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Hebammenbetreuung in Adoptivfamilien bezogen auf die Mutter-Kind Bindung innerhalb des ersten Lebensjahres

©2014 Bachelorarbeit 66 Seiten

Zusammenfassung


Bereits seit langer Zeit nehmen Menschen Kinder in ihre Familien auf, die nicht ihre leiblichen sind, und sorgen sich um sie. Die Motive dazu veränderten sich jedoch gravierend im Laufe der Geschichte. Bis ins letzte Jahrhundert hinein fanden Adoptionen im Wesentlichen im Interesse der adoptierenden Eltern statt. Adoptionen waren demnach häufig in reichen kinderlosen Familien üblich, um die Erbfolge zu sichern. Erst in den 1960er Jahren traten die Belange der adoptierten Kinder immer mehr in den Fokus. Heutzutage steht bei der Adoption das Kindeswohl im Mittelpunkt.
Es gibt viele unterschiedliche Gründe, warum Menschen sich in der heutigen Zeit dazu entscheiden ein Kind zu adoptieren. Der häufigste Grund stellt jedoch ein unerfüllter Kinderwunsch dar. Die Mutter hofft durch die Adoption eine Familie gründen zu können, in der das Kind die Eltern als ‚richtige‘ Eltern akzeptiert. Doch ist dies wirklich möglich? Ist die Bindungsqualität bei adoptierten Kindern, die mit unter einem Lebensjahr adoptiert wurden tatsächlich so wie bei leiblichen Kindern? Gibt es außerdem Möglichkeiten, wodurch der Bindungsaufbau zwischen der Adoptivmutter und dem Kind gestärkt werden könnte?
Besonders die freiberuflichen Hebammen die Nachsorgen anbieten, sehen sich mittlerweile immer häufiger mit diesen Fragestellungen konfrontiert. Weiterhin kommt häufig die Frage auf, ob die Adoptivmutter überhaupt Anspruch auf eine Hebammenbetreuung hat. Rechtlich hat lediglich das Kind Anspruch auf die Betreuung durch eine Hebamme. Besonders beim ersten Kind benötigt die Mutter viel Unterstützung und Beratung, wie zum Beispiel zu den Themen Handling und Pflege des Neugeborenen.
Der Fokus dieser Bachelorarbeit richtet sich auf die frühkindliche Bindung zwischen Mutter und Kind im Adoptionskontext und die Relevanz der Hebammenbetreuung in diesen Familien. Es soll somit herausgearbeitet werden, ob ein adoptiertes Kind tatsächlich dieselbe Bindungsqualität wie ein leibliches Kind aufweisen kann. Weiterhin soll die Relevanz der Hebammenbetreuung in einer Adoptivfamilie betrachtet werden. Es werden hierbei einige Methoden dargestellt, wodurch die Hebamme den Bindungsaufbau von Mutter und Kind unterstützen und fördern kann.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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Einleitung
Bereits seit langer Zeit nehmen Menschen Kinder in ihre Familien auf, die nicht ihre
leiblichen sind, und sorgen sich um sie. Die Motive dazu veränderten sich jedoch gra-
vierend im Laufe der Geschichte. Bis ins letzte Jahrhundert hinein fanden Adoptionen
im Wesentlichen im Interesse der adoptierenden Eltern statt. Adoptionen waren dem-
nach häufig in reichen kinderlosen Familien üblich, um die Erbfolge zu sichern. Erst in
den 1960er Jahren traten die Belange der adoptierten Kinder immer mehr in den Fokus.
Heutzutage steht bei der Adoption das Kindeswohl im Mittelpunkt. Es ist zu einer Mög-
lichkeit geworden, Kindern ein Leben in geschütztem und geliebten Bereich zu ermög-
lichen (vgl. Hopp-Burckel, 2013, 1).
Es gibt viele unterschiedliche Gründe, warum Menschen sich in der heutigen Zeit dazu
entscheiden ein Kind zu adoptieren. Der häufigste Grund stellt jedoch ein unerfüllter
Kinderwunsch dar. Die Adoption eines Kindes ist mit sehr viel Aufwand verbunden.
Die Bewerber müssen zahlreiche Voraussetzungen und Auflagen erfüllen und selbst
dann ist es noch ungewiss, ob sie jemals ein Kind adoptieren dürfen. Häufig müssen die
Adoptiveltern lange Zeit auf ihr Kind warten. Wenn das Kind dann bei ihnen ist, stehen
die Adoptiveltern vor neuen Problemen, da, auch wenn die Kinder unter einem Jahr alt
sind, sie bereits ihre eigene Geschichte durchlebt und eventuell bereits Trauer, Verluste
und Traumata erfahren haben.
2012 wurden insgesamt 3886 Kinder in Deutschland adoptiert, wobei 1543 durch nicht
verwandte Personen adoptiert wurden. Nur lediglich 3,8% der Kinder waren hierbei
unter einem Jahr alt. Dies ist jedoch das begehrteste Alter der Kinder, da sie meist noch
keine richtige Bindung zu ihren leiblichen Eltern aufgebaut haben und sich dadurch
leichter an ihre Adoptiveltern gewöhnen können. Nach der Bindungstheorie von John
Bowlby beginnen Kinder erst mit ca. 6 Monaten mit dem Bindungsaufbau. Bis dahin
kann das Kind von der leiblichen Mutter oder aber auch von einer Adoptivmutter be-
treut werden und es lässt sich, bei einer adäquaten Betreuung, kein signifikanter Unter-
schied bezüglich der Bindungsqualität aufweisen.
Die Mutter hofft durch die Adoption eine Familie gründen zu können, in der das Kind
die Eltern als ,richtige` Eltern akzeptiert. Doch ist dies wirklich möglich? Ist die Bin-
dungsqualität bei adoptierten Kindern, die mit unter einem Lebensjahr adoptiert wurden

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tatsächlich so wie bei leiblichen Kindern? Gibt es außerdem Möglichkeiten, wodurch
der Bindungsaufbau zwischen der Adoptivmutter und dem Kind gestärkt werden könn-
te?
Besonders die freiberuflichen Hebammen die Nachsorgen anbieten, sehen sich mittler-
weile immer häufiger mit diesen Fragestellungen konfrontiert. Weiterhin kommt häufig
die Frage auf, ob die Adoptivmutter überhaupt Anspruch auf eine Hebammenbetreuung
hat. Rechtlich hat lediglich das Kind Anspruch auf die Betreuung durch eine Hebamme.
Besonders beim ersten Kind benötigt die Mutter viel Unterstützung und Beratung, wie
zum Beispiel zu den Themen Handling und Pflege des Neugeborenen. Besonders wenn
die Adoptivmutter sich dazu entscheidet das Kind zu stillen, wird viel Unterstützung
durch die Hebamme benötigt, da die Milchproduktion angeregt und die Gewichtsent-
wicklung des Kindes beobachtet werden muss. Außerdem kann der Bindungsaufbau
zwischen Mutter und Kind mithilfe verschiedenster Methoden, welche in der nachfol-
genden Arbeit erläutert werden, durch die Hebamme unterstützt und gefördert werden.
Der Wunsch einer Mutter, die ein Kind adoptiert, besteht darin, eine eigene Familie zu
gründen. Sie möchte, dass das Kind sie als Mutter akzeptiert und liebt. Um dies, sowohl
für den momentanen Zeitpunkt, als auch für den weiteren Lebenslauf des Kindes ge-
währleisten zu können, ist ein adäquater Bindungsaufbau von großer Relevanz. Wird
bereits zu Beginn eine gute Bindung, zwischen dem adoptierten Kind und seiner Mutter
aufgebaut, kann dies das ganze Leben lang andauern und beeinflusst den späteren Be-
ziehungsaufbau des Kindes gegenüber anderen Personen im positiven Sinne.
Der Fokus dieser Bachelorarbeit richtet sich auf die frühkindliche Bindung zwischen
Mutter und Kind im Adoptionskontext und die Relevanz der Hebammenbetreuung in
diesen Familien. Es soll somit herausgearbeitet werden, ob ein adoptiertes Kind tatsäch-
lich dieselbe Bindungsqualität wie ein leibliches Kind aufweisen kann. Weiterhin soll
die Relevanz der Hebammenbetreuung in einer Adoptivfamilie betrachtet werden. Es
werden hierbei einige Methoden dargestellt, wodurch die Hebamme den Bindungsauf-
bau von Mutter und Kind unterstützen und fördern kann.

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Bindung als Grundbegriff
Die Menschen brauchen von Geburt an verlässliche Beziehungen, da sie ansonsten bis
ins Erwachsenenalter an emotionaler Unsicherheit leiden können. Diese Beziehungen
werden unter dem Begriff ,Bindung` zusammengefasst. Gedanklich fallen einem hierbei
Begriffe wie Liebe, Beziehung, Vertrauen, Sicherheit und Geborgenheit ein. Aufgrund
dieser Eigenschaften wird deutlich, wie wichtig die Bindung zu anderen Menschen ist.
Klaus und Kennell unterscheiden bei der Bindung die Begriffe ,Bonding` und ,Attach-
ment` (vgl. Torinek, 2010, 5). Bonding bezeichnet im englischen Sprachgebrauch die
Gefühlsverbindung der Eltern mit dem Kind, während Attachment die Gefühlsverbin-
dung des Kindes mit den Eltern beschreibt.
Im Jahre 1958 wies der Psychologe und Verhaltensforscher Harry Harlow in einem
Versuch bei Rhesusäffchen nach, dass das Bedürfnis nach Wärme und Geborgenheit vor
dem Bedürfnis der konstanten Nahrungsaufnahme liegt (vgl. Buchheim, 2012, 26). Bei
dem Versuch wurden die Affenbabys alleine in einen Käfig gesetzt und Harlow ließ sie
zwischen zwei Mutter-Attrappen wählen. Eine davon bestand aus einem Drahtgestell
aus Metalldraht und spendete den Affenbabys Milch. Die andere hingegen lieferte zwar
keine Nahrung, war aber mit einem kuscheligen Stoff überzogen und spendete den Af-
fenbabys somit Wärme und Geborgenheit. Nach damaliger psychologischer Auffassung
hätten die Affenbabys nicht von der Seite der Mutter, die nur aus Metalldraht bestand,
weichen dürfen, da diese die Babys mit Milch bzw. Nahrung versorgte. Die Affenbabys
jedoch suchten die Mutter aus Drahtgestell lediglich zur Nahrungsaufnahme auf, bevor-
zugten ansonsten jedoch die mit Stoff überzogene Attrappe und wichen dieser nicht von
der Seite. Harlow schloss daraus, dass die warme, gepolsterte Mutter-Attrappe ein pri-
märes Grundbedürfnis der Affenbabys stärker befriedigte als eine reine Nahrungsquelle
(vgl. Buchheim, 2012, 26). Dadurch wurde die bislang geltende Auffassung bezüglich
Bindung und primärer Grundbedürfnisse deutlich auf den Kopf gestellt. Erst elf Jahre
später veröffentlichte John Bowlby sein Buch ,Bindung- eine Analyse der Mutter-Kind-
Beziehung`, indem er seine Bindungstheorie vorstellte. Hierdurch erhielt das Thema
Bindung einen vollkommen neuen Stellenwert in der Gesellschaft.

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Ausgewählte Bindungstheorien im Überblick
Als Einstieg in die Bindungsthematik eignet sich die Bindungstheorie von John Bow-
lby, in der die Grundidee besagt, dass jeder Mensch von Geburt an darauf ausgelegt ist,
Nähe zu suchen und eine Beziehung zu einer Bindungsperson herzustellen.
Die Bindungstheorie ist eine psychologische Theorie, welche wissenschaftlich erklärt
und beschreibt, weshalb Menschen dazu tendieren sich auf enge, emotionale Beziehun-
gen einzulassen und inwieweit die psychische Gesundheit eines Menschen beeinflusst
wird, wenn diese Beziehungen beeinträchtigt oder abgebrochen werden (vgl. Lengning,
2012, 9). Sie geht davon aus, dass der Aufbau von engen Beziehungen zu den Mitmen-
schen ein angeborenes Bedürfnis ist, welches von intensiven Gefühlen geprägt ist. Im
Wesentlichsten wurde die Bindungstheorie, in ihrer jetzigen Form, von dem britischen
Kinderpsychiater John Bowlby und der, aus den USA stammenden Psychologin, Mary
Ainsworth geprägt. Bowlby schaffte hierbei eine komplett neue Sichtweise bezüglich
der Mutter-Kind Bindung und die daraus resultierenden negativen Konsequenzen, die
bei Trennung oder Deprivation auftreten. Durch Einbeziehung von Begriffen aus der
Ethologie, Kybernetik und Psychoanalyse formulierte er die wesentlichsten Grundzüge
seiner Theorie (vgl. Spangler, 2011, 27). Mary Ainsworth untermauerte diese mit den
ersten empirischen Ergebnissen und erweiterte sie, aufgrund der Beachtung der indivi-
duellen Unterschiede bei den Kindern und der Einführung des Begriffes der ,sicheren
Basis`. Die Bindungstheorie beschreibt insgesamt den Aufbau und die Veränderung der
engen Beziehungen im Laufe des Lebens.
John Bowlby
Die Grundzüge der Bindungstheorie wurden von John Bowlby entwickelt, welcher im
Jahre 1907 geboren wurde. 1924 begann er sein naturwissenschaftliches Studium an der
Universität von Cambridge und bekam hierbei einen Einblick in die Entwicklungspsy-
chologie (vgl. Lengning, 2012, 9). Aufgrund seines neu entdeckten Interesses unter-
brach er das Studium und arbeitete zunächst in zwei psychoanalytisch orientierten Kin-
derheimen für schwererziehbare Kinder und Jugendliche. Hierbei beobachtete er zwei
Kinder, die vollkommen verschiedene Verhaltensweisen an den Tag legten. Während
das eine Kind sehr distanziert war, war das andere wiederum sehr anhänglich (vgl.
Bretherton, 2011, 27). Er sah die frühe Trennung von den Eltern als Grund für diese
beiden Verhaltensweisen. Aufgrund dieser Erfahrungen und seinem nun geweckten In-

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teresses setzte Bowlby sein Studium, mit dem Ziel Psychoanalytiker und Kinderpsychi-
ater zu werden, fort, welches er 1933 erfolgreich abschloss. Daraufhin trat er eine Stelle
in der London Child Guidance Clinic an, wo ihm im Laufe seiner Arbeit bewusst wur-
de, dass sich die Psychoanalyse bislang viel zu sehr mit den kindlichen Phantasien aus-
einandersetzte ohne jedoch die Wirkung der tatsächlichen Familienereignisse mit einzu-
beziehen (vgl. Bretherton, 2011, 28). Er betonte hierbei, dass sich aufgrund der andau-
ernden Trennung von Eltern und Kind zahlreiche negative Konsequenzen ergaben, die
bislang zu wenig Beachtung fanden. Jahre später wurde Bowlby Leiter dieser Kinderab-
teilung, welche er in ,Abteilung für Eltern und Kind` umbenannte, um die Wichtigkeit
der Eltern-Kind Beziehung weiter hervorzuheben (vgl. Lengning, 2012, 10). Sein Ziel
war es die verschiedenen Muster der Familieninteraktionen zu entdecken, welche so-
wohl einer gesunden als auch einer gestörten Entwicklung zugrunde lagen. Da er in der
Kinderabteilung durch die angestellten Therapeuten keine ausreichende Unterstützung
erhielt, bildete er eine eigene Forschungsgruppe, in der einige Jahre später auch Mary
Ainsworth mitarbeitete (Bretherton, 2011, 29).
Mary Ainsworth
Mary Ainsworth, geb. Salter, wurde 1913 in Ohio geboren und studierte in den dreißi-
ger Jahren an der Universität von Toronto Psychologie (Bretherton, 2011, 30). Mit ihrer
Hilfe erfolgte die erste empirische Bestätigung der Bindungstheorie (vgl. Lengning,
2012, 10). Aufgrund der Betrachtung der individuellen Unterschiede und dem Gleich-
gewicht zwischen Bindung und Exploration/Erkunden konnte sie die Bindungstheorie
erweitern. Weiterhin integrierte sie den Grundgedanken der Sicherheitstheorie von Wil-
liam Blatz in die Bindungstheorie. Blatz beeinflusste Ainsworth schon während ihres
Studiums, so dass die Sicherheitstheorie ein Teil ihrer Dissertation darstellte. Diese
Theorie besagt, dass Säuglinge und Kleinkinder zuerst Sicherheit und Vertrauen zu ih-
ren Eltern entwickeln müssen bevor sie bereit sind, sich in eine unbekannte Situation zu
begeben, in welcher sie alleine zurechtkommen müssen. Diese Sicherheit, die eine Basis
zum Erwerb von Fähigkeiten und Wissen ist, ermöglicht den heranwachsenden Men-
schen sich selbst zu vertrauen und sich langsam von den Eltern abzulösen. Die sichere
Beziehung zu den Eltern sollte im weiteren Lebenslauf durch Freundschaften und Part-
nerschaften ersetzt werden (Bretherton, 2011, 30). Ainsworth führte in ihrer Dissertati-
on den Begriff der ,sicheren Basis` ein und beschreibt hierbei: ,[...]Sicherheit innerhalb
der Familie ist zu Beginn eine Form der Abhängigkeit und bildet die Basis, von der aus

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ein Individuum sich nach und nach neue Fähigkeiten und Interessen auf anderen Gebie-
ten erwerben kann. Wenn ein Kind nicht Sicherheit innerhalb der Familie erfährt, fehlt
ihm, was man als eine sichere Basis (secure base) bezeichnen könnte, auf die es seine
Weiterentwicklung stützen kann` (vgl. Salter, 1940, 45). Daraus ergibt sich, dass ein
Kind nur dann unbekannte Situationen bewältigen kann, wenn es durch die Eltern Si-
cherheit erlangt hat.
Aufgrund ihrer zahlreichen Erfahrungen, die sie während des Arbeitens im Bereich der
Diagnostik und Methodenentwicklung sammelte, half Ainsworth maßgeblich bei der
Formulierung von Bindungsklassifikationen (vgl. Bretherton, 2011, 31).
Die Grundlagen der Bindungstheorie
Die Bindungstheorie von John Bowlby stellt zentrale Hypothesen über die besondere
Beziehung zwischen Kindern und ihren Bindungspersonen auf. Sie besagt, dass Neuge-
borene eine angeborene Motivation mitbringen, sich auf einen Menschen einzulassen,
diesem zu vertrauen und sich somit an ihn zu binden, damit dieser zum sicheren Halt für
das Kind wird (vgl. Brisch, 1999, 1). Immer wenn der Säugling Angst erlebt, zum Bei-
spiel bei der Trennung von seiner Bindungsperson, wird das Bindungsverhalten akti-
viert. Es sucht Nähe und Kontakt zu seiner Bindungsperson, wie zum Beispiel durch
Körperberührungen. Körperkontakt beruhigt das aktivierte Bindungsverhalten des Men-
schen am besten. Das Kind wird somit, wenn eine Bindungsperson zur Verfügung steht,
auf jeden Fall eine Bindung aufbauen, ganz gleich, ob es die leibliche Mutter oder eine
Adoptivmutter ist (Spangler, 2011, 178).
Die primäre Bindungsperson wird die Person sein, die sich am meisten um das Kind
kümmert (vgl. Lengning, 2012, 11). Diese ist meist die Mutter, kann jedoch auch von
einer Pflegeperson oder auch einer Adoptivmutter dargestellt werden. Das Kind wird
sich, wenn es Trost oder Schutz braucht, an diese eine Person wenden. Durch das Zu-
sammenspiel von kindlichem Bindungsverhalten und mütterlichem Pflegeverhalten
ergibt sich der Aufbau einer Bindung, die mehr oder weniger zwangsläufig ist (Spang-
ler, 2011, 178). Ist die Bindungsperson nicht anwesend, kann sich das Kind auch an
andere ihm vertraute Menschen wenden. Hierdurch entwickelt sich eine Hierarchie der
einzelnen Bindungspersonen (vgl. Lengning, 2012, 11).
Bei Bindungsbeziehungen versucht das Kind immer in schützender Reichweite seiner
Bindungsperson zu bleiben. Fühlt es sich in einer Situation bedroht oder verängstigt,

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werden bei ihm negative Gefühle ausgelöst, welche wiederum das Bindungsverhalten
aktivieren. Dies kann zum Beispiel bei Krankheit, Stress, Trauer, Müdigkeit und
Schmerzen beobachtet werden und zielt darauf ab, sowohl die psychische als auch die
physische Nähe zu der Bindungsperson aufrechtzuerhalten bzw. diese wieder herzustel-
len. Dieses äußert sich in unterschiedlichen Verhaltensweisen, wie zum Beispiel Rufen,
Anklammern, Schreien, Weinen, Lächeln, Hinkrabbeln und Protest, wenn das Kind von
der Bezugsperson abgesetzt wird (vgl. Lengning, 2012, 11). Diese Verhaltensweisen
werden auch als Verhaltenssysteme bezeichnet. Sie sind genetisch vorgeprägt und las-
sen sich bei allen Primatenkindern, besonders den Menschen, finden.
Ein wichtiger Aspekt, den Ainsworth mit in die Bindungstheorie einbezogen hat, ist das
Gleichgewicht von Bindung und Exploration/Erkundung. Diese beiden Aspekte stehen
in einer wechselseitigen Beziehung zueinander (vgl. Lengning, 2012, 12). Fühlt sich ein
Kind wohl und sicher, dann kann es seine Umwelt frei explorieren, das bedeutet erkun-
den. Ist diese Sicherheit jedoch nicht vorhanden und erfährt das Kind Unsicherheit, so
wird das Explorationsverhalten eingestellt und es zeigt mehr Bindungsverhalten (ver-
mehrtes Weinen, Schreien etc.). Das Explorationsverhalten ist somit eingeschränkt,
wenn das Sicherheitsbedürfnis des Kindes hoch ist. Wenn das Kind jedoch das Gefühl
der Bindungssicherheit hat, so kann Erkunden oder aber auch Lernen besonders gut
stattfinden und ist somit eine wesentliche Voraussetzung für kognitive und emotionale
Lernprozesse. Ein Kind kann zum Beispiel nicht Klavier spielen lernen, wenn es Angst
vor der Lehrerin hat, auch wenn diese Lehrerin sehr begabt ist. Sein Bindungsbedürfnis
wird aufgrund der Angst aktiviert und die Möglichkeit der Exploration der Musik ist
nicht mehr ausreichend vorhanden. Der Lernprozess des Kindes wird aufgrund der
Angst verzögert sein, auch wenn die Lehrerin musikalisch und pädagogisch gut ausge-
bildet ist. Hat dieses Kind jedoch das Gefühl der Bindungssicherheit, zum Beispiel auf-
grund der Anwesenheit der Mutter, so wird die Angst, aufgrund ihrer Nähe, gedämpft
und das Kind kann sich beruhigen. Das Lernen kann dadurch deutlich besser sattfinden,
da es sich nun von seinem Explorations- und Neugierverhalten leiten lassen könnte
(Brisch, 2006, 43). Kulturvergleichende Studien belegen jedoch, dass eine solche Ver-
allgemeinerung bezüglich Bindung und Exploration nur in westlichen Gesellschaften
zutreffend ist und somit nicht allgemein ausgesprochen werden kann (vgl. Legning,
2012, 13).

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Ergebnisse aus der Bindungsforschung weisen darauf hin, dass besonders das erste Le-
bensjahr elementar für die Entwicklung von Beziehungsfähigkeit, Vertrauen und eines
grundlegenden Gefühls von Sicherheit ist. Hierbei werden bereits die Grundmuster für
die kommenden Beziehungen und das Verhalten in diesen Beziehungen festgelegt. Die-
se Erfahrungen können zwar im Laufe des Lebens weiterhin positiv beeinflusst werden,
allerdings ist eine
,
sichere Basis` für die Entwicklung des Kindes elementar (vgl. Lerch,
2005, 193).
Die einzelnen Bindungsphasen
In der Bindungsentwicklung unterscheiden Ainsworth und Kollegen insgesamt vier un-
terschiedliche Bindungsphasen. Es werden in diesem Kapitel jedoch nur Richtwerte
genannt, da es von verschiedenen Autoren unterschiedliche Zeitangaben und unter-
schiedliche Entwicklungsschritte zu den angegebenen Phasen gibt (vgl. Lengning, 2012,
14).
Die erste Phase wird als ,Vor-Bindungsphase` bezeichnet, welche die ersten sechs Le-
benswochen eines Kindes betreffen. Aufgrund der Tatsache, dass sich zu diesem Zeit-
punkt noch keinerlei Bindung ausgebildet hat, bereitet es dem Kind noch kein Unwohl-
sein bei anderen, unbekannten Erwachsenen zu bleiben. Mithilfe angeborener Signale,
wie zum Beispiel Weinen, Lächeln oder Augenkontakt kann das Kind in Interaktion mit
anderen Menschen treten (vgl. Lengning, 2012, 14).
Die zweite Phase wird als ,beginnende Bindung` definiert und betrifft das Lebensalter
von sechs Wochen bis zu sechs bis acht Monaten. Das Kind kann nun Familienmitglie-
der von unbekannten Personen unterscheiden und kann auch eine Differenzierung in-
nerhalb der Familienmitglieder treffen. In dieser Zeit kommt es zu einem starken An-
stieg des Bindungsverhaltens und ein Kind kann insofern als gebunden betrachtet wer-
den, wenn als wichtigstes Kriterium der Bindung die reine Bevorzugung einer Person
gegenüber der anderen angesehen wird. Das Kind kann jedoch aufgrund der fehlenden
Möglichkeit der Fortbewegung noch nicht aktive Nähe zu seiner Bindungsperson su-
chen. Dies erfolgt erst in der dritten Stufe, welche als die ,eigentliche Bindungsphase`
bezeichnet wird (vgl. Lengning, 2012, 14).
Die ,eigentliche Bindungsphase` beginnt im Alter von sechs bis acht Monaten und geht
bis zum zweiten oder dritten Lebensjahr. Hierbei entwickelt sich die Fähigkeit der Lo-
komotion (Fortbewegung), die dem Kind ermöglicht, aktiv die Nähe seiner Bindungs-

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person zu suchen. Es kommt außerdem zu einer beginnenden Sprachentwicklung, durch
die das Kind zielgerichtetes Verhalten ausüben kann. Dadurch lernt es sein eigenes
Verhalten so auf das der Bindungsperson auszurichten, dass das erreicht wird, was das
Kind erwartet. Das Kind ist zu diesem Zeitpunkt nicht mehr auf die Bindungsperson
fixiert, sondern nutzt diese als sichere Basis um die Umwelt zu explorieren und zu er-
kunden.
In der letzten Phase, der ,zielkorrigierten Partnerschaft`, kommt es zu einer wechselsei-
tigen Beziehung zwischen Kind und Bindungsperson, welche ab einem Alter von zwei
Jahren beginnt. Aufgrund der abnehmenden egozentrischen Sichtweise wird es dem
Kind ermöglicht auch den Blickwinkel seiner Bindungsperson anzunehmen. Dadurch
erlangt es die Erkenntnis, dass dem Handeln und dem Verhalten der Bindungsperson
bestimmte Gefühle oder Motive zugrunde liegen können. Das kindliche Bindungsver-
halten ist nun flexibel gestaltbar.
Die Bindungsmuster und deren Unterschiede in der Bindungssicherheit
Kinder können sich in ihrer Bindungssicherheit stark voneinander unterscheiden (vgl.
Lengning, 2012, 15). Es wird davon ausgegangen, dass sowohl das Verhalten der Be-
zugsperson als auch die individuelle Disposition des Kindes zu diesen Unterschieden
führen können. Auf diesen Aspekt wird in einem späteren Kapitel näher eingegangen.
Die Unterschiede in der Bindungssicherheit lassen sich in verschiedenen Bindungsmus-
ter darstellen. Mithilfe der ,Fremden Situation` entwickelten Ainsworth und Wittig
(1969) eine standardisierte Laboruntersuchung mit deren Hilfe die Beziehung zwischen
Mutter und Kind, bezüglich der Kriterien Bowlbys für eine sichere Bindung, getestet
werden konnten. Hierbei konnten drei unterschiedliche Bindungsmuster herausgearbei-
tet werden, welche in weiteren Forschungen bestätigt und weiterentwickelt werden
konnten. Dieser Test hat bis heute einen hohen Stellenwert in der Bindungstheorie und
wird auch weiterhin durchgeführt. Aufgrund der Bedeutsamkeit der ,Fremden Situation`
wird diese kurz erläutert um die daraus entstandenen Bindungsmuster im Anschluss
deutlich herausarbeiten zu können.
Der ,Fremde Situation`-Test
Mithilfe der ,fremden Situation` entwickelten Ainsworth und Wittig die klassische La-
borbeobachtungsmethode zur Erfassung der Bindungsmuster von Kindern im Alter von
elf bis zwanzig Monaten (vgl. Lengning, 2012, 16). Ausgehend von der Annahme, dass

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eine sichere Basis, welche häufig von der Bezugsperson dargestellt wird, notwendig ist,
um seine Umwelt erkunden zu können und bei Angst wieder zu dieser zurückkehren zu
können, wurde dieser Test entwickelt. Es soll somit verdeutlicht werden, wie sich das
Verhaltenssystem Bindung auf das Verhaltenssystem der Exploration auswirkt. Insge-
samt besteht diese Untersuchung aus acht einzelnen Sequenzen zu je drei Minuten, in
denen beim Kind das Bindungsverhalten, aufgrund einer Trennung von der Mutter in
einer völlig fremden Umgebung, ausgelöst wird. Hierbei wird die Reaktion des Kindes
bei der Trennung und bei der Wiedervereinigung mit der Mutter beobachtet. Der detail-
lierte Ablauf dieser Untersuchung befindet sich im Anhang.
Für die einzelnen Episoden sind je drei Minuten angesetzt, wobei diese individuell vari-
iert werden können, je nachdem wie sich das Kind in der jeweiligen Situation verhält.
Wenn das Kind in der Trennungsphase zum Beispiel mit starkem Weinen reagiert, so
wird diese Phase verkürzt, um das Kind möglichst nicht zu lange dem Distress auszu-
setzen. Wenn das Kind in den Wiedervereinigungsphasen länger als drei Minuten benö-
tigt um sich zu beruhigen, so kann diese Phase auch verlängert werden, damit das Kind
in Ruhe getröstet werden kann. Anhand des Verhaltens des Kindes in den unterschiedli-
chen Phasen wurden zunächst drei unterschiedliche Bindungsmuster festgelegt.
Das erste Bindungsmuster beschreibt die ,sichere Bindung`, in der das Kind Vertrauen
in die Verfügbarkeit und die Zuverlässigkeit der Bindungsfigur hat. Diese stellt eine
sichere Basis dar, in der die Umwelt ungestört erkundet werden kann. Die Kinder wün-
schen sich deutlich den Kontakt zu dieser Bindungsperson. Sie zeigen bei der Trennung
starkes Bindungsverhalten und weinen, rufen und suchen nach ihr und lassen sich von
einer fremden Person nur schwer trösten (vgl. Stegmaier, 2008, 1). Bei Rückkehr der
Mutter zeigt das Kind Freude und sucht sofort Körperkontakt zu ihr. Das Kind ist
schnell durch die Mutter zu beruhigen und zu trösten, wodurch die Erkundung der Um-
welt schnell wieder aufgenommen werden kann (vgl. Lengning, 2012, 18). Die Rück-
kehr der Bindungsperson bestärkt das Kind im Glauben an ihre Zuverlässigkeit (vgl.
Fremmer-Bombik, 2011, 114). Die negativen Gefühle, die bei der Trennung ausgelöst
werden führen zum Bindungsverhalten, welches eine positive Lösung, nämlich Trost
und Beendigung des Leids, verspricht (vgl. Fremmer-Bombik, 2011, 114). Dadurch
werden negative Gefühle mit Hilfe des internalen Arbeitsmodells in eine insgesamt po-
sitive gefühlsmäßige Erwartung über einen guten Ausgang integriert.

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Bei dem zweiten Bindungsmuster sind die Kinder nicht verängstigt, wenn die Mutter
den Raum verlässt und zeigen auch wenig Distress. Dieses Bindungsmuster wird als
,unsicher-vermeidende Bindung` beschrieben. Hierbei vermeidet das Kind den Kontakt
zu der Mutter bei der Wiedervereinigung und ignoriert oder begrüßt sie nur flüchtig. Die
Kinder klammern nicht, wenn sie von der Mutter auf den Arm genommen werden.
Während der gesamten Situation, in der sowohl Trennungs- als auch Wiedervereini-
gungsphasen vorkommen, ist das Explorationsverhalten des Kindes kaum oder gar nicht
eingeschränkt und es akzeptiert fremde Personen als Ersatz für die Mutter. Innerlich
sind sie sehr aufgewühlt, zeigen dies jedoch nicht nach außen. Dieses Kind hat die Bin-
dungsperson als zurückweisend erlebt und um diese Zurückweisung nicht permanent
erfahren zu müssen wird der Kontakt vermieden und möglichst keine Verunsicherung
gezeigt (Stegmaier, 2008, 1). Die Bindungsperson zeichnet sich durch eine Aversion
und Ablehnung von Körperkontakt, sowie einen Mangel an Affektäußerungen und häu-
fige Anzeichen von Ärger aus. Deswegen kann das Kind kein Vertrauen aufbauen und
keine Unterstützung erwarten sondern statt dessen Zurückweisung. Das Kind unter-
drückt hierbei sowohl seine Annäherungsneigung als auch seine Gefühle, um in der
Nähe der Mutter bleiben zu können und möglichst wenig Zurückweisung erfahren zu
müssen.
Die ,unsicher-ambivalente` Bindung hingegen beschreibt ein Muster, bei der das Kind
stark auf seine Bindungsperson fixiert ist (vgl. Stegmaier, 2008, 1). Das Bindungssys-
tem ist dabei chronisch aktiviert, auch wenn die Mutter sich noch im selben Raum be-
findet. Die Trennung von der Mutter bedeutet intensiven Distress und bei der Wieder-
vereinigung lassen sich die Kinder schlecht oder nur sehr langsam durch die Mutter
beruhigen. Weiterhin zeigen sie in dieser Phase ein ambivalentes Verhalten, denn einer-
seits suchen sie, bei der Wiedervereinigung mit der Mutter, die Nähe zu ihrer Bin-
dungsperson, andererseits aber haben sie ein widersetzendes Verhalten, da sie aufgrund
der Trennung wütend sind. Die Bindungsperson wirkt in dem internalen Arbeitsmodell
des Kindes unberechenbar. Die Kinder zeigen während der gesamten Phase nur ein sehr
eingeschränktes Explorationsverhalten (vgl. Lengning, 2012, 18).
1986 fügten Main und Salomon den bisherigen Bindungsmuster ein weiteres hinzu,
welche als die ,desorganisierte/desorientierte Bindung` bezeichnet wird. Diese Kinder
zeigen Eigenschaften, die in sich sehr widersprüchlich sein können und aufgrund dessen
bislang nicht klassifiziert werden konnten (vgl. Lengning, 2012, 20). Diese Kinder zei-

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gen kein eindeutig definierbares Verhaltensmuster während der Trennungs- und der
Wiedervereinigungsphase, sondern zeigen emotional widersprüchliches und inkonse-
quentes Verhalten (vgl. Bowlby, 1988, 1). Zum Beispiel schreit ein Kind in der Tren-
nungsphase nach der Mutter, sobald diese jedoch in das Zimmer kommt, wendet sich
das Kind still ab. Einige der Kinder wirken hierbei auch verwirrt oder aber auch so, als
hätten sie Angst vor der Mutter oder erstarren für ein paar Sekunden und spielen danach
weiter (vgl. Lengning, 2012, 22). Dieses Bindungsmuster tritt häufig auf, wenn die Be-
zugsperson in ihrer eigenen Kindheit ein Trauma erlitten hat, wie zum Beispiel einen
Missbrauch (vgl. Stegmaier, 2008, 1). Aufgrund der täglichen Spiel- und Pflegeerfah-
rung, die die Bindungsperson mit dem Kind ausübt, werden eigene Erinnerungen von
der Kindheit und von der eigenen Beziehung zu ihrer Bindungsperson, wachgerufen.
Die damit wieder hervorgerufenen Emotionen können sich aufgrund einer Projektion
auf das eigene Kind sowohl positiv als auch negativ äußern. Hat die Mutter einen Miss-
brauch in ihrer eigenen Kindheit erfahren, so können die Gefühle reaktiviert werden und
zum Teil auf das Kind projiziert werden. Das Kind erlebt hierbei eine Unterbrechung
seiner Bindungsstrategie, denn trotz realer Anwesenheit der Mutter ist sie emotional
unerreichbar. Dieses Bindungsmuster wird weiterhin häufig erlebt, wenn Kinder selbst
Missbrauch erfahren haben (vgl. Main, 1990, 121). Es besteht somit ein enger Zusam-
menhang mit familiären Risikofaktoren, wie zum Beispiel Missbrauch, psychische Er-
krankungen oder Suchtverhalten, da die Kinder hierbei das mütterliche Verhalten nicht
mehr vorhersagen können (vgl. Bowlby 1988, 2). Aufgrund dessen haben sie keine kla-
ren Erwartungen von der Mutter, die in ein internales Arbeitsmodell integriert werden
konnten (vgl. Fremmer-Bombik, 2011, 117).
Anhand dieser Beschreibungen lässt sich vermuten, dass die sichere Bindung wohl das
beste Bindungsmuster für das Kind ist und zahlreiche positive Aspekte beinhaltet. Die-
ser Rückschluss kann jedoch nicht im Allgemeinen getroffen werden, da dies nur in der
westlichen Kultur als optimal angesehen wird und nicht in allen Kulturen mit den posi-
tiven Merkmalen und Eigenschaften in Zusammenhang steht (vgl. Lengning, 2012, 22).
Es konnte beobachtet werden, dass in anderen Kulturen, die mit dem unsicheren Bin-
dungsmuster assoziierte Merkmale oder auch Eigenschaften wünschenswert waren, wie
zum Beispiel das zurückhaltende Verhalten. Alle Bindungsmuster scheinen positive
Aspekte aufzuweisen. Lediglich die desorganisierte/ desorientierte Bindung kann als ein
beginnendes pathologisches Verhalten angesehen werden.

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Auch wenn zu Beginn keine sichere Basis ausgebildet werden konnte, besteht die Mög-
lichkeit aufgrund von späterer feinfühliger Interaktionserfahrungen eine sichere Bin-
dung zu einer Bindungsperson zu entwickeln (vgl. Brisch, 2006, 1). Dies kann sich in
jedem Lebensalter ereignen. Neue feinfühlige und emotional verfügbare Interaktionser-
fahrungen, welche über einen längeren Zeitraum vorhersehbar sind und bei der die Bin-
dungsperson emotional verfügbar ist, helfen dem Gehirn sich neu zu strukturieren,
wodurch eine erneute Möglichkeit für eine sichere Entwicklung entsteht. Das Bindungs-
system bleibt somit ein Leben lang für neue Erfahrungen und für Veränderung in der
Bindungsebene offen.
In der Literatur wird beschrieben, dass das Bindungssystem an sich als ,umweltstabil`
und die Bindungsqualität hingegen als ,umweltlabil` angesehen werden kann, da die
Qualität der Interaktion der Pflegeperson mit dem Kind diese maßgeblich beeinflusst
(Grossmann, 2008, 21). Somit hängt die Qualität davon ab, wie schnell und angemessen
die Pflegeperson auf die Bedürfnisse des Kindes reagieren kann. Das Bindungssystem
hingegen wird als ,umweltstabil` bezeichnet, da eine Bindung das Grundbedürfnis des
Säuglings ist und es sich somit an jede Mutter bindet, gleichgültig ob diese für ihn sorgt
oder nicht. Sorgt die Pflegeperson jedoch nicht für das Kind, ist zwar eine Bindung vor-
handen, jedoch keine sichere Bindungsqualität zu erwarten.
Die mütterlichen und kindlichen Einflussfaktoren auf die Bindungsqualität
Nicht nur das Verhalten der Bindungsperson ist maßgeblich verantwortlich für die Bin-
dungsunterschiede, sondern auch noch weitere Faktoren, wie zum Beispiel die Feinfüh-
ligkeit der Eltern oder das Temperament des Kindes (vgl. Lengning, 2012, 24).
Die Feinfühligkeit der Bindungsperson beschreibt nach Ainsworth die Schnelligkeit, die
Konsistenz und die Angemessenheit der Verhaltensweise. Sie beschreibt folglich die
Fähigkeit, die kindlichen Signale wahrzunehmen, sie zu interpretieren und schnell und
adäquat auf diese zu reagieren. Die Feinfühligkeit besteht im Wesentlichen aus vier
unterschiedlichen Komponenten (vgl. Grossmann, 2008, 32). Diese beinhalten zum ei-
nen die Wahrnehmung der Signale, damit der Säugling erfährt, dass er durch die Bin-
dungsperson bemerkt wird. Zum anderen die richtige Interpretation der Äußerungen des
Säuglings aus seiner Sicht und nicht nach dem Belangen der Bindungsperson, so dass
der Säugling erfährt, dass er soziale Wirkungen erzielen kann. Weiterhin ist eine ange-
messene Antwort auf diese Reaktion von großer Bedeutung, damit der Säugling lernt,

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die Qualität der Wirkungen, die es auf seine Reaktion gibt, gezielt einzusetzen, um seine
Bedürfnisse zu befriedigen (vgl. Ainsworth, 2011, 414). Diese prompte Reaktion be-
schreibt das letzte Merkmal der Feinfühligkeit und spielt eine sehr wichtige Rolle, da
die Neugeborenen dadurch erst merken, dass die durchgeführte Reaktion aufgrund ihres
eigenen Verhaltens erfolgt (vgl. Lengning, 2012, 25). Im Laufe der Entwicklung spielt
diese Schnelligkeit jedoch eine immer geringere Rolle, da das Kind, aufgrund seiner
Gedächtnisleistung, die Reaktion der Bindungsperson mit seinem Verhalten immer bes-
ser in Verbindung setzen kann. Die Bindungsperson muss hierbei aufmerksam für die
Bedürfnisse des Kindes sein. Nach Ainsworth gilt eine Mutter dann als feinfühlig, wenn
sie selbst die kleinsten Äußerungen des Kindes wahrnehmen und interpretieren kann
(vgl. Ainsworth, 2011, 414). Bemerkt sie jedoch nur die offensichtlichen Signale, so gilt
sie eher als unfeinfühlig (vgl. Lengning, 2012, 24). Die Bezugsperson muss folglich in
der Lage sein sich in das Kind einzufühlen, ganz gleich in welcher Stimmung sie selbst
gerade ist, denn das Kind ,fühlt`, ob es verstanden wurde oder nicht (vgl. Grossmann,
2008, 30).
Die Antworten der Mutter werden dabei häufig begleitet von Vokalmelodien und Wor-
ten, auch wenn der Säugling die Bedeutung der Worte bislang noch nicht kennt und
diese erst mit der Zeit bedeutungsvoll werden. Dadurch lernt das Kind, zusätzlich zu
seinen durchgeführten Erfahrungen, Gefühle als wichtiges Bewertungssystem zu ver-
stehen, das noch viele Jahre weiter ausgebaut werden muss (vgl. Ahnert, 2008, 31).
Aufgrund dessen können negative Gefühle allmählich in klare zielorientierte Planvor-
stellungen integriert werden und das Kind lernt mit negativen Gefühlen, wie Angst,
Trauer und Wut umzugehen. Es lernt nach dem Anlass dieser Gefühle zu suchen, anstatt
auf die Gefühle selbst zu reagieren. Dies geschieht bereits ab der Mitte des ersten Le-
bensjahres. Die richtige Sprache ermöglicht also dem Kind die Zusammenhänge, die die
negativen Gefühle hervorrufen können, zu erkennen, mitzuteilen und diese auch lösen
zu können. In einer Untersuchung von Grossmann et al., aus dem Jahre 2008, konnte
gezeigt werden, dass die Kinder feinfühliger Mütter mit sechs bis zehn Monaten mehr
und differenziertere Laute äußern konnten, als Säuglinge weniger feinfühliger Mütter
(vgl. Grossmann, 2008, 33).
Die Umsetzung der Feinfühligkeit verlangt von der Bindungsperson eine hohe geistige
Flexibilität und Kompromissbereitschaft. Sie ist ganz klar abzugrenzen von der Überbe-
hütung, denn es sollte darauf geachtet werden, dass die Bindungsperson dem Kind

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Erscheinungsjahr
2014
ISBN (eBook)
9783956363733
ISBN (Paperback)
9783956367175
Dateigröße
300 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Katholische Fachhochschule Mainz
Erscheinungsdatum
2014 (Oktober)
Note
1,3
Schlagworte
Hebamme Gebursthelfer Mutter-Kind-Beziehung Adoption Kinderwunsch Kindeswohl
Produktsicherheit
Diplom.de
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Titel: Hebammenbetreuung in Adoptivfamilien bezogen auf die Mutter-Kind Bindung innerhalb des ersten Lebensjahres
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