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Motive des Fin de siècle im skandinavischen Black Metal

©2013 Bachelorarbeit 44 Seiten

Zusammenfassung

Diese Arbeit befasst sich mit Motiven des Fin de siècle im skandinavischen Black Metal. Diese Spielart der Musikrichtung Heavy Metal ist mittlerweile eine feststehende Konstante der internationalen Musikszene. Ihre Blütezeit erfuhr diese Musik ‘Anfang der neunziger Jahre in Norwegen durch eine relativ kleine Gruppe von Jugendlichen’. Gerade da es sich hier um ein ursprünglich skandinavisches Phänomen handelt, liegt eine nähere Erforschung dieser Musikkultur im Interesse der Skandinavistik. Durch meine Arbeit möchte ich die spärliche Sekundärliteratur zum ‚Phänomen Black Metal‘ ergänzen, nicht zuletzt, da die Songtexte nordischer Black Metal-Bands zur international bekannten, aktuellen skandinavischen Lyrik zählen, zumindest innerhalb der Metalszene.
Bereits dem Rock'n'Roll der 1950er-Jahre haftete ein rebellisches, verbotenes und satanisches Image an. Als kreatives Ventil der Jugend brachte sie den Widerstand gegen die konservativen Einstellungen der Elterngeneration zum Ausdruck. Mit der zunehmenden Akzeptanz der Rockmusik entwickelten sich Anfang der 1980er-Jahre im Zuge des Hard Rock und später des Punk Rock und Heavy Metal viele Bands, die musikalisch, textlich und inszenatorisch extremer wurden. Die gesellschaftliche Toleranz gegenüber Musik und künstlerischem Ausdruck allgemein war schließlich so entwickelt, dass sich der Death Metal selbst nicht mehr als rebellisch verstand, obwohl die Musik und ihre Lyrik eine bis dahin nie gekannte Härte erreichte. Der Verzicht auf gängige Songstrukturen und Harmonien bei stark verzerrten Gitarren, ein tief röchelnder Gesangsstil und eine textliche Forcierung auf den Tod schienen kaum mehr übertroffen werden zu können. Der Black Metal bemüht sich, das – zur Zeit des Rock'n'Roll von außen aufgezwungene – satanische Image wiederherzustellen und über den klassischen Heavy Metal hinausgehend in einen ‘ironiefreien und ernsthaften Bedeutungszusammenhang’ zu stellen.
‘Black-Metal-Musiker präsentieren in Musik, Kleidung und Haltung den Versuch, sich abweichend zu inszenieren, indem sie ›das Böse‹ ästhetisieren.’ Sieht man diese Ästhetisierung des Bösen als grundlegende und essentielle Motivation, dann stellt sich die Frage, mit welchen Mitteln sie erreicht wird. Letztlich müssen dafür kulturelle Codes verwendet werden, die die Allgemeinheit als böse ansieht, die auch über die subkulturellen Grenzen hinausreichen. [...]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Motive des Fin de siècle im skandinavischen Black Metal
2.1 Intertextuelle Bezüge zur Dekadenz im Black Metal
2.2 Dekadente Strukturen in späterer Autoreflexivität
2.3 Ernsthaftigkeit der Kunst im realen Leben
2.4 Der Black Metaller und der Neuromantiker – gegensätzliche Extreme des modernen Mannes
2.5 Die Femme fatale als bestimmendes Frauenbild
2.6 Identifikation mit dem Geisteskranken
2.7 Der Vampir als Bild des nihilistischen Amoralismus
2.8 Satanismus als totale Inversion gesellschaftlicher Werte
2.9 Vormoderne Projektionsflächen und andere Eskapismen
2.10 Interesse an Tod und Verfall
2.11 Wunsch nach Katharsis

3 Fazit

4 Literaturverzeichnis

5 Musikquellen

6 Bildquellen

Anhang 1: Abbildungen

Anhang 2: Vollständige Texte der zitierten Songs

Anhang 3: Zitierte Songs im mp3-Format beiliegende CD-ROM

Erklärung

1 Einleitung

Diese Arbeit befasst sich mit Motiven des Fin de siècle im skandinavischen Black Metal. Diese Spielart der Musikrichtung Heavy Metal ist mittlerweile eine feststehende Konstante der internationalen Musikszene. Ihre Blütezeit erfuhr diese Musik »Anfang der neunziger Jahre in Norwegen durch eine relativ kleine Gruppe von Jugendlichen«[1]. Gerade da es sich hier um ein ursprünglich skandinavisches Phänomen handelt, liegt eine nähere Erforschung dieser Musikkultur im Interesse der Skandinavistik. Durch meine Arbeit möchte ich die spärliche Sekundärliteratur zum »Phänomen Black Metal« ergänzen, nicht zuletzt, da die Songtexte nordischer Black Metal-Bands zur international bekannten, aktuellen skandinavischen Lyrik zählen, zumindest innerhalb der Metalszene.

Bereits dem Rock'n'Roll der 1950er-Jahre haftete ein rebellisches, verbotenes und satanisches Image an. Als kreatives Ventil der Jugend brachte sie den Widerstand gegen die konservativen Einstellungen der Elterngeneration zum Ausdruck. Mit der zunehmenden Akzeptanz der Rockmusik entwickelten sich Anfang der 1980er-Jahre im Zuge des Hard Rock und später des Punk Rock und Heavy Metal viele Bands, die musikalisch, textlich und inszenatorisch extremer wurden. Die gesellschaftliche Toleranz gegenüber Musik und künstlerischem Ausdruck allgemein war schließlich so entwickelt, dass sich der Death Metal selbst nicht mehr als rebellisch verstand, obwohl die Musik und ihre Lyrik eine bis dahin nie gekannte Härte erreichte. Der Verzicht auf gängige Songstrukturen und Harmonien bei stark verzerrten Gitarren, ein tief röchelnder Gesangsstil und eine textliche Forcierung auf den Tod schienen kaum mehr übertroffen werden zu können. Der Black Metal bemüht sich, das – zur Zeit des Rock'n'Roll von außen aufgezwungene – satanische Image wiederherzustellen und über den klassischen Heavy Metal hinausgehend in einen »ironiefreien und ernsthaften Bedeutungszusammenhang«[2] zu stellen.

»Black-Metal-Musiker präsentieren in Musik, Kleidung und Haltung den Versuch, sich abweichend zu inszenieren, indem sie ›das Böse‹ ästhetisieren.«[3] Sieht man diese Ästhetisierung des Bösen als grundlegende und essentielle Motivation, dann stellt sich die Frage, mit welchen Mitteln sie erreicht wird. Letztlich müssen dafür kulturelle Codes verwendet werden, die die Allgemeinheit als böse ansieht, die auch über die subkulturellen Grenzen hinausreichen. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass der Black Metal hierfür besonders Ideen und Motive des Fin de siècle aufgreift und neu kontextualisiert. Während direkte intertextuelle Bezüge vorhanden aber selten sind, sind es gerade einzelne Bilder und Vorstellungen, die heute ebenso provozieren können, wie vor hundert Jahren. Die künstlerische Ausgangssituation ist für beide Stilrichtungen vergleichbar.

Das Fin de siècle rebellierte gegen den vermeintlich nüchternen und schmucklosen Naturalismus.

Die Selbstdarstellung von Black-Metal-Musikern wird von den Autoren Moynihan und Soderlind als Reaktion auf den Kleidungsstil der Death-Metal-Musiker gesehen, die sich bei Konzerten, auf Fotos und in Musikvideos in Jeans oder Jogginghose mit Sweatshirt oder einem T-Shirt mit Band-Logo genauso wie ihre Fans präsentieren.[4]

Analog hierzu kann die Rebellion des Black Metal gegen den Verlust des Habitus im früher etablierten Death Metal gesehen werden. Die Überzeitlichkeit dekadenter Motive soll mit dieser Arbeit ebenfalls herausgestellt werden. Dekadenz soll hier weniger als zeitlich beschränkte Epoche, sondern mehr als Geisteshaltung betrachtet werden. Das Provokationspotential dekadenter Motive wird zum Stilmittel aller Vertreter dieses Genres und lädt dazu ein, die Gesellschaft des Fin de siècle mit der heutigen zu vergleichen. Gesellschaftliche Parallelen sind offensichtlich, Untergangspropheten scheinen ein kohärenter Bestandteil der Moderne zu sein. Die Analyse einzelner Motive ermöglicht eine differenzierte Herausarbeitung von ähnlichem und in gleiche Richtung weisenden Gedankengut.

Anfangs werden direkte Referenzen auf die Dekadenz im Black Metal beleuchtet. Da die Dekadenz selbst nur selten Thema ist, werden hier die wenigen direkten Verweise auf das Fin de siècle ebenso erfasst, wie dekadente Referenzen im allgemeinen Sinne. Anschließend wird die grundlegende Ernsthaftigkeit und Realisierung der künstlerischen Haltung im eigenen Leben dargestellt, wie sie sowohl im Fin de siècle als auch im Black Metal anzutreffen ist. In einem nächsten Schritt widmet sich die Arbeit dem archetypischen Protagonisten und seiner Subjektdefinition, dem Selbstverständnis der beiden Stilrichtungen. Nach der eingehenden Betrachtung der Subjekte wendet sich diese Arbeit nun dem Anderen zu, dem Objekt, den Motiven und Themenfeldern, mit denen Black-Metaller und Fin-de-siècle-Protagonisten konfrontiert werden. Dazu zählt für die männlich dominierten Stilrichtungen die bedrohliche Frau. Vampiristische Ideen bestimmen die zwischenmenschliche Moral. Neben den Einflüssen der Philosophie Nietzsches spielt die gedankliche Flucht aus der Moderne in surreale Welten eine tragende Rolle für Dekadenz und Black Metal. Weitere gemeinsame Motive zeigen sich in Satanismus, Morbidität, Geisteskrankheit und einer unbestimmten Sehnsucht nach Katharsis.

Diese Arbeit orientiert sich dabei auf Grund der Augenscheinlichkeit, nicht nur aber hauptsächlich, an den Übereinstimmungen in den Motiven, die hier nach der Definition des Reallexikons der deutschen Literaturwissenschaft als inhaltsbezogene, textkonstituierende, frei tradierbare Schemata aufgefasst werden sollen.[5] Letztlich soll die Parallelität (unter Berücksichtigung der Unterschiede) des Black Metal zum Fin de siècle jedoch an der tieferen Bedeutung der Motive und den grundlegenden gemeinsamen Mechanismen festgemacht werden.

2 Motive des Fin de siècle im skandinavischen Black Metal

2.1 Intertextuelle Bezüge zur Dekadenz im Black Metal

Direkte intertextuelle Bezüge sind im Black Metal selten, da sich die Texte zumeist um ihren eigenen Kosmos drehen. Selten wird der Raum der Black Metal-konstituierenden Motive verlassen, deren dekadenter Ursprung im weiteren Verlauf der Arbeit näher untersucht wird. Während sich die Arbeit fast ausschließlich mit bekannteren skandinavischen Bands befasst, die maßgeblich zur Definition des Black Metal beigetragen haben, muss der Blick an dieser Stelle ein wenig ausgeweitet werden.

Die offensichtlichste Referenz findet sich bei der deutschen Black Metal-Band Porta Nigra, deren Debütalbum den Titel »Fin de Siècle«[6] trägt. In einem Interview auf den Titel angesprochen nennt Bandleader Gilles de Rais die Epoche als wichtigsten Einfluss für seine eigene Weltanschauung und die künstlerische Ausdrucksform seiner Band:

Ich war von dekadenter Literatur schon immer fasziniert. Besonders von Joris-Karl Huysmans, Oscar A.H. Schmitz und Oscar Wilde.[7]

Des weiteren schlägt er eine direkte Brücke zwischen dem Lebensgefühl des Fin de siècle und der heutigen Zeit bzw. ihrer gesellschaftlichen Entwicklungen. Er vergleicht das Gefühl angesichts der »atemberaubend schnellen Entwicklungen im Bereich der Kommunikationstechnologie«[8] mit den Empfindungen der Jahrhundertwende zu Urbanisierung und Industrialisierung«.[9] Im Zuge dessen unterstellt er dem heutigen wie damaligen Menschen keine Ruhe zu finden und »wie ein gehetztes Tier«[10] zu wirken, womit er auf den Diskurs zur Nervosität der Jahrhundertwende anspielt. Darüber hinaus identifiziert er den Black Metal-Musiker mit dem Künstler des Fin de siècle, als eine: »völlig orientierungslose und verwirrte Künstlergeneration«[11] und nennt den »Zerfall als einziges Lebensprinzip«[12]. Auch der Gedanke an eine bevorstehende Katharsis findet sich im Gedankengut Porta Nigras: »Die Party der westlichen, vom Kapitalismus geprägten Staaten, wird bald sehr gewaltsam zu Ende gehen«[13]. Im letzten Teil der Arbeit wird schließlich gezeigt, dass (gewaltsame) kathartische Vorstellungen in Black Metal und Fin de siècle anzutreffen sind. Porta Nigras Verortung des Black Metal im Fin de siècle zeigt sich auch an ihrer Selbstinszenierung mit Mode und Accessoires der Jahrhunderwende und in schlapper bis verzweifelter Pose.[14] Diese Kontextualisierung setzt ein gewisses Maß an Reflexion voraus, das wohl auch damit zu erklären ist, dass das 2012 veröffentliche Album zu einem Zeitpunkt entstanden ist, als der Black Metal in seinen kulturellen Codes bereits gefestigt war. Dies zeigt jedoch, dass entsprechende dekadente Motive implizit bereits in den Ursprüngen der Musik angelegt waren, die im Skandinavien der frühen 90er-Jahre zu finden sind.[15]

Ein frühes Bewusstsein für Fin de siècle-Wurzeln lässt sich nur spärlich belegen. Ein Bild aus dem Booklet des Albums »Stormblåst» aus dem Jahre 1996 der norwegischen Band Dimmu Borgir verrät eine ansatzweise vorhandene dekadente Selbsteinschätzung.[16] Sänger Shagrath zeigt sich bleich geschminkt mit schwarzem Zylinder, wie er häufig mit der Mode der Jahrhundertwende assoziert wird. Bei den skandinavischen Bands, die das Genre definierten, finden sich eher im späteren Werk direkte Bezüge zur Dekadenz.

So referieren Satyricon mit ihrem Album »The age of Nero« aus dem Jahr 2008 über den Inbegriff einer dekadenten Epoche schlechthin, auf die auch zur Zeit des Fin de siècle häufig verwiesen wurde.

Wenn, wie Hugo von Hofmannsthal formuliert, die »Phantasie sich einmal an dem Rom der Verfallszeit wollüstig festgesogen« (HGW, Prosa 1, S. 205) hat, dann ist um 1900 die Melancholie eines 'Spätzeitbewusstseins' im Spiel.[17]

Der Song »Den siste« dieses Albums handelt dabei vermutlich von Nero selbst. Statt eines Namens werden stets die Personalpronomen »han«[18] und »du«[19] verwendet, was nahelegt, dass es Satyricon hier weniger um die historischen Ereignisse, sondern mehr um die überzeitlich abstrahierte Bedeutung geht. Tatsächlich wird das Szenario minimalistisch nur durch je einen zeitlichen und örtlichen Parameter bestimmt. Der Vers »I det stille Rom«[20] ergänzt hierbei den Albumtitel »The age of Nero«. Nero erscheint hier als Endpunkt einer dekadenten Lebensweise, als gescheiterter, schlapper Künstler (»Ditt daue sinn«[21] ) dem nur noch die Allmacht dabei helfen kann, die Leinwand zu füllen: »Et nakent lerret/ Foran han/ En urørt mark (…) / Allmektighet / Av riket stort/ Den siste var«[22]. Thematisiert wird hier die »Hybris des Künstlers als gottgleicher Schöpfer«[23] (bzw. gottgleicher Zerstörer), die etwa auch im Werk des Jahrhundertwendemalers Rodins gesehen wird.

Diese manifestiert sich schließlich in einem Untergangsszenario, das sich als Großbrand von Rom deuten lässt (der vermeintlich historisch von Nero gelegt wurde). Der Großbrand erscheint dabei als Hoffnungsschimmer für den gescheiterten Nero: »Et skjaer av lys / Som kaster håp / På en fattig mann / Som ikke vet / Hva bor i han«[24]. Das titelgebende »Den siste« erfüllt im Text eine doppelte Bedeutung. Die Wendung wird in Bezug auf den römischen Kaiser als »Den siste kriger / (…) som skulle frem«[25], verwendet, der aus einer Art avantgardistischem Zwang heraus handelt. Er ist der Letzte seiner Art, ein Ausdruck von radikalem Spätzeitbewusstsein. Schließlich verursacht er im Moment der größten Dekadenz den endgültigen Untergang und die Rückeroberung des künstlichen dekadenten Raums durch die Natur, und dabei nicht nur für sich, sondern für alle: »Den siste stund / I naken drakt / Nå står vi her / På avgrunds mark / Den siste dag / Naturens gang / Vårt endelikt«[26]. Der letzte Krieger löst sich am letzten Tag auf, die nackte Leinwand (die Kunst), weicht der nackten Tracht, der Nacktheit (als Symbol der Natürlichkeit) an sich. Die Verwendung der ersten Person Plural lässt auf eine allgemeingültige Deutungsmöglichkeit schließen. Am Ende befreit jeden von aller Dekadenz die Unausweichlichkeit des Todes, die zur höchsten Lebenserfahrung stilisiert wird.

Die Bejahung des Niedergangs und des Todes ist eine typische der Dekadenz verpflichtete Haltung, sie macht das Sterbeerlebnis zur höchsten Lebenserfahrung. Leben und Tod gleiten ohne Bruch ineinander über, verbunden in der Überhöhung durch die Kunst.[27]

Dies wurde zahlreich in der Literatur des Fin de siècle thematisiert. Andere explizite Bezüge zur Dekadenz finden sich etwa auf der CD »Dekadens« der schwedischen Band Lifelover. Im Song »Luguber Framtid« wird der Verfall und die dekadente Lebensüberdrüssigkeit thematisiert: »En förtvinad livslust, öde och tyst / Viljelös och uttorkad, fördärvad och multnad«[28]. Auch bei der französischen Gruppe Anorexia Nervosa mit Songs wie »Divine white light of a cumming decadence«[29] oder »Tragedia Dekadencia«[30] wird direkt auf die Dekadenz Bezug genommen, ebenso bereits im Bandnamen der deutschen Black Metaller Imperium Dekadenz[31]. Diese werden hier jedoch nicht weiter berücksichtigt, da es sich um keine skandinavische Bands handelt. Das gleiche gilt für das autobiografische Buch »The Gospel of Filth: A Bible of Decadence & Darkness«[32] über Cradle of filth aus England.

2.2 Dekadente Strukturen in späterer Autoreflexivität

Eine vergleichbare, wenn auch negativere Sichtweise auf das eigene Schaffen offenbaren die Norweger Darkthrone auf ihren jüngeren Alben. Die Band, die wie Satyricon zu den Gründungsvätern des Black Metal zählt, sah das eigene Frühwerk später kritisch und spielte eine an Punk und Heavy Metal orientierte Musik. Das eigene Frühwerk wird dabei nicht direkt als dekadent, aber als verkommene, von unnötigen Ängsten und Kämpfen geprägte Musikform bezeichnet, die den »echten« proletarischen Heavy Metal aushöhlt, was sich auch in derber, direkter Sprache widerspiegelt. »There's too many struggles / There's too many fears (…) There's way too much black / And there's too little metal / Dealing with this had me breaking my shackles!«[33] Das lyrische Ich bezeichnet sich als Gräber der 80er-Jahre, also der Zeit des klassischen Heavy Metal, präsentiert sich nun jedoch als auferstandener Toter, vollzieht also nicht nur den Schritt vom Toten zum Lebenden, sondern von Dingen zu einem Auferstandenen: »I am the graves of the 80s / I am the risen dead / Destroy their modern metal / And bang your fucking head«[34]. Der Black Metaller selbst ist das (der Plural impliziert: alles) worin der klassische Heavy Metal zerfällt, wie in einem Grab. Black Metal wird hier als »modern« aufgefasst, ebenso wie das Fin de siècle zu seiner Zeit und – im literaturwissenschaftlichen Sinn des Begriffs – auch heute noch. Darkthrones Song »Raised on Rock« aus dem Jahr 2007 weist ein ähnliches Thema auf. Hier werden konkrete Jahreszahlen genannt: »You have nothing in common with me / you think old-school is 1993 / ha! I've been a thrasher since '84 / almost nothing sounds true anymore«[35]. 1993 veröffentlichten Darkthrone ihr zweites Album »Under a funeral moon«, das zu den Klassikern des Black Metal zählt. »Thrasher« spielt auf den Thrash Metal an, eine Stilrichtung des Heavy Metals der 80er-Jahre. Black Metal ist also für die neueren Darkthrone die Dekadenz des Heavy Metal, die es zu überwinden gilt. Auch Hofmannsthal rechnete im Rückblick mit seiner dekadenten Lebenshaltung ab:

Es gelingt Hofmannsthal also, das in der Einleitung angesprochene Ringen mit der dekadenten Lebenshaltung, das zur Ueberwindung oder zur Zerstörung führen muss, zugunsten des Lebens zu entscheiden. Gleichzeitig vollziehen seine literarischen Figuren den Uebergang von der Krise in die Existenz.[36]

Nocturno Culto von Darkthrone äußert in einem Interview aus dem Jahr 2009 ähnliches, bekennt sich zu einer neuen Bürgerlichkeit nach der Überwindung seiner Black Metal-Vergangenheit:

Wie kam es dazu, dass dein Hass einem gewissen Respekt gegenüber anderen Menschen gewichen ist? Nocturno Culto: Nun, man wird erwachsen. Ich bin verheiratet und habe Kinder. (…) Ich bin es leid, mich durch Hass meiner Kraft und meiner wertvollen Lebenszeit zu berauben. Ich bin ohnehin schon ein Grübler, der zu viel über andere Menschen nachdenkt.[37]

In der gleichen Ausgabe der Zeitschrift »Rock Hard« äußert sich Samoth der mittlerweile inaktiven norwegischen Black Metal-Band Emperor nahezu identisch:

Ich war blutjung und verdammt naiv. (…) Ich hatte mich dem Black Metal und seinem Lebensstil völlig hingegeben, und war das, was man einen Fanatiker nennt. Heutzutage bin ich eine offene und ausbalancierte Person, ich bin Vater zweier wundervoller Kinder.[38]

Es ist also eine gemeinsame Struktur des Black Metal und des Fin de siècle, ein verkommenes Ende darzustellen, das die Botschaft eines späteren Neuanfangs in sich trägt, was eine Kerneigenschaft der Dekadenz darstellt.

2.3 Ernsthaftigkeit der Kunst im realen Leben

Hofmannsthal war nicht der einzige Schriftsteller der Jahrhundertwende mit einer dekadenten Lebenshaltung. Für die Künstler des Fin de siècle und des Black Metal ist es typisch, das vermittelte Bild ihrer Kunst selbst zu leben. Hierbei sei zunächst auf das Zusammenleben in der Bohème zur Zeit der Jahrhundertwende verwiesen.

Die Kultur des Fin de Siècle ist nicht denkbar ohne jene kaum zu zählende Menge von Kunst-Kreisen, -Gruppen und -Gemeinschaften, die wesentlich zur Farbigkeit der Epoche beigetragen haben. (...) In Gruppen und Bünden, in den Reformbewegungen Sezessionen und Künstlerkolonien formte sich eine buntschillernde Gegenwelt zur modernen Gesellschaft, die mehr und mehr die traditionellen Gemeinschaften und ihre identitätsstiftende Funktion auf- und abgelöst hatte.[39]

Aus der antibürgerlichen Lebenseinstellung in den Bohèmes entwickelten sich radikal amoralische Thesen. Dazu zählen die neun Gebote der Kristianiabohème. Dabei handelt es sich um eine Pervertierung der zehn Gebote. Ein anderes Beispiel für antihumanistische Einstellungen – nicht nur in der Kunst, sondern auch im realen Leben – gibt der Maler Paul Cézanne ab. Sogar die Fachliteratur bezeichnet ihn als »myrrische[n] alte[n] Misanthrop«[40]. Suizidfälle sind sowohl in Fin de siècle-Kreisen (zum Beispiel Arne Dybfests Selbstmord 1892, der zuvor den Suizid seines Bekannten Vilhelm Solheim gezielt nicht verhinderte[41] ) als auch im Black Metal vorhanden.

Der wirkliche Bohemien war jedoch ein Verstoßener, Verworfener, einer der radikal ernst machte mit seiner Absage an die Gesellschaft. (...) Es ging ihnen nicht um Gesellschaftskritik; sie stellten sich selbst dar - indem sie mit ihrem Leben den Normen der Sitte spotteten; sie gingen - ohne jede Zugeständnisse - den Weg der Selbstvernichtung.[42]

Auch einige Zeitgenossen unterstellten den Menschen der Fin de siècle-Bewegung pauschal eine lebensfeindliche Grundeinstellung. So äußerte sich Samuel Lublinski 1909 wie folgt über die »Neuromantiker«: Schliesslich wird aus dem unbewussten Gefühl ein bewusster hysterischer Hochmut, der die Kraft und Willensstärke und das Leben zu verachten vorgibt.«[43]

In der frühen Black Metal-Szene nahm das Ausleben der eigenen Kunst eine bis dahin ungekannte Radikalität an. Die skandinavischen Black Metal-Bands der frühen 90er-Jahre wurden geradezu von einer Todeswelle begleitet, »beginnen[d] mit dem Selbstmord des Sängers der Band Mayhem mit dem bezeichnenden Namen Dead, im April 1991«[44]. Außerdem »erschießt sich der Sänger der Band Dissection«[45]. Ein Mitglied der Band Emperor ermordet 1992 einen Mann und begründet diese Tat schlicht mit der Gelegenheit dazu.[46] Schließlich ermordet Count Grishnackh seinen Bandkollegen Euronymous innerhalb der Band Mayhem.[47] Alle diese Ereignisse werden zur »ernsthaften« Selbstinszenierung genutzt:

Man kann sagen, dass die Beteiligten der Ereignisse sich zuerst als böse inszeniert haben, dann die Inszenierung verwirklicht haben und sich letztendlich – retroaktiv – als a priori böse präsentieren.[48]

So machten Mayhem Fotos von Deads Leiche bevor die Polizei eintraf und nutzten diese Fotos für Promotionszwecke, ebenso wie Count Grishnackh nach der Brandstiftung an einer Kirche ein Foto der verbrannten Kirche für das Cover[49] der CD »Aske« seines Soloprojekts Burzum nutzte.[50] Alle diese Taten lassen keine ironische Leseart des Black Metal mehr zu, er inszeniert sich als absolut ernst: »›Ernst‹, im Gegensatz zur ›Heiterkeit‹, ›die Wahrhaftigkeit einer Aussage und die erreichte Übereinstimmung der Aussage mit dem Gegenstand derselben‹«[51].

Dem Fin de siècle nahm man eine postulierte Misanthropie teilweise schlicht nicht ab:

An der Echtheit einer solchen Verachtung [für das Leben] darf gezweifelt werden, da ja der Neuromantiker von heute von jener modernen Bewegung beeinflußt ist, die mit einem massiven Naturalismus begann, der aus dem wogenden und brutalen Massenleben der grossen Städte entstand.[52]

Dies entstand sicher auch aus der etwas unklaren Abgrenzung zur eigenen Parodie, etwa in Joris-Karl Huysmanns' völlig überzeichnetem Roman »À rebours«. Im Black Metal existieren Parodien fast nur im abgegrenzten Raum der Kunst von Fans: »Die FanArt zeigt aber auch deutlich, dass dieser Ernsthaftigkeit eine noch größere Selbstironie gegenübergestellt werden kann«[53].

[...]


[1] Grünwald, J. 2012: Male Spaces, Bildinszenierungen archaischer Männlichkeiten im Black Metal, S. 60.

[2] Ebd., S. 61.

[3] Ebd., S. 60.

[4] Ebd., S. 60.

[5] Vgl. Drux: »Motiv« in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, S. 638.

[6] Porta Nigra 2012: Fin de siècle.

[7] Wischkowski, J 2013: Interview mit Gilles de Rais zu Fin de Siècle.

[8] Ebd.

[9] Ebd.

[10] Ebd.

[11] Ebd.

[12] Ebd.

[13] Ebd.

[14] Siehe Abbildung 1, S. 40.

[15] Vgl. Grünwald, J. 2012: Male Spaces, Bildinszenierungen archaischer Männlichkeiten im Black Metal, S. 60.

[16] Siehe Abbildung 2, S. 40.

[17] Haupt, S. 2008: ›Untergang‹ und ›Spätseitgefühl‹, in: Handbuch Fin de Siècle, S. 141.

[18] Satyricon 2008: The age of Nero, Track 8.

[19] Ebd.

[20] Ebd.

[21] Ebd.

[22] Vgl. ebd.

[23] Bätschmann, O. 2008: Bruchstü>

[24] Satyricon 2008: Den siste auf: The age of Nero, Track 8.

[25] Vgl. ebd.

[26] Vgl. ebd.

[27] Jäger-Trees, C.: Sprache und Dichtung 38, Aspekte der Dekadenz in Hofmannsthals Dramen und Erzählungen des Frühwerkes, S. 155.

[28] Lifelover 2009: Luguber Framtid, auf: Dekadens, Track 1.

[29] Vgl. Anorexia Nervosa 2000: Divine white light of a cumming decandence, auf: Drudenhaus, Track 6.

[30] Vgl. Anorexia Nervosa 2000: Tragedia Dekadencia, auf: Drudenhaus, Track 5.

[31] Vgl. Imperium Dekadenz 2007: Dämmerung der Szenarien.

[32] Vgl. Baddeley, G./ Filth, D. 2010: The Gospel of Filth: A Bible of Decadence & Darkness.

[33] Darkthrone 2010: I am the graves of the 80s, auf: Circle the wagons, Track 3.

[34] Ebd.

[35] Darkthrone 2007: Raised on Rock, auf: F.O.A.D, Track 7.

[36] Jäger-Trees, C.: Sprache und Dichtung 38, Aspekte der Dekadenz in Hofmannsthals Dramen und Erzählungen des Frühwerkes, S. 200.

[37] Mühlmann, W.: Clash of the black titans, in: Rock Hard 10/2009, S. 87.

[38] Kühnemund, G.: Heavy Metal ist was für Weicheier! Der erste Generation des Black Metal, in: Rock Hard 10/2009, S. 72.

[39] Würfel, S. 2008: Kunst-Kreise, -Gruppen und -Gemeinschaften, in: Handbuch fin de Siècle, S. 195.

[40] Bätschmann, O. 2008: Malerei und Skulptur in Europa um 1900 in: Handbuch fin de Siècle, S. 505.

[41] Vgl. Hougen, F. 1953: Tryggve Andersens Opplandsfortellinger i historie og tradisjon fra kansellirådens dager S. 198.

[42] Glaser, H. 1978: Literatur des 20. Jahrhunderts in Motiven 1, 1870-1918, S. 36.

[43] Lublinski, S. 1970.: Zur Psychologie und Weltanschauung der Neuromantik, in: Literarische Manifeste der Jahundertwende 1890-1910, S. 281.

[44] Grünwald, J. 2012: Male Spaces, Bildinszenierungen archaischer Männlichkeiten im Black Metal, S. 154.

[45] Ebd., S. 155.

[46] Vgl. ebd., S. 155.

[47] Vgl. ebd., S. 155.

[48] Vgl. ebd., S. 153.

[49] Siehe Abbildung 3, S. 41.

[50] Vgl. Grünwald, J. 2012: Male Spaces, Bildinszenierungen archaischer Männlichkeiten im Black Metal, S. 154.

[51] Ebd. S. 11f.

[52] Lublinski, S. 1970.: Zur Psychologie und Weltanschauung der Neuromantik, in: Literarische Manifeste der Jahrhundertwende 1890-1910, S. 281.

[53] Richard, B. / Grünwald, J. 2011: Wilde Männer, frostige Räume und asoziale Fanart des Black Metals bei Flickr, Youtube und Vimeo, in: Metal Matters Heavy Metal als Kultur und Welt S. 50.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2013
ISBN (PDF)
9783842836006
Dateigröße
467 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München – Nordische Philologie
Erscheinungsdatum
2015 (März)
Note
1,0
Schlagworte
Black Metal Fin de siècle Skandinavien Dekadenz
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