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Nachhaltige Stadtentwicklung in Indien: Ein Implementierungsansatz

von Perikles Walther (Autor:in)
©2012 Masterarbeit 84 Seiten

Zusammenfassung

Einleitung:
Seit 2008 lebt erstmalig in der Menschheitsgeschichte mehr als 50% der Weltbevölkerung in Städten (United Nations, 2009, S. 2). Die UN geht davon aus, dass bis 2050 sogar mehr als 68% der Menschen in Städten leben werden (United Nations - 1, 2011, S. 2). 53 % dieses weltweiten Stadtbevölkerungszuwachses wird voraussichtlich in Asien stattfinden (ibid., S. 1). All diese Menschen werden zusätzlich mit Unterkunft, Strom, Wasser, Nahrung und diversen Alltagsprodukten versorgt werden müssen. Die Bereitstellung dieser Versorgung wird lokal, regional, national und global verstärkt Druck auf die vorhandenen Ressourcen ausüben.
Es ist daher von essentieller Bedeutung zu wissen, wie Städte möglichst nachhaltig konzipiert und verwaltet werden können, so dass die absehbaren Konsequenzen der weiterhin zunehmenden Urbanisierung auf das Geringste minimiert werden. Das Konzept der nachhaltigen Stadtentwicklung – es wird später näher definiert - kann hierfür einen Beitrag leisten.
So wäre gerade in Indien, wo ein beachtlicher Anteil der Weltbevölkerung (16,7%) lebt und ein Großteil der Urbanisierungswelle Asiens stattfinden wird, nachhaltige Stadtentwicklung besonders relevant.(S. 56; United Nations – 1, 2011, S. 13). Jedoch deuten mehrere Anzeichen gegenwärtig darauf hin, dass nachhaltige Stadtentwicklung in Indien geringen Anklang findet.
Denn erstens befindet sich das Land in einer vielfach zitierten ‘urbanen Krise’, in der große Teile der eigenen urbanen Bevölkerung in vielerlei Hinsicht unterversorgt sind und ausgeprägte ökologische Defizite – es wird später vertieft darauf eingegangen – vorherrschen (Jolly, 2010; Jain, 2010; Hust, 2005). Zusätzlich findet das Städtewachstum zu großen Teilen ungeplant und unkontrolliert statt (Bhaskar & Shiraz, 2005, S. 29). Stadtplanung, die nachhaltig verläuft, scheint bisher eher weniger angewandt worden zu sein.
Zweitens liegt der Fokus des Landes gegenwärtig auf wirtschaftlicher Entwicklung, wodurch ökologische Belange eine sekundäre Rolle einnehmen. So wies Manmohan Singh auf dem Rio+20 Umweltgipfel der Vereinten Nationen in Rio de Janeiro, Brasilien, im Juni 2012 darauf hin, dass für Indien ‘a rapid increase in per capita income levels are development imperatives’ und forderte eine ‘global architecture that allows each country to develop according to its own priorities’ (Saxena, 2012). [...]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1Einleitung

2Hauptteil
2.1Definition: Nachhaltige Stadtentwicklung
2.1.1 Nachhaltigkeitsbegriff und Bezug zur Stadt
2.1.2 Stadtspezifischer Bedeutungsinhalt der drei Nachhaltigkeitsdimensionen
2.2Nachhaltige Stadtentwicklung in Indien: Eine Bedarfsanalyse
2.2.1 Urbaner Status quo Indiens
2.2.2 Urbanisierungsdynamik in Indien
2.3Umsetzungsmöglichkeit: Indikatoren-Set für nachhaltige Stadtentwicklung
2.3.1 Indikatoren-Set: Definition, Funktion und Anwendung
2.3.2 Generierung und Konzipierung eines Indikatoren-Sets für nachhaltige Stadtentwicklung
2.4Fallbeispiel Pune
2.4.1 Allgemeines zu Pune
2.4.2 Erstellung eines Indikatoren-Sets für nachhaltige Stadtentwicklung für Pune
2.4.2.1 Slums
2.4.2.2 Wasserverschmutzung
2.4.2.3 Luftverschmutzung

3Fazit

4Bibliographie

The battle for sustainable development will be won or lost in (or because of) cities

(Mega, 2010, S. XI)

1 Einleitung

Seit 2008 lebt erstmalig in der Menschheitsgeschichte mehr als 50% der Weltbevölkerung in Städten (United Nations, 2009, S. 2). Die UN geht davon aus, dass bis 2050 sogar mehr als 68% der Menschen in Städten leben werden (United Nations - 1, 2011, S. 2). 53 % dieses weltweiten Stadtbevölkerungszuwachses wird voraussichtlich in Asien stattfinden (ibid., S. 1). All diese Menschen werden zusätzlich mit Unterkunft, Strom, Wasser, Nahrung und diversen Alltagsprodukten versorgt werden müssen. Die Bereitstellung dieser Versorgung wird lokal, regional, national und global verstärkt Druck auf das ökologische System der Erde ausüben. Denn Drewes weißt darauf hin, „dass Städte weltweit 80% der Treibhausgase ausstoßen und 75% der Ressourcen verbrauchen“ (2011, S. 130). Darüber hinaus macht das Ecological Footprint Network darauf aufmerksam, dass Städte „mehr als 70% des Ecological Footprint der Bewohner determinieren“ (Wackernagel et al., 2007, S. 112). Der ökologische Fußabdruck misst “the area of biologically productive land and sea required to produce the renewables resources a population consumes and to assimilate the waste it generates, using prevailing technology” (ibid., S. 104). Es ist daher von essentieller Bedeutung zu wissen, wie Städte möglichst nachhaltig konzipiert und verwaltet werden können, so dass die absehbaren ökologischen Konsequenzen der weiterhin zunehmenden Urbanisierung auf das Geringste minimiert werden. Das Konzept der nachhaltigen Stadtentwicklung – es wird später näher definiert - kann hierfür einen Beitrag leisten.

So wäre gerade in Indien, wo ein beachtlicher Anteil der Weltbevölkerung (16,7%) lebt und ein Großteil der Urbanisierungswelle Asiens stattfinden wird, nachhaltige Stadtentwicklung besonders relevant. (Ministry of Environment & Forests, 2009, S. 56; United Nations – 1, 2011, S. 13). Jedoch deuten mehrere Anzeichen gegenwärtig darauf hin, dass nachhaltige Stadtentwicklung in Indien geringen Anklang findet.

Denn erstens befindet sich das Land in einer vielfach zitierten „urbanen Krise“, in der große Teile der eigenen urbanen Bevölkerung in vielerlei Hinsicht unterversorgt sind und ausgeprägte ökologische Defizite – es wird später vertieft darauf eingegangen – vorherrschen (Jolly, 2010; Jain, 2010; Hust, 2005). Zusätzlich findet das Städtewachstum zu großen Teilen ungeplant und unkontrolliert statt (Bhaskar & Shiraz, 2005, S. 29). Stadtplanung, die nachhaltig verläuft, scheint bisher eher weniger angewandt worden zu sein.

Zweitens liegt der Fokus des Landes gegenwärtig auf wirtschaftlicher Entwicklung, wodurch ökologische Belange eine sekundäre Rolle einnehmen. So wies Manmohan Singh auf dem Rio+20 Umweltgipfel der Vereinten Nationen in Rio de Janeiro, Brasilien, im Juni 2012 darauf hin, dass für Indien „a rapid increase in per capita income levels are development imperatives“ und forderte eine „global architecture that allows each country to develop according to its own priorities" (Saxena, 2012). Damit lieferte er einen unmissverständlichen Hinweis, dass der Fokus der indischen Zentralregierung auch weiterhin auf der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes liegt.

Drittens fällt bei der Recherche zu nachhaltige Stadtentwicklung in Indien auf, dass wenig Literatur und kaum indische wissenschaftliche Publikationen zum Forschungsfeld nachhaltige Entwicklung in oder durch die Städte Indiens existiert. Zwar lassen sich separat zu verschiedenen Teilbereichen, wie zum Beispiel Mobilität, Wasser- und Energieversorgung oder Infrastruktur, für vereinzelte Städte Forschungsberichte, Analysen oder auch punktuelle Lösungsvorschläge auffinden. So ist beispielsweise auf sämtliche Forschungsarbeiten der indischen Organisation The Energy and Resource Institute zu verweisen. Aber es sind kaum wissenschaftliche Publikationen oder Monographien aufzufinden, die sich damit beschäftigen, wie sich gezielt der Nachhaltigkeitsgedanke in Indien flächendeckend durch lokale urban governance - Initiativen umsetzen ließe.

Dieser Mangel an Literatur sticht besonders hervor, wenn man als Vergleich das Forschungsfeld nachhaltige Stadtentwicklung mit Regionalbezug zu Nord- und Westeuropa betrachtet, wo der überwiegende Anteil an auffindbaren Publikationen vorherrscht. So ist auch Ooi der gleichen Meinung, dass „much of it [-Literatur zur Thematik-] is actually focused on cities and towns in Europe and particulary in Northern Europe. The impression is that many of these cities and towns have the edge and are also way ahead … in the establishment and implementation of activities related to Local Agenda 21” (2005, S. 37 ff.). Unter einer lokalen Agenda 21 versteht sich der 1992 von der UNO vereinbarte Prozess, wodurch sich der Nachhaltigkeitsgedanke auf kommunaler Ebene lokal durch Kommunen umsetzen lassen kann. Es wird später noch detailliert darauf eingegangen. Indische Literatur, die sich mit der Anwendung dieses Handlungsprogramm auf dem Subkontinent beschäftigt, ist kaum vorzufinden.

Zusätzlich bestätigt eine Studie von Smardon die Auffassung, dass nachhaltige Stadtentwicklung in Indien wenig Anklang findet. Bei einem Vergleich von nachhaltigen Stadtentwicklungsplänen zwischen Europa, Nordamerika und Indien kommt er zu folgendem Ergebnis: „Close to 6000 sustainability plans have been prepared for European communities versus about 100 for North American communities. A total of 20 Indian cities have started sustainability planning efforts” (Smardon, 2008, S. 118). Natürlich „verbrauchen Städte auf der nördlichen Halbkugel die meisten Ressourcen“ und natürlich existiert auch dort weiterhin enormer Handlungsbedarf was die Implementierung des Nachhaltigkeitsgedankens betrifft (Ooi, 2005, S. 16). Nichts desto trotz verdeutlicht Smardons Ergebnis die Tendenz, dass das Thema Nachhaltigkeit für indische Städte eine eher geringe Aufmerksamkeit genießt.

Insgesamt deuten all diese Aspekte darauf hin, dass nachhaltige Stadtentwicklung in Indien eine unwesentliche Rolle spielt. Dennoch wird sich das Land in Zukunft verstärkt damit auseinander setzen müssen, wie sich die gegenwärtige urbane Krise lösen lässt und wie das Land mit den absehbaren Konsequenzen der zukünftigen Urbanisierung umgehen will. Denn das Land kämpft jetzt schon mit zahlreichen Problemen. Es ist davon auszugehen, dass sich diese weiter intensivieren werden, wenn der bisherige Kurs fortgeführt wird. In Anbetracht dieser Situation stellt sich die Frage, inwiefern sich das Konzept der nachhaltigen Stadtentwicklung in Indien umsetzen lässt.

Um diese Frage beantworten zu können, wird, neben der Definition des Konzeptes nachhaltige Stadtentwicklung sowie der Klärung der Bedarfsfrage für Indien, anhand eines konkreten Fallbeispiels der Stadt Pune aufgezeigt, wie sich das Konzept auch lokal umsetzen lassen könnte. Die Ursache für die Auswahl Punes liegt an ihrem landesweiten Symbolcharakter. Denn aufgrund ihres rasanten Wachstums innerhalb der letzten zwei Dekaden erfuhr die Stadt die damit typischen verbundenen Probleme. Ein Paradebeispiel für ganz Indien, aus dessen Erfahrungen wichtige Lehren für zahlreiche andere Städte in Indien gezogen werden können.

An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die zur Analyse von Punes urbanen Verhältnissen verwendeten Daten „nur“ aus dem Internet entnommen sind. Zwar kann dadurch keine Vollständigkeit gewährt sein, jedoch bietet eine solche Herangehensweise, gerade in Anbetracht der physischen Distanz, eine der wohl wirkungsvollsten Methoden. Dies kann keine lokale Feldforschung ersetzen, andererseits gewährt das Internet Zugriff auf Informationen unterschiedlichster Quellen, sei es von Behörden, NGOs, diversen Medienquellen, etc. Zusätzlich ist darauf hinzuweisen, dass die nun folgende Analyse aus einem westeuropäischen Blickwinkel stattfindet, dessen Einfluss sich durch den gesamten Rahmen dieser Analyse unbewusst vollzieht.

Trotz dieser Einschränkungen ist es dennoch möglich und auch wichtig, diese Thematik eingehend zu untersuchen. Damit kann unter anderem ein Beitrag zu weiterführenden Forschungsfragen geleistet werden. Inwiefern lässt sich also das Konzept der nachhaltigen Stadtentwicklung in Indien umsetzen? Um diese Frage beantworten zu können, muss zu aller erst der Terminus „ nachhaltige Stadtentwicklung“ definiert werden.

2 Hauptteil

2.1 Definition: Nachhaltige Stadtentwicklung

2.1.1 Nachhaltigkeitsbegriff und Bezug zur Stadt

Was ist nachhaltige Stadtentwicklung? Zunächst einmal muss der Begriff Stadt definiert werden. Als Stadt wird hierbei Bezug zum „statistisch-administrativen Stadtbegriff“ genommen (Heineberg, 2001, S. 24). Danach ist Stadt jene Einheit, die in einem jeweiligen Land aus statistisch-administrativer Perspektive das urbane Pendant zur ländlichen Siedlung darstellt. Meistens besteht das entscheidende Kriterium aus einer Mindesteinwohnerzahl, die größtenteils zwischen 2000 und 5000 Einwohnern liegt (ibid.). Dieser Wert variiert von Land zu Land (ibid.). In anderen Worten: Stadt ist was jedes einzelne Land für seine statistisch-administrativen Zwecke als Stadt bezeichnet. Im Falle Indiens wird später darauf näher eingegangen.

Stadtentwicklung ist laut Heuer „ein sozio-ökonomischer Wachstums- oder Schrumpfungsprozess einer Stadt, der aus den Verhaltensweisen und sich wechselseitig beeinflussenden Entscheidungen der handelnden Akteure resultiert und einen ständigen Wandel der sozialen und wirtschaftlichen … Strukturen der Städte impliziert“ (zitiert in Pauli, 2005, S. 9).

Der Versuch, nachhaltige Stadtentwicklung zu definieren, hängt stark von der jeweiligen Definition des Konzeptes Nachhaltigkeit - im Englischen auch als sustainability oder auch sustainable development bezeichnet - ab. Laut Keiviani gibt es über 200 unterschiedliche Definitionen von sustainable development (2011, S. 626). Doch worin liegt dessen Bedeutungsinhalt?

1972 erschien das vom Club of Rome in Auftrag gegebene Buch Limits to Growth (Meadows, 1972). In dieser weltweit bekannten Veröffentlichung wurde den wirtschaftlichen Wachstumsaussichten der Menschheit erstmalig mit Hilfe von Computersimulationen ein drastisches Ende in der Zukunft vorher gesagt. Als Faktoren f ü r „die Grenzen des Wachstums“ wurden Überbevölkerung, Umweltverschmutzung, Übernutzung der natürlichen Rohstoffreserven, etc. gesehen. Im selben Jahr wurde auch von den Vereinten Nationen erstmals eine Konferenz zum Thema Umweltprobleme abgehalten, die sogenannte United Nations Conference on the Human Environment. Diese Konferenz zählt als Beginn der zwischenstaatlichen Umweltpolitik und wies auf die Integration der Komponente Umweltschutz in der Domäne der Entwicklungspolitik (Wheeler & Beatley, 2004, S. 56). Zwar wurde auf dieser Konferenz das Wort Nachhaltigkeit nicht verwendet, jedoch bereits inhaltlich „Vorarbeit“ für den Begriff geleistet.

1987 folgte dann erstmals im Wortlaut von sustainable development eine der wohl bekanntesten Definitionen, die von der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung im Brundlandt Bericht Our Common Future erstmals multilateral definiert worden ist (United Nations, 1987). Zwar markiert dieser Bericht nicht den Beginn der Nachhaltigkeitsdebatte per se, doch dient er als wichtiger Meilenstein in der Entwicklung des Begriffs, da er auf globaler Ebene erstmals auf die Thematik der ökologischen Schonung des Planeten durch sustainable development verwies und somit auch den Begriff weltweit popularisierte (ibid., S. 128). In jenem Brundtlandt Bericht wird nachhaltige Entwicklung als „development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs“ definiert (United Nations, 1987, S. 37). Diese Definition bezieht sich somit auf den äußerst wichtigen Teilaspekt der Inter-Generationen-Gerechtigkeit. Darunter versteht sich eine Umgangsart mit den von der Natur zur Verfügung gestellten Ressourcen, mit welcher die Bedürfnisse aller gegenwärtig lebenden Menschen, aber auch diejenigen der zukünftige Generationen weiterhin gedeckt sind. Diese Definition ist zwar äußerst elementar hinsichtlich des Nachhaltigkeitsgedankens, dennoch ist sie zu unkonkret, um als vollständige Arbeitsdefinition fungieren zu können.

Eine weitere „klärende“ Stufe in der Entwicklung des Nachhaltigkeitsbegriffs wurde 1992 in Rio De Janeiro, Brasilien auf dem Erdgipfel - oder auch Rio-Konferenz genannt - vollzogen. Zu jenem Gipfel trafen sich Vertreter von 178 Staaten und verabschiedeten unter anderem die sogenannte Agenda 21 , eine Art Fahrplan für das 21. Jahrhundert, in welcher Richtlinien und Prinzipen für eine zukünftige nachhaltige Entwicklung für die Staaten der Welt vereinbart wurde (Vereinten Nationen, 1992). Länder, die eine Politik entlang diesen Handlungsempfehlungen nachgehen würden, würden einen nachhaltigen Entwicklungspfad einschlagen, so die Erwartung.

Nachhaltige Entwicklung bedeutete die Integration des Aspektes Umweltschutz in die Belange der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung, wie sich im Grundsatz 3 der Abschlusserklärung der Rio-Konferenz erkennen lässt: „Entwicklung muss so verwirklicht werden, dass den Entwicklungs- und Umweltbedürfnissen der heutigen und der kommenden Generationen in gerechter Weise entsprochen wird“ (ibid., S. 1). Das Verständnis von „Entwicklungsbedürfnissen“ bezog sich hierbei auf die wirtschaftliche und soziale Dimension von Entwicklung (Kuhn et al., 1998, S. 4). Zwar ließe sich an dieser Stelle argumentieren, dass auf diesem Gipfel das Anliegen der ökologischen Schonung des Planeten „verwässert“ wurde. Jedoch verweist das Ergebnis auf die zentrale Rolle der Interdependenz von sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Zusammenhängen hin. Denn Umweltschutz kann besonders dann effektiv implementiert werden, wenn die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen einer Gesellschaft bzw. einer Stadt dies ermöglichen.

Und dieser „Dreiklang“ von wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Entwicklung ist auch bis heute noch in der internationalen Politik zentraler Bestandteil des Verständnisses von Nachhaltigkeit. So auch auf dem jüngsten Weltgipfel zum Thema nachhaltiger Entwicklung. Auf der im Juni 2012 abgehaltenen Konferenz der Vereinten Nationen über nachhaltige Entwicklung – der dritte Weltgipfel - wurde erneut bestätigt, dass nachhaltige Entwicklung durch die drei Dimensionen „economic growth, social development and environmental protection“ zu erreichen ist (United Nations, 2012, S. 4). Diese Auffassung wird auch als „Arbeitsdefinition“ für diese Analyse verwendet.

Zusammenfassend lässt sich also konstatieren, dass Nachhaltigkeit bzw. s ustainable development als eine Entwicklungsform einer Gesellschaft zu interpretieren ist, in welcher die Dimensionen des sozialen Gemeinwohls, ökonomische Belange und ökologische Anliegen integriert, kombiniert und holistisch betrachtet werden. Dabei ist eine Verbesserung der Verhältnisse entlang dieser drei Bereiche hin zu einem Optimalzustand angestrebt, in welchem sich diese drei Kategorien in einem ausbalancierten Verhältnis befinden. Doch inwiefern steht das Konzept der Nachhaltigkeit im Zusammenhang mit Stadtentwicklung?

Bereits in der oben erwähnten, von der Rio Konferenz 1992 verabschiedeten Agenda 21 wurde im Kapitel 28 „Kommunale Initiativen zur Unterstützung der Agenda 21“ explizit auf Kommunen, und damit Städte, eingegangen. Darin misst der Bericht den Kommunen und somit auch den Städten eines Landes eine zentrale Rolle zur Realisierung nachhaltiger Entwicklung bei. Denn „da so viele der in der Agenda 21 angesprochenen Probleme und Lösungen ihre Wurzeln in Aktivitäten auf örtlicher Ebene haben, ist die Beteiligung und Mitwirkung der Kommunen ein entscheidender Faktor bei der Verwirklichung der Agenda Ziele“ (Vereinten Nationen, 1992, S. 291). Weiterhin heißt es im Kapitel 28, dass „Kommunen errichten, verwalten und unterhalten die wirtschaftliche, soziale und ökologische Infrastruktur ... und wirken an der Umsetzung der nationalen und regionalen … Politik mit. Als Politik- und Verwaltungsebene, die den Bürgern am nächsten ist, spielen sie eine entscheidende Rolle dabei, die Öffentlichkeit aufzuklären und zu mobilisieren und im Hinblick auf die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung auf ihre Anliegen einzugehen“ (ibid.). Somit wird nachhaltige Stadtentwicklung als eine wichtige Komponente bei der Realisierung von nachhaltiger Entwicklung eines Landes betrachtet.

1996 folgte die UN-Habitat II Istanbul-Konferenz des UN Programms für Wohn- und Siedlungswesen, in welcher der Ruf nach „sustainable human settlement development“ erstmals offiziell bestätigt wurde (UN – Habitat, 1996, S. 7). In der dabei verabschiedeten Habitat Agenda bezog sich der Begriff der Nachhaltigkeit ebenfalls auf die Kombination von „economic development, social development and environmental protection“ mit Fokus auf das globale Siedlungswesen (ibid., S. 12).

Insgesamt betrachtet ist zu erkennen, dass genau wie bei der Definition von Nachhaltigkeit - das Konzept der Stadtentwicklung in die Bereiche Soziales, Wirtschaft und Ökologie aufgeteilt wird, jedoch auf die Bezugseinheit Stadt angewandt wird. Somit bezieht sich das Konzept der nachhaltigen Stadtentwicklung auf die eingangs erwähnte Definition von Heuer, jedoch wird sie um die „ökologische Komponente“ erweitert.

Diese Auffassung von nachhaltiger Stadtentwicklung kann zwar als zu vage betrachtet werden, jedoch erlaubt diese Eigenschaft eine notwendige Flexibilität, die bei der Anwendung des Konzeptes äußerst wichtig ist. Denn ein essentielles Merkmal dieser Definition ist bisher, dass es „kein operationalisiertes Handlungskonzept darstellt, sondern [nur] ein Leitbild, eine Herausforderung, einen Orientierungsbegriff“ (Birzer, 1997, S. 13). Denn bislang besagt diese Definition nur, dass eine Stadtentwicklung nachhaltig ist, wenn sie eine Besserung der Verhältnisse entlang dieser drei Dimensionen bewirkt. Jedoch ist der exakter Bedeutungsinhalt der drei Kategorien noch nicht geklärt. Denn was ist wirtschaftliche und soziale Entwicklung in einer Stadt? Und worin konstituiert sich Umweltschutz hinsichtlich einer Stadt?

2.1.2 Stadtspezifischer Bedeutungsinhalt der drei Nachhaltigkeitsdimensionen

Damit nachhaltige Stadtentwicklung als „operationalisiertes Handlungskonzept“ für Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft im Alltag fungieren kann, müssen die Kategorien wirtschaftliche und soziale Entwicklung sowie der ökologische Bereich konkret mit Inhalt „aufgefüllt“ werden. Nur wenn die konkrete Bedeutung der einzelnen Kategorien eindeutig ist, lässt sich das Konzept umsetzen.

Aber bei einer tiefergehenden Recherche fällt auf, dass es für die drei Unterkategorien – besonders für die Bereiche soziale und wirtschaftliche Entwicklung - unmöglich erscheint, jeweils eine einheitliche und allgemeingültige Definition auszumachen. Denn die Ansichten über den konkreten Inhalt dieser Kategorien unterscheiden sich stark. Diese variieren je nach individueller Auffassung und unterschiedlicher Kultureinbettung des Betrachtes. Ein Beispiel aus der Kategorie „soziale Entwicklung“ kann die Vielfalt der unterschiedlichen Auffassungen veranschaulichen.

Soziale Entwicklung bzw. soziale Gerechtigkeit in einer Stadt bedeutet für jeden Betrachter und auch für jede Kultur etwas anderes. So wird zum Beispiel von einigen Autoren hierfür die demokratische Teilhabe der lokalen Bevölkerung an der Kommunalpolitik miteinbezogen (Wadhwa, 2002. S. 3; Drakakis-Smith, 1996, S. 664). Da solche Forderungen – gerade in Ländern mit nicht-demokratischen Staatstraditionen - einen starken Veränderungsdruck auf die politische Konstitution eines Landes ausüben würden, bedarf die Verwendung dieses Verständnisses einer Grundsatzdiskussion bzgl. der Universalgültigkeit von Werten. Aber auch Fragen der effektiven Verwaltungsstruktur werden verstärkt als Teil der sozialen Komponente in Betracht gezogen (Wadhwa, 2002. S. 3). Jedoch muss dabei geklärt werden, ob die Übertragung von „effektiven Strukturen“, die in westlichen Staaten funktionieren, auf andere Länder eins zu eins übertragbar sind und auch dort effektive Ergebnisse liefern können.

Wieder andere Definitionen innerhalb der Dimension des „sozialen Bereiches“ beziehen sich auf hohe Lebensstandards für die Stadtbevölkerung oder auch einfach nur auf die Deckung von wichtigen menschlichen Grundbedürfnissen wie Nahrung, Gesundheit und menschenwürdige Unterkunft (Wadhwa, 2002, S. 3; McLaren, 1996, S. 185). Wieder andere ordnen die Bedürfnisse nach Sicherheit und Gesundheit sowie ein städtisches Umfeld, welches das Familienleben, Kinderentwicklung und soziale Gemeinschaft fördert, in diese Kategorie mit ein (Ali, 2008, S. 346).

Wohingegen Shirley-Smith den Schwerpunkt ihrer Definition von sozialer Entwicklung auf ein ausgeglichenes Verhältnis innerhalb der verschiedenen Milieus einer Stadt legt (2002, S. 118). Für Blanes beinhaltet die soziale Komponente von nachhaltiger Stadtentwicklung „good housing and living environments“ für die jeweilige Stadtbevölkerung (2008, S. 56). Insgesamt zeigt sich, dass sich, je nach Auffassung von sozialer Entwicklung und dem jeweils dazugehörigen angestrebten Ideal, die Inhalte von „sozialer Entwicklung“ im Bezug auf Stadt stark unterscheiden.

Zusätzlich, wie bereits erwähnt, fordern einige im Bereich der sozialen Entwicklung auch soziale Gerechtigkeit (Shirley-Smith, 2002, S. 118). Aber das Konzept der sozialen Gerechtigkeit ist an moralische und ethische Fragestellungen geknüpft und somit äußerst subjektiv. Dies zeigt sich zum Beispiel an der Debatte innerhalb Deutschlands zur Erhöhung der Hartz-IV-Bezüge. So gibt es unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich der Frage, ob die gegenwärtigen Bezüge sozial gerecht sind oder nicht. Aber auch landesspezifische kulturelle Unterschiede müssen bei der Definition von sozialer Gerechtigkeit in Betracht gezogen werde. So ist davon auszugehen, dass sich das indische Verständnis von sozialer Gerechtigkeit sicherlich von anderen Kulturen unterscheidet. Diese Beispiele zeigen, dass eine allgemeingültige Definition von sozialer Entwicklung für nachhaltige Stadtentwicklung schwer zu ermitteln ist.

Unterschiedliche Auffassungen existieren aber auch in der Kategorie „wirtschaftliche Entwicklung“. Dies kommt zum Beispiel durch kontroverse Debatten über die Privatisierung von öffentlichen Gütern und Dienstleistungen oder auch deren Teilprivatisierung in Form von public-private partnership zum Ausdruck. Im ökologischen Bereich besteht wohl die größte Möglichkeit eine einheitliche Definition zu formulieren, da hier die Naturwissenschaften, - zumindestens theoretisch - eindeutige und allgemeingültige Erkenntnisse liefern können. Nichts desto trotz ist eine einheitliche Anwendungsdefinition, gerade in den ersten zwei Unterkategorien und somit auch von nachhaltiger Stadtentwicklung insgesamt, schwer zu realisieren.

Zusätzlich ist eine allgemeingültige Definition auch dadurch schwer zu erreichen, da sich jedes Land, jede Region und damit ebenso jede einzelne Stadt in einem unterschiedlichen Entwicklungsstadium befindet. Denn laut Bundesministerium für Umwelt wird Nachhaltigkeit „in Abhängigkeit vom Entwicklungsstand eines Landes jeweils völlig unterschiedlich interpretiert und wandelt sich mit erreichten Erfolgen im ökologischen, ökonomischen und sozialen Bereich“ (2010, S. 3).

Dies ist dahingehend zu interpretieren, dass sich Länder und damit auch Städte je nach Entwicklungsstadium in den drei Bereichen auf unterschiedlichen Niveaus befinden und somit unterschiedliche Anforderungen und Bedürfnisse haben. So wären zum Beispiel soziale Entwicklungsansätze in einer Stadt, die auf die Beseitigung von Armut abzielen, in Deutschland und Indien völlig voneinander abweichend, da sich die Armutssituation in beiden Ländern stark unterscheidet. Bestünde in Indien der Fokus auf die Erreichung eines Mindestmaßes an Kalorienzufuhr pro Tag oder auf universellen Zugriff auf Wasser, läge in Deutschland das Ziel auf Maßnahmen, die in einer Erhöhung des monatlichen Einkommens resultieren. Liegt der ökologische Fokus in westeuropäischen Städten verstärkt auf die Reduzierung von CO2-Emissionen, liegt er in Indien gegenwärtig eher auf der Verminderung von gesundheitsschädigender, lokaler Luft- und Wasserverschmutzung.

Entwicklungsunterschiede existieren aber auch zwischen einzelnen Städten innerhalb eines Landes. Gerade in Indien zeigt sich dieses Phänomen besonders deutlich, wo ausgeprägte Gegensätze innerhalb den einzelnen Regionen und Städte vorherrschen. So würden in Städten mit extremer Armut und unzureichender Infrastruktur, wie im Bundesstaat Bihar, Stadtentwicklungsprogramme anders konzipiert werden, als dies für „weiter entwickelte“ Städte ,wie im Bundesstaat Maharashtra, der Fall wäre.

Neben Entwicklungsunterschieden führen auch die jeweiligen klimatischen Bedingungen sowie die Einbettung einer Stadt in das sich jeweils befindliche Ökosystem zu einer unterschiedlichen Ausgangslage. So befindet sich eine Wüstenstadt wie Riad, Saudi- Arabien aufgrund ihrer natürlichen Einbettung in einer strukturell bedingt anderen ökologischen Situation, als eine Stadt in einem wasserreichen Gebiet wie Tampere in Finnland. Riad wird also hinsichtlich der ökologischen Dimension im Bereich des Wassers andere Schwerpunkte setzten müssen als Tampere.

Insgesamt betrachtet hängt der „Definitionsinhalt“ der einzelnen Unterkategorien von der persönlichen Auffassung, der jeweiligen Kultur, dem entsprechenden Entwicklungsstadium sowie von den natürlichen Gegebenheiten ab. In Anbetracht dieser Umstände macht nur ein auf die jeweilige Stadt zugeschnittenes Verständnis von nachhaltiger Stadtentwicklung Sinn. Konsequenterweise kann man nicht von einem allgemeingültigen rigiden Verständnis der drei Dimensionen - und damit auch nachhaltiger Stadtentwicklung - sprechen (Mclaren, 1996, S. 186). Nachhaltige Stadtentwicklung muss also flexibel den jeweiligen Gegebenheiten angepasst werden, um lokal eine Besserung der Verhältnisse entlang den Achsen Soziales, Wirtschaft und Umwelt erwirken zu können. Nur auf diese Weise lässt sich das Konzept in Indien umsetzen. Sämtliche Ansätze (Mori & Christodoulou, 2012; Fitzgerald et al., 2012; Shen et al., 2011; Phillis et al., 2011), die versuchen ein starres, aus einem eigenen Kontext geprägtes Verständnis von nachhaltiger Stadtentwicklung auf andere Länder zu übertragen, sind gerade deshalb zu überdenken. Oder auch nur ein auf Ökologie reduziertes Verständnis von Nachhaltigkeit, wie die PSR- und DPSIR-Modelle – es wird später detailliert darauf eingegangen -, wird lokal auf wenig Akzeptanz stoßen

[...]

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2012
ISBN (eBook)
9783842840591
Dateigröße
3.8 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin – Moderne Süd- und Südostasienwissenschaften
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
1,7

Autor

  • Perikles Walther (Autor:in)

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