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Fehlender Facharzt für Notfallmedizin in Deutschland

Situation, Probleme, Lösungsansätze

©2014 Masterarbeit 91 Seiten

Zusammenfassung

Der fehlende Facharzt für Notfallmedizin in Deutschland bietet seit Jahren Diskussionsstoff. Im europäischen Vergleich gehört Deutschland zu den wenigen Ländern ohne Facharztstatus und ohne Etablierung der Notfallmedizin als eigene Fachdisziplin. Die präklinische Patientenversorgung gilt allgemein als beispielhaft, die innerklinische Notfallversorgung jedoch als vernachlässigt. Aufgrund des föderalistischen Grundprinzips gibt es keine bundesweit einheitlichen Regelungen zu Ausbildungsinhalten, Finanzierung und Vorhaltung von Personal und Technik. Bundesland übergreifende evidenzbasierte Studien existieren nicht.
Die vorliegende Arbeit schafft einen ganzheitlichen Überblick über die notfallmedizinische Situation in Deutschland. Angesichts der Komplexität und Bedeutung der Thematik werden zunächst die Rahmenbedingungen der Notfallmedizin, d. h. die geschichtliche Entwicklung, Finanzstrukturen und rechtliche Aspekte, ausführlich dargestellt, um ein Verständnis für die darauf folgende Beschreibung der präklinischen und innerklinischen Versorgung aufzubauen. Konkret werden theoretische Ausbildungsinhalte der derzeit in Deutschland gültigen Zusatzweiterbildung und der in Europa standardisierten Facharztausbildung aufgezeigt. Der Praxisnähe dienen ein Vergleich im internationalen Kontext mit Fokus auf Frankreich sowie eine eigene Studie und Expertenbefragungen. Ziel der Arbeit ist es, neben dieser umfassenden Situationsbeschreibung die Auswirkungen des fehlenden Facharztes für Notfallmedizin auf die Qualität der präklinischen und innerklinischen Patientenversorgung darzustellen, mögliche Lösungsansätze für erörterte Probleme aufzuzeigen und in Resümee die Notwendigkeit des Facharztstatus‘ sowie die damit einhergehende Etablierung der Notfallmedizin als eigene Fachdisziplin zu plausibilisieren.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


I
Zusammenfassung
Der fehlende Facharzt für Notfallmedizin in Deutschland bietet seit Jahren Diskussi-
onsstoff. Im europäischen Vergleich gehört Deutschland zu den wenigen Ländern ohne
Facharztstatus und ohne Etablierung der Notfallmedizin als eigene Fachdisziplin. Die
präklinische Patientenversorgung gilt allgemein als beispielhaft, die innerklinische Not-
fallversorgung jedoch als vernachlässigt. Aufgrund des föderalistischen Grundprinzips
gibt es keine bundesweit einheitlichen Regelungen zu Ausbildungsinhalten, Finanzie-
rung und Vorhaltung von Personal und Technik. Bundesland übergreifende evidenzba-
sierte Studien existieren nicht.
Die vorliegende Arbeit schafft einen ganzheitlichen Überblick über die notfallmedizini-
sche Situation in Deutschland. Angesichts der Komplexität und Bedeutung der Thema-
tik werden zunächst die Rahmenbedingungen der Notfallmedizin, d. h. die geschichtli-
che Entwicklung, Finanzstrukturen und rechtliche Aspekte, ausführlich dargestellt, um
ein Verständnis für die darauf folgende Beschreibung der präklinischen und innerklini-
schen Versorgung aufzubauen. Konkret werden theoretische Ausbildungsinhalte der
derzeit in Deutschland gültigen Zusatzweiterbildung und der in Europa standardisierten
Facharztausbildung aufgezeigt. Der Praxisnähe dienen ein Vergleich im internationalen
Kontext mit Fokus auf Frankreich sowie eine eigene Studie und Expertenbefragungen.
Ziel der Arbeit ist es, neben dieser umfassenden Situationsbeschreibung die Auswir-
kungen des fehlenden Facharztes für Notfallmedizin auf die Qualität der präklinischen
und innerklinischen Patientenversorgung darzustellen, mögliche Lösungsansätze für
erörterte Probleme aufzuzeigen und in Resümee die Notwendigkeit des Facharztsta-
tus` sowie die damit einhergehende Etablierung der Notfallmedizin als eigene Fachdis-
ziplin zu plausibilisieren.
Summary
For years, there has been an ongoing debate about the training and certification of
emergency physicians in Germany. In Europe, Germany belongs to a few countries
where physicians working in the field of emergency medicine (EM) do not complete
their training as a specialist but rather receive an acknowledgement of further training
in emergency medicine. Meanwhile, EM as a medical discipline remains unestablished.
In comparison to the widely recognised prehospital patient care, experts regard clinical
critical care rather unattended. Due to the German federalist principle, there is no na-
tionwide homogeneous regulation for training concepts, funding and provision for per-
sonnel and equipment. Nationwide standardised, evidence-based studies do not exist.
This paper gives a broad overview about the situation of emergency medicine in Ger-
many. In view of the topic's complexity and importance, readers will first of all get a
detailed insight into EM general framework and basic conditions. Thus, historical de-

II
velopment, financial structures und legal aspects in Germany are specified to gain
comprehension for the situation of preclinical and clinical patient care. Following, theo-
retical contents of current further training in Germany are compared with the European
curriculum for emergency physicians. The pragmatic approach contains a description
of EM in an international context, especially France, as well as an own study and ex-
pert consultation.
Besides this extensive status report, it is the aim of the work to describe the effects of
the missing emergency physician on the quality of preclinical and clinical patient care
and to show alternative solutions for resulting problems. Finally, a conclusion about the
necessity for adopting the certification of emergency physicians as in Anglo-American
states and for establishing emergency medicine as a specialty board shall be drawn.

- 1 -
I. Inhaltsverzeichnis
II.
Liste
der
Abbildungen
4
III.
Liste
der
Abkürzungen
5
1.
Einleitung
8
2.
Geschichtliche Entwicklung der Notfallmedizin
9
3.
Finanzierung
der
Notfallversorgung
12
3.1 Finanzierung der präklinischen Notfallversorgung
12
3.2 Finanzierung der klinischen Notfallversorgung
14
3.2.1
Vergütung
ambulanter
Leistungen
15
3.2.2 Vergütung stationärer Leistungen
17
4.
Rechtliche
Rahmenbedingungen
20
4.1
Notfallmedizinische
Begriffsdefinitionen
20
4.2 Abgrenzung Notfalldienst, Notdienst und Bereitschaftsdienst
21
4.3
Rechtsbeziehungen
22
4.3.1
Rechtsbeziehungen
im
Rettungswesen
22
4.3.2
Rechtsbeziehungen
im
Krankenhaus
24
4.4
Zusammenfassung
25
5.
Präklinische
Notfallversorgung
26
5.1 Struktur und Organisation präklinischer Notfallversorgung
26
5.2
Rettungsleitstelle
und
Rettungsdienst 28
5.3 Rettungsmittel
29
5.4
Berufsgruppen
und
Qualifikationen
30
5.4.1
Notärztliche
Tätigkeit
31
5.4.2
Nichtärztliches
Personal
32
5.5
Zusammenfassung
33
6.
Notärztliche
Aus-
und
Weiterbildung
34
6.1 Die (Muster-) Weiterbildungsordnung der Bundesärztekammer
34
6.2 Das (Muster-) Kursbuch Notfallmedizin und der EuSEM-Curriculum
36
6.3
Zusammenfassung
38
7. Fehler und Irrtümer in der Notfallmedizin
38
8.
Klinische
Notfallversorgung 40
8.1
Rahmenbedingungen
-
Status
quo
40
8.2 Entwicklung und Organisationsformen
von
Notaufnahmen
41
8.3 Die interdisziplinär geführte Zentrale Notaufnahme
42
8.3.1
Architektur
und
Technik
43
8.3.2
Struktur
und
Prozesse
45

- 2 -
8.3.3
Personal
47
8.3.4
Schnittstellenmanagement
49
8.4
Zusammenfassung
50
9.
Dokumentation
51
9.1
Präklinische
Dokumentation
51
9.2 Innerklinische Dokumentation
52
9.3
Zusammenfassung
53
10.
Internationaler
Vergleich
53
10.1 Gesundheitssysteme
54
10.2 Notfallmedizin im internationalen Vergleich
56
10.3
Das
französische
Gesundheitssystem
57
10.3.1
Versicherungssystem
57
10.3.2 Krankenhausvergütung
58
10.3.3 Präklinische und klinische Versorgung
59
10.3.4
Notfallmedizinisches
Personal
60
10.3.5 Dokumentation und Qualitätsmanagement
61
11.
Studie
61
11.1 Theoretischer bzw. medizinischer Hintergrund
61
11.2
Ziel
der
Studie
und
Fragestellung
63
11.3
Hypothese
63
11.4
Methode
63
11.5
Daten
64
11.6
Ergebnisse
64
11.6.1
Klinikum
Magdeburg
64
11.6.2
Leitstelle
Haldensleben
67
11.7
Fazit
70
12.
Expertenbefragung 71
12.1
Primäre
Fragestellungen
71
12.2
Sekundäre
Fragestellungen
71
12.3
Methodik
72
12.4
Ergebnisse
73
12.4.1
Hauptprobleme
73
12.4.2 Pro/ Contra Facharzt für Notfallmedizin
74
12.4.3 Ausbildungsniveau und Einsatzrealität
75
12.4.4 Kompetenzvermittlung durch den EuSEM-Curriculum
75
12.4.5 Etablierung der Notfallmedizin und Finanzierung
76
12.4.6
Arzthaftungsrechtliches
Konfliktpotential
76
12.4.7 Leitliniengerechte Diagnostik und Therapie
77

- 3 -
12.4.8 Bundesweit empirische Status quo Datenerhebung
77
12.4.9
Ergänzungen
77
13.
Schlussfolgerung
78
IV.
Literaturverzeichnis 80
V.
Liste
der
Anhänge
88
VI.
Eidesstattliche
Erklärung
89

- 4 -
II. Liste der Abbildungen
Abbildung
1:
Rettungskette
Primäreinsatz
27
Abbildung 2: Zeitwerte der Manchester Triage
46
Abbildung 3: Nutzung von 12-Kanal-EKG nach Facharztstatus
im I. Quartal 2014/ Magdeburg
65
Abbildung 4: Nutzung von 12-Kanal-EKG nach Fachdisziplinen
im I. Quartal 2014/ Magdeburg
66
Abbildung 5: Nutzung von 12-Kanal-EKG nach Facharztstatus
im I. Quartal 2013/ Magdeburg
66
Abbildung 6: Nutzung von 12-Kanal-EKG nach Fachdisziplinen
im I. Quartal 2013/ Magdeburg
67
Abbildung 7: Nutzung von 12-Kanal-EKG nach Facharztstatus
im I. Quartal 2014/ Leitstelle Haldensleben
68
Abbildung 8: Nutzung von 12-Kanal-EKG nach Fachdisziplinen
im I. Quartal 2014/ Leitstelle Haldensleben
69

- 5 -
III. Liste der Abkürzungen
AAEM
Austrian Association of Emergency Medicine
AED
Automatisierter
Externer
Defibrillator
ACS
Acute
Coronary
Syndrom
ÄLRD
Ärztlicher
Leiter
Rettungsdienst
AMI
Akuter
Myokardinfarkt
APS
Angina
Pectoris
ASB
Arbeiter
Samariter
Bund
BÄK
Bundesärztekammer
BGB
Bundesgesetzbuch
BMI
Bundesministerium
des
Inneren
BW
Bundeswehr
CAMAM
Caisse Nationale d'Assurance Maladie de professions indépen-
dantes
CCAM
Classification commune des actes médicaux
CIRS
Critical Incident Reporting System
CCMU
Classification clinique de malades des urgences
CMU
Couverture
maladie
universelle
CNAMTS
Caisse Nationale de l'assurance maladie des travailleurs salariés
CPAMTS
Caisses Primaires d'mssurances maladie
CPU
Chest
Pain
Unit
CV
Cardio
Version
CDU
Clinical
Decision
Unit
DGINA
Deutsche Gesellschaft Interdisziplinäre Notfall- und
Akutmedizin
DGU
Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie
DGzRS
Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger
DIVI
Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und
Notfallmedizin
DLRG
Deutsche
Lebensrettungsgesellschaft
DRF
Deutsche
Rettungsflugwacht
DRG
Diagnosis
Related
Groups
DRK
Deutsches
Rotes
Kreuz
EBM
Einheitlicher
Bewertungsmaßstab
EM
Emergency
Physician
EUSEM
European Society for Emergency Medicine
ESC
European Society of Cardiology

- 6 -
GG
Grundgesetz
GKV
Gesetzliche
Krankenversicherung
GoA
Geschäftsführung
ohne
Auftrag
GVWD
Grenzverweildauer
HI
Herzinsuffizienz
HKL
Herzkatheterlabor
HRS
Herzrhythmusstörung
IABP
Intraaortale
Ballonpumpe
ICD
International Statistical Classification of Diseases and related
Health
Problems
InEK
Institut für Entgeltleistungen im Krankenhaus
ITH
Intensivtransporthubschrauber
ITS
Intensivstation
ITW
Intensivtransportwagen
JUH
Johanniter
Unfallhilfe
KHEntG Krankenhausentgeltgesetz
KIS
Krankenhausinformationssystem
KTW
Krankentransportwagen
KV
Kassenärztliche
Vereinigung
LÄK
Landesärztekammer
Lungenödem
MANV
Massenanfall
von
Verletzten
MBO
(Muster-)
Weiterbildungsordnung
MHD
Malteser
Hilfsdienst
MKB
(Muster-)
Kursbuch
Notfallmedizin
M&M
Mortalität
und
Morbidität
MSA
Mutualité
sociale
agricole
MTS
Manchester
Triage
System
MVZ
Medizinisches
Versorgungszentrum
NACA
National Advisory Committee for Aeronautics
NEF
Notarzteinsatzfahrzeug
NHS
National
Health
System
NRettDG Niedersächsisches
Rettungsdienstgesetz
NSTEMI
Non-ST-elevation myocardial infarction
OPS
Operationen-
und
Prozedurenschlüssel
PCI
Percutaneous
coronary
intervention
POCT
Point-of-care-testing
RA
Rettungsassistent

- 7 -
RDG BW
Rettungsdienstgesetz Baden-Württemberg
RPU
Résumé de passage aux urgence
RS
Rettungssanitäter
RTH
Rettungstransporthubschrauber
RTW
Rettungswagen
SAMU
Service d`aide médicale urgente
SBZ
Sowjetische
Besatzungszone
SGBV
Sozialgesetzbuch
V
SGNOR Schweizerische
Gesellschaft für Notfall- und Rettungsmedizin
SMH
Schnelle
Medizinische
Hilfe
SMUR
Service mobile d'urgence et de réanimation
SOP
Standard
Operating
Procedure
STEMI
ST-elevation
myocardial
infarction
StGB
Strafgesetzbuch
StPO
Strafprozessordnung
STU
Stroke
Unit
StVO
Straßenverkehrsordnung
TEE
Transösophageale
Echokardiographie
THW
Technisches
Hilfswerk
VWD
Verweildauer
ZNA
Zentrale
Notaufnahme

- 8 -
1. Einleitung
Der fehlende Facharztstatus für Notfallmedizin in Deutschland lässt Ärzteschaft, Fach-
gesellschaften, Gesundheitsökonomen und Experten der Notfallmedizin stärker denn je
über die Notwendigkeit und Realisierung der Einführung des Facharztes für Notfallme-
dizin und der damit einhergehenden Etablierung der Notfallmedizin als eigene Fach-
disziplin diskutieren. Auf der einen Seite genießt Deutschland international den Ruf,
über ein exzellentes präklinisches Versorgungssystem dank seiner Infrastruktur des
Rettungsdienstes zu verfügen.
1
Andererseits bemängeln in Notaufnahmen tätige Ärzte
die Vernachlässigung der innerklinischen Notfallversorgung. Somit werfen steigender
Fachärztemangel gerade in Fachdisziplinen mit hoher notfallmedizinischer Relevanz,
2
die infrastrukturell bedingte Unterversorgung von Notfallpatienten vor allem in struktur-
schwachen Regionen sowie hohe Letalitätszahlen in Fächern der Akutmedizin wie der
Kardiologie die Frage auf,
3
inwieweit Realität und Status quo Beschreibung überein-
stimmen. Ziel dieser Arbeit ist es, eine umfassende Situationsbeschreibung zum der-
zeitigen Stand der notfallmedizinischen Versorgung in Deutschland abzugeben, Prob-
leme aufzuzeigen und mögliche Lösungsansätze zu erörtern. Zur Verständnisgenerie-
rung wird zunächst auf die geschichtliche und sozio-ökonomische Entwicklung des
deutschen Rettungswesens sowie auf die finanziellen und medizinrechtlichen Rah-
menbedingungen eingegangen. Folgend werden detailliert personale, technische und
organisatorische Ressourcen sowohl im präklinischen als auch im innerklinischen Be-
reich beschrieben. Hierfür finden Ausbildung des ärztlichen und nichtärztlichen Perso-
nals, Ausstattung und Organisation des Rettungsdienstes sowie Konzepte einer inter-
disziplinären zentralen Notaufnahme besondere Gewichtung. Im Kontext der EU-
Binnenmarkt-Harmonisierung im Gesundheitsbereich wird Deutschland in den interna-
tionalen Vergleich schwerpunktmäßig mit Frankreich gestellt. Zur Untermauerung wis-
senschaftlicher Thesen erfolgte eine Studie zur Aussage über die Versorgung notfall-
medizinischer Patienten mit Verdachtsdiagnose Myokardinfarkt im urbanen und im
ländlichen Bereich eines repräsentativen Bundeslandes. Weiterhin konnte Experten-
wissen eingeholt werden, um theoretischen Aspekten realitätsnahe Einschätzungen
zugrunde zu legen. In Resümee soll geschlussfolgert werden, welche Auswirkungen
der fehlende Facharzt für Notfallmedizin auf die Qualität der prä- und innerklinischen
Notfallversorgung von Akutpatienten hat, welches Problem- bzw. Konfliktpotential sich
hinter der Thematik verbirgt und welche Alternativen und Lösungstrends sich für die
Notfallmedizin in Deutschland abzeichnen, um einer qualitativ hochwertigen und not-
wendigen Versorgung von Notfallpatienten gerecht zu werden.
1
Vgl. Nihues [2012], S. 5.
2
Vgl. Blum/Löffert [2010], S. 10.
3
Vgl. Health Power House [2014], S. 10.

- 9 -
2. Geschichtliche Entwicklung der Notfallmedizin
Struktur und Organisation des deutschen Rettungswesens korrelieren stark mit der
polithistorischen Entwicklung in Deutschland, vor allem mit Blick auf die Jahre der
Nachkriegszeit. Der folgende geschichtliche Abriss soll Aufschluss über die Entwick-
lung der Notfallversorgung und den sich daraus ergebenen sozio-ökonomischen, me-
dizinisch-inhaltlichen und länderrechtlichen Konsequenzen für den gegenwärtigen Ret-
tungsdienst geben.
Die geschichtliche Entwicklung der Notfallversorgung hat im Laufe der Jahrhunderte
eine starke Veränderung durchlaufen. Galten im christlichen Mittelalter Unfälle und
Krankheiten noch als schicksalshafte Gottesprüfung oder -strafe, für die lebensrettende
Maßnahmen nicht vorgesehen waren oder gar als Gotteslästerung verstanden wurden,
formte sich das Weltbild im 17. Jahrhundert dahingehend, dass zumindest ehrenamtli-
che Laienhilfe (oft durch kirchliche Träger) nicht mehr unter Strafe stand.
4
Erst später
änderte sich das gesellschaftliche und religiöse Verständnis; die erste Lebensrettungs-
gemeinschaft für Ertrinkende in Amsterdam steht exemplarisch für diesen Wandel.
5
Die
Notfallbehandlung war zu diesem Zeitpunkt noch weit entfernt von den heutigen medi-
zinisch-therapeutischen Ansätzen. Laienhilfe beschränkte sich auf Zuspruch im Sinne
der Nächstenliebe und auf die Versorgung von Wunden. Erst mit der Industrialisierung
im 19. Jahrhundert etablierten sich erste Hilfsgesellschaften nach dem Samariterprin-
zip: europäischer Vorreiter ist Österreich, wo 1863 die erste Rettungsgesellschaft ge-
gründet und durch Spenden finanziert wurde, wodurch der Weg von der Laienhilfe zur
Spezialisierung und Professionalisierung der Notfallversorgung geebnet wurde.
6
1908
fand der erste Kongress für Rettungswesen in Frankfurt statt, in der die präklinische
Notfallversorgung erstmals als Sonderwissenschaft im Zuge der Aufklärung diskutiert
wurde.
7
Eine Professionalisierung des Rettungsdienstes wurde jedoch von der Ärzte-
schaft vor allem aus Angst vor Konkurrenz aus dem nichtärztlichen Bereich abgelehnt,
und zahlreiche Rettungsgesellschaften stellten Anfang des 20.Jahrhunderts ihre Diens-
te ein.
8
Laut Goldmann waren die Hauptgründe hierfür die derzeit vorherrschende
,,Deutungsunsicherheit in der Medizin über Leben und Tod, Abhängigkeit von spätab-
solutistischen Regierungen, fortwährende Kosten-Nutzen-Frage der Bereitschaftsorga-
nisation (...) bei geringer Ereigniswahrscheinlichkeit sowie geringe medizinisch-
therapeutische Innovationen".
9
Die stärkere Mobilisierung der Gesellschaft im 19. Jahr-
hundert ließ die Zahl der Unfallverletzten steigen, womit ein weiterer Wandel in der
4
Vgl. Enke [2009], S. 7 f.
5
Vgl. Kessel [2008], S. 17.
6
Vgl. Krieter [2009], S. 57.
7
Vgl. Berg [2010], S. 9.
8
Vgl. Krieter [2009], S. 57.
9
Goldmann [2000], S. 84 f.

- 10 -
präklinischen Versorgung einherging. Als Konsequenz wurde die strukturelle sowie
personale Organisation des Rettungsdienstes begünstigt, und Krankentransporte wur-
den von Hilfsgesellschaften bzw. Erste-Hilfe-Vereinen wie dem Arbeiter-Samariter-
Bund (ASB) oder dem Deutschen Roten Kreuz (DRK) mit ausgebildetem Hilfspersonal
und unter ärztlicher Anweisung ausgeführt.
10
Diese Entwicklung wurde im II. Weltkrieg
unterbrochen, da mit dem Ziel der Vereinheitlichung und Zentralisierung des Kranken-
transportwesens das DRK durch das nationalsozialistische Regime instrumentalisiert
und sämtliche andere Hilfsorganisationen gesetzlich verboten wurden.
11
Im Zuge der
Entnazifizierung kam es nach Beendigung des II. Weltkriegs zwar zur Auflösung und
Neugründung des DRK durch die Alliierten, jedoch konnten sich nur wenige Hilfsorga-
nisationen langsam neu organisieren, während das DRK sofort auf bestehende Struk-
turen wie Fuhrpark und Personal zurückgreifen und somit seine Monopolstellung si-
chern konnte.
12
Bereits zu diesem Zeitpunkt wurde der Grundstein für die heute vor-
herrschende oligopole Marktsituation gelegt, die privaten Unternehmen den Marktein-
tritt erschwert und einer Ökonomisierung des Transportwesens mangels Wettbewerbs-
fähigkeit im Wege steht. Weiterhin wirkte sich der Föderalismus nachteilig auf die Or-
ganisation des Rettungswesens aus, sodass Deutschland heute zwar über ein flä-
chendeckendes Rettungsdienst- und Notarztsystem verfügt, jedoch die Verantwortung
für das Rettungswesen in den einzelnen Bundesländern liegt. Daher existieren 16 ver-
schiedene Rettungsdienstgesetze mit unterschiedlichen Vorgaben und Richtlinien, bei-
spielsweise zu Ausbildung, Hilfsfristen, Ausstattung der Rettungsmittel und Finanzie-
rungsmodellen, mit großen Nachteilen für eine Standardisierung und Professionalisie-
rung der Notfallmedizin.
13
Im Gegensatz hierzu verhinderte die Zentralisierung des Rettungswesens innerhalb
des neu gegründeten DRK in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) eben diese
Markt- und Systemheterogenität. So verfügte die spätere Deutsche Demokratische
Republik (DDR) trotz Ärzteknappheit und mangelhaften Fuhrparks bereits nach weni-
gen Jahren über 46 Krankentransporte mit gut ausgebildeten Sanitätern, Feuerwehr-
leuten mit spezieller notfallmedizinischer Ausbildung, medizintechnischer Ausstattung
und einem Meldesystem an das jeweils nächste Krankenhaus.
14
Das Ziel eines einheit-
lichen, flächendeckenden organisierten Rettungswesens wurde in der DDR bereits
1952 realisiert, in dem Fachärzte (neben Chirurgen zumeist Anästhesiologen und In-
tensivmediziner) der einzelnen Polikliniken
15
zum Einsatz in der Schnellen Medizini-
10
Vgl. Kessel [2008], S. 19 f.
11
Vgl. Krieter [2009], S. 58.
12
Vgl. Kessel [2008], S. 29.
13
Vgl. Krieter [2010], S. 59.
14
Vgl. Kohlbach [1999], S. 68.
15
Polikliniken der ehem. DDR sind im ambulanten Sektor vergleichbar mit Medizinischen Versorgungszen-
tren (MVZ), die heute bundesweit zur Bündelung von medizinischer Fachkompetenz und zur Ökonomisie-
rung etabliert werden.

- 11 -
schen Hilfe (SMH) verpflichtet wurden, die zudem im heute bekannten rendez-vous
Prinzip von Schwestern und Pflegern sowie qualifizierten Krankentransporteuren un-
terstützt wurden. Großer Vorteil dieser Verstaatlichung und Zentralisierung war die
zügige Kompensation von Personal- und Materialmangel, der Aufbau einer einheitli-
chen Versorgungsstruktur sowie die Basisschaffung für eine empirische Datenerhe-
bung als Grundlage für Forschung und Entwicklung in der Notfallmedizin.
16
Diese Ent-
wicklung sollte sich in der BRD mit deutlicher zeitlicher Verzögerung und zunächst nur
in Ansätzen vollziehen. Dort wurde Ende der 60er Jahre die Notwendigkeit des zügigen
Transports Verletzter zum Klinikum durch steigende Unfallzahlen einhergehend mit der
wachsenden Kraftfahrzeugindustrie immer deutlicher, und erste professionelle Kran-
kentransporte wurden in Heidelberg (Reiseomnibus) und Köln (Notarzteinsatzwagen)
initiiert.
17
Zu dieser Zeit ergaben erste Studienergebnisse in der BRD, dass eine ärztli-
che notfallmedizinische Patientenversorgung zum frühestmöglichen Zeitpunkt starken
Einfluss auf Mortalitäts- und Letalitätszahlen hat (,golden hour`), was entgegen des
Widerstands seitens des DRK zu einer Professionalisierung der präklinischen Notfall-
versorgung und verbesserter technischer Ausstattung der Einsatzwagen führte. Die
Einführung der ersten Rettungshubschrauber durch den ADAC ab 1970, der heute
über 71 Luftrettungsstandorte verfügt, steht exemplarisch für die priorisierte Finanzie-
rung der präklinischen Infrastruktur während dieser Zeit.
18
Das bis dato aus dem noch
heute im anglo-amerikanischen Raum vorherrschende ,scoop-and-run` System, wel-
ches sich auf den schnellstmöglichen Transport der Patienten und Verletzten vom Not-
fallort in die Zielklinik vorrangig durch nichtärztliches Personal (,Paramedics`) kon-
zentriert, wurde neu beurteilt und letztlich durch das ,stay-and-play` Verfahren, d. h. der
bestmöglichen notfallmedizinischen Versorgung durch ärztliches Personal, ersetzt und
etabliert.
19
In den 90er Jahren wurde dieses Prinzip auf die Versorgung von Patienten
mit bestimmten Krankheitsbildern wie Mykoardinfarkt, Schlaganfall und Schädelhirn-
trauma während des Transports (insbesondere Interhospitaltransporte) ausgedehnt
und teilweise in die Rettungsdienstgesetzte der einzelnen Bundesländer übernommen.
Nach wie vor besteht aufgrund der oben beschriebenen Entwicklung keine bundesweit
einheitliche Regelung. Eine weitere Optimierung der ärztlichen präklinischen Notfall-
versorgung sollte 1984 mit dem Einsatz eines Ärztlichen Leiters in den Rettungsdienst
(ÄLRD) durch Gesetzesbeschluss erreicht werden,
20
dessen Aufgabenspektrum im
Kapitel 5.4.1 Notärztliche Tätigkeit beschrieben wird. Leider lässt sich ein derartiger
Aufbau bzw. Qualitätssprung in der klinischen Notfallmedizin nicht erkennen.
16
Vgl. Kohlbach [1999], S. 144.
17
Vgl. Peter [2010], S. 12.
18
Vgl. Kessel [2008], S. 62 ff; Vgl. Krieter [2009], S. 58 f.
19
Vgl. Berg [2010], S. 10.
20
Vgl. Peter [2010], S. 13.

- 12 -
Heute, im 21. Jahrhundert zeichnet sich ein nahezu unverändertes Bild ab, jedoch
kommt es im Zuge der EU-Gesundheitspolitik zu Harmonisierungsanstrengungen im
Bereich der präklinischen Notfallversorgung, wodurch Themen wie Wettbewerbserhö-
hung durch Marktöffnung für private Unternehmen im Krankentransport, Finanzierung
des Rettungsdienstes, medizinrechtliche Aspekte, aber vor allem auch die Frage nach
Vereinheitlichung bestehender Strukturen und Organisationsformen sowie der Ausbil-
dung des nichtärztlichen und ärztlichen Personals inklusive Kompetenzregelungen
stärker denn je diskutiert werden. Auf diese Aspekte wird auf den folgenden Seiten
detailliert eingegangen, um die Notwendigkeit der weiteren Professionalisierung der
Notfallmedizin im präklinischen und klinischen Bereich zu untermauern und um Rück-
schlüsse auf die Notwendigkeit zur Einführung des Facharztes für Notfallmedizin in
Deutschland ziehen zu können.
3. Finanzierung der Notfallversorgung
Die Finanzierung der Notfallversorgung ist vor dem Hintergrund der sektoralen Tren-
nung zwischen Rettungsdienst, ambulanter und stationärer Versorgung sehr hetero-
gen. Länderspezifische Qualitätsunterschiede in Ausbildung und medizintechnischem
Einsatz (siehe Kapitel 7. Fehler und Irrtümer in der Notfallmedizin) sind negative Aus-
wirkungen der Finanzierungsunterschiede im Rettungswesen.
21
Durchgehend unzu-
reichend ist die Vergütung ambulanter und stationärer Notfallversorgung in den Kran-
kenhäusern. So werden die meisten Notaufnahmen bzw. Rettungsstellen gemeinhin
als Verlustgeschäft angesehen. Im Folgenden soll die Finanzierungssituation der not-
fallmedizinischen Versorgung im präklinischen wie im innerklinischen Bereich erarbei-
tet und der Frage nachgegangen werden, inwieweit die Etablierung der Notfallmedizin
als eigene Fachdisziplin einer verbesserten Vergütung von notfallmedizinischen Leis-
tungen in beiden Bereichen zuträglich ist. Alternativ werden mögliche Lösungsansätze
zur Kompensation derzeitiger Probleme dargestellt.
3.1 Finanzierung der präklinischen Notfallversorgung
Anders als im klinischen Bereich erfolgt die Vergütung der präklinischen Versorgung
nicht leistungsbezogen nach einem Fallpauschalensystem, sondern die Vergütungshö-
he notfallmedizinischer Einsätze ist landesspezifisch in den kommunalen Gebühren-
verordnungen geregelt und somit von Diagnosen und Prozeduren unabhängig. Land
bzw. Träger und Krankenkassen verhandeln jährlich die geplante Ressourcenvorhal-
tung mit einem Pauschalbetrag X, wovon sämtliche Rettungsmittel und Mitarbeiter fi-
nanziert werden können. Erlöse pro Transport spielen keine Rolle, da dieser Betrag X
lediglich durch die Einsatzzahlen des Vorjahres geteilt wird, unabhängig vom Leis-
21
Vgl. Nihues [2012], S. 43 f.

- 13 -
tungsinhalt und Zeitaufwand des einzelnen Transports. Somit kommt es im laufenden
Jahr zu einer Unter- oder Überdeckung in Abhängigkeit von den Schwankungen der
Einsatzzahlen und der Bevölkerungsdichte. Eine transparente Kostenartenaufschlüsse-
lung, d. h. eine detailgetreue und aussagekräftige Kosten-Nutzen-Analyse und ein da-
mit ggf. mögliches Entgegensteuern bei Fehlentwicklungen ist somit nahezu unmög-
lich. Während die anfallenden Kosten der Leitstellen, Feuerwehren und Rettungsdiens-
te vorrangig von den Kommunen, Kranken- und Unfallkassen getragen werden, finan-
ziert sich der Notarztdienst über die Krankenkassen bzw. die Kassenärztliche Vereini-
gung.
22
Vordergründig ist die Frage der Finanzierbarkeit der hohen personalen, medi-
zintechnischen und medikamentösen Vorhaltekosten, die im Rettungsdienst anfallen.
23
So scheitert beispielsweise die Vorhaltung überlebenswichtiger Medikamente in der
Akuttherapie (z. B. präklinische Lysegabe) zumeist an der fehlenden einheitlichen Re-
gelung zur Kostenübernahme durch die Krankenkassen, da die Medikamentenvorhal-
tung durch den Rettungsdienst erfolgt. Problematisch ist in diesem Zusammenhang die
fehlende Kostendeckung bei Überschreitung der Haltbarkeitsdauer von Medikamenten
oder Verbrauchsmaterialien oder bei Versterben des Patienten vor Übergabe im Ziel-
krankenhaus. Ein leitliniengerechtes notärztliches Handeln ist aufgrund des Kosten-
drucks mangels Finanzierung durch die Kassen nicht möglich, und das Rettungs-
dienstpersonal muss, wenn Medikamente nicht aus Studien oder Spenden finanziert
werden, auf eine optimale Behandlung bei Akutpatienten verzichten.
24
Alternative Lö-
sungsvorschläge zur transparenten und effizienten Vergütung der Leistungen in Not-
fallbereitschaft sind eine Schätzung auf Basis der Vorjahreszahlen und Hochrechnung
der geschätzten Vorhaltekosten für jede Versorgungsregion dividiert durch die zu ver-
sorgende Bevölkerung (in Anlehnung an das britische System) und ggf. die Kopplung
an ein Bonussystem mit hinterlegten Leistungskennzahlen und Zielerreichungsgra-
den.
25
Laut Nihues sind Möglichkeiten zur Kostendeckung und Effizienzsteigerung der
Vorhaltekosten der präklinischen Patientenversorgung die Reduzierung der Notarztin-
dikationen und Notarztstandorte sowie die Schaffung einer einheitlichen Pauschalver-
gütung für Rettungswagen- und Notarztstandorte.
26
Dies setzt allerdings eine bundes-
weit einheitlich durchgeführte Studie über den Ist-Zustand insbesondere zur Versor-
gungsqualität im ländlichen Bereich (z. B. Einhaltung der Hilfsfristen und Letalitätszah-
len) und die Kompetenzstärkung der hausärztlichen sowie nichtärztlichen Patienten-
versorgung in Anlehnung an die im anglo-amerikanischen Raum tätigen ,Paramedics`
voraus. Obschon mit der Einführung des Notfallsanitäters ein Schritt in diese Richtung
unternommen wurde, dürfte sich die Kompetenzausweitung des nichtärztlichen Perso-
22
Vgl. Nihues [2012], S. 44 ff.
23
Vgl. Fischer [2009], S. 12.
24
Vgl. Kunze [2011], S. 82 f.
25
Vgl. Fischer [2009], S. 18.
26
Vgl. Nihues [2012], S. 124 ff.

- 14 -
nals im Rettungswesen nach anglo-amerikanischem ,stay-and-play` Prinzip äußerst
schwierig gestalten, da in Deutschland der Fokus auf eine qualifizierte notärztliche Pa-
tientenversorgung am Notfallort gerichtet ist und weiteres ,Empowernment` des nicht-
ärztlichen Rettungsdienstpersonals einen zu starken berufsständischen und hierarchi-
schen Paradigmenwechsel verlangt.
27
Die Einführung des eingangs beschriebenen Fallpauschalensystems im klinischen Be-
reich muss im präklinischen Kontext ebenfalls erwähnt werden, da diese zumindest
indirekt Einfluss auf die präklinische Notfallversorgung hat. Neben positiven innerklini-
schen Effekten wie Effizienzsteigerung durch Prozessoptimierungen und zunehmende
fachliche Spezialisierung der Kliniken führen gerade diese Spezialisierungen zu Betei-
ligungsrückgang von Krankenhäusern an der notfallmedizinischen Versorgung und
somit zu einer Ausdünnung des Versorgungsnetzes, was wiederum Folgen für Um-
fang, Struktur und Personal im Rettungsdienst hat.
28
Ein weiteres Problem ist die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit im Transportwesen, da
eine Marktöffnung für private Leistungsanbieter wie im französischen Markt (siehe Ka-
pitel 10.3 Das französische Gesundheitssystem) zugunsten bereits etablierter bzw.
historisch gewachsener Hilfsorganisationen erschwert und somit die Ökonomisierung
des Rettungswesens blockiert wird.
29
Eine Marktöffnung für private Unternehmen nach
dem französischen Modell wäre für den deutschen Markt durchaus geeignet und ist
überlegenswert.
3.2 Finanzierung der klinischen Notfallversorgung
Wie die meisten europäischen Länder hat auch Deutschland im Zuge der Gesundheits-
reform 2000 das Klassifikationssystem der Diagnosis Related Groups (DRG) einge-
führt, wonach Patienten seit 2004 bundesweit einheitlich aufgrund ihres Krankheitsbil-
des und des relevanten Schweregrades mithilfe ICD-10 Codes codiert, in DRG grup-
piert und abgerechnet werden. Mit der Einführung sollte gesundheitspolitisch den ho-
hen und kostenintensiven Krankenhausverweildauern entgegengewirkt werden, die
sich bis zu diesem Zeitpunkt automatisch aufgrund einer krankenhausindividuellen
Vergütung der im stationären Bereich erbrachten Leistungen ergaben. So wurde ein
einheitliches Fallpauschalensystem etabliert, dass sich nunmehr ausschließlich auf die
Leistungserbringung im Krankenhaus stützt.
30
Neben verschiedenen Vor- und Nachtei-
len dieser Gesundheits- bzw. Finanzierungspolitik, die hier nicht näher ausgeführt wer-
den sollen, ergibt sich jedoch ein erhebliches Konfliktpotential für die Notfallversor-
gung. Zum einen kam es im Zuge der DRG-Einführung vermehrt zur Spezialisierung
27
Vgl. Flake [2013], S. 598 ff.
28
Vgl. Geraedts [2009], S. 1172; Vgl. Gorgaß [2013], S. 552; Vgl. Lackner [2011], S. 18.
29
Vgl. Gorgaß [2013], S. 552.
30
Vgl. Nihues [2012], S. 46.

- 15 -
auf lukrative Leistungen, d. h. viele Kliniken konzentrieren sich auf den Aufbau von
Kompetenzzentren, und die Zahl der Häuser mit Maximalversorgungsauftrag nimmt ab,
was sich negativ in längeren Wege- und Anfahrtszeiten für die Rettungsdienste wider-
spiegelt.
31
Zum anderen ist die notärztliche Tätigkeit nicht im DRG-System abgebildet.
Dabei sollten sich sämtliche Länder mit DRG-System die Frage stellen, ob Leistungen
der Notfallversorgung separat vergütet werden oder Bestandteil der DRG-Pauschalen
bilden. Laut Fischer wäre eine Aufteilung der bestehenden DRG nach dem Kriterium
mit oder ohne Notfalleintritt nebst Gewichtung vorteilhaft, da so ersichtlich würde, wel-
chen Einfluss die notfallmäßige Hospitalisierung auf die Kosten der stationären Be-
handlung hat. Zudem würden Kostenunterschiede bei notfallmäßigem oder elektivem
Eintritt sachgerecht abgebildet.
32
Somit gäbe es keine Parallelentwicklung zum beste-
henden DRG-System. Die Etablierung der Notfallmedizin als eigene Fachdisziplin wür-
de forciert, was jedoch die bundesweit einheitliche Definition der Notfallversorgung und
die Führung der Notfallaufnahme als eigene Kostenstelle mit eigenem Fachabteilungs-
schlüssel notwendig macht.
Weiterhin muss die Regelung zur Abschlagszahlung in Höhe von 50,00 Euro pro Pati-
ent für Krankenhäuser, die sich nicht an der Notfallversorgung beteiligen (KHEntG),
kritisiert werden, weil sie zu einer Ungleichbehandlung mangels Differenzierung nach
Krankenhausgröße und Leistungsspektrum führt, da die Vorhaltekosten (vor allem Per-
sonalkosten) als Sprungfixkosten für Häuser mit kleiner Bettenkapazität schlichtweg
nicht finanzierbar sind.
33
Zudem wird nicht differenziert, inwieweit Krankenhäuser eine
24-7-365 Versorgung vorhalten, d. h. ob sie zu jeder Zeit vom Rettungsdienst angefah-
ren werden können, sodass es für viele Krankenhäuser wirtschaftlicher ist, eine zeitlich
eingeschränkte Notfallversorgung anzubieten.
34
Diese Regelung ist daher ungerecht,
unsachgerecht, nicht kostendeckend und schließt qualitative Aspekte völlig aus.
3.2.1 Vergütung ambulanter Leistungen
Ebenso kritisch wie die Vorhaltekostenproblematik ist die generelle Frage zur Kosten-
deckung der ambulanten Notfallvergütung durch die Kassenärztliche Vereinigung. Laut
von Eiff ,,widersprechen geltende Abrechnungsregeln im ambulanten Bereich der Kran-
kenhäuser medizinischer und betriebswirtschaftlicher Realität".
35
Deutsche Kranken-
häuser rechnen derzeit in einem komplexen und mit unterschiedlichen Regelungen und
Vereinbarungen der 17 Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) geprägten Verfahren
nach dem sogenannten Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) obligate und fakulta-
tive Leistungen des organisierten Notfalldienstes ab, deren Vergütung undurchsichtig,
31
Vgl. Enke [2009], S. 46 f.
32
Vgl. Fischer [2009], S. 12 u. 18 f.
33
Vgl. Nihues [2012], S. 177.
34
Vgl. Schöpke [2014], S. 530.
35
Eiff [2011], S. 125.

- 16 -
völlig unangemessen und keinesfalls kostendeckend ist.
36
,,Der EBM ist aber als Hono-
rarverteilungsinstrument für den vertragsärztlichen Bereich entwickelt worden und ori-
entiert sich allein an den Kosten, die in Arztpraxen anfallen."
37
Beispielhaft für diese Problematik ist die uneinheitliche Vergütung von Laborparame-
tern wie der Blutgasanalyse an Schnelltestanalyse-Geräten (POCT) in der Notaufnah-
me. Bislang ist es der KV freigestellt, die Vergütung der ambulanten Notfallversorgung
nach eigenem Ermessen zu gestalten, da diese Leistung von den Kassen oftmals nicht
als Bestandteil der Erstversorgungsdiagnostik zur zeitkritischen Entscheidung über
weiteren Therapieverlauf und ggf. nötiger Hospitalisierung anerkannt wird.
38
Während
in einigen Bundesländern dieser Parameter vergütet wird, ist er andernorts nicht ab-
rechnungsfähig, obwohl die deutsche Rechtsprechung Laboruntersuchungen grund-
sätzlich nicht von der Erstversorgung ausklammert; zumal diese oft von pflegerischem
Personal als Delegation ärztlicher Tätigkeiten vor dem ärztlichen Erstkontakt vorge-
nommen werden und somit eindeutig der Erstversorgung zuzurechnen sind. So ver-
wundert es kaum, dass sich aufgrund der vielen unterschiedlichen Abrechnungsverfah-
ren und Zuständigkeiten in den einzelnen Bundesländern für ein und dasselbe notfall-
medizinische Krankheitsbild unzählige verschiedene Abrechnungsverfahren mit unter-
schiedlichen Vergütungshöhen ergeben.
In diesem Zusammenhang muss ebenfalls der Dokumentationsaufwand erwähnt wer-
den, der mit der Versorgung ambulanter Notfallpatienten einhergeht und der für Ärzte
kaum mehr realisierbar ist. Aufgrund der Leistungsdichte und des Zeitdrucks in der
Notaufnahme kommt es zu erheblichen Qualitätsmängeln in der Dokumentation und
Verlusten in der Abrechnung, da eine gewissenhafte und komplette Dokumentation
Grundlage für die korrekte Kodierung und somit vollständige Vergütung der erbrachten
Leistungen ist. Im Zuge der Digitalisierung der Patientenakten muss die Krankenhaus-
verwaltung gewährleisten, dass Ärzte zum einen Zugang zu PC-Arbeitsplätzen in der
Notaufnahme haben. Zum anderen sollte idealerweise ein einfach anzuwendendes
Abrechnungssystem in das Krankenhausinformationssystem (KIS) integriert werden.
Eine Möglichkeit ist die Hinterlegung von Codes für Diagnosen und Prozeduren gefiltert
nach Fachdisziplinen, eine Medikationsschnellliste sowie die Auswahl von Textbau-
steinen und Freitexten für die Arztbriefschreibung. Dabei sollte die Eingabe patienten-
und nicht nur fallbezogen sein, um die Patientenhistorie nachvollziehen zu können und
somit Doppelarbeiten (Anamnese, Diagnostik wie EKG etc.) zu vermeiden.
36
Vgl. Eiff [2011], S. 103.
37
Schöpke [2014], S. 529.
38
Vgl. Schöpke [2014], S. 531.

- 17 -
3.2.2 Vergütung stationärer Leistungen
Tendenziell steigende Patientenzahlen durch Krankenhauseinweisungen und die
selbstständige Vorstellung von Patienten in der Notaufnahme in Kompensation zu
mangelnder flächendeckender hausärztlicher Versorgung, gesteigerte Anspruchshal-
tung seitens der Patienten, zunehmende Morbiditätszahlen mit komplexen Krankheits-
bildern auf der einen Seite und oftmals eingeschränkte räumliche, technische und vor
allem personale Ressourcen auf der anderen Seite führen zunehmend zu einer Leis-
tungsverdichtung in der hoch komplexen Prozesslandschaft Notaufnahme. Dabei füh-
ren steigende Patientenzahlen zwar zur Erlössteigerung, im Wesentlichen aber auch
zum Anstieg der Fehlbeträge, da die Versorgungskosten überproportional ansteigen.
39
Die Aufrechterhaltung einer adäquaten akutmedizinischen Versorgungsqualität mit
hoher Patientensicherheit und Mitarbeiterzufriedenheit ist mit dem derzeitigen Entgelt-
system nicht finanzierbar und bedarf einer Reformierung. ,,Bauliche und organisatori-
sche Vorhaltekosten für medizinische, pflegerische, medizinisch-technische, radiolo-
gisch-technische und administrative Bereitschafts- und Anwesenheitsdienste finden
kaum Berücksichtigung in der Berechnung der Vorhaltekosten."
40
Krankenhäuser ver-
suchen durch innovative Konzepte und Umstrukturierungsmodelle dem Kostendruck
standzuhalten. So ist in den vergangenen Jahren ein deutlicher Anstieg der Zentralisie-
rung von Notaufnahmen in Deutschland zu verzeichnen, die von inter- oder zumindest
multidisziplinärer Zusammenarbeit geprägt sind und oftmals ambulante Versorgung
sowie lukrative vorstationäre Behandlungen integrieren. Hauptvorteil dieser interdiszip-
linär arbeitenden zentralen Notaufnahmen ist die Bündelung der Versorgung von Not-
fallpatienten durch personale, (medizin-) technische und räumliche Ressourcenzu-
sammenführung, wodurch die Qualität der Patientenversorgung ,rund um die Uhr` ge-
währleistet werden kann (nähere Ausführungen siehe Kapitel 8.3.3 Personal).
41
Aller-
dings steht der Etablierung solcher Einheiten oftmals der Investitionsstau in deutschen
Krankenhäusern entgegen. In vielen Fällen ist nicht bei jedem in der Notaufnahme vor-
stelligen Patienten sofort klar, ob Aufnahmeindikation besteht und welcher Fachrich-
tung er bei Hospitalisierung zugeordnet wird. Neben der Vermeidung haftungsrechtli-
cher Konsequenzen durch frühzeitige Entlassung des Patienten kann durch die Einfüh-
rung sogenannter Kurzlieger- oder Überwachungsstationen gleichzeitig einer Kosten-
unterdeckung bei ambulanten Behandlungen entgegengewirkt werden. Die Abrech-
nung vermeintlich ambulanter Notfallbehandlungen als stationäre Leistungen wird mitt-
lerweile auch vom Gesetzgeber gestützt: laut Bundessozialgerichtsentscheidung ist
keine Mindestaufenthaltsdauer für die vollstationäre Abrechnung definiert. Lediglich soll
die Behandlung über mindestens einen Tag und eine Nacht erfolgen. Zudem obliegt
39
Vgl. Dormann [2011], S. 92.
40
Callies [2011], S. 79, zitiert nach Petersen u. Leng [2008], S. 36.
41
Vgl. Moecke [2011], S. XI.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2014
ISBN (eBook)
9783956363696
ISBN (Paperback)
9783956367137
Dateigröße
951 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Hochschule Fresenius; Köln
Erscheinungsdatum
2014 (Oktober)
Note
1,3
Schlagworte
Facharzt für Notfallmedizin Notarzt Facharzt Notfall Notfallversorgung
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Titel: Fehlender Facharzt für Notfallmedizin in Deutschland
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