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Emanzipation in Wort, Schrift und Tat. Die zweite Welle der Frauenbewegung am Beispiel von Verena Stefans HÄUTUNGEN und Christa Wolfs KASSANDRA

©2013 Bachelorarbeit 69 Seiten

Zusammenfassung

Die vorliegende Arbeit zum Thema „Emanzipation in Wort, Schrift und Tat“ befasst sich mit zwei Texten von Autorinnen aus der Zeit der Neuen Frauenbewegung nach 1968. Beim ersten Text handelt es sich um das im Jahr 1975 erschienene Buch HÄUTUNGEN der Schweizer Autorin Verena Stefan. Es enthält autobiografische Züge, Träume, Wünsche, Lebensrealitäten und Gedichte gleichermaßen. Das zweite Werk ist KASSANDRA von Christa Wolf. In ihrer 1983 erschienenen Neuinterpretation des antiken Kassandra-Mythos setzt Wolf den Fokus auf die Frau als Protagonistin. Da in der Literatur vorrangig Männer sowohl als Protagonisten der Erzählungen als auch als Autoren, Verleger, Kritiker oder Buchhändler anzutreffen sind und der allgemeine Literaturkanon doch zum größten Teil Texte umfasst, deren Autor ein Mann ist, stehen in dieser Arbeit bewusst zwei Werke von Frauen im Mittelpunkt. Anhand dieser soll aufgezeigt werden, dass es immer schon Autorinnen gab, auch wenn sie nicht wahrgenommen wurden. Dabei stellt sich die Frage, wie sehr die zunehmenden schreiberischen Tätigkeiten der Frauen in den 1970er und `80er Jahren (beispielsweise in den beiden Texten von Stefan und Wolf) mit der Emanzipations-bewegung und dem Geist der damaligen Zeit an sich verzahnt sind. Obwohl in unserer Zeit das Ungleichgewicht zwischen männlichen und weiblichen Autoren seit den Anfängen weiblicher Autorenschaft deutlich abgenommen hat, ist auch heute noch die Rede vom „Skandal weiblicher Autorschaft“: Bezog sich dieser Begriff um 1800 noch auf ein erstes Eindringen der Frauen in das von Männern dominierte Schriftwesen, wird heute vielmehr eine Revision des (männlichen) Literaturkanons und der Epochenbegriffe angestrebt.
In dieser Arbeit wird nun aus der Sicht von zwei beteiligten Autorinnen und Protagonistinnen der lange Weg der Emanzipation herausgearbeitet und versucht, die Parallelen zwischen der Darstellung von Welt in den Texten, von denen einer in der Antike und einer inmitten der Neuen Frauenbewegung (in Folge der 1968er Jahre) spielt, aufzugreifen. Es soll u. a. die Frage beantwortet werden, wie die Autorinnen der Literatur der Neuen Frauenbewegung Verena Stefan und Christa Wolf (als marginalisierte Schriftstellerinnen) mit ihren exemplarischen Werken HÄUTUNGEN und KASSANDRA die (jahrhundertelange) Emanzipation der Frau in Wort, Schrift und Tat darstellen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Huber, Nicola: Emanzipation in Wort, Schrift und Tat. Die zweite Welle der
Frauenbewegung am Beispiel von Verena Stefans HÄUTUNGEN und Christa Wolfs
KASSANDRA, Hamburg, Diplomica Verlag GmbH 2014
PDF-eBook-ISBN: 978-3-8428-2991-6
Herstellung: Diplomica Verlag GmbH, Hamburg, 2014
Zugl. Universität Passau, Passau, Deutschland, Bachelorarbeit, 2013
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http://www.diplom.de, Hamburg 2014
Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis
Seite
1 Alles ist im Fluss
4
1.1 Übersicht über die vorliegende Arbeit
4
1.2
Literaturbericht
8
2
Aufbruch
in
eine
neue
Zeit
10
2.1 Als das Mädchen ein Mensch war
11
2.1.1
Liebende
und
Geliebte
13
2.1.2
,,Handelnde"
und
,,Behandelte"
16
2.1.3
Mutter,
Tochter
und
Schwester
18
2.2 Gesellschaftliche Konzeptionen innerhalb der Werke
20
2.2.1
Matriarchat
versus
Patriarchat
21
2.2.2
Macht
versus
Ohnmacht
24
2.2.3
Liebe
versus
Sexualität
25
3 Eine verschlüsselte Botschaft in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche?
30
3.1 Troia und Mykene als Übergangsgesellschaften
30
3.2
Aspekte
des
Widerstands
34
3.3
K
ASSANDRA
und H
ÄUTUNGEN
als pazifistische Werke
37
3.4 Geschichtliche Hintergründe der Texte
39
3.5
Die
Entdeckung
des
Ichs
40
4 Die Frauen und ,,ihre" Sprache
44

3
4.1 Feministisch motivierter Sprachwandel im Zuge der Frauen-
bewegung
44
4.1.1 Weibliches Schreiben als neue Ausdrucksmöglichkeit
45
4.1.2
Umgang
mit
dem
Mythos
48
4.2 Genus-Sexus-Konflikt und generisches Maskulinum
51
4.3 Exkurs: Ein Seitenblick auf Judith Butler
52
5
Gestalten
auf
einer
Zeitengrenze
54
5.1
Veränderungen
im
'System
der
Werte'
54
5.2 Die vielen Gesichter der Kassandra
57
5.3 "der Schrift nicht mächtig" - Oralität und Literalität
60
6 Resümee: Emanzipation als andauernder Prozess
62
7
Literaturverzeichnis
66
7.1
Primärliteratur
66
7.2
Sekundärliteratur
66
7.3
Internetadressen
69

4
1 ,,Alles ist im Fluss"
1
1.1 Übersicht über die vorliegende Arbeit
Die vorliegende Arbeit zum Thema ,,Emanzipation in Wort, Schrift und Tat" befasst sich
mit zwei Texten von Autorinnen aus der Zeit der Neuen Frauenbewegung nach 1968. Beim
ersten Text handelt es sich um das im Jahr 1975 erschienene Buch
HÄUTUNGEN
der
Schweizer Autorin Verena Stefan.
2
Es enthält autobiografische Züge, Träume, Wünsche,
Lebensrealitäten und Gedichte gleichermaßen. Das zweite Werk ist
KASSANDRA
von Chris-
ta Wolf. In ihrer 1983 erschienenen Neuinterpretation des antiken Kassandra-Mythos setzt
Wolf den Fokus auf die Frau als Protagonistin. Da in der Literatur vorrangig Männer so-
wohl als Protagonisten der Erzählungen als auch als Autoren, Verleger, Kritiker oder
Buchhändler anzutreffen sind
3
und der allgemeine Literaturkanon doch zum größten Teil
Texte umfasst, deren Autor ein Mann ist, stehen in dieser Arbeit bewusst zwei Werke von
Frauen im Mittelpunkt.
4
Anhand dieser soll aufgezeigt werden, dass es immer schon Auto-
rinnen gab, auch wenn sie nicht wahrgenommen wurden.
5
Dabei stellt sich die Frage, wie
1
Griechisches Zitat von Heraklit.
2
Erschienen im feministischen Verlag Frauenoffensive München.
3
Vgl.
Hilmes,
Carola: Skandalgeschichten. Aspekte einer Frauenliteraturgeschichte, Königstein/Taunus
2004, S. 7.
4
Nach Heydebrand, Renate von/Winko, Simone: Ein problematisches Verhältnis: Gender und der Kanon
der Literatur. In: Bußmann, Hadumod/Hof, Renate (Hrsg.): Genus. Geschlechterforschung/ Gender Stu-
dies in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Stuttgart 2005, S. 187-203 gibt es elf Gründe für die zu ge-
ringe Präsenz der Frauen im Kanon (How to Suppress Women's Writing, Joanna Russ): 1. Behinderung
des weiblichen Schreibens (prohibitions), 2. Voreingenommenheit gegen die weibliche Fähigkeit zum
Schreiben (bad faith), 3. Verweigerung der Anerkennung des Textes als von der Autorin selbst verfasst
(denial of agency), 4. Lächerlich machen der weiblichen Schreibtätigkeit (pollution of agency), 5. Abwer-
tung der Gegenstände weiblichen Schreibens als uninteressant (double standard of content), 6. Abwertung
der Werke durch Zuordnung zu minderwertigen Gattungen, 7. Abwehrung der Autorinnen selbst durch
Negativstereotype (false categorizing), 8. Kanonisierung von höchstens einem Einzelwerk (isolation), 9.
Kategorisierung der Frau als Ausnahme, wenn sie doch in den männlichen Kanon gerät (anomalousness),
10. Übersehen weiblicher Traditionslinien (lack of models), 11. Ethische und soziale Werte werden gerin-
ger gewertet als ästhetische Werte der Form und innovative formale Darstellungsweisen werden nicht o-
der als Fehler wahrgenommen (formal aesthetic bias).
5
Hier werden zwar nur ,,moderne" Autorinnen behandelt, aber schon in jüngerer Zeit, bis ins Mittelalter
zurück, schrieben auch Frauen ihre Geschichten (oft in Form von Briefen, Memoiren, Reiseliteratur oder
Tagebucheinträgen) nieder. Neben der Tatsache, dass Frauen an sich früher eine untergeordnete Rolle
spielten und eher als Objekt, denn als eigenständig denkendes Subjekt gesehen wurden, waren die gesell-
schaftlichen und politischen Begebenheiten Hinderungsgrund für aktives Schreiben (gewesen). Während

5
sehr die zunehmenden schreiberischen Tätigkeiten der Frauen in den 1970er und `80er
Jahren (beispielsweise in den beiden Texten von Stefan und Wolf) mit der Emanzipations-
bewegung und dem Geist der damaligen Zeit an sich verzahnt sind. Obwohl in unserer Zeit
das Ungleichgewicht zwischen männlichen und weiblichen Autoren seit den Anfängen
weiblicher Autorenschaft deutlich abgenommen hat, ist auch heute noch die Rede vom
,,Skandal weiblicher Autorschaft": Bezog sich dieser Begriff um 1800 noch auf ein erstes
Eindringen der Frauen in das von Männern dominierte Schriftwesen, wird heute vielmehr
eine Revision des (männlichen) Literaturkanons und der Epochenbegriffe angestrebt.
6
In dieser Arbeit wird nun aus der Sicht von zwei beteiligten Autorinnen und Prota-
gonistinnen der lange Weg der Emanzipation herausgearbeitet und versucht, die Parallelen
zwischen der Darstellung von Welt in den Texten, von denen einer in der Antike und einer
inmitten der Neuen Frauenbewegung (in Folge der 1968er Jahre) spielt, aufzugreifen. Es
soll u. a. die Frage beantwortet werden, wie die Autorinnen der Literatur der Neuen Frau-
enbewegung Verena Stefan und Christa Wolf (als marginalisierte Schriftstellerinnen) mit
ihren exemplarischen Werken H
ÄUTUNGEN
und K
ASSANDRA
die (jahrhundertelange)
Emanzipation der Frau in Wort, Schrift und Tat darstellen.
Die Arbeit beginnt in Kapitel 2 Als das Mädchen ein Mensch war mit einer Analyse
der Rolle der, oftmals marginalisierten, aktiven (Liebende, ,,Handelnde") und passiven
(Geliebte, ,,Behandelte") Frau, skizziert ihre (vorgesehene passive) Stellung innerhalb der
Familie (2.1.3 Mutter, Tochter und Schwester) und anschließend innerhalb der Gesellschaft
(2.2 Gesellschaftliche Konzeptionen innerhalb der Werke) und grenzt unter Punkt 2.2.1
Matriarchat versus Patriarchat die Begriffe Matriarchat und Patriarchat voneinander ab.
Patriarchale Gesellschaften müssen sich nun mit Frauen auseinandersetzen, die das Wort
ergreifen und ,,aufstehen", um ihren Bedürfnissen und Wünschen nachzugehen. Dieser
Schritt geht natürlich nicht ohne Umbrüche und Grenzüberschreitungen vonstatten. Gesell-
Autorschaft immer männlich kodiert war, ist Lesen weiblich kodiert. Einige spezielle Frauenliteraturge-
schichten widmen sich speziell den Autorinnen, die im klassischen Kanon allzu sehr übergangen werden.
Bei diesen findet meist eine andere Anordnung der Schriftstellerinnen statt. Nicht die Einteilung in Epo-
chen überzeugt die Herausgeberinnen, sondern eher die Einteilung in bestimmte Genres. Dabei wird aber
nicht nur auf die Autorinnen, sondern auch auf die Rezipientinnen und Rezipienten Bezug genommen, ist
doch erwiesen, dass Frauen z. B. anders lesen als Männer (für ausführliche Informationen vgl. Klüger,
Ruth: Frauen lesen anders. Essays, München 1996: Das weibliche Lesen und das weibliche Kunstver-
ständnis werden durch die vorherrschende Unterrichts- und Denkweise unterdrückt. Bücher wirken so an-
ders auf Frauen als auf Männer.).
6
Vgl. Hilmes 2004, S. 59.

6
schaftlich und politisch muss ein Umschwung im Denken wie auch im Handeln erfolgen.
Aus Übergangsgesellschaften (3.1 Troia und Mykene als Übergangsgesellschaften) haben
sich neu definierte Ordnungen zu entwickeln. So werden in
HÄUTUNGEN
zeitgenössische
Themen aufgegriffen (3.3 Verweigerung als Widerstand),
KASSANDRA
beschäftigt sich zu-
dem mit den großen politischen Themen Krieg und Pazifismus. Der trojanische Staat, vol-
ler Geheimnisse, Intrigen und Machtstreben (3.2 Intrigen als funktionale Handlungsstrate-
gie), hört nicht auf eine Wahrsagerin, die das Ende bereits voraussieht: Das Schicksal Kas-
sandras ist von vornherein besiegelt.
Die Autorin stellt sich die Frage: ,,Wer war Kassandra, ehe irgendeiner über sie
schrieb?"
7
Stefans weibliches ,,Ich", im Folgenden als Cloe betitelt,
8
versucht, sich radikal
feministisch aus den Zwängen der Strukturen zu befreien, die sie einengen. Sie schließt
sich einer Frauengruppe an, lernt, ihren eigenen Weg zu gehen und erlebt wahre Liebe nur
gleichgeschlechtlich. Die Frau entdeckt sich selbst: 3.4 Die Entdeckung des Ichs. Sexuali-
tät und Liebe werden, wie bei Kassandra, zunächst getrennt (2.2.4 Liebe versus Sexualität).
Nicht die Politik steht im Vordergrund, sondern die Entwicklung der Frau, bzw. das Ver-
hältnis Mann/Frau. So ergibt sich die Frage: Welche gesellschaftlichen Veränderungen der
dargestellten Ordnungen in den Texten gehen mit der Frauenbewegung einher?
Um die Stimme zu erheben, benötigen die beiden Frauen, ebenso wie die beiden
Schriftstellerinnen, eine eigene, eine weibliche Sprache. Darauf geht Punkt 4 Die Frauen
und ,,ihre" Sprache genauer ein. Wolf und vor allem Stefan experimentieren mit der deut-
schen Sprache, suchen Grenzen und Abgrenzungen als neue Ausdrucksmöglichkeiten.
Einmal wird ein alter Mythos umgedeutet (4.1.2 Umgang mit dem Mythos), das andere Mal
tritt die Syntax zugunsten des Inhalts in den Hintergrund. Um die performative Kraft der
Sprache zu verdeutlichen, folgt mit Punkt 4.3 Exkurs: Ein Seitenblick auf Judith Butler ein
kleiner Exkurs zur amerikanischen Philosophin. Müssen Frauen also ,,ihre" eigene Sprache
7
Wolf, Christa: Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra, Frankfurter Poetik-Vorlesungen, Frankfurt a.
M. 2008, S. 173. (Im Folgenden Zitierweise durch Abkürzung VK + Seitenzahl) Ähnlich: ,,Wer war Kas-
sandra, ehe man von ihr schrieb?": VK 189.
8
Der Untertitel zu ,,H
ÄUTUNGEN
" lautet ,,Autobiografische Aufzeichnungen, Gedichte, Träume, Analy-
sen". Aus diesem Grund lassen sich viele Parallelen zum Verfasser-Ich finden. (Dieses Ich wird, obwohl
der Name erst im letzten Kapitel fällt, der Einfachheit halber von Beginn an als Cloe betitelt.) Dennoch
soll klar gestellt werden, dass auch eine Autobiografie als Geschichte und somit ,,nur" als eine dargestell-
te Ordnung von Welt behandelt wird. Sie trägt lediglich parallele Züge zur Lebensrealität der Verfasserin,
wie vor allem anhand der Ich-Erzählerin und dem letzten Kapitel deutlich werden. Nicht umsonst trägt
aber das Erzähler-Ich einen anderen Namen als die Autorin.

7
finden? Sowohl Kassandra, als auch Cloe gelten als Gestalten auf einer Zeitengrenze (5
Gestalten auf einer Zeitengrenze), die es gewagt haben, radikal zu sein und zu handeln,
aufzubrechen und für ihre Meinung einzustehen. Die einen betiteln sie als wilde ,,Weiber",
die anderen als Vorbilder oder Querdenkerinnen. Kassandra jedenfalls hat viele Gesichter,
wie Punkt 5.2 Die vielen Gesichter der Kassandra aufzeigt. Dass sowohl Kassandra als
auch Cloe, die Protagonistin in
HÄUTUNGEN
, die via mala der Häutung der Selbsterkenntnis
beschreiten,
9
zeigt die folgende Arbeit auf. Kassandras Leben spielt sich zwischen zwei
großen Katastrophen ab: Um 1500 v. Chr. fand ein großer Vulkanausbruch in The-
ra/Santorin statt und um 1200 v. Chr. geschah der Überfall der Dorer; dazwischen erlebte
Kassandra mit dem Untergang Troias ihre persönliche Katastrophe (vgl. VK 142).
Einige Teile dieser Arbeit mögen den Eindruck erwecken, sie seien von der feminis-
tischen Literaturwissenschaft
10
beeinflusst. Dies trifft insofern zu, als dass hier sowohl ein
besonderes Augenmerk auf die Belange der Frauen (innerhalb der behandelten Werke), als
auch auf die Vorgehensweise der Autorinnen Christa Wolf und Verena Stefan gelegt wird.
Feministische Literaturwissenschaft arbeitet parteilich
11
- im Sinne der Frauen, die in der
allgemeinen Literaturwissenschaft jahrelang übergangen oder ignoriert wurden.
12
Eine
Aufarbeitung dieses ,,Makels" findet eigentlich erst seit der zweiten Welle der Frauenbe-
wegung statt.
13
Welch wichtige Rolle Oralität und Literalität spielen, zeigt Punkt 5.3 "der
9
Vgl. Haas, Friedhelm: Christa Wolfs ,,Kassandra" als 'Modellfall politischer Erfahrung'. Eine Interpreta-
tion, Europäische Hochschulschriften, Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 1093, Frankfurt a.
M./Bern/New York/Paris 1988, S. 49.
10
Der feministischen Forschung wird oft der Vorwurf gemacht, Frauen als eine Gruppe von gemeinsamen
Merkmalen und Interessen zu betrachten und dabei völlig zu vergessen, dass auch innerhalb der Gruppe
,Frauen` ethnische, kulturelle, klassenspezifische u. a. Differenzen herrschen (frei zitiert aus dem Seminar
,,Aspekte genderbezogener Forschung am Beispiel von Literaturgeschichten). In dieser Arbeit wird je-
doch die Gruppe ,Frauen` als eine Einheit in Bezug auf den Wunsch der Gleichstellung betrachtet. Auch
wenn in der ,,Ausführung" und ,,Umsetzung" der Emanzipation zahlreiche verschiedene Ansichten und
Vorgehensweisen zu finden sind, wollen ,,die Frauen" als Gruppe innerhalb der Gesellschaft doch diesel-
ben Rechte wie Männer.
11
Vgl. Hilmes 2004, S. 9.
12
Das heißt aber nicht, dass die Männer diskriminiert werden. Lediglich das Hauptaugenmerk liegt in dieser
Arbeit eben auf den Frauen. Feminismus an sich konzentriert sich auf die unterdrückte Weiblichkeit.
13
In jüngerer Zeit beschäftigen sich die ,,Gender Studies" mit der Verständigung über sex (biologisches
Geschlecht) und gender (soziales Geschlecht). Darunter finden sich sowohl Beiträge zur Männer- als auch
zur Frauenforschung. Nachdem zu Anfangs der Blickwinkel vermehrt auf die Belange der Frauen gerich-
tet wurde, um den Defiziten hinsichtlich dieser Forschung nachzukommen, können jetzt wieder beide Ge-
schlechter gleichermaßen in das Blickfeld rücken. Die Frau ist nicht frei, so zu handeln, wie sie es
wünscht, da die binäre Codierung von ,weiblich` und ,männlich` bestimmte Verbote und Normen vor-
schreibt. Weiblichkeit und Männlichkeit definieren sich aber, nicht ohne einander zu bestimmen, gegen-
seitig. Dabei ist die Kategorie ,Geschlecht` universal. Die Macht wird etwa immer dem männlichen Ge-

8
Schrift nicht mächtig" - Oralität und Literalität, bevor ein kurzes Resümee (Punkt 6 Resü-
mee: Emanzipation als andauernder Prozess) die Arbeit abrundet.
1.2 Literaturbericht
Christa Wolf zitiert in ihren V
ORAUSSETZUNGEN EINER
E
RZÄHLUNG
:
KASSANDRA
sowohl
diverse Historikerinnen
14
und Historiker als auch andere (antike) Schriftsteller, um die Ge-
schichte über die Seherin Kassandra mit Quellen, Studien oder der griechischen Geschichte
an sich zu untermauern und zu hinterfragen. Gleichzeitig gibt sie einen fundierten Einblick
in ihre Überlegungen zur Entstehungsgeschichte des Werkes und lässt die Rezipientin bzw.
den Rezipienten an der Auseinandersetzung mit dem antiken Mythos teilhaben. W
OLF
lie-
fert somit als Autorin von
KASSANDRA
die wichtigste Sekundärliteratur zum Werk selbst.
Weitere hilfreiche Überlegungen stellt Evelyn Berger mit ihrem Werk
ANTIKE MY-
THOLOGIE IM ERZÄHLWERK CHRISTA WOLFS
.
KASSANDRA UND MEDEA
.
STIMMEN
zur Verfü-
gung. Katherina Glau (
CHRISTA WOLFS
,,
KASSANDRA
"
UND AISCHYLOS
'
,,
ORESTIE
".
ZUR RE-
ZEPTION DER GRIECHISCHEN TRAGÖDIE IN DER DEUTSCHEN LITERATUR DER GEGENWART
) und
Dagmar Neblung (
DIE GESTALT DER KASSANDRA IN DER ANTIKEN LITERATUR
) widmen sich
zudem verstärkt dem antiken Mythos. Für eine Auseinandersetzung mit Matriarchat und
Patriarchat bietet sich Rainer Gerdzens und Klaus Wöhlers
MATRIARCHAT UND PATRIAR-
schlecht zugeordnet, während innerhalb des Feminismus diese patriarchale Ordnung kritisiert wird. Frau-
en haben zunehmend das Verlangen, als vermeintlich Passive, die Position des Subjekts einzunehmen. Im
Hinblick auf die Funktion der Weiblichkeit in der Schrift bzw. im Symbolischen spricht Sigrid Weigel
vom ,,doppelten Ort der Frau" (Vgl. Weigel, Sigrid: Die Geschlechterverhältnisse in der Literaturwissen-
schaft. In: dies.: Topographien der Geschlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur, Reinbek bei
Hamburg 1990, S. 231-264): Sie ist abwesend (in der Schrift) und anwesend (als Beschriebene in der
Schrift) gleichzeitig. So verdoppelt sich der männliche Blick, da Wissenschaftler gleichzeitig die Perspek-
tive von Autor und Kritiker übernehmen ­ dadurch bleibt alles in sich verhaftet, Frauen werden als Sub-
jekt aus der Literatur ausgeschlossen. (Gesamter Absatz frei zitiert aus dem Seminar: Aspekte genderbe-
zogener Forschung am Beispiel von Frauenliteraturgeschichten, Dr. Erdmute Sylvester-Habenicht, SS
2012)
14
Bei den Geschlechterbezeichnungen orientiert sich diese Arbeit an den universitären Gepflogenheiten zu
den Richtlinien für die sprachliche Gleichberechtigung von Frauen und Männern in der externen und in-
ternen Kommunikation an der Universität Passau, die unter http://www.uni-pas-
sau.de/fileadmin/dokumente/frauenbuero/Aktuelles/richtlinien_gendergerechte_sprache_2013-04-09
_1.pdf (aufgerufen am 12.08.2013) zu finden sind.

9
CHAT IN CHRISTA WOLFS
,,
KASSANDRA
" an. Friedhelm Haas setzt sich in Christa Wolfs
,,
KASSANDRA
"
ALS
'
MODELLFALL POLITISCHER ERFAHRUNG
'.
EINE INTERPRETATION
verstärkt
mit der politischen Seite des Werks auseinander, während Stefanie Risse mit
WAHRNEHMEN
UND ERKENNEN IN CHRISTA WOLFS ERZÄHLUNG
,,
KASSANDRA
"
einen sehr guten und über-
sichtlichen Ein- und Überblick zum Werk liefert. Pak Schoro widmet sich in
PROBLEME
DER UTOPIE BEI CHRISTA WOLF
.
ÜBERLEGUNGEN ZU
,,
KEIN ORT
.
NIRGENDS
"
UND
,,
KAS-
SANDRA
" noch einmal verstärkt der Utopie von Christa Wolfs Schreiben.
So umfangreich die Sekundärliteratur für
KASSANDRA
zur Verfügung steht, so we-
nige Nachschlagewerke gibt es für
HÄUTUNGEN
. In dieser Arbeit werden alle Thesen mit
Zitaten aus dem Primärwerk untermauert. Einige Werke zur Stellung des Weiblichen an
sich, wie Sylvia Bovenschens
DIE IMAGINIERTE WEIBLICHKEIT
.
EXEMPLARISCHE UNTERSU-
CHUNGEN ZU KULTURGESCHICHTLICHEN UND LITERARISCHEN PRÄSENTATIONSFORMEN DES
WEIBLICHEN
oder Helen Fehervarys Aufsatz
AUTORSCHAFT
,
GESCHLECHTSBEWUSSTSEIN
UND ÖFFENTLICHKEIT
liefern allgemeine Hinweise. Vor allem für die Darstellung der Frau
als Autorin und als Beschriebene wurde die
FRAUENLITERATURGESCHICHTE
von Hiltrud
Gnüg und Renate Möhrmann, sowie
SKANDALGESCHICHTEN
.
ASPEKTE EINER FRAUENLITE-
RATURGESCHICHTE
von Carola Hilmes herangezogen.
DIE NEUE FRAUENBEWEGUNG IN
DEUTSCHLAND
.
ABSCHIED VOM
KLEINEN UNTERSCHIED
.
EINE QUELLENSAMMLUNG
von Ilse
Lenz eignet sich insbesondere, um sich einen Überblick über die besagte zweite Welle der
Frauenbewegung zu verschaffen.
Für sprachliche Aspekte und Besonderheiten einer feministischen Linguistik wird
im Rahmen der vorliegenden Arbeit der Aufsatz
WARUM KÖNNEN SCHWEDISCHE MÄNNER
KRANKENSCHWESTERN
(
SJUKSKÖTERSKOR
)
WERDEN
,
DEUTSCHE ABER NUR KRANKENPFLE-
GER
?
ZUM EINFLUSS SPRACHINTERNER UND SPRACHEXTERNER FAKTOREN IM DEUTSCHEN
UND IM SCHWEDISCHEN
von Damaris Nübling, sowie Ingrid Samels
EINFÜHRUNG IN DIE
FEMINISTISCHE SPRACHWISSENSCHAFT
herangezogen. Des Weiteren trugen die Seminare
FEMINISTISCHE LINGUISTIK
von Jana Müller und
ASPEKTE GENDERBEZOGENER FORSCHUNG
AM BEISPIEL VON FRAUENLITERATURGESCHICHTEN
von Dr. Erdmute Sylvester-Habenicht
15
an der Universität Passau im Sommersemester 2012 zum Verständnis bei.
15
Aus den Gesprächen innerhalb dieser Seminare wurde zum Teil frei zitiert. Diese Zitate werden im Ver-
lauf mit einer Fußnote kenntlich gemacht.

10
2 Aufbruch in eine neue Zeit
16
Zu Beginn soll der Begriff der Neuen Frauenbewegung und ihr verfolgtes Ziel abgegrenzt
werden: Ilse Lenz spricht nicht von einer Frauenbewegung, sondern von mehreren (z. B.
Lesbenbewegung, Migrantinnenbewegung, Mütterbewegung etc.).
17
Sie definiert so die
Neuen Frauenbewegungen als mobilisierende, kollektive Akteurinnen und Akteure. Dies
impliziert, dass in diesen Zusammenschlüssen Menschen gemeinsam handeln, um geteilte
Anliegen und Ziele zu verfolgen:
18
,,Die beteiligten Personen fordern angesichts einer öffentlichen formalen Rechts-
gleichheit individuelle Selbstbestimmung, Freiheit, Gleichheit und Solidarität und
wirken auf einen grundlegenden Wandel der Geschlechterverhältnisse hin. Sie kriti-
sieren die herrschenden geschlechtlichen Leitbilder, Normen und Diskurse und
entwerfen und verwirklichen Alternativen, die zu neuen Leitbildern und Normen
führen können."
19
Die zweite Welle der Frauenbewegung in den 1970er-Jahren,
20
die mit den Neuen Frauen-
bewegungen gleichzusetzen ist, ist vor allem geprägt von der Diskussion über Lohn für
Hausarbeit, von zahllosen Kampagnen über den Abtreibungsparagraphen § 218, von der
Gründung diverser Frauengruppen
21
und natürlich, und in erster Linie ­ immer noch ­ von
16
Ausführliche Informationen zu den (Neuen) Frauenbewegungen finden sich, wie angemerkt, bei Lenz,
Ilse (Hrsg.): Die Neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quel-
lensammlung, Wiesbaden 2008.
17
Vgl. ebd., S. 21.
18
Vgl. ebd., S. 22.
19
Ebd., S. 21. Kursivdruck auch im Original.
20
Ebd., S. 25: ,,Auf die ersten Aufbrüche in den 1970er Jahren hin breitete sich die Bewegung zu Frauen in
Kirche, Schule, Gewerkschaft, Parteien und Wirtschaft aus. In den 1980er Jahren mobilisierten die Frau-
enbewegungen noch breiter und um 1990-95 erreichte ihre Aktivität einen Gipfelpunkt." (vgl. deutsch-
deutsche Vereinigung)
21
Die Frauengruppe ,,Brot Rosen", in die auch Cloe in H
ÄUTUNGEN
eintritt, führt wichtige Gespräche
über die Sexualität der Frau, Medizin, Verhütung, Abtreibung und andere relevante Frauenthemen (vgl. z.
B. Stefan, Verena: Häutungen. Autobiografische Aufzeichnungen, Gedichte, Träume, Analysen, München
23
1988, S. 15; im Folgenden zitiert als H + Seitenzahl), zu denen auch das ,,Frauenhandbuch Nr. 1" (vgl.
H 15) herausgegeben wurde. Die Gruppe existierte in der Realität ebenso wie in H
ÄUTUNGEN
; Verena
Stefan selbst war seit der Entstehung der Gruppe im Jahr 1972 mit dabei (vgl. Stefan 1977: Einige an-
merkungen zu mir / und zur geschichte dieses buches, in: H 125). Ein wichtiger Kampf ging gegen den
Abtreibungsparagraphen § 218 (,,kampf für die ersatzlose streichung des §218" (vgl. Stefan 1977: Einige
anmerkungen zu mir / und zur geschichte dieses buches, in: H 125)), zu dem die Frauengruppe an dem
Tag ein Tribunal in Köln abhält, als sich Cloe ihr Pessar (=Spirale) einsetzen lässt. Zu der Zeit, als Cloe
mit ihrem Freund Samuel zusammen ist, ,,gerieten [...; ihre; d. V.] verschiedenen leben durcheinander"
(H 52), da sie sowohl Samuel eine gute Partnerin sein möchte, als auch mit Leidenschaft für die Gruppe
,,Brot Rosen" beginnt zu arbeiten: ,,Ich teilte meine wohnung und meine sexualität mit Samuel. [...]

11
der Gleichstellung der Frau in Beruf und Politik.
22
Die Selbstorganisation und Machtbil-
dung von Frauen in Kleingruppen und Netzwerken spielte dabei eine entscheidende Rolle,
erläutert Lenz.
23
U. a. Alice Schwarzer und die von ihr gegründete Zeitschrift ,,Emma" sind
bekannt für diese Zeit.
24
2.1 Als das Mädchen ein Mensch war
25
,,Ihr [Christa Wolf; d. V.] geht es darum, in ihren mythologischen Werken Wege des
Ausdrucks, der Überlieferung und der Interpretation aufzuzeigen, welche der An-
dersartigkeit der Frau Rechnung tragen und auch ihrer Stimme Gehör verschaffen
sowie die Gründe darzustellen, warum diese Stimme seit Jahrtausenden überhört
wurde."
26
Die Autorin versucht, mit ihrer Gestaltung der Geschichte, die ,,Geschichte weiblicher Ge-
schichtslosigkeit"
27
zu kompensieren.
,,[...] Christa Wolf geht davon aus, daß die Frau in der Geschichte nicht einfach nur
fehlt, als ob sie nie dagewesen wäre; vielmehr läßt das Bewusstsein ihrer Ausgren-
zung ein Gefühl des Verlustes aufkommen. Geschichte und Kultur bleiben unvoll-
ständig ohne die Stimme der Frau."
28
Ziel sei es also, der in der patriarchalen Gesellschaft zum Objekt degradierten Frau zu in-
Ich dachte, arbeitete, lernte und fühlte mich wohl mit den frauen von 'Brot Rosen'." (H 52) Die ,,Le-
ben", die die Protagonistin führt, sind strikt voneinander getrennt, und doch möchte sie sie gerne vereinen
und zu ihrem Leben machen. Während sie anfangs für die Frauengespräche einfach aus ihrem Leben mit
ihrem Freund ,,aussteigt" und anschließend wieder zurückgeht, verlagert sich das Gewicht immer mehr
und sie kehrt mit der Zeit seltener ,,zurück", da sie von den Frauen, ihrer Ausstrahlung und ihren unter-
schiedlichen Leben fasziniert ist (vgl. H 52).
22
Vgl. Brenner-Wilczek, Sabine/Köster, Gaby: gepfeffert, salzig, bittersüß. Frauenliteraturgeschichte[n],
Düsseldorf 2012, ohne Seitenzahlen (vor dem Bericht über Pieke Biermann) und Lenz 2008, S. 27.
23
Vgl. Lenz 2008, S. 24: Innerhalb dieser ,,Räume" wurden die Frauen anerkannt, konnten ihre Probleme
miteinander besprechen, sich sicher fühlen und Erfahrungen austauschen.
24
Vgl. Brenner-Wilczek 2012, ohne Seitenzahlen (vor dem Bericht über Pieke Biermann).
25
Stefan, Verena: Rauh, wild und frei. Mädchengestalten in der Literatur, Frankfurt a. M. 1997, S. 13 ff.
26
Berger, Evelyn: Antike Mythologie im Erzählwerk Christa Wolfs. Kassandra und Medea. Stimmen, Köln
2007, S. 44.
27
Bovenschen, Sylvia: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtli-
chen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt 1979, S. 15.
28
Berger 2007, S. 57.

12
nerer und äußerer Autonomie zu verhelfen.
29
Für Christa Wolf ist, und das zeigt sich auch immer wieder in ihren Werken, die
Degradierung der Frau als untergeordnetes Wesen, also als Objekt, ein zentrales Thema,
geht sie doch Recht in der Annahme, dass kein Geschlecht dem anderen unter- oder über-
legen ist.
30
So sei es auch nicht die Aufgabe der Frauen, sich dem Mann anzupassen, son-
dern die Aufgabe der Männer, Frauen mit ihren Eigenschaften so zu akzeptieren, wie sie
sind.
31
Bereits Simone de Beauvoir erkannte richtig: ,,Man kommt nicht als Frau zur Welt,
man wird es. Kein biologisches, psychisches, wirtschaftliches Schicksal bestimmt die Ge-
stalt, die das weibliche Menschenwesen im Schoß der Gesellschaft annimmt."
32
,,Frau-Sein
ist für Beauvoir [also; d. V.] eine gesellschaftliche, nicht in erster Linie eine biologische
Tatsache."
33
Geschlecht wird als ,,doing gender", d. h. als Ergebnis von sozialen Verhal-
tensnormen und performativen Akten, begriffen.
34
Verena Stefan widmet sich in der Einleitung zu R
AUH
,
WILD UND FREI
der Frage,
was genau ein Mädchen (im Gegensatz zur Frau) ausmacht: Mädchen sind frei, wild, un-
gebärdet, unabhängig in ihrem Denken, entdecken alles neu, haben noch keine negativen
Erfahrungen gemacht, wurden noch in keine Schublade gesteckt, sind lautstark und drauf-
gängerisch.
35
Sie würden somit ,,aus dem Bauch heraus" agieren. Erst mit dem Frau-
Werden, dem vermeintlichen Sich-Anpassen, dem Einordnen in die (heteronormative) Ge-
sellschaft werden die Mädchen gezwungen, ihre Zügellosigkeit fallen zu lassen, sich so zu
verhalten wie es von ihnen erwartet wird und sich anzupassen. Das Mädchen war demnach
ein freier Mensch, bevor es zur Frau wurde.
36
Diese Mädchen erinnern Stefan an eine an-
dere ,,Kindheit", nämlich an die Anfänge der Neuen Frauenbewegung:
,,Damals haben wir uns einzelgängerisch und im Kollektiv bewegt. Viele haben
aufgehört, sich auf einen Mann und die Welt der Männer zu beziehen. Viele sind
29
Vgl. Berger 2007, S. 59.
30
Vgl. ebd., S. 283.
31
Vgl. ebd., S. 283.
32
Beauvoir, Simone de: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Reinbek bei Hamburg 1968, S.
265. In: Schößler, Franziska: Einführung in die Gender Studies, Berlin 2008, S. 55.
33
Holland-Cunz , Barbara: Die alte neue Frauenfrage, Neue sozialwissenschaftliche Bibliothek, hrsg. v.
Esser, Josef, Frankfurt a. M. 2003, S. 97.
34
Vgl. Schößler 2008, S. 55.
35
Vgl. Stefan 1997, S. 16 f.
36
Vgl. ebd., S. 19.

13
lesbisch geworden, manche sind es geblieben. Viele Lesben sind dazugekommen,
die schon immer lesbisch waren. Viele wußten nicht mehr, bin ich Fisch oder
Fleisch. Alle Möglichkeiten standen offen, weil wir sagten, wir erfinden die Welt
jetzt neu. Jede ist fähig auszurufen: Mein Bauch gehört mir! Wir erobern uns die
Nacht zurück! [...] Bevor wir feministische Parolen skandierten ­ und teilweise
gleichzeitig ­, existierten sie bereits in dichterischer Form, und es gab literarische
Vorläuferinnen, von denen wir nichts wußten."
37
2.1.1 Liebende und Geliebte
Die heterosexuelle Beziehung Kassandras zu Aineias, im Mythos Sohn des Anchises und
der Göttin Aphrodite und somit ein Held Troias,
38
schärft deren sinnliche Wahrnehmung,
lässt sie lebendiger werden und sensibler auf die Außenwelt reagieren.
39
Ihre Beziehung ist
keine Partnerschaft im klassischen Sinne, innerhalb derer man sich geborgen fühlen oder
Ratschläge einholen kann. Die Stärke des Gefühls zu Aineias lässt Kassandra nur die Wirk-
lichkeit erkennen und sich lebendig und wirklich fühlen.
40
Ihre Beziehungen zu Frauen wie
Marpesa, eine Freundin und enge Vertraute Kassandras, die sich oft um deren Kinder
kümmert, oder Penthesilea, die den kriegerischen Amazonen vorsteht, hingegen stellt Wolf
nicht dezidiert als homosexuelle Liebesbeziehungen dar, schließt sie jedoch ebenso nicht
als solche aus. Fest steht, dass die Frauen für Kassandra eine große Rolle spielen und sie
psychisch wie physisch sehr bewegen.
Zwar spielen Männerbeziehungen und deren Wegfall in H
ÄUTUNGEN
eine wesentli-
che Rolle in Cloes Leben, doch hinsichtlich ihrer ,,Ich-Werdung", und somit ihrer selbst-
bewussten Entwicklung zur unabhängigen Frau, dominieren Frauenbeziehungen.
,,Frauenliebe und Freundinnenschaft gibt es schon in der Alten Frauenbewegung,
doch erst die neue Frauenbewegung kultiviert die systematische, selbstkritische
Reflexion aller Emotionen von und zwischen Frauen als politische Strategie
(Selbsterfahrung)."
41
37
Stefan 1997, S. 19 f.
38
Troia wird in dieser Arbeit, gemäß der Schreibweise Christa Wolfs, mit ,,i" geschrieben.
39
Vgl. Risse, Stefanie: Wahrnehmen und Erkennen in Christa Wolfs Erzählung ,,Kassandra", Reihe Sprach-
und Literaturwissenschaft, Bd. 10, Pfaffenweiler 1986, S. 85.
40
Vgl. ebd.
41
Holland-Cunz 2003, S. 250.

14
Die erste Beziehung, die Cloe in H
ÄUTUNGEN
beschreibt, ist ihr Verhältnis zu Ines, mit der
sie zur Schule gegangen ist. Zwar fiel bei einem ersten Gespräch zwischen den beiden das
Wort ,Homosexualität` nicht, doch macht Ines Cloe klar, sich nicht zu Männern hingezo-
gen zu fühlen, weswegen sie fürchtet, nicht normal zu sein (H 11).
Später ist auch die Rede
von einer Trennung, als Cloe eine Beziehung mit ihrem ersten Mann eingegangen war:
,,meine fantasie hatte gelitten. Ines fand mich langweilig. wir trennten uns bald."
(H 20)
Die Beziehung zu einem Mann wird hier als Fantasie-Hemmer dargestellt. Die Frau ver-
liert während dieser Verbindung ihr eigenständiges Denken, sie handelt unterwürfig, lä-
chelt immerzu und erbittet die Zustimmung zu allem, was sie tut oder lässt (vgl. H 20), sie
wird schwerfällig und handlungsunfähig (vgl. H 64). Dabei erwähnt Cloe auch, dass sie,
wenn sie zornig oder handgreiflich gegenüber einem Mann werde, der ihr zu nahe tritt, als
zickig und unverschämt beschrieben werde (vgl. H 20). Cloe stellt fest, dass Frauen meist
mit einem Mann schlafen, weil sie sozial darauf angewiesen sind; zudem sei mit Männern
über Sexualität
42
zu reden, generell sowieso kaum möglich (vgl. H 87).
Eine neue Liebe Cloes entsteht zu Nadjenka, die jedoch im Gegensatz zu Cloe
(DDR) in der BRD, und somit räumlich distanziert von ihr, lebt (vgl. H 29, 43). Weil sie
nicht alleine sein kann, ist Cloe auf der Suche nach einem ,,menschlichen mann" (H 43),
beginnt aber gleichzeitig Nadjenka zu küssen, da sie sich bei ihr ,,beherbergt" fühlt; genau
dieses Gefühl wünscht sie sich aber offensichtlich von einem Mann (vgl. H 43). Die beiden
Frauen können lange Zeit aus Gründen der innerlichen und äußeren Distanz nicht zueinan-
der finden, hängen jedoch sehr aneinander. Erst als Nadjenka ein Kind erwartet, erfährt
ihre Beziehung ein einschneidendes Moment (vgl. H 52f.). Cloe sieht die Freundin in ih-
rem schwangeren Zustand als endgültig gefangen an, für Nadjenka ist das Kind ,,jemand,
der mich zwingt zu leben" und gleichzeitig ein Schutz vor dem Lesbisch-Sein (vgl. H 53).
Cloes Verhaltensweise an sich lässt eher auf Homosexualität schließen, sich aber
gleichzeitig in keine konkrete ,,Schublade" einordnen. Zu Frauen fühlt sie sich in jeder
Hinsicht mehr hingezogen als zu Männern, hat ­ trotz aller Schwierigkeiten ­ letztendlich
aber nur mit Frauen wirklich erfüllenden Sex und ist nur an deren Stärken und Ängsten
interessiert (vgl. H 57): ,,ich wollte zu ende denken, was geschehen würde, wenn frauen
42
Vgl. dazu Punkt 2.2.3 Liebe versus Sexualität dieser Arbeit.

15
sich von männern los sagten. Die rollen haben die menschen unkenntlich gemacht." (H 57)
Schließlich, mit dem Fortschreiten ihrer Emanzipation, kann Cloe sogar gegenüber einer
anderen Frau, Fenna, gestehen, dass sie sich vorstellen könnte, eine andere Frau, nämlich
sie, zu lieben (vgl. H 75). Die Annäherung geschieht dennoch äußerst langsam und vor-
sichtig (vgl. H 80f.), da Cloe nicht glauben kann, dass Fenna ihren Körper schön finde
(vgl. H 88). Die Leserin bzw. der Leser bekommt ständig das Gefühl vermittelt, dass die
Figur zwischen den Stühlen Mann/Frau stehe. So stellt sich Cloe einmal selbst die Frage:
,,erregt es mich mehr, einem mann zu gefallen als einer frau? wir sind abgerichtet, sage ich
laut. dieses kümmerliche wort sozialisation! dieser beschönigende begriff konditionie-
rung!" (H 80) Hier wird die heteronormative gesellschaftliche Einstellung und Erwartung
angesprochen. Mit der Zeit spürt die Protagonistin, dass eine neue Art von Sehnsucht ent-
standen ist, von Erregung und von Hingabe ­ Hingabe, die mit Zuwendung zu tun habe,
statt mit Unterwerfung und Gewalt (vgl. H 88). Die Erotik und das Erkennen der Schönheit
des Körpers zwischen Fenna und Cloe entwickelt sich erst im Laufe der Zeit.
43
Im vorletzten Kapitel ,,Ausnahmezustand" macht sich die Ich-Figur erneut Gedan-
ken zum Verhältnis zwischen Mann und Frau bzw. zur Hetero- und Homosexualität. Im
Gegensatz zu ihren Aussagen, dass sie sich besser mit einer Frau verstünden, verbringen
viele Frauen aus Cloes Umfeld ihr Leben dennoch an der Seite eines Mannes (vgl. H
82ff.). Cloe vertritt die Meinung, dass der Bezug zu sich selbst als Frau am Wichtigsten ist:
,,[...] dass es grundsätzlich darum geht, dass eine frau mit sich selber zurechtkommt, nicht
darum, ob sie schon mal mit einer andern frau geschlafen hat" (H 84). Für sie selbst wäre
es unnatürlich, wenn sie nur zu einem Geschlecht Zugang hätte, da sie etwas über sich er-
fahre, wenn sie mit einer anderen Frau zusammen sei (vgl. H 84). Außerdem verspüre sie
eine neue, erotische Empfindung mit einer Frau, eine andere Art von Anziehung (vgl. H
87).
43
So beschreibt die Protagonistin z. B. sehr deutlich die Augen ihrer Geliebten (vgl. H 94). Ein Mann wird
von Cloe nie in dieser besonderen körperlichen und v. a. schönen Sicht beschrieben.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2013
ISBN (eBook)
9783842829916
ISBN (Paperback)
9783842879911
Dateigröße
529 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Passau
Erscheinungsdatum
2014 (Juni)
Note
1,3
Schlagworte
Verena Stefan Christa Wolf Häutungen Kassandra Frauenliteraturgeschichte Emazipation
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Titel: Emanzipation in Wort, Schrift und Tat. Die zweite Welle der Frauenbewegung am Beispiel von Verena Stefans HÄUTUNGEN und Christa Wolfs KASSANDRA
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