252).[115] Außerdem ist sie auch eine Symbolfigur für lesbische, homoerotische Liebe, was auch in der modernen Serie Sex in the City thematisiert wird. Diana ist in Opium für Ovid noch ein kleines Mädchen, das süchtig nach Büchern und Abenteuern heimlich in der Nacht noch ein Buch unter der Decke mit Taschenlampe liest. Ein mondförmiges Licht fällt auf eine Buchseite. Bewusstlos wird sie in einem Boot an das Ufer des nächsten Morgens getragen. Wenn sie erwachsen wird, darf sie wachbleiben und so lange die Nächte hindurch lesen, dass sie nie wieder aufstehen muss.

Das Leben wird völlig in Kunst verwandelt. Tawada schreibt mit ihren Frauengestalten ihre eigenen neuen Mythen, die auf Ovid basieren. Diese Technik der ineinandergreifenden Geschichten der Charaktere, für die Ovid so berühmt ist, erinnert auch an moderne Filme Woody Allens oder Filme wie Lola rennt.

In Opium für Ovid werden keine Geschichten im traditionellen Sinn erzählt, wo es Anfang, Höhepunkt und Schluss gibt, sondern ihre Geschichten sind ohne Anfang und Ende, sie fangen nicht an, hören nicht auf, sie zirkulieren in der Unendlichkeit und sind auf Vielfältigkeit aufgebaut. Auf diese Weise widersetzt sich Tawada westlichen Erzählweisen. Es werden Augenblicke aus dem Leben der Protagonistinnen gezeigt. Fragmentarisch oder elliptisch geht die Autorin vor, wenn sie Erzählstränge auf einmal unterbricht, sie als unwahr demaskiert und sprunghaft zu einem anderen Thema wechselt.[116]

Der Begriff des Subjekts und seine Individualität in der japanischen Kultur sind grundsätzlich verschieden von dem abendländischen Verständnis des Individuums. Dies spiegelt sich natürlich auch in der Sprache wider, bei der es in einem Satz kein Subjekt geben muss, es sogar vermieden wird, das Subjekt direkt zu bezeichnen. Tawada sagt selbst, dass sie bis zum Eintritt in die Grundschule von sich nur mit ihrem Namen gesprochen habe und erst dort dann gelernt hatte, sich als „ich“ zu bezeichnen.[117] Bei Japanisch handelt es sich um eine Sprache, die Bilder erzeugt, in welchen leblose Gegenstände, Objekte unserer Wahrnehmung, bevorzugt zum Subjekt des Satzes erhoben werden bzw. wird die Handlung an sich wichtiger. Es kommt zu einem leeren Subjekt, zu einer Substanzlosigkeit, auch beispielsweise durch die ausgeschnittene Papierfigur, welche als Papierpuppe die Schablone der Figur ausdrückt. Die Identität der einzelnen Figuren ist austauschbar und in Auflösung begriffen. Die Wirklichkeit der Charaktere wird schon innerhalb der Geschichte offen in Frage gestellt: haben sich alle die Frauen nur gegenseitig erfunden? Existieren sie überhaupt? Die Frauen haben fließende Identitäten.[118]

Auffallend ist in Opium für Ovid der Mangel an Männerfiguren. Tawada scheint sich hauptsächlich für Frauencharaktere zu interessieren. Wenn über Männer berichtet wird, so sind das lediglich Typen, keine entwickelten Charaktere, die nicht genau wissen, was sie mit sich anfangen sollen. Sie werden zumeist als schwach, unspontan und beinahe charakterlos beschrieben. Im Gegensatz zu den Männern brechen die Frauen alle möglichen Regeln. Sie genießen ihr Leben, das sie sich ständig neu erfinden, sind von sich selbst berauscht und amüsieren sich.[119]

In ihrem Buch vermittelt sie auch eine Faszination für die einzelnen weiblichen Körperteile: die Haut, die Augen, Körperöffnungen oder die Haare spielen eine wichtige Rolle in der Manifestation von Widerstand. Durch Fantasie haben die Frauen das Wichtigste erreicht oder sind gerade dabei es zu erreichen: ihre Freiheit.[120] Frauen schaffen sich alternative Lebensräume in der Realität oder in ihrer Fantasie. Die Sprache wird dabei zum Medium, um sich diese zu schaffen. Die Autorin kreiert Lufträume und Tanzräume, leere und freie Räume, in denen sich ihre Frauen grenzenlos bewegen und entwickeln können.[121]

Ein weiterer wichtiger Topos in Opium für Ovid ist der Schlaf, der die einzige Möglichkeit zu bieten scheint, in eine androgyne Welt einzutreten: nur im Schlaf kann man zugleich männlich und weiblich sein. Für Salmacis wird der Schlaf zum Geliebten, also kommt es zu einer Personifikation des Schlafes, bei dem sie eine erotische Beziehung mit ihm erlebt. Bei Tawada ist Utopie ein Teil der realen Welt. Salmacis aber langweilen Träume, denn Träume könne man sich ausdenken oder in einer Bibliothek nachlesen, dafür müsse man wirklich nicht schlafen. Bei Tawada gibt es keinen klaren Unterschied zwischen Leben und Traum. La vida es sueño. Deshalb haben wohl auch ihre Frauengestalten eine ausgeprägte imaginäre Kraft, eine solche Fantasie, dass sie sich in jeder Situation wohlfühlen und sich selbst genießen können.[122]

Die Beziehung von Schrift und Körper steht in einem untrennbaren Zusammenhang mit der weiblichen Sexualität, wie auch von Tawada Yōko in diesem Werk thematisiert. Auch für Tawada erhalten die „Lippen“ ihre doppelte Bedeutung als sexuelles Organ und als Sprechinstrument, eine Ambivalenz, die sich durch das gesamte Buch zieht, was eine Sprache der Erotik erzeugt, ein Motiv, das bereits bei Shakespeare verwendet wird (Act 5, Scene 1), hier auch als intellektueller Verweis auf Sei Shōnagon. Frauen werden als Genießerinnen ihrer Leben und ihrer Körper dargestellt, die keine Männer brauchen, um glücklich oder verliebt zu sein. Coronis erlebt den fleischlichen Höhepunkt beim Schreiben, sie schreibt und wird dabei erregt. Schreiben ist Sex. Diana schafft es, sich mit Hilfe des Lesens in Ekstase zu versetzen.[123]

Tawada kreiert in ihrem Buch eine Verbindung der Elemente Natur und Stadt, die traditionell von der westlichen Kultur als weiblich (Natur) und männlich (Stadt, Technik) definiert werden, die unaufhaltsam Gegensätze zu suchen scheint, wogegen sich Tawada richtet. Ariadne kann alle Wege der Stadt gleichzeitig gehen und die Stadt ist ein Tier mit zahllosen Körperöffnungen. Die Stadt, ein offener Raum mit einer Vielfalt von Möglichkeiten, namenlosen Gassen, die selbst einem ständigen Wandel unterworfen sind, erlaubt ein unbemerktes Untertauchen oder Sich-Verlieren, im Labyrinth der Gassen verschwinden.[124]

Unter dem Einfluss Sei Shōnagons gewinnt die ovidische Technik der intensiven Beschreibung, der Ekphrasis, noch durch die Skizzenhaftigkeit und den privaten Charakter der tagebuchartigen Aufzeichnungen. Inhaltlich beeinflusst die japanische Hofdame Tawada Yōko auch durch ähnliche Motive, die immer wieder kehren wie Insekten (Mücken), Vögel, Liebhaber der Frauen, Abendessen, Erlebnisse mit anderen Frauen, Gedanken zur Politik und Religion oder über Triviales. Es handelt sich um eine Aneinanderreihung vieler Meinungen unterschiedlicher Frauen. Sie erwähnt das Kopfkissen selbst inmitten eines Stimmungsbildes im 4. Kapitel, als Latona im Herbst Haare verliert: Morgens lag ihr Kopfkissen unter einem Netz aus verlorenen Haaren. Außerdem wird das Kopfkissen auch noch in Kapitel 10, dem Thetis-Kapitel, genannt: Thetis steht vor einer Tür aus Pappe, einer winzigen Tür, sie ist kleiner als ein Kopfkissen, für Thetis aber schwer zu öffnen, besonders wenn jemand ihr zuschaut.

Das Motiv „Vögel“ der japanischen Autorin Sei Shōnagon kommt an sieben Stellen in Tawada Yōkos Buch (S. 33, 41, 42, 87, 89, 92, 144) vor, wobei sie auch dabei wieder eine lustige Wendung einbaut, denn die Vögel scheinen die Menschen zu beobachten, wie vor allem durch die Situation in Kapitel 7 (S. 87) deutlich wird, was an Alfred Hitchcocks Film The Birds (1963) anklingen lässt, ein Motiv, das auch in modernen wunderschönen Computerspielen wie Satinavs Ketten wieder auftaucht, die virtuelle interaktive Kunstwerke der Gegenwart darstellen. Tawada ruft mit den Vögeln auch einen Märchenton und poetische Assoziationen wach.[125]

Insekten kommen an vier Stellen vor, einmal als freche Mücke: S. 83, 130, 147, 211.

Die Autorin macht auch sehr viele Witze und kreative Einlagen auf der Metaebene, das heißt, wenn die jeweilige Produktion und Entstehung des Werkes selbst zum Inhalt der Arbeit wird: beispielsweise wenn die Ich-Erzählerin im Juno-Kapitel (Kapitel 19) lamentiert, dass sie auch nur ein Heft gewesen sein könnte, das Coronis weggeschmissen hat, weil sie ja immer weniger auftaucht in der Geschichte, bis sie am Schluss des Buchs zur Diana wird, die die Nacht längt, um nicht mehr aufhören müssen zu lesen. Sie durchbricht immer wieder ihre Erzählung nicht nur mit Hilfe der plötzlich auftretenden Ich-Erzählerin, die alle Frauen zu kennen scheint, sondern auch auf der Metaebene: Es hätte sein können, dass ich an Stelle einer Semele eine Ariadne kennengelernt hätte... Es war keine gute Idee von mir, den Prinzen Taschenlampe zu den Frauen zu schicken… Aber in seinen Augen sahen die Frauen vollkommen anders aus als in meinen, wahrscheinlich, weil sein Interesse darin bestand, Nachkommen zu hinterlassen (Kapitel 14). Sie lässt Salmacis Thetis aus der Zeitung ausschneiden (Kapitel 10), ein Motiv, das sie stellenweise im Buch verteilt, denn Salmacis schneidet auch ihren eigenen Körper aus (Kapitel 6), und auch Latona schneidet ein Foto aus der Zeitung aus (Kapitel 4). Oder Tawada fällt auf einmal als Ich-Erzählerin ein, dass Latona und Scylla sich nie kennengelernt hatten. Die hier beschriebene Szene muss also aus dem Text gestrichen werden (Kapitel 4). In Kapitel 15 heißt Ceres Tochter plötzlich auch Ceres - beide sind ja eigentlich Fruchtbarkeitsgöttinnen, aber Coronis schreibt ihre Erzählung wieder um, weil ihr das dann doch zu dumm vorkommt.

Tawada macht auch viele amüsante Witze mit Hilfe der mythischen Gestalten, wenn sie zum Beispiel sagt: Ein Maler nannte sein Bild „Hera“, aber man sah sofort, dass die abgebildete Frau seine Gemahlin war. Semele zieht ihre Hose aus, und aus der Hosentasche rollt ihr Sohn Dionysos. … Da taucht der Vater auf, greift nach ihm und steckt es in seine Hosentasche. Ab heute werden Menschenkinder in Männertaschen ausgebrütet (Kapitel 14). Scylla läuft in Kapitel 5 wie ein Raubtier im Käfig in der Küche hin und her.

Tatsächliche Metamorphosen im Sinne Ovids finden statt und begeistern den Leser in ihrem Zauber: Die wichtigste Verwandlung ist wohl die Verschmelzung der Thetis mit dem Buch der Metamorphosen selbst in Kapitel 10, ziemlich in der Mitte des gesamten Buches. Die Ich-Erzählerin verwandelt sich in Kapitel 9 in eine Katze und in Kapitel 16 ahmt sie Daphne nach und wird durch eine Tablette zum Baum. Ein unbekannter Autor verhext sich selbst mit Opium und wird zur Pflanze (Kapitel 20) und Niobe wird zum Stier in einer spanischen Arena in Kapitel 12, der rote Flaggen hasst. In Kapitel 17 wird Echo kurz zu Stein, taut aber wieder auf sozusagen.

Tawada gelingt es, märchenhafte Züge Ovids in ihre Geschichte einzubauen. Immer wieder bildet sie amüsante Verwechslungen und Metaphern in Bezug auf das Rotkäppchen (S. 65, 167, 173), das auf die Überlieferung von Charles Perrault (Le petit chaperon rouge) aus dem Jahr 1694 und 1697 zurückgeht und der Erziehung junger Mädchen dienen sollte, die sich vor dem „bösen Wolf“ und sexuellen Kontakten zu Männern in ihrer Jungfräulichkeit schützen sollten.[126] Tawada gelingt eine interessante Wendung mit sexueller Anspielung und ein absichtliches lustiges Missverständnis, wenn sie sagt: Der Mann schluckt ein jungfräuliches Mädchen, das eigentlich mit einer alten Frau schlafen wollte (S.65). Schneewittchen wird in Zusammenhang mit Hongkong erwähnt (S. 136), das eine Konkubine ist.

Sie fügt Malereien aus der bildenden Kunst in ihre Szenerien wie bei einer Ekphrasis Ovids im Sinne von Niklaos Rhetor ein: Degas und Gauguins Tänzerinnen (S. 116). Die Szene aus Kapitel 2, in der sich Galanthis das Schamhaar bedeckt, führt ein bekanntes Venusbildnis vor die Augen des Lesers. Tawada macht einen Witz zum Thema Skulptur auf S. 104 und verweist durch die Modellierung dieser wieder auf die einzelnen menschlichen Köperteile der Frauen, die sie betont.[127] Sie zerlegt einzelne Charaktere in Zeitungsausschnitte oder Scherben eines größeren Ganzen und setzt sie wieder zusammen.[128] Tawada macht sich in ihrem gesamten Buch immer wieder über das Vorurteil zu Dichtern und Künstlern lustig, sie könnten ihre Werke nur in einem Rauschzustand angefertigt haben.

Das Thema Altwerden zieht sich durch das gesamte Buch und wird besonders in Kapitel 14 zum Ausdruck gebracht (S. 152). Sie stellt dies ihrem Geheimnis der ewigen Jugend (Kapitel 21, S. 214) gegenüber. Die Frage nach der Unsterblichkeit bewegt sie offensichtlich (Kapitel 7, S. 91-92): Bücher treten immer wieder auch als ihre Kinder auf.

Ganz besonders wichtig ist Tawada das Thema der Sexualität, Erotik (S. 71, 148ff) und vor allem das der Homoerotik, die im gesamten Buch überwiegt: Kapitel 2, 5, 6, 7, 10, 11, 13, 14, 15, 16, 18, 20.

Tawada macht viele Aussagen zur Politik auch abseits des Opiumkriegs (Kapitel 11) und der Bostoner Tea Party am 16.12.1773 (Kapitel 20). Sie nennt Hongkong eine Konkubine (Kapitel 12). In Kapitel 21 vergleicht sie Religion mit Politik: Der Hammer ist das Kreuz Jesu und die Sichel ist der Mond, auf dem die heilige Jungfrau stand. Bei uns war die Religion sichtbar. Ebenso in Kapitel 7, wenn sie sagt: Leda fand, Coronis müsse sich unbedingt Unterstützung vom Staat holen, denn der Staat ist das Vaterunser. In Kapitel 8 fragt sie, ob man Reichtum damit rechtfertigen kann, dass man seine Fähigkeiten und seinen Fleiß nachweisen kann und ob faule oder unbegabte Menschen arm sein sollen. Sie übt Kritik an Banken und Politikern gleich im ersten Kapitel: Die Armut soll der Grund für Verbrechen sein, obwohl es doch so viele kriminelle Bankiers und Politiker gibt. Sie tadelt die Gesellschaft in Kapitel 11: Wer weder einer Nation noch einer Familie angehört, fällt bei einer Feier peinlich auf.

Sie übt Kritik an arroganten Akademikerkreisen (Kapitel 8) und macht sich lustig über die akademische Begeisterung an dem Wort Zaub. Gleichzeitig lässt sie auch an dummen Menschen kein gutes Haar: Es ist recht spannend, wie hohl ein Kopf sein kann (Kapitel 8). Zudem übt sie auch Kunstkritik in Kapitel 16 - Kunst sei heutzutage nicht mehr ernst zu nehmen, denn sie sei durch und durch kommerzialisiert - und Kritik am Literaturbetrieb in Kapitel 7: Ich möchte keinen Großvater haben. Leser wollen aber gerne, dass du eine Beziehung zu einem Autor hast, der in der großen Genealogie steht. Sie kritisiert den Esoterik-Buddhismus in Europa (Kapitel 4), übt Kritik am Islam (Kapitel 5) und am Christentum (Kapitel 2 und 21). Schließlich bemängelt sie das Gesundheitssystem in Kapitel 2 und Kapitel 4.

Am Beispiel des Textes Opium für Ovid wird zugleich die Migrantenkultur der Zwischenzone, die Position der Minorität sichtbar, die das Wirken der Nichtübersetzbarkeit der Kultur dramatisch in Szene setzt.[129] Migration ist in Tawadas Text immer wieder ein Thema (Kapitel 18, 16, 11, 7)

Tawada ist als Autorin nicht nur in der Ich-Erzählerin teilweise enthalten, sondern auch in jeder einzelnen Frau, die sie beschreibt.

Dieses Buch ist wahrscheinlich so vielschichtig, dass man es gar nicht allein interpretatorisch in seiner Gesamtheit erfassen kann.

3.3.2 Orpheus oder Izanagi

In dem Hörspiel Orpheus oder Izanagi nimmt Tawada, die Einschreibungen synchroner und diachroner Art dekonstruierend, auf Europa und Asien, auf beide Systeme, Bezug und überschreitet sie jeweils. Sie kreuzt die europäische Antike mit Figuren des japanischen Altertums und liefert somit ein ungewöhnliches Beispiel kultureller Differenzen und eine kritische Reflexion kultureller Aneignung.[130]

Izanagi [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] ist der Göttervater der siebenten Göttergeneration, der gemeinsam mit Izanami [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten], der Göttermutter, zahlreiche weitere Gottheiten fast nebenbei zeugt, wie beispielsweise auch Hiruko [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten], das Blutegelkind. Die Silbe iza im Namen der beiden kommt von izanau 誘うund bedeutet so viel wie „einladen, locken, verführen“, die Silbe gi ist ein männliches Suffix, mi ein weibliches Suffix, ein Archaismus kogo 古語aus dem alten Japanisch. Izanami stirbt jedoch bei der Geburt des Feuergottes, der sie verbrennt. Also steigt Izanagi wie Orpheus in die Unterwelt, in das Reich der Toten und der Nacht (yomi no kuni [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]), hinab. Izanami hat sich dort jedoch bereits verwandelt und die Götter der Unterwelt lassen sie nicht mehr frei. Ihr Verwesungsprozess hat schon begonnen, wie Izanagi mit der Entzündung eines Lichtes enthüllt. Sie ist bereits selbst zum Dämon geworden, der Izanagi bis zum Ausgang der Unterwelt verfolgt, den er sogleich mit einem Felsen verschließt. Nach seiner Reise in die Unterwelt reinigt sich Izanagi in einem Fluss. Dabei entstehen die Gottheiten Amaterasu [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] (Sonnengöttin), Susanoo [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] (Sturmgott) und Tsukiyomi [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] (Mondgott).[131]

Tawada Yōko verbindet in ihrem Hörspiel Orpheus oder Izanagi diese alte Mythengeschichte mit dem europäischen Mythos von Orpheus und überwindet so die Grenzen zwischen Japan und Europa auf amüsante Weise. Izanagi muss ebenso wie Orpheus aus Ovids Metamorphosen (Met. 10, 1-77), der größte Sänger der griechischen Mythologie, Sohn des Apollon und der Muse Kalliope, in die Unterwelt hinabsteigen, um seine Frau zu retten. Orpheus soll so wundervoll gesungen haben, dass sogar Bäume und Steine kamen, um seine Musik zu hören. Er begleitete die Argonauten nach Kolchis, besänftigte unterwegs das Meer und schläferte dort sogar einen Drachen ein. Auch übertönte er den Sirenengesang mit seiner Leier. Wieder in Thrakien, heiratete Orpheus eine Najade oder Dryade namens Eurydike, die er leidenschaftlich liebte. Bald stellte ihr aber Aristaios nach, und als sie vor ihm über die Wiesen floh, trat sie auf eine Schlange, wurde gebissen und starb. Der Sänger war so unglücklich über ihren Tod, dass er in die Unterwelt hinabstieg um sie von den Toten wieder in das Reich der Lebenden zu bringen. Die Götter der Unterwelt waren so gerührt von seinem Leierspiel, dass sie Eurydike gehen ließen unter der Bedingung, dass er sich auf dem Weg in die Oberwelt nicht nach ihr umblicke. In der älteren Überlieferung gelang ihm das sogar, aber bei Vergil und Ovid dreht er sich aus Sorge um seine Gattin Eurydike um und verliert so seine große Liebe. Daraufhin zog er sich aus Trauer von der Welt und allen Frauen zurück. Das erregte den Zorn der Mänaden des Dionysos, die um ihn stritten und ihn zerrissen: nur sein Kopf soll den Fluss entlang ins Meer gespült worden sein, von wo aus er an die Küste der Insel Lesbos gelangte. Dort wurde er begraben, die Bewohner der Insel dafür mit der Gabe der Dichtkunst gesegnet.[132]

[...]


[1] Tawada (1996): 15, Amodeo (2009): 63.

[2] Seebold (2011): 715, Walde-Hofmann (2007): 339-340.

[3] Seebold (2011): 548, Walde-Hofmann (2007): 245-247.

[4] Powers (1989): IX-X, Whittier Treat (1996): 2-5.

[5] Fantuzzi (1997): 942-945, Reitz (1997): 945-947, Egelhaaf (1997): 947-950.

[6] eine Färse ist ein weibliches Rind, das noch nicht gekalbt hat - Tawada (2011b): 112.

[7] Tawada (2007b): 221-228, Gottwein (2012).

[8] Gallagher (2009), Horn (1997), Larsson (2009), Martindale (1988), Miner (1958), Toyama (1990), Walter (1995), Walther (2003), Wappenschmidt (2004), Zimmermann (2009), Ziolkowski (2005).

[9] Kirsch (2004): 9, Janeira (1970): 120-121.

[10] Clossey (2006): 41-42, Ōguchi (1990): 78-80.

[11] Janeira (1970): 120, Ōguchi (1990): 78-80.

[12] Kirsch (2004): 12-13, Ōguchi (1990): 82.

[13] Kirsch (2004): 10-11.

[14] Clossey (2006): 43-46, Kirsch (2004): 10.

[15] Clossey (2006): 51-52, Ōguchi (1990): 91.

[16] Kirsch (2004): 163-165.

[17] Kirsch (2004): 169.

[18] Kirsch (2004): 157.

[19] Kirsch (2004): 158, 165, Ōguchi (1990): 91-92.

[20] Kirsch (2004): 157-159, Ōguchi (1990): 85, 91-92.

[21] Kirsch (2004): 166-168, 176-177.

[22] Kirsch (2004): 14-15, Ōguchi (1990): 92.

[23] Kirsch (2004): 297-299.

[24] Kirsch (2004): 16-17.

[25] Kirsch (2004): 18, Ōguchi (1990): 107.

[26] Janeira (1970): 120-122, Ōguchi (1990): 92.

[27] Kirsch (2004): 284-287.

[28] Kirsch (2004): 287-289, Ōguchi (1990): 103-104.

[29] Janeira (1970): 122-123, Ōguchi (1990): 100-105.

[30] Janeira (1970): 124-129, Kirschnereit (2000): 15-16, Ōguchi (1990): 105-116, Kojima (1967): 366-367.

[31] Kirschnereit (2000): 14.

[32] Janeira (1970): 129-130, Kirschnereit (2000): 22.

[33] Janeira (1970): 131-132, 132-134, 134-139, Kirschnereit (2000): 20, Murray (2003): 12-13.

[34] Janeira (1970): 139-141, Murray (2003): 76-77.

[35] Kirschnereit (2000): 16, Janeira (1970): 142-143.

[36] Janeira (1970): 144-145.

[37] Janeira (1970): 153-156.

[38] Kirschnereit (2000): 23-27.

[39] Kirschnereit (2000): 27-30.

[40] Kirschnereit (2000): 30-32.

[41] Kirschnereit (2000): 32-38

[42] Kirschnereit (2000): 38-44, Cho-Sobotka (2007): 218-221.

[43] Kirschnereit (2000): 44-47.

[44] Janeira (1970): 184-186, 198-200.

[45] Divjak (1988): 9-10.

[46] Huber-Rebenich (1999): 7.

[47] Divjak (1988): 10-11, Huber-Rebenich (1999): 14, Clark (2011): 231-232, Ziolkowski (2005): 24-29,176-184.

[48] Matsudaira (2013), Watanabe (2008): 10.

[49] Watanabe (2008): 6.

[50] Wikipedia Foundation Japan (2013d), Wikipedia Foundation Japan (2013e),

Wikipedia Foundation Japan (2013g).

[51] Wikipedia Foundation Japan (2013f).

[52] Watanabe (2008): 10.

[53] Tawada (1996): 50.

[54] Abb 1: Amodeo (2009): 63.

[55] Abb 2: Tawada (2011b): Umschlag.

[56] Ihr Vorname Yōko 葉子 bedeutet in deutscher Übersetzung „Blattkind“ und sie lebt unter anderem in Deutschland, weil das dort weniger Personen wissen. Sie spielt aber gerne mit ihrem Namen und hat daher die traditionelle japanische Stellung (Familienname vor Vorname) an die deutsche Stellung der Namen angepasst und ist als Yooko Tawada bekannt. - laut Amodeo (2009): 91-94.

[57] Amodeo (2009): 65-67, Seisenbacher (2011): 8, Totten (1999): 96.

[58] Totten (1999): 94.

[59] Maslowska (2001): 21.

[60] Amodeo (2009): 104-105.

[61] Tawada (1991): 83-84.

[62] Dobashi (1969): 385-387.

[63] Totten (1999): 95.

[64] Tawada (2001): 223.

[65] Amodeo (2009): 150-151, 213-214, Seisenbacher (2011): 8, Tawada (2011a).

[66] Totten (1999): 100.

[67] Tawada (2011a), Tawada (1991).

[68] Tawada (2001): 220.

[69] Tawada (1996): 121-134.

[70] Amodeo (2009): 172-174, 192-193, Cho-Sobotka (2007): 181.

[71] Amodeo (2009): 186-188.

[72] Amodeo (2009): 9.

[73] Amodeo (2009): 14.

[74] Howland (2002): 184.

[75] Seisenbacher (2011): 11-13, 15.

[76] Cho-Sobotka (2007): 181.

[77] Maslowska (2001): 47.

[78] Ziolkowski (2005): 215, Kersting (2006): 173-181.

[79] Seisenbacher (2011): 23-24.

[80] Tawada (2001): 221-223.

[81] Tawada (2011a): 41, 51-52.

[82] Seisenbacher (2011): 38, Kersting (2006): 176.

[83] Seisenbacher (2011): 37-39, Shimada (1997): 263-266.

[84] Ziolkowski (2005): 215.

[85] Tawada (2011b): 221-222.

[86] Abb. 3.

[87] Ziolkowski (2005): 216, Amodeo (2009): 204-205, Kojima (1967): 366-367.

[88] Maslowska (2001): 43-44, Kojima (1967): 366-367.

[89] Maslowska (2001): 39-42, Kersting (2006): 213.

[90] Arnold-Kanamori (2001): 9-13.

[91] Ōguchi (1990): 58, Cho-Sobotka (2007): 218-221.

[92] Maslowska (2001): 23, 61-65, Cho-Sobotka (2007): 209-214.

[93] Cho-Sobotka (2007): 173-174, Dijk (2010): 73-99, Kersting (2006): 195-214.

[94] Grant (2004): 262-264.

[95] Grant (2004): 111-112.

[96] Grant (2004): 359-360.

[97] Cho-Sobotka (2007): 174-178, Dijk (2010): 82, Ziolkowski (2005): 214-217.

[98] Grant (2004): 157.

[99] Grant (2004): 264-265.

[100] Grant (2004): 377.

[101] Grant (2004): 203. Dijk (2010): 92-95.

[102] Grant (2004): 249.

[103] Grant (2004): 247, 335, 178-180.

[104] Grant (2004): 222-223.

[105] Grant (2004): 406-408.

[106] Grant (2004): 294.

[107] Grant (2004): 227.

[108] Grant (2004): 370.

[109] Grant (2004): 231-232.

[110] Grant (2004): 115-119.

[111] Grant (2004): 346.

[112] Grant (2004): 133.

[113] Grant (2004): 228-229.

[114] Grant (2004): 69-70.

[115] Grant (2004): 121.

[116] Maslowska (2001): 26.

[117] Maslowska (2001): 34.

[118] Cho-Sobotka (2007): 184-187, 195, Maslowska (2001): 36-37.

[119] Maslowska (2001): 26-27.

[120] Maslowska (2001): 27, Dijk (2010): 77-78.

[121] Maslowska (2001): 28, 32.

[122] Maslowska (2001): 44-47.

[123] Maslowska (2001): 77-81, Dijk (2010): 80-81.

[124] Maslowska (2001): 81-86.

[125] Kersting (2006): 177.

[126] Perrault (1999): 7-26.

[127] Dijk (2010): 82-83.

[128] Dijk (2010): 89.

[129] Cho-Sobotka (2007): 189.

[130] Seisenbacher (2011): 35.

[131] Scheid (2013), Uta (1968): 7, Wikipedia Foundation Japan (2013b).

[132] Grant (2004): 314-315.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2013
ISBN (PDF)
9783842835801
Dateigröße
2.6 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Wien – Altertumswissenschaften
Erscheinungsdatum
2015 (März)
Note
1,0
Schlagworte
Ovid Metamorphosen Japan Populärkultur Tawada Yoko Publius Ovidius Naso
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Titel: Rezeption von Ovids Metamorphosen in Japans Populärkultur: Publius Ovidius Naso bei Tawada Yōko
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