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Möglichkeiten von Selbstsozialisation und Selbstbildung

Eine Auseinandersetzung mit der Theorie und Praxis

©2014 Bachelorarbeit 57 Seiten

Zusammenfassung

In der Literatur wird Sozialisation als Prozess definiert, der die Eingliederung in eine Gruppe und das Internalisieren der dort geltenden Werte umfasst. Individuelle Rollenzuschreibungen, verbunden mit zugehörigen Erwartungen, setzen das Erlernen damit einhergehender Fähigkeiten seitens der Individuen voraus. Eng mit Sozialisationsprozessen verknüpft ist auch die Bildung einer Person. Der soziologische Bildungsbegriff – hierbei unterscheiden sich Pädagogik und Soziologie – beschäftigt sich mit Annahmen über Bildung, bei denen die Handlungs- und Sozialkompetenzen durch Sozialisation herausgebildet und gefestigt werden.
Diese Arbeit beschäftigt sich mit den Möglichkeiten, Grundgedanken und Annahmen von Selbstsozialisation und Selbstbildung. Vor- und Nachteile werden gleichermaßen berücksichtigt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Biller, Daniela: Möglichkeiten von Selbstsozialisation und Selbstbildung.
Eine Auseinandersetzung mit der Theorie und Praxis, Hamburg,
Diplomica Verlag GmbH 2015
PDF-eBook-ISBN: 978-3-95636-417-4
Herstellung: Diplomica Verlag GmbH, Hamburg, 2015
Zugl. Justus-Liebig-Universität Gießen, Gießen, Bachelorarbeit, 2014
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Danksagung
An dieser Stelle möchte ich mich ganz herzlich bei allen Personen bedanken, die mich
bei der Erstellung dieser Arbeit unterstützt haben.
Ein ganz besonderer Dank gilt Herrn Dr. Dippelhofer, der mich mit seiner Zuverlässig-
keit, seinem Engagement und der herausragenden fachlichen Kompetenz betreut hat.
Meinem Freund Johannes danke ich für seine seelische Unterstützung, Ermutigung, Ge-
duld und seine ausgeglichene Art, die mich in schwierigen Situationen immer wieder
beruhigt hat.
Großer Dank geht an meinen Vater Günter und meine Schwester Franziska, die mich
über mein ganzes Studium bestärkt und zu mir gehalten haben.
Meinen Freundinnen Tanja und Verena möchte ich ganz herzlich für die Korrekturen
meiner Arbeit und ihre emotionale Unterstützung danken.
Auch allen Kommilitonen/innen, die mir mit Rat und Tat zur Seite standen, gilt mein
Dank.

Inhaltsverzeichnis
1.
Einleitung ... 1
2.
Definition zentraler Begriffe ... 3
2.1
Sozialisation ... 3
2.2
Bildung ... 10
3.
Selbstsozialisation und Selbstbildung ­ Definitionen und Konzepte ... 15
3.1
Selbstsozialisation ... 15
3.2
Selbstbildung ... 22
4.
Möglichkeiten von Selbstsozialisation ... 26
4.1
Kontroversen in der Debatte um Selbstsozialisation ... 26
4.2
Rolle der Gesellschaft ... 32
5.
Möglichkeiten von Selbstbildung ... 34
5.1
Selbstbildung unter einem kritischen Blick ... 35
5.2
Rolle der Gesellschaft ... 39
6.
Mögliche Umstrukturierungen der Gesellschaft als Hilfestellungen für das Subjekt ... 40
7.
Selbstsozialisation und Selbstbildung in Anwendung auf das praktisch ­ pädagogische
Konzept des Habitus ... 43
8.
Resümee und Perspektivenausblick ... 48
9.
Quellenverzeichnis ... 52
9.1
Literaturverzeichnis ... 52
9.2
Internetverzeichnis ... 54
9.3
Abbildungsverzeichnis ... 54

1
1. Einleitung
In der Literatur wird Sozialisation als Prozess definiert, der die Eingliederung in eine
Gruppe und das Internalisieren der dort geltenden Werte umfasst (vgl. Klima, 2011,
S.625). Individuelle Rollenzuschreibungen, verbunden mit zugehörigen Erwartungen,
setzen das Erlernen damit einhergehender Fähigkeiten seitens der Individuen voraus.
Eng mit Sozialisationsprozessen verknüpft ist auch die Bildung einer Person. Der sozio-
logische Bildungsbegriff ­ hierbei unterscheiden sich Pädagogik und Soziologie
1
­ be-
schäftigt sich mit Annahmen über Bildung, bei denen die Handlungs- und Sozialkompe-
tenzen durch Sozialisation herausgebildet und gefestigt werden. Von Wichtigkeit sind
dabei auch die Bildungsinstitutionen sowie erzieherisch intendierte Prozesse über die
Familie. Im Interesse liegt die Frage welche Rolle das Selbst mit Blick auf diese und
noch zu erarbeitende Definitionen von Sozialisation und Bildung spielt?
Dem Begriff Selbst kommt, gleich in welchem Kontext, eine zentrale Bedeutung in der
Sozialisations- und Bildungsforschung zu. Diese ist auf die starke Fluktuation gesell-
schaftlicher Strukturen zurückzuführen. Veränderungen in der Gesellschaft (ökono-
misch, kulturell, sozial) haben zur Folge, dass sich auch das Verständnis von Sozialisa-
tion und Bildung verändert. Spätestens mit der Hurrelmannschen Persönlichkeitsent-
wicklung der ,,>>produktiven<< Verarbeitung der inneren und äußeren Realität" (Hur-
relmann, 2006, S.28) hat der Subjektbegriff seinen Einzug in die Sozialforschung ge-
funden. Termini wie ,,Selbstwirksamkeit, Selbstregulation, [...], Selbstkultivierung"
(Krappmann, 2002, S.178) haben längst ihre Berechtigung erhalten. Können auch
Selbstsozialisation und Selbstbildung als eigenständig etablierte Benennungen mit Blick
auf die subjektive Fokussierung geltend gemacht werden? Insgesamt sind die Begriffe
wie folgt einzubetten: Mit der Subjektdiskussion werden Bezüge zur Philosophie er-
kennbar, während bei der Auseinandersetzung mit Selbstbildungsprozessen der Faktor
Erziehung, unter Einbezug pädagogischer Meinungen, nicht ausgeklammert werden
kann. Das Forschungsfeld begrenzt sich nicht nur auf die Soziologie, sondern schließt
philosophische und pädagogische Perspektiven mit ein. Es scheint, als würde die oben
angegebene Definition von Sozialisation als soziale Integration das Selbst zu wenig be-
rücksichtigen. Ein Grund, weswegen man sich dem Thema Selbstsozialisation (und
1
Pädagogik und Soziologie unterscheiden sich in ihrer Herangehensweise. Während Bildung in der Pädago-
gik entweder als ganzheitliche ,,Menschenbildung" (Fuchs-Heinritz, 2011, S.99) angesehen wird oder dem
Ersatztermini Erziehung, Lernvorgänge etc. weicht, wird in der Soziologie eine ,,neutrale" (Fuchs-Heinritz,
2011, S.99) Sichtweise im Kontext einer individuellen Handlungsfähigkeitsentwicklung vertreten (vgl.
Fuchs-Heinritz, 2011, S.99).

2
auch Selbstbildung) widmen sollte, ist daher die Stärkung der Subjektperspektive. Im
Vordergrund steht die Frage, ob aktuelle soziologische und bildungstheoretische Kon-
zepte genügend an die praktische Realität angepasst sind. Aufgrund der Subjektzentrie-
rung in heutigen Individualisierungsgesellschaften, wird der Versuch betrachtet, ob
Selbstsozialisation und Selbstbildung eine stärkere Einbindung des einzelnen Subjekts
gewährleisten kann, ohne wichtige der Sozialisation und Bildung inhärente Elemente zu
vernachlässigen. Entgegen der Tendenz einer einseitigen Beleuchtung der subjektiven
Perspektive und dem fehlenden Einbezug der Praxis in die Theorie, soll in diesem Zu-
sammenhang auch die gesellschaftliche Perspektive betont werden. Damit verbunden
werden Umstrukturierungen (politisch, soziostrukturell etc.) vorgestellt, die die Themen
Lebenslaufgestaltung und Biografie, mit Blick auf gesellschaftlich erforderliche Fähig-
keiten und mögliche Hilfestellungen, behandeln.
Diese Arbeit beschäftigt sich mit den Möglichkeiten, Grundgedanken und Annahmen
von Selbstsozialisation und Selbstbildung. Vor- und Nachteile werden gleichermaßen
berücksichtigt. Dabei wird die folgende strukturelle Vorgehensweise gewählt:
Zunächst werden wichtige Definitionen vorangestellt, die in die Themen Sozialisation
und Bildung einführen. Der hier fokussierten Selbstsozialisation und Selbstbildung wird
anschließend besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Neben der wichtigen begrifflichen
Trennung in Fremd- und Selbstsozialisation (Fremd- und Selbstbildung) stehen Fragen
wie ,Selbstbildung als Erziehungsersatz` oder ,Hurrelmanns Ersatzvorschlag für Selbst-
sozialisation` im Vordergrund. Ambivalenzen, Problemstellungen und Vorteile finden
hierbei ihre Berücksichtigung. Eine Auseinandersetzung mit möglichen Strukturie-
rungsmaßnahmen innerhalb der Gesellschaft, die das Subjekt im Sinne der Sozialisation
und Bildung unterstützen könnten, soll die, in der Definitionsliteratur vernachlässigte,
soziokulturelle und politische Einbindung in die Selbstsozialisations- und Selbstbil-
dungsdebatte verstärken. Abschließend werden die Vor- und Nachteile einer möglichen
Einbettung der Selbstsozialisation und Selbstbildung in das Habitus ­ Schema von
Bourdieu diskutiert. Das darauf folgende Resümee komplettiert die Arbeit und fasst die
gewonnenen Ergebnisse zusammen.

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2. Definition zentraler Begriffe
2.1 Sozialisation
Was ist Sozialisation? Diese Frage haben sich in der Vergangenheit und Gegenwart un-
zählige Sozialisationswissenschaftler gestellt. Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit
der Herausarbeitung und kritischen Betrachtung eines geeigneten Definitionsansatzes
für Sozialisation. Die Auseinandersetzung mit einem möglichen grundlegenden Soziali-
sationsbegriff dient der in 3.1 ausführlich behandelten Selbstsozialisation als Vorarbeit.
Sozialisation ist ein allgegenwärtiges und viel diskutiertes Thema. Demnach gibt es in
der Literatur eine Vielzahl von möglichen spezifischen Begriffsklärungen, die über die
allgemeine, in der Einleitung angeführte Auslegung hinausgehen. So wurde der Versuch
vorgenommen, wichtige Definitionen greifbar und strukturiert darzustellen sowie ab-
schließend einem kritischen Blick zu unterziehen. Bei Klaus Hurrelmann ist eine aktuel-
le, plausible und transparente Erklärung von Sozialisation zu finden. Aus diesem Grund
beschränkt sich das Kapitel, bis auf eine Einführung klassischer Sozialisationstheorien
und Definitionen wichtiger damit verbundener Begriffe, auf Hurrelmanns Ansichten.
Die klassische Sozialisationstheorie nach Durkheim
Eine erste ursprüngliche Theorie über Sozialisation, die ausschlaggebend für Erneue-
rungen von damaligen Persönlichkeits ­ und Soziologiekonzepten war, geht auf den So-
ziologen Emile Durkheim zurück. Auf der Grundlage einer industrieorientierten Gesell-
schaft (vgl. Hurrelmann, 2006, S.13) befasst sich Durkheims Theorie mit der ,,>>Verge-
sellschaftung der menschlichen Natur<<" (Hurrelmann, 2006, S.12), also einem Interna-
lisieren der gesellschaftlichen Forderungen oder Ansprüche. Dieser Ansatz kann heute
aufgrund einer zu starken Unterwerfungstendenz nicht mehr geltend gemacht werden.
Dennoch ist Durkeims herkömmliche Definition als Anstoß für die Persönlichkeitsdefi-
nitionen von Freud über Watson bis hin zu Piaget zu vermerken. Deren Ansichten über
Ich ­ Welt ­ Verhältnisse und Persönlichkeitsentwicklungen spielen bis heute auch für
die Sozialisation eine bedeutende Rolle. Für die Soziologie hatte Durkheims Denken
über Gesellschaft in Verbindung mit industrieller Entwicklung großen Einfluss auf theo-
retische Arbeiten von Parsons oder Marx.
Die basistheoretischen Überlegungen von Durkheim gründen auf der Annahme, Soziali-
sation bestehe aus der ,,Vermittlung der Gesellschaftsstruktur in das Innere des Indivi-
duums" (Hurrelmann, 2006, S.13; zit. n. Baumgart, 1997, S.32). Diese Definition und

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auch die darauf basierenden Persönlichkeitstheorien sind auf die damaligen Verände-
rungen der Gesellschaft hin zu einer industriellen Arbeitergesellschaft zurückzuführen.
Jedes Gesellschaftsmitglied bekommt eine Aufgabe zugeteilt, dadurch sollen ,,soziale
Regeln und Normen" (Hurrelmann, 2006, S.13) internalisiert werden. Diese Verinnerli-
chung erhält die in einer Industriegesellschaft notwendige Stabilität. Die traditionelle
Theorie von Sozialisation umfasst somit eine von außen initiierte soziale und kulturelle
Integration (vgl. Hurrelmann, 2006, S.13). Obwohl diese Denkweise auf die heutige Ge-
sellschaft nicht mehr passt, enthält sie doch wegbereitende Ansichten für die genannten
Bereiche der Persönlichkeitsentwicklung und Soziologie.
Das Sozialisationsmodell nach Hurrelmann
In der aktuellen Debatte um Sozialisation, so auch hier, wird immer wieder auf die So-
zialisationsdefinition von Hurrelmann zurückgegriffen. Die heutige Gesellschaft besteht
aus einer ,,Vielzahl von sozialen und kulturellen Lebensformen" (Hurrelmann, 2006,
S.13). Mit dem Phänomen der Globalisierung ist nur einer von vielen gesellschaftsver-
ändernden Faktoren benannt. Der Wandel der Gesellschaft erfordert eine Anpassung des
Sozialisationsbegriffs. So legt Hurrelmann seiner Theorie folgende Basisdefinition zu
Grunde: Er beschreibt Sozialisation ,,als Prozess der Entstehung und Entwicklung der
Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten so-
zialen und materiellen Umwelt. Vorrangig thematisch ist dabei..., wie sich der Mensch
zu einem gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekt bildet" (Tillmann, 2010, S.14; zit.
n. Geulen/Hurrelmann, 1980, S.51). Vorausgesetzt werden also Umweltbedingungen im
Gegensatz zu sozialen Anlagen, deren Überschneidung und Verbindung die Persönlich-
keitsentwicklung einleitet. Hurrelmann unterscheidet dabei, in den von ihm aufgestell-
ten sieben Thesen zur Sozialisation, von denen hier nur die wichtigsten kurz vorgestellt
werden sollen, die innere und äußere Realität:

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Abbildung 1: Das Verhältnis von innerer und äußerer Realität. Quelle: Hurrelmann, 2006, S.27.
Wie die Abbildung 1 veranschaulicht, umfasst die innere Realität alles psychische und
physische, während die äußere Realität auf einen Menschen durch Umweltbedingen o-
der strukturelle Gegebenheiten Einfluss hat. Für den Einzelnen gilt es im Sinne eines
Sozialisationsprozesses, in diesem wechselseitigen Verhältnis ein Gleichgewicht herzu-
stellen und auch zu halten.
Nach Hurrelmann ist Sozialisation die lebenslange, aktive Auseinandersetzung mit Ver-
änderungen oder Gegebenheiten beider Realitäten. Sowohl gespeicherte innere Zustän-
de, als auch äußere Bedingungen, bezüglich derer Menschen in der Lage sind diese zu
reflektieren, fließen in Handlungen ein. Eine aktive, ,,>>produktive[.]<< Verarbeitung"
(Hurrelmann, 2006, S.28) ist möglich, da Menschen die Fähigkeit besitzen nicht nur zu
handeln, sondern auch zukünftige Handlungen über Abwägungen und Überlegungen
bewusst zu steuern. Den Begriff ,,>>produktiv<< im Sinne von >>prozesshaft<<" (Hur-
relmann, 2006, S.28) wählt Hurrelmann, um die eigenaktive Realitätsverarbeitung un-
abhängig von deren bewusster Wahrnehmung, zu unterstreichen. Für eine gelingende
Entwicklung der Persönlichkeit setzt Hurrelmann zudem die positiv beeinflussende Be-
teiligung der Umwelt durch Instanzen wie Schule, Familie etc. voraus.

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Abbildung 2: Die Struktur sozialisationsrelevanter Organisationen und System. Quelle: Hurrelmann, 2006, S.34.
In dieser Abbildung findet sich eine Einordnung der verschiedenen Sozialisations-
instanzen. Die Unterteilung ist nach der jeweiligen Signifikanz aufgebaut. Demnach hat
die sogenannte primäre Sozialisationsinstanz bis heute den größten Einfluss auf die
Entwicklung einer Persönlichkeit. Trotz eines sozialen und gesellschaftlichen Wandels,
weg von einer industriell geprägten überschaubaren Gesellschaftsfunktionalität hin zu
einem modernen, unübersichtlichen medienbasierten Globalsystem, für das fest interna-
lisierte Werte nicht mehr notwendig sind um die Dynamik aufrecht zu erhalten, spielt
die Familie als Instanz noch immer eine bedeutende Rolle. Auch verschiedene ausgela-
gerte Erziehungsinstitutionen (genannt werden Kindergarten, Schule etc.) können der
Relevanz der Familie keinen Abbruch tun. Mit der Familie werden erste integrative oder
soziale Erfahrungen gemacht. Dazu gehören auch Freunde, die Hurrelmann allerdings
von Gleichaltrigen (also Peers) unterscheidet. Für viele Kinder und Jugendliche sind
Freunde so etwas wie Familie und lassen sich somit auf die gleiche Stufe stellen. Erst
danach folgen Berührungen mit den sekundären Sozialisationsinstanzen, die mit teil-
weise schwierigen Bewältigungsaufgaben verbunden sind, da Ansichten aus Einrich-
tungen der zweitrangigen Instanzen mit denen der Familien kollidieren können. Zum
Beispiel können die Regeln, nach denen sich ein Kind im Kindergarten richten muss,
von den Regeln zuhause unterscheiden. Bezüglich der Schule wird neben dem Aspekt
der Erziehung auch die Vermittlung von Wissen fokussiert. Die große Präsenz und der
immense Einfluss dieser beiden Sozialisationsinstanzen auf die Persönlichkeitsentwick-
lung eines Menschen sind offensichtlich. Mit Blick auf die noch ausstehende Definition
einer Selbstsozialisation ist es an dieser Stelle vorweggreifend fraglich, ob eben diese
ohne die erwähnten Instanzen überhaupt bestehen kann. Die Frage, ob Sozialisations-
instanzen im Sinne Hurrelmanns bis heute so stark vertreten sind oder ob eine allgemei-
ne Selbstsozialisation diese in einem schleichenden Prozess ablöst, gilt es noch zu dis-
kutieren.

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Die letzte und relevante, in der Abbildung 2 angeführte, sogenannte tertiäre Sozialisati-
onsinstanz umfasst Freizeitplanung, Medien und Peers. Ohne Zweifel sind diese drei
Faktoren in dem heutigen System von großer Bedeutung. Nicht umsonst gibt es bereits
Firmen wie ,Jochen Schweizer` oder ,Mydays`, die aus der gängigen Freizeitplanung
ein gewinntragendes
Geschäftsmodell machen. Das Thema Medien ist allgegenwärtig,
denn zum Beispiel Netzwerke wie Facebook oder Twitter werden von sehr vielen Men-
schen genutzt. Auch Informationen sind über das Internet jederzeit zugänglich. Folglich
haben Medien wie Fernsehen, Radio etc. einen enormen Einfluss auf die Entwicklung
der Persönlichkeit. Auch Gleichaltrige, also die sogenannten Peers oder Peergroups, fal-
len stärker ins Gewicht. Peers bieten vor allem Identifizierungsmöglichkeiten und Ver-
ständnis mit Blick auf ähnliche Bewältigungsaufgaben. Wie sich noch zeigen wird, ge-
hen einige Autoren von einer Peersozialisation in Verbindung mit der Selbstsozialisati-
on als interne ,selbst'ständige Gruppierungen aus.
Um Hurrelmanns plausibles Konzept über Sozialisation zu komplettieren, sind ab-
schließend die darin enthaltene lebenslang erforderliche Fähigkeit Bewältigungsstrate-
gien zu finden und das reflektierte Selbstbild zu nennen. Sogenannte ,,Entwicklungsauf-
gaben" (Hurrelmann, 2006, S.35) jeder Art ziehen sich durch das Leben einer Person.
Vor allem mit der Adoleszenz, also mit dem Beginn eigener Handlungs- und Reflexi-
onsmuster, spielen diese Aufgaben eine besondere Rolle. Nicht nur im Leben eines Ju-
gendlichen, sondern im Leben eines jeden Menschen ist es je nach veränderter Lebens-
lage erforderlich, sich zu sozialisieren, zu integrieren und die eigene Selbstwahrneh-
mung zu schärfen. Diese beiden letzten genannten Aspekte könnten im Zeichen einer
Selbstsozialisation verstanden werden.
Einige kritische Überlegungen
Das Sozialisationsmodell nach Hurrelmann lässt sich bis heute aufgrund der vielen be-
rücksichtigten Punkte gut vertreten. Zurückzuführen auf den stetigen Wandel innerhalb
von Gesellschaften gestaltet es sich schwierig, eine gute und allgemeine Definition von
Sozialisation zu finden. Hurrelmanns Überlegungen binden zeitgemäße Abwägungen
weitgehend mit ein. Neben den vielen gehaltvollen Gedanken wird hier dennoch auf die
möglicherweise überholte Struktur der Sozialisationsinstanzen verwiesen. Mit Rückgriff
auf Abbildung 2 folgt die geäußerte Kritik der Annahme, dass sich die Gesellschaft und
somit die Instanzen auch aktuell einem Wandel unterziehen. Konstatiert werden kann,
dass die Grenzen zwischen den einzelnen Bereichen immer mehr verschwimmen.

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Abbildung 3: Die Struktur sozialisationsrelevanter Organisation und Systeme. Modifiziert nach Quelle: Hurrelmann,
2006, S.34.
Mit Hilfe dieser Abbildung sollen folgende Aspekte verdeutlicht werden: Zum einen
wurde die Unterteilung in primär, sekundär und tertiär entfernt. Zum anderen sind nur
noch zwei, die Persönlichkeitsentwicklung betreffende, Bögen ersichtlich. Beide vorge-
nommenen Modifizierungen hängen mit der aktuell erschwerten Beantwortung der Fra-
ge, welche Instanz nun den größten Einfluss auf die Entwicklung hat, zusammen. Bei-
spielsweise ist die Relevanz von medialer Nutzung auch in der Mediensozialisationsfor-
schung nochmals angestiegen und kann deshalb in einem Zug mit Bildungseinrichtun-
gen jeder Art und Freizeitgestaltungen genannt werden. Der als erstes aufgeführte Bo-
gen um Persönlichkeitsentwicklung bleibt die Familie und die familiäre Umgebung.
Familie ist im Sinne Hurrelmanns ein unumgänglicher Kontext für Sozialisation, allein
schon durch erste Lebens- und Integrationserfahrungen. Unter dem Familienaspekt kann
auch die Geschwistersozialisation gefasst werden. In den letzten Jahren ist das Interesse
an der sogenannten Peersozialisation gestiegen. Peers, die Hurrelmann unter dem Be-
griff Freunde oder Gleichaltrige erwähnt, spielen eine ausschlaggebende Rolle in der
Adoleszenz. Für einige Jugendliche können Freunde oder Peergroups auch bezüglich ih-
rer Wertschätzung den Platz eines Familienzusammenhalts einnehmen. Wie bereits an-
geführt, machen ineinander übergreifende Instanzen eine Differenzierung nach Hurrel-
mann schwierig. Beispielsweise trifft man Freunde in Bildungseinrichtungen wie Schu-
le oder Kindergarten. Das wirft die Frage auf, ob Menschen diese Einrichtungen aufsu-
chen, um tatsächlich sozialisierte Bildung zu erfahren, oder ob vielmehr der soziale
Kontext der Peers und Freunde berücksichtigt werden sollte. Abbildung 3 stellt einen
Versuch dar, den genannten Kritikpunkten im Vergleich zu Abbildung 2 gerecht zu
werden.
Bildungseinrichtungen
Medien, Freizeit
Familie, Peers,
Verwandschaft
Persönlichkeitsentwicklung

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Trotz der Kritik sind die Hurrelmannschen Annahmen über Sozialisation transparent
und plausibel. Auf die Definition von Sozialisation als ,,Prozess der Auseinandersetzung
des Menschen mit seinem biologischen und psychologischen Dispositionen und der so-
zialen und physikalischen Umwelt [...], durch den der Mensch zum gesellschaftlich
handlungsfähigen Subjekt wird" (Hurrelmann, 2002, S.155), wird grundlegend in der
Arbeit immer wieder zurückgegriffen.
Bildung und Erziehung im Hinblick auf Sozialisation
Eng mit der Definition von Sozialisation verbunden und daher bereits an dieser Stelle
erwähnenswert, sind die Begriffe Bildung und Erziehung. Traditionelle Bestimmungen
gehen von einer Bildung als ,,Herausformung von inneren Werten" (Hurrelmann, 2006,
S.16) aus, wie sich in einem späteren Teil dieser Arbeit in Der klassische Bildungsbe-
griff nach Humboldt, zeigt. Aktuelle Ansichten über Bildung hingegen heben eigenver-
antwortliche ,,Aneignung und gedankliche Auseinandersetzung mit der ökonomischen,
kulturellen und sozialen Lebenswelt" (Hurrelmann, 2006, S.17) hervor. Bildung wird
dabei als Schutz vor reiner Mechanisierung und Bewahrung des Individuellen eines je-
den Menschen erachtet. Im Gegensatz dazu, versteht sich Erziehung als bewusst geplan-
ter, initiierter Prozess, mit dem auf andere und ihr Handeln Einfluss genommen werden
kann. Sowohl bei Bildung, als auch bei Erziehung handelt es sich um Begrifflichkeiten
die in direkter Verbindung zu Sozialisation stehen, denn:
,,Sozialisation umfasst alle Impulse auf die Persönlichkeitsentwicklung unabhängig
davon, ob sie geplant und beabsichtigt sind, und auch unabhängig davon, welche
Dimension der Persönlichkeitsentwicklung (Wissen, Motive, Gefühle, Bedürfnisse,
Handlungskompetenzen) beeinflusst wird." (Hurrelmann, 2006, S.17).
Mit Blick auf die Erziehung sind damit bewusst eingeleitete Wissens- oder Vermitt-
lungsprozesse gemeint, die meist von der Familie oder von Schulen, Kindergärten etc.
initiiert werden. Im Vergleich dazu wäre unter Bildung die unabhängige Persönlich-
keitsentwicklung, eventuell sogar im Sinne einer Selbstbildung und Reflexion zu fassen.
Das Verhältnis von Erziehung und Bildung richtet sich nach dem jeweiligen Verständ-
nis von Sozialisation. So ,,führte der Sozialisationsbegriff zu einer enormen Ausweitung
der Sicht der für menschliche Bildung relevanten Bedingungen und Prozesse;" (Geulen,
2002, S.189). Diese Begriffsveränderung hat einen verringerten Anteil an erzieherischen
Handlungen innerhalb der Sozialisation zur Folge: ,,institutionalisierte Erziehung [...]
erscheint jetzt nur noch als relativ kleiner Ausschnitt im Sozialisationsgeschehen, [...]"

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783956364174
ISBN (Paperback)
9783956367618
Dateigröße
1.3 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Justus-Liebig-Universität Gießen – Institut für Erziehungswissenschaften
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Schlagworte
Soziologie Selbst Ich Gruppe Clique Bourdieu Fremdbildung Selbstbildung Sozialisation
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