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Der Einfluss funktionaler Erziehungsberatung auf die Krankheitsprognose bei Asperger-Autismus

Eine systemische Betrachtung

©2013 Masterarbeit 124 Seiten

Zusammenfassung

Es gibt Begegnungen und Gespräche, die unerwarteter Weise Einfluss auf den Verlauf des weiteren Lebens nehmen. So traf ich am Anfang des Jahres 2013 eine Person, die sehr unter den Verhaltensweisen seines damaligen Partners litt. Jene führten beide Konfliktpartein auf das Asperger-Syndrom zurück. Die genannte Person hoffte, dass ich aufgrund meines Studiums etwas über das Wesen dieser Krankheit sowie sinnvolle Handlungsschritte erläutern könnte. Doch musste ich feststellen, dass mir dies nicht möglich war.
So begann ich, mich intensivst mit diesem Thema zu beschäftigen, um entsprechende Antworten bieten zu können, aber auch, um mein Wissensdurst diesbezüglich zu stillen. Dabei traf ich auf einen reichen Fundus von populärwissenschaftlicher sowie Fachliteratur sowie zahlreiche Filme, die sich mit diesem Thema befassen. Zu diesen gehören beispielsweise Das grüne Leuchten, Im Weltraum gibt es keine Gefühle, Dancer in the dark und Rayman. Während dieser Recherchen, kamen zahlreiche Vorurteile und Stereotypen zum Vorschein. Zu diesen gehört der Glaube, dass alle Autisten über besonders überdurchschnittliche Fähigkeiten in einem speziellen Bereich verfügen, keine Gefühle empfinden oder kein Leben gemäß gesellschaftlicher Normen führen können. Doch die Realität ist weitaus vielschichtiger. Viele Menschen, die an AS leiden, stehen mitten im Leben, gehen einer geregelten Arbeit nach und haben Partner sowie Kinder. Ich in froh, eben diese Menschen im Rahmen meiner Recherchen getroffen zu haben.
All das neu erworbene Wissen trat nun in Interaktion mit Bereichen aus der Pädagogik und Psychologie, die mich bereits zuvor stark interessierten. Dazu gehört zum Beispiel die Erziehungsberatung. Durch mein Praktikum im Sommer 2012 in diesem Bereich, gelangte ich zu der Überzeugung, dass diese Form der ambulanten Kinder- und Jugendhilfe geeignet ist, um die Entwicklungsprognose von Kindern und Jugendlichen sowie deren Familien merklich zu verbessern. Deswegen gehört die Erziehungsberatung zu meinen präferierten Arbeitsbereichen nach meinem Studium. Darüber hinaus interessiert mich seit meinem Masterstudium der systemische Ansatz der Beratung sehr. Der Grundgedanke, dass Probleme eines Individuums letztlich auf dysfunktionale Gegebenheiten seiner unmittelbaren sozialen Umwelt zurückzuführen sind, ist deckungsgleich mit persönlichen, privaten und beruflichen Erfahrungen.
[...]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Düsterdick, Tobias: Der Einfluss funktionaler Erziehungsberatung auf die
Krankheitsprognose bei Asperger-Autismus. Eine systemische Betrachtung,
Hamburg, Diplomica Verlag GmbH 2014
PDF-eBook-ISBN: 978-3-8428-4820-7
Herstellung: Diplomica Verlag GmbH, Hamburg, 2014
Zugl. Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland, Masterarbeit, 2013
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Printed in Germany

Danksagung
... an meine Eltern, die mich in meiner Schul- und Studienzeit finanziell stets nach Kräften
unterstützt haben, auch wenn es für sie ein großes Opfer bedeutete.
... an meine Freunde, die in guten und in schlechten Zeiten mir stets zur Seiten standen und sich
dabei auch vor ehrlichen Meinungen nicht gescheut haben.
... an jene Menschen, die mich auf meinem Weg helfend begleitet haben und viel zu früh von uns
gegangen sind.
... an die Mitarbeiter der Erziehungsberatungsstelle Leipzig, SHK Altscherbitz, Kinder- und
Jugendpsychiatrie Dresden, Vezuthando e.V., die mich im Rahmen von Praktika an ihrer Expertise
teilhaben lassen.
... an die Mitarbeiter der Autismusambulanzen Dresden, Leipzig und Bautzen für ihre
Unterstützung.
2

Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung...5
2. Das Asperger-Syndrom...9
2.1 Diagnostische Klassifikation von Autismus ...9
2.2 Ursachen des Asperger-Syndroms...14
2.2.1 Soziale Ursachen...14
2.2.2 Biologische Ursachen ...14
2.2.3 Entwicklungspsychologische Ursachen...16
2.3 Prävalenz...18
2.4 Komorbidität...19
2.5 Prognose...22
3. Funktionale Erziehungsberatung...25
4. Der systemische Ansatz der Beratung ...28
4.1 Der Konstrukivismus...28
4.2 Ein Einblick in die Systemtheorie...30
4.3 Prämissen der systemischen Beratung...32
4.4 Die Familienstresstheorie...36
4.5 Ausgewählte Methoden der systemischen Beratung...38
5. Methoden...43
5.1 Das Experteninterview...43
5.2 Grundregeln des Experteninterviews...44
5.3 Qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring...47
5.4 Eigener Leitfaden ...49
5.5 Probanden ...51
6. Ergebnisse der Interviews...53
6.1 Einfluss des Asperger-Syndroms auf das System Familie...53
6.2 Schutz- und Risikofaktoren...58
3

6.3 Möglichkeiten und Grenzen systemischer Interventionen...64
7. Fazit...69
I Literaturverzeichnis ...75
II Interviewleitfaden...88
III Interview I...91
IV Interview II...99
V Interview III...108
VI Beispielauswertung für Interview III...115
4

1. Einleitung
Es gibt Begegnungen und Gespräche, die unerwarteter Weise Einfluss auf den Verlauf des weiteren
Lebens nehmen. So traf ich am Anfang des Jahres 2013 eine Person
1
, die sehr unter den
Verhaltensweisen seines damaligen Partners litt. Jene führten beide Konfliktpartein auf das
Asperger-Syndrom
2
zurück. Die genannte Person hoffte, dass ich aufgrund meines Studiums etwas
über das Wesen dieser Krankheit sowie sinnvolle Handlungsschritte erläutern könnte. Doch musste
ich feststellen, dass mir dies nicht möglich war.
So begann ich, mich intensivst mit diesem Thema zu beschäftigen, um entsprechende Antworten
bieten zu können, aber auch, um mein Wissensdurst diesbezüglich zu stillen. Dabei traf ich auf
einen reichen Fundus von populärwissenschaftlicher sowie Fachliteratur sowie zahlreiche Filme,
die sich mit diesem Thema befassen. Zu diesen gehören beispielsweise Das grüne Leuchten, Im
Weltraum gibt es keine Gefühle, Dancer in the dark und Rayman. Während dieser Recherchen,
kamen zahlreiche Vorurteile und Stereotypen zum Vorschein. Zu diesen gehört der Glaube, dass alle
Autisten über besonders überdurchschnittliche Fähigkeiten in einem speziellen Bereich verfügen,
keine Gefühle empfinden oder kein Leben gemäß gesellschaftlicher Normen führen können. Doch
die Realität ist weitaus vielschichtiger. Viele Menschen, die an AS leiden, stehen mitten im Leben,
gehen einer geregelten Arbeit nach und haben Partner sowie Kinder. Ich in froh, eben diese
Menschen im Rahmen meiner Recherchen getroffen zu haben.
All das neu erworbene Wissen trat nun in Interaktion mit Bereichen aus der Pädagogik und
Psychologie, die mich bereits zuvor stark interessierten. Dazu gehört zum Beispiel die
Erziehungsberatung. Durch mein Praktikum im Sommer 2012 in diesem Bereich, gelangte ich zu
der Überzeugung, dass diese Form der ambulanten Kinder- und Jugendhilfe geeignet ist, um die
Entwicklungsprognose von Kindern und Jugendlichen sowie deren Familien merklich zu
verbessern. Deswegen gehört die Erziehungsberatung zu meinen präferierten Arbeitsbereichen nach
meinem Studium. Darüber hinaus interessiert mich seit meinem Masterstudium der systemische
Ansatz der Beratung sehr. Der Grundgedanke, dass Probleme eines Individuums letztlich auf
dysfunktionale Gegebenheiten seiner unmittelbaren sozialen Umwelt zurückzuführen sind, ist
deckungsgleich mit persönlichen, privaten und beruflichen Erfahrungen.
Um diesen drei Bereiche sinnvoll im Rahmen einer Masterarbeit zusammenzuführen, wählte ich
den folgenden Titel: Der Einfluss funktionaler Erziehungsberatung auf die Krankheitsprognose bei
Asperger-Autismus. Eine systemischer Betrachtung. Das Ziel dieser Arbeit ist es demzufolge, die
Möglichkeiten und Grenzen des systemischen Ansatzes der Familienberatung in Bezug auf die
Entwicklung eines Kindes mit AS und seiner Familien zu eruieren und zu diskutieren. Um das auf
1
Alle Personenbezeichnungen sind als geschlechtsneutral anzusehen, obwohl sie in der männlichen Form geschrieben
sind.
2
Asperger-Syndrom wird zukünftig mit AS abgekürzt.
5

einer fundierten Grundlage zu tun, ist es notwendig den Einfluss von AS auf das System Familie zu
beleuchten, sowie moderierende Schutz- und Risikofaktoren
3
ausfindig zu machen.
Das soll mit Hilfe selbstständiger Forschung herausgefunden werden. Dafür wurden
Experteninterviews mit Mitarbeitern der drei Autismusambulanzen Sachsens durchgeführt. Dies
erklärt eine Einschränkung, die im Titel vorgenommen worden ist. In den genannten Einrichtungen
wird Erziehungsberatung lediglich randständig betrieben, weswegen institutionalisierte
Erziehungsberatung in den nun folgenden Betrachtungen weitestgehend außen vor bleiben muss.
Auch bleiben zahlreiche Ansätze der Familienberatung, wie die kognitive Verhaltenstherapie,
unerwähnt, auch wenn diese für die Intervention bei AS nicht wegzudenken ist.
Um sich der genannten Zielstellung anzunähern, ist es zunächst notwendig, das Thema AS initial
umfassend zu beleuchten. Dafür erfolgt zunächst eine Einordnung und Klassifikation der Formen
von Autismus, hinsichtlich der Quantität und Qualität der typischen Besonderheiten auf Grundlage
des ICD-10 sowie des DSM-IV. Das dient dazu, die einzelnen Formen voneinander abzugrenzen.
Abgerundet wird dieses erste Kapital durch eine Vorausschau auf die diagnostische Klassifikation
des DSM-V.
Dem folgt eine Erörterung der möglichen Ursachen von AS. Dabei werden soziale Ursachen einen
randständigen Charakter haben. Vielmehr werden biologische Ursachen, wie genetische
Prädisposition oder hirnorganische Veränderungen, eine zentrale Rolle einnehmen. Darüber hinaus
werden in diesem Kapitel entwicklungspsychologische Aspekte eine tragende Säule sein. Dazu
zählen z.B. Besonderheiten in den exekutiven Funktionen oder in der Theory of Mind.
Die Prävalenz wird im darauffolgendem Kapitel beleuchtet. Dafür erfolgt zunächst eine Definition
des genannten Terminus. Darauf aufbauend wird die geschätzte relative sowie absolute Häufigkeit
von Krankheiten aus dem Autismusmusspektrum sowie deren Geschlechtsverteilung genannt.
Abschließend soll die Entwicklung der Fallzahl sowie die zu Grunde liegenden Faktoren beleuchtet
werden.
Daran schließt der Aspekt der Komorbidität an. Zunächst wird hierbei eine Definition
vorgenommen. Im Anschluss werden die fünf häufigsten Krankheitsbilder genannt und erläutert.
Das geschieht auf der definitorischen Grundlage des ICD-10.
Um dieses Kapitel abzuschließen, werden empirisch fundierte Aussagen über die Prognose von
Kindern mit AS gemacht. In diesem Kontext werden Faktoren erläutert, welche in diesem Kontext
moderierend wirken. Die Rolle der Eltern
4
wird dabei im besonderen beleuchtet werden.
Der dritte und vierte Abschnitt befasst sich mit der theoretischen Beleuchtung der anderen
Grundbausteine dieser Arbeit ­ der funktionalen Erziehungsberatung und dem systemischen Ansatz
der Beratung. Dafür wird Erstgenanntes zunächst von der institutionalisierten Beratung
definitorisch abgegrenzt. Dem folgt die rechtliche Verortung im SGB VIII, Darlegung der Aufträge
3
In dieser Arbeit werden Resilienz- und Vulnerabilitätfaktoren synonym zu diesen Termini verwendet.
4
Mit Begriff Eltern sind auch andere Erziehungsberechtigte gemeint, die nicht mit dem Kind verwandt sind.
6

dieser Form der Erziehungsberatung sowie die verwendeten Settings. Darauf aufbauend werden
Grundprinzipien sowie die idealtypischen Schritte der Beratung erläutert. Dadurch wird es möglich
sein, rechtliche Bestimmung bezüglich der Qualifikation der ausführenden Personen darzulegen.
Danach wird die systemische Familienberatung umfassend dargestellt. Dabei ist es zunächst
notwendig, die Ideen des Konstruktivismus darzulegen, da jene für diese Form der Beratung
elementar sind. Hierfür werden zunächst die gemeinsamen Grundgedanken aller Grundströmungen
dargelegt. Danach wird auf die drei wichtigsten Formen des Konstruktivismus sowie deren
Anwendungsbereiche eingegangen.
Im Anschluss wird der Systembegriff Beleuchtung finden. Dafür werden zunächst die Ursprünge
dieses Denkens erläutert. Anschließend werden die Vorgänge, welche in sozialen Systemen
vermutet werden, in den Fokus der Betrachtung rücken. Darauf aufbauend werden die
verschiedenen Typen sozialer Systeme nach Bronfenbrenner vorgestellt. Der Vollständigkeit halber
wird der Wandel der Systemtheorie ab den 1970er Jahren dargelegt. Zum Abschluss dieses Kapitels
wird Bezug zu den vorher dargestellten Ideen des Konstruktivismus gezogen. Dadurch wird die
Denkweise systemisch arbeitender Berater und Therapeuten verdeutlicht. Allerdings muss
festgehalten werden, dass die Ausführungen aufgrund der Begrenztheit der Seiten eher
schematischer Natur sein werden. So werden die Theorie von Niklas Luhmann keine Erwähnung
finden, obwohl er für die Systemtheorie als wegweisend anzusehen ist.
Die unterschiedlichen Leitgedanken der verschiedenen Strömungen der systemischen Beratung
stehen im Anschluss im Vordergrund. Diese sollen dort skizzenhaft dargestellt werden. Allerdings
werden auch geteilte Annahmen bezüglich systemischer Vorgänge Erklärung finden. Das gilt ebenso
für die Ziele jener Form der Beratung. Bereiche mit Ausbaupotenzial werden am Ende des Kapitels
darlegt.
Aufgrund der geäußerten Kritik wird im Anschluss die Familienstresstheorie vorgestellt. Dafür wird
diese Theorie umfassend erläutert, sowie der zirkuläre Charakter offen gelegt. Dadurch wird die
systemische Theorie der Beratung auf ein größeres theoretisches Fundament gesetzt.
Den vierten Abschnitt abschließend werden ausgewählte Methoden der systemischen Beratung
vorgestellt. Um aus dem schier unerschöpflichen Fundus eine Auswahl treffen zu können, werden
nur jene vorgestellt, die auch in den Experteninterviews genannt worden sind. Dieser Schritt
erscheint aufgrund der begrenzten Seitenzahl legitim.
Im fünften Abschnitt dreht sich der inhaltliche Schwerpunkt um die Methoden, die dieser
Masterarbeit zu Grunde liegen. Dabei wird im ersten Kapitel das Experteninterview im Vordergrund
stehen. Hierfür wird zunächst der Begriff des Experten wissenssoziologisch definiert. Im Anschluss
wird das Experteninterview in die Gruppe der Leitfadeninterviews eingeordnet, sowie eine
Begründung der Auswahl dieser Technik gegeben. Den Abschluss bildet eine Darlegung der
verschiedenen Frageformen, die in diesem Bereich Einsatz finden.
7

Im nächsten Schritt werden grundlegende Regeln von Experteninterviews dargelegt, z.B. das
Prinzip der Offenheit. Außerdem werden noch mögliche Schwierigkeiten bei der Erstellung von
Fragen offen gelegt sowie mögliche Maßnahmen, diese zu umgehen.
Danach steht die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring als Methode der Auswertung im
Vordergrund. Dafür wird zunächst dessen Zielstellung erklärt. Auch wird erklärt werden, weshalb
hinsichtlich des Auswertungsdesigns in der vorliegenden Arbeit die induktive Vorgehensweise
gewählt wurde. Abschließend werden die vier Schritte der Auswertung vorgestellt.
Nachdem die theoretischen Grundlagen erklärt worden sind, wird sich dem erstellten Leitfaden
selbst zugewandt. Dabei werden die Interviewabschnitte Fragen zum Interviewten, zu möglichen
Belastungen, zu Resilienz- und Vulnerbalitätsfaktoren sowie zu Möglichkeiten und Grenzen der
systemischen Intervention vorgestellt. Eine Zuordnung zu den bereits vorgestellten Theorien sowie
Fragetypen wird darüber hinaus ebenso vorgenommen. Überdies wird das Ziel der jeweiligen
Abschnitte kurz erläutert werden. Auf die Vorstellung der Fragen selbst wird aber verzichtet, da jene
im Anhang dieser Arbeit eingesehen werden können.
Abschließend wird Bezug den Befragten genommen. Dabei stehen deren Qualifikationen,
Berufserfahrung in Jahren sowie Aufgabenbereiche im Vordergrund.
Im letzten Abschnitt werden die eruierten Informationen vorgestellt. In den drei Kapiteln wird auf
den möglichen Einfluss von AS auf das System Familie, Schutz- und Risikofaktoren sowie
Interventionsmöglichkeiten eingegangen. Die Gliederung des Leitfadens ist hierbei ein wichtiger
Bezugspunkt für den Aufbau dieser Kapitel. Ab dem zweiten Kapitel der Implikation ist zudem zu
beachten, dass zwischen den möglichen Einflüssen auf das Kind mit AS und dem System Familie
selbst differenziert wird. Dabei wird gesteigerter Wert darauf gelegt, Aussagen der Interviewten
möglichst unverfälscht wiederzugeben. Dabei wird es allerdings der Fall sein, dass einige
Formulierungen nicht den grammatischen Standards der deutschen Sprache entsprechen.Das muss
zum Zwecke der Unverfälschtheit in Kauf genommen werden.
Abschließend werden alle elementaren Erkenntnisse zusammengefasst und in dessen Konsequenz
argumentativ ein Fazit gezogen. Das beschränkt sich lediglich auf die Ergebnisse des praktischen
Teils, da dieser die Fragestellung fast gänzlich beantwortet. Auf eine Zusammenfassung des
theoretischen Teils wird daher verzichtet.
8

2. Das Asperger-Syndrom
2.1 Diagnostische Klassifikation von Autismus
Das Asperger-Syndrom
5
wird vom International Statistical Classification of Diseases
and Related Health Problems 10 (kurz ICD-10) sowie vom Diagnostic and Statistical
Manual of Mental Disorders IV (kurz DSM-IV) zur Gruppe der tiefgreifenden
Entwicklungsstörungen gezählt. Diese sind im Allgemeinen definiert durch eine
Beeinträchtigungstriade. Dazu zählt die qualitative Beeinträchtigung im Bereich der
wechselseitigen Interaktion sowie Kommunikation. Komplettiert wird sie durch den
Aspekt der eingeschränkten Interessen und stereotype Verhaltensmuster.
6
Das ICD-10 unterscheidet neben dem AS (F84.5) zwischen dem frühkindlichen
Autismus (F84.0), dem atypischen Autismus (F84.1), dem Rett-Syndrom (F84.2) sowie
anderen desintegrativen Störungen des Kindesalters (F84.5). Der frühkindliche
Autismus kann überdies in die Gruppen des hoch- und niedrigfunktionalen Autismus
unterteilt werden. Allerdings sind diese Begriffe eher inoffzieller Natur, da gerade der
Terminus niedrigfunktional in der Praxis als zu stigmatisierend angesehen wird.
Allerdings muss im Rahmen dieser Arbeit zur eindeutigeren Differenzierung
nichtsdestotrotz auf die genannten Termini zurückgegriffen werden.
Auch im DSM-IV wird vom AS gesprochen (299.80). Darüber hinaus sind aber z.T.
Unterschiede in der Bezeichnung zu finden. So wird anstelle des frühkindlichen
Autismus von autistischen Störungen gesprochen (299.0), wohingegen die Begriffe des
Rett-Syndroms (299.80) sowie die desintegrativen Störungen des Kindesalters (299.10)
gleich sind. Der atypische Autismus als eigenständiges Krankheitsbild fehlt hingegen.
7
Trotz der unterschiedlichen Formulierungen im ICD-10 sowie im DSM-IV sind die
Diagnosekriterien zwischen diesen inhaltlich nahezu deckungsgleich. Deswegen wird
fortan auf eine weitere Differenzierung in diesem Kontext verzichtet, wobei die Begriffe
des ICD-10 verwendet werden.
8
Generell lässt sich festhalten, dass Betroffene von AS, sowie des niedrig- und
hochfunktionalen Autismus relativ geringe Unterschiede im Hinblick auf die Art der
Symptome aufweisen. Allerdings sind deutliche Unterschiede im Bereich der
Ausprägung zu erkennen. So lässt sich im Groben festhalten, dass Kinder mit AS im
Vergleich die geringste Symptomstärke aufweisen. Demgegenüber ist bei
5
zukünftig abegkürzt mit AS
6
vgl. Sinzig / Schmidt 2008, S. 173 f.
7
vgl. Remschmidt / Kamp-Becker 2007, S.186
8
vgl. Sinzig / Schmidt 2008, S. 173 f.
9

niedrigfunktionalem Autismus die größte zu finden.
9
Unter den qualitativen Beeinträchtigungen in der wechselseitigen Interaktion werden
u.a. Besonderheiten im Blickkontakt, in der Mimik und Gestik verstanden. Das äußert
sich im Allgemeinen durch die Vermeidung von direktem Blickkontakt, Mimik und
Gestik. So berichten betroffene Eltern häufig, dass ihr Kind ,,förmlich durch sie
hindurchzublicken scheint"
10
. Ebenso werden antizipatorische Reaktionen, wie Arme
nach den Eltern beim Hochnehmen auszustrecken, nicht gezeigt. Auch ist kein
alterstypisches Bindungsverhalten im Kleinkindalter zu beobachten. Das zeigt sich
beispielsweise daran, dass Kinder mit AS ihre Eltern bei Abwesenheit nicht vermissen
und kaum bis keine Freude bei ihrer Wiederkehr zeigen.
11
Ein weiterer Aspekt der qualitativen Beeinträchtigung in der wechselseitigen Interaktion
besteht darin, dass zumeist keine zwanglosen Beziehungen zu Gleichaltrigen oder
Älteren aufgebaut werden können. Das äußert sich am fehlenden Interesse an anderen
Kindern, welches z.B. an der nicht vorhandenen bis hin zur aggressiv-ablehnenden
Reaktion auf die Annäherungsversuche potentieller Spielkameraden zum Ausdruck
kommt. Daraus resultiert, dass Freundschaften oder gemeinsame Gruppenspiele sehr
selten vorkommen. Typisch für AS ist zudem, dass zwar Kontaktversuche stattfinden
können, diese aber nur sehr spezielle individuelle Interessen thematisieren.
12
Überdies sind Besonderheiten im Bereich der sozio-emotionalen Gegenseitigkeit
festzustellen. Das bedeutet auf der einen Seite, dass Kinder mit AS emotional nicht
mitreagieren können und somit auch nicht an emotionalen Reaktionen anderer
teilhaben. Auch besteht wenig Interesse dieser Kinder, das andere ihnen Emotionen zu
teil werden lassen. So suchen sie z.B. zumeist keinen Trost, wenn sie sich verletzt
haben.
13
Schlussendlich ist in diesem Bereich der Mangel an sozialer Freude und dem Interesse,
miteinander zu teilen, zu beschreiben. So wird auf entsprechende Gegenstände von
persönlichem Interesse etc. nicht hingewiesen. Auch werden Bedürfnisse kaum zum
Ausdruck gebracht.
14
Von den vier genannten Aspekten müssen drei erfüllt sein, andernfalls kann dieses
Diagnosekriterium nicht als bestätigt angesehen werden.
Wie bereits erwähnt ist ein weiterer Teil der Beeinträchtigungstriade die qualitative
Beeinträchtigung in der Kommunikation. Hier kann ein verzögertes oder völliges
Ausbleiben der Sprachentwicklung mit kommunikativem Charakter verstanden werden.
9
vgl. Poutska et.al. 2008, S. 11f
10
Biscaldi et. al. 2012, S. 499
11
vgl. Berk 2011, S. 259
12
vgl. Kamp-Becker et. al. 2004, S. 274
13
vgl. Sinzig / Schmidt 2008, S.174
14
vgl. Rollet / Kastner-Koller 2011, S.12
10

Dabei wird von Seiten des Kindes kein Versuch unternommen, diesen Umstand mit
Gestik oder Mimik zu kompensieren.
Allerdings ist eine Differenzierung zwischen den Subtypen des Autismus dringend
notwendig. So zeigen Kinder, die von niedrigfunktionalem Autismus betroffen sind,
i.a.R. keine oder nur eine unzureichende Sprachentwicklung, die dazu befähigen würde,
Informationen auszutauschen. Bei hochfunktionalem Autismus ist zunächst ebenso eine
fehlende Sprachentwicklung zu beobachten. Mit zunehmenden Alter ist jedoch
diesbezüglich ein Kompetenzgewinn zu beobachten, sodass die Sprache allmählich
kommunikativen Charakter gewinnt. Dem entgegengesetzt verläuft die Entwicklung bei
AS. Jene Kinder entwickeln früh einen reichen, wandlungsfähigen und fundierten
Wortschatz. Mit diesem können sie grammatikalisch und stilistisch anspruchsvolle Sätze
bilden. Hans Asperger meinte zu diesem Thema, dass Kinder mit AS sprächen ,,wie
kleine Professoren."
15
In Relation dazu ist aber die Fähigkeit, ein wechselseitiges
Gespräch aufzunehmen und aufrechtzuerhalten, als stark ausbaufähig zu bezeichnen.
Ebenso ist das typische soziale Plappern als Kleinstkind zumeist nicht zu beobachten.
16
Weiterhin ist die Verwendung von Komposita sowie die Neubildung von Begriffen und
Worten charakteristisch für AS. Jene werden in der Literatur nicht selten als bizarr
bezeichnet. Außerdem ist das Stellen von Fragen typisch, die aufgrund des gegebenen
sozialen Kontextes als unangemessen zu bezeichnen sind. Darüber hinaus ist zumeist
eine starke Fokussierung auf bestimmte, eng umgrenzte Gesprächsthemen zu
beobachten. Diese können in Selbstgesprächen resultieren, wenn kein geeigneter
Gesprächspartner gefunden wird. Ungewöhnlich ist hingegen ein repetitiver oder
idiosynkratischer Gebrauch von Sprache, sowie Echolalien und Pronominalumkehr.
Dies wird vorwiegend bei hochfunktionalem Autismus festgestellt.
17
Außerdem ist in diesem Bereich das Fehlen von verschiedenen Fiktions- oder
Illusionsspielen zu benennen, die üblicherweise zwischen dem 2. und 4. Lebensjahr
praktiziert werden. Dazu zählen sog. Als-ob-Spiele, z.B. mit Puppen oder Stofftieren
oder auch soziale Rollenspiele mit anderen Kindern, z.B. das Nachstellen einer
Situation in der Schule oder Familie.
18
Von den genannten drei Symptomen muss mindestens eine festgestellt werden, damit
das Diagnosekriterium als erfüllt angesehen werden kann.
Der letzte Teil der Beeinträchtigungstriade sind eingeschränkte Interessen sowie
stereotype Verhaltensmuster. Dazu zählt beispielsweise das Festhalten an
Gewohnheiten, Abläufen oder Ritualen. Dem liegt ein ängstlich-zwanghaftes Bedürfnis
15
vgl. Asperger 1944, S. 99
16
vgl. Remschmidt / Kamp-Becker 2005, S.188
17
ebenda.
18
vgl. Rollett / Kastner-Koller 2011, S. 12
11

nach Gleicherhaltung der dinglichen Umwelt zugrunde. Neue Situationen, z.B. ein
Schulwechsel, wird von Seiten des Betroffenen zumeist als äußerst problematisch
erlebt.
19
Untypisch für AS sind hingegen stereotype und repetitive Verhaltensweisen mit
einfachem Charakter, wie z.B. Flattern der Hände vor den Augen oder das Biegen der
Finger. Selbiges gilt für selbstverletzende Verhaltensweisen, wie Augenbohren oder das
Schlagen des Kopfes gegen Wände. Ebenso ist Zweckentfremdung von Spielzeug in
Form von Beriechen, Ablecken oder die
Nutzung lediglich einzelner Elemente
ungewöhnlich. Das sind Verhaltensweisen, die vorwiegend bei niedrig- und
hochfunktionalem Autismus gefunden werden.
20
Charakteristisch ist darüber hinaus die intensive Beschäftigung mit eng begrenzten
Spezialinteressen. Es handelt sich hierbei zumeist um sehr spezifische Bereiche der
Geschichte, Mathematik, Geografie oder anderen Geistes- und Naturwissenschaften.
Von einem Spezialinteresse ist zu sprechen, wenn die zeitliche Intensität als weit
überdurchschnittlich zu bezeichnen ist. Ebenso ist hierfür die nicht-soziale Qualität
entscheidend. Das bedeutet, dass das spezielle Interesse nicht zusammen mit anderen
gepflegt wird, sondern eher im Sinne eines Nebeneinanders. Als Folge der genannten
Aspekte wird ein hoher Grad an Expertentum mit fast lexikonartigem Wissen erreicht.
Allerdings ist dies selten anschlussfähig an Wissen benachbarter Themenbereiche und
kaum praktisch anwendbar. Darüber hinaus ist eine relative Stagnation über die Zeit zu
erkennen. Ist das der Fall, so ist der Wechsel zu einem neuen Interessengebiet
wahrscheinlich.
21
Damit das Diagnosekriterien als erfüllt angesehen werden kann, muss von den zwei
genannten Aspekten mindestens einer nachweisbar sein.
Um die verschiedenen Formen des Autismus theoretisch sicher voneinander abgrenzen
zu können, ist es ratsam, weitere Merkmale mit in den Fokus der Betrachtung zu ziehen.
So muss der Störungsbeginn, also das Auftreten der Symptome, bei niedrig- und
hochfunktionalem Autismus vor dem 36. Lebensmonat verortet werden können. Bei AS
ist das erst nach dem genannten Zeitpunkt der Fall. Zuvor durchlaufen die betroffenen
Kinder eine alterstypische Entwicklung.
22
Im genannten Kontext spielt der Aspekt der Intelligenz eine wichtige Rolle. So geht
niedrigfunktionaler Autismus häufig einher mit mittel- bis schwergradigen kognitiven
Defiziten, also einem IQ < 70. Bei hochfunktionalem Autismus hingegen ist zumeist
eine durchschnittliche Intelligenz zu finden. Hierfür muss sich der ermittelte Wert
19
vgl. Freitag 2009, S.1258 f.
20
vgl. Ozonoff 2002, S. 22 ff.
21
vgl. Kamp-Becker et. al. 2004, S. 374
22
vgl. Remschmidt / Kamp-Becker2006, S. 19
12

innerhalb der ersten Standartabweichung von + / - 20 um den Wert 100 befinden.
Demgegenüber ist AS i.d.R. geprägt von einer in seiner Gesamtheit
überdurchschnittlichen Intelligenz, also einem IQ > 120. Ist dieser Wert nur in einem
Teilgebiet der Intelligenz zu finden,
wird von einer sog. Inselbegabung gesprochen.
23
Schlussendlich ist in diesem Bereich noch die visuell-räumliche Wahrnehmung zu
nennen. Diese ist bei Menschen mit niedrig- und hochfunktionalem Autismus nicht
beeinträchtigt, es sei denn, es liegen damit im Zusammenhang stehende, komorbide
Erkrankungen vor. Anders sieht es aber bei AS aus. Betroffene haben zumeist in diesem
Bereich merkliche Defizite, weswegen sie zumeist über keine flüssige Motorik verfügen
und deswegen ungeschickt wirken. Daraus wird deutlich, dass eine große Diskrepanz
zwischen Verbal- und Handlungs- IQ besteht.
24
Auch wenn auf theoretischer Ebene die Unterscheidung zwischen den einzelnen Formen
des Autismus eindeutig scheint, zeigt sich in der Praxis häufig, dass die nosologische
Unterscheidung zwischen dem hochfunktionalem Autismus und AS z.T. als
problematisch bezeichnet werden kann. Dafür gibt es Evidenz in zahlreichen
Untersuchungen. Beispielhaft lässt sich aus einer entnehmen: ,,Insbesondere ist hier
strittig, inwieweit der sogenannte [hochfunktionale] Autismus [...] vom
Aspergersyndrom abgrenzt werden kann."
25
Das hat weitreichende Konsequenzen. So
führt es beispielsweise zu einer mangelnden Vergleichbarkeit von Studien, da die
Verwendung von jeweils anderen Diagnosekriterien zu kaum vergleichbaren
Forschungspopulationen führt. Obendrein ist deswegen die Diagnose z.T. als schwierig
zu bezeichnen.
Diesem Umstand wurde im DSM-V Rechnung getragen, indem der Terminus der
Autismusspektrumsstörung eingeführt wurde. Es handelt sich hierbei um eine Abkehr
vom rein kategorialen System der Diagnose. Stattdessen wird auf drei Kontinua
zurückgegriffen, die sich an der bereits beschriebenen Beeinträchtigungstriade
orientieren. Dabei gilt Folgendes: Je weiter die Symptomstärke in Richtung
hochfunktionaler Autismus liegt, desto milder ist sie. Darüber hinaus wird der Begriff
des AS entfernt werden und als eine Untergruppe des hochfunktionalem Autismus
angesehen. In dessen Konsequenz wird AS als eine milde Verlaufsform des
hochfunktionalen Autismus angesehen. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird
nichtsdestotrotz weiterhin von AS gesprochen, um für den Leser eine bessere
Differenzierbarkeit zu gewährleisten. Auch ist anzumerken, dass ein Großteil der Fach-
und Forschungsliteratur diesbezüglich noch nicht aktualisiert wurde.
26
23
vgl. Remschmidt / Kamp-Becker 2006, S. 42 f.
24
vgl. Poutska et. al. 2008, S.19
25
Kamp-Becker et. al. 2004, S. 375
26
vgl. Notredaeme 2011, S. 4
13

2.2 Ursachen des Asperger-Syndroms
Gemäß dem heutigen Stand der Wissenschaft kann mit Sicherheit gesagt werden, dass
eine monokausale Ursache für die Entstehung von AS ausgeschlossen ist. Vielmehr
liegen eine Vielzahl von Ursachen auf genetischer, hirnorganischer sowie
entwicklungspsychologischer Ebene vor. Dabei ist stets die Wechselwirkung zwischen
diesen zu beachten. Außerdem ist eine einheitliche Pathogenese unwahrscheinlich.
Dafür sprechen die individuellen Symptomstärken von AS sowie die große Menge der
möglichen komorbiden Begleiterscheinungen. Somit scheinen die auslösenden Faktoren
interpersonell stark unterschiedlich zu sein.
2.2.1 Soziale Ursachen
Leo Kanner, der Entdecker des frühkindlichen Autismus, postulierte zunächst, dass das
Erziehungsverhalten der Eltern die hauptsächliche Ursache für Krankheitsentstehung
sei. Seine Behauptung beruhte auf der Beobachtung, dass Eltern von an Autismus
erkrankten Kindern zwar zumeist überdurchschnittlich intelligent seien, aber
gleichzeitig kühl und distanziert in ihrem Auftreten. Er ging deswegen davon aus, dass
das elterliche Verhalten in verstärkter Weise beim Kind auftritt. In diesem
Zusammenhang wurde der Begriff der Kühlschrankmutter geprägt.
27
Nach heutigem Stand des Wissens kann diese These eindeutig widerlegt werden. So
erkannte Kanner nicht, dass das beschriebene Erziehungsverhalten nicht Ursache,
sondern die Folge von Autismus ist. Entlastend kann aber Kanner zu Gute gehalten
werden, dass das Wissen in den 1940er Jahren im Bereich der Genetik, der Neuro- und
Entwicklungspsychologie bestenfalls in den Kinderschuhen steckte. Trotz dieser
Erkenntnis griffen Fachleute die von Kanner formulierte These noch Jahrzehnte später
auf, was z.T. in massiven Schuldzuweisen gegenüber den betroffenen Eltern und einer
damit verbundenen gesellschaftlichen Stigmatisierung resultierte.
28
Deswegen soll an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich festgehalten werden: Die
Eltern tragen durch ihr Erziehungsverhalten keinen Anteil an der Entstehung von AS.
2.2.2 Biologische Ursachen
Im Bereich der Autismusforschung existieren eine Vielzahl von Geschwister- und
Zwillingsstudien. Aus diesen wird eine starke familiäre Häufung ersichtlich. So zeigt
sich bei Autismus im Allgemeinen, dass die Geschwister der betroffener Kinder ein
27
vgl. Kanner 1943, S. 219 ff.
28
vgl. Remschmidt 2009, S. 385
14

Erkrankungsrisiko von 3 % haben. Das erscheint auf den ersten Blick gering, doch es
bedeutet ein 60 bis 100 Mal häufigeres Vorkommen als in der sog. Normalbevölkerung.
Darüber hinaus zeigen zahlreiche Geschwister zwar nicht das Vollbild der jeweiligen
Erkrankungen, aber einzelne Symptome.
29
Ebenso bieten Zwillingsstudien zahlreiche Erkenntnisse. So konnte beispielsweise
ermittelt werden, dass eineiige Zwillinge im Bereich von AS eine Konkordanzrate von
90% aufweisen. Demgegenüber liegt dieser Wert bei zweieiigen Zwillingen nur
bei
10%.
30
Aus den gefundenen Ergebnissen lässt sich eine genetische Prädispostion ableiten.
Hierunter wird ,,eine genetisch bedingte Anfälligkeit für die Ausbildung von
Krankheiten"
31
verstanden. Daraus wird ersichtlich, dass von einer direkten Vererbung
nicht ausgegangen werden kann. Vielmehr scheinen verschiedene Umweltfaktoren
ätiologisch mitbeteiligt zu sein. Diese liegen aber zum jetzigen Zeitpunkt weitestgehend
im Dunkeln. Es wird vermutet, dass angeborene Röteln und Schilddrüsenunterfunktion,
Impfungen gegen Masern, Mumps oder Röteln sowie eine
Lebensmittelunverträglichkeit gegenüber Gluten oder Casein Auslöser sein könnten.
32
Durch die bisherigen Schilderungen werden zahlreiche strukturelle Besonderheiten
aufgrund einer nicht alterstypischen Entwicklung in den Gehirnen der Betroffenen z.T.
erklärbar. So wird im Kontext von AS im Moment v.a. von einer Funktionsstörung der
rechten Gehirnhälfte, des Großhirns, des limbischen Systems, Amygdala, der zerebralen
Zellsäulen sowie einer Reduktion der grauen Substanz ausgegangen.
33
Das ist stark assoziiert mit Dysfunktionen und den damit verbundenen und gleichzeitig
reifenden Hirnregionen. Dazu zählen insbes. der frontale Kortex, Basalganglien und der
Temporallappen. Es wird deswegen auch von einem ,,Integrationsdefizit zerebraler
Funktionen"
34
gesprochen.
Infolgedessen treten starke Beeinflussung der Aufmerksamkeit des Betroffenen sowie
Besonderheiten in der Reiz- und Signalverarbeitung auf, insbes. bei sozialen Stimuli.
Das führt beispielsweise dazu, dass bei Gesichtern jene Hirnregionen aktiviert werden,
welche bei Menschen ohne AS für die Verarbeitung von Objekten zuständig sind.
35
All die genannten Auffälligkeiten in der hirnorganischen Entwicklung sind direkt oder
indirekt ursächlich für die Besonderheiten im Bereichen der kognitiven, emotionalen
sowie sozialen Entwicklung bei Betroffenen von AS.
29
vgl. Remschmidt 2008, S. 28 f.
30
vgl. Remschmidt / Kamp-Becker 2005, S.194 ff.
31
Uexküll 1970, S. 32
32
vgl. Remschmidt / Kamp-Becker 2006, S. 35 f.
33
vgl. Moldin / Rubstein 2006, S. 87 ff.
34
Remschmidt / Kamp-Becker 2006, S. 53
35
vgl. Remschmidt / Kamp-Becker 2005, S. 195 f.
15

2.2.3 Entwicklungspsychologische Ursachen
In diesem Bereich ist eine Veränderung der exekutiven Funktionen zu benennen. Diese
stellen ,,Denkprozesse höherer Ordnung dar, die für die Verhaltensplanung, -steuerung
und -kontrolle entscheidend sind."
36
Dazu zählen eine Vielzahl von Vorgängen wie
Planung, Zielgerichtetheit, Vorausschau, Inhibition von Impulsen sowie
problemorientiertes Handeln. Dass diese Fähigkeiten für Betroffene von AS nur bedingt
verfügbar sind, wird in der zumeist problematischen Bewältigung der Aufgabe Turm
von Hanoi
37
offenkundig.
Das ist die entscheidende Ursache dafür, dass bei der erstmaligen Ausführung einer
Tätigkeit überdurchschnittlich großes Verbesserungspotenzial besteht. Deswegen wird
von Betroffenen Kontinuität angestrebt. Ebenso können dadurch Probleme in der
sozialen Interaktion erklärt werden, da auch hier zahlreiche Aspekte stetig neu bedacht
müssen. Dazu gehören z.B. die Auswahl des Interaktionspartners, Initiierung der
sozialen Interaktion, die Aufrechterhaltung des Gesprächs durch Reziprozität sowie die
zugrundeliegenden expliziten und impliziten sozialen Normen.
38
Die zentrale Kohärenz spielt bei AS eine entscheidende Rolle. Hierunter kann die
,,natürliche Tendenz, vorhandene Stimuli global und im Kontext zu verarbeiten, wobei
Informationen zusammengefügt um die höherwertige Bedeutung zu erfassen"
39
verstanden werden. So neigen Betroffene von AS stark dazu, visuell zu segmentieren.
Das bedeutet, es werden nicht alle Reize in einem Gesamtkontext betrachtet, sondern es
findet starke Fokussierung auf isolierte Aspekte statt. Das bietet auf der einen Seite den
Vorteil, dass versteckte Figuren rasch gefunden oder Mosaik-Tests überdurchschnittlich
gut bewältigt werden können. Selbiges gilt für das Erlernen von sinnfreien Wortreihen.
Aber es erschwert die Interpretation von sozialen Situationen ungemein. Das liegt
daran, dass hierfür eine Vielzahl von Informationen in ihrer Gesamtheit verarbeitet
werden müssen, z.B. die Form des Mundes, Stellung der Augenbrauen sowie der
Augenlider, Körperhaltung sowie der soziale Kontext. Ebenso gibt es Evidenz dafür,
dass die zentrale Kohärenz Einfluss auf das sprachliche Verständnis einer Person hat. So
werden tendenziell Sätze nicht als Ganzes verarbeitet, sondern nur voneinander isolierte
Worte, wodurch das Sprachverständnis beeinträchtigt wird.
40
In der Ursachenforschung kommt der Theory of Mind eine überdurchschnittlich große
Bedeutung zu. Damit ist ,,die Fähigkeit [gemeint], psychische Zustände (Gefühle und
36
Remschmidt / Kamp-Becker 2005, S. 45
37
Für weiterführende Informationen über dieses Testverfahren vgl. Mackowiak et. al. 2008, S. 64 f.
38
vgl. Poutska 2008, S. 31
39
Neons / Berckelaer-Onnes 2005, S. 125
40
vgl. Sinzig / Schmidt 2008, S. 183
16

Gedanken) anderer Personen und sich selbst zuzuschreiben, also die Fähigkeit, die
eigenen Gedanken, Gefühle und Wünsche, Absichten und Vorstellungen und diejenigen
anderer zu erkennen, zu verstehen und vorherzusagen."
41
Jene Kompetenz befähigt demzufolge dazu, menschliche Intersubjektivität zu verstehen,
da sie das Wissen impliziert, dass andere Menschen im Vergleich zur eigenen Person
verschiedene Ansichten haben und andere Pläne verfolgen. Diese Fähigkeit entwickelt
sich bei Kindern ohne AS i.d.R. rund um das vierte Lebensjahr. Zuvor sind sie naive
Realisten. Das bedeutet, dass davon ausgegangen wird, dass alle Menschen die selbe
Weltanschauung teilen und die gleichen Ziele verfolgen. Somit ist die Fähigkeit, das
Verhalten anderer Menschen vorherzusagen, nicht gegeben. Menschen mit AS bleiben,
ohne entsprechende Förderung, sozusagen ihr gesamtes Leben naive Realisten. Das
zeigt sich beispielsweise daran, dass selbst im Erwachsenenalter Probleme bei der
Bewältigung im false-beliefs-Test
42
oder im Maxi-Paradigma
43
bestehen. Es handelt
sich hierbei um Testverfahren, welche i.a.R. von Kindern ohne AS ab dem 4. Lebensjahr
sicher gelöst werden können.
44
Das Konstrukt der Theory of Mind setzt sich aus vier Bereichen zusammen. Einer von
diesen ist die Emotionserkennung. Es handelt sich hierbei um die Fähigkeit der
sprachlich korrekten Zuordnung von verbalen und nonverbalen Gefühlsausdrücken. Ein
Aspekt davon sind primäre Emotionen. Darunter werden angeborene Verhaltensmuster
wie z.B. Gesichtsausdrücke verstanden. Überdies sind sekundäre Emotionen existent.
Diese müssen kognitiv erschlossen werden. Darunter zählt v.a. Ironie und Sarkasmus.
45
Der zweite Bereich ist die Empathie. Bei dieser handelt es sich um eine primär
emotionale Reaktion, bei welchem der Erkenntnisgewinn durch die Qualität des
mitempfundenen Gefühls resultiert. Das bedeutet, dass die Emotionen des Gegenübers
nicht bewusst kognitiv erschlossen werden. Vielmehr werden diese automatisch im
eigenen Selbst intuitiv erzeugt. Es ist somit legitim, von mitfühlen zu sprechen.
46
Darüber hinaus ist in diesem Kontext die sozial-kognitive Attribuierung zu nennen. Jene
kann auch als Problemlösefähigkeit im sozialen Bereich bezeichnet werden. Dabei wird
das Denken, Fühlen und Handeln des Gegenübers mit Hilfe kognitiver Strategien
erschlossen. Dabei spielen die eigenen Emotionen eine eher untergeordnete Rolle.
Vielmehr wird hierbei auf persönliches Wissen und subjektive Annahmen
zurückgegriffen.
47
41
Remschmidt / Kamp-Becker 2006, S. 46
42
Für weiterführende Informationen über dieses Testverfahren vgl. Förstl 2012, S. 62 f.
43
Ebenda.
44
vgl. Shiomi et. al. 2012, S. 85 ff.
45
vgl. Remschmidt / Kamp-Becker 2006, S. 59 f.
46
vgl. Bischof-Köhler 2000, S.13 f.
47
vgl. Chan et. al. 2011, S. 1538 f.
17

Schlussendlich ist in diesem Kontext noch die Perspektivübernahme von entscheidender
Bedeutung. Hierfür wird ebenfalls auf kognitive Strategien zurückgegriffen, um das
Denken, Fühlen und Handeln anderer Personen zu erschließen. Der entscheidende
Unterschied besteht aber darin, dass die Situation des anderen mit in die Bewertung
einfließt, anstatt sich auf eigene Annahmen zu verlassen. Dieser Vorgang setzt
demzufolge Wissen über die Vergangenheit und Gegenwart des Gegenübers voraus. In
diesem Bereich kann zwischen der affektiven und kognitiven Perspektivübernahme
unterschieden werden. Die Erstgenannte meint das Verstehen von Emotionen des
anderen aufgrund des Wissens über seine momentane Situation. Demgegenüber
postuliert die Zweitgenannte, dass die Situation des Anderen rationaler Sichtweise mit
damit verbundenen Ansichten und Zielen auf Grundlage seiner momentanen
Gegebenheiten erschlossen wird.
48
2.3 Prävalenz
Prävalenz wird im Allgemeinen mit der ,,Rate der zu einem bestimmten Zeitpunkt oder
in einem bestimmten Zeitabschnitt an einer bestimmten Krankheit Erkrankten (im
Vergleich zur Zahl der Untersuchten)"
49
definiert. Bezüglich Autismus kann
festgehalten werden, dass in der Literatur z.T. ein großes Maß an Vielstimmigkeit in
diesem Bereich zu finden ist. Ein entscheidender Grund sind die bereits beschriebenen
Probleme in der nosologischen Unterscheidbarkeit zwischen AS und dem
hochfunktionalem Autismus.
Kategorial betrachtet wird zum jetzigen Zeitpunkt weitestgehend davon ausgegangen,
dass alle tiefgreifenden Entwicklungsstörungen bei jeweils 10 000 Personen ca. 60 Mal
vorkommen.
50
Davon entfallen zehn auf den frühkindlichen Autismus. Ausgehend von
den ermittelten IQ der Betroffenen sind von diesen 80% dem niedrigfunktionalem
Autismus zuzuordnen, sowie 20% dem hochfunktionalem.
51
Werden die Daten der
letzten Volkszählung in Deutschland zu Grunde gelegt, kann davon ausgegangen
werden, dass bundesweit ca. 81 500 Betroffene zu finden sind.
52
Große Schwankung im Bereich der Prävalenzschätzung sind allerdings bei AS zu
finden. So postulieren verschiedene Untersuchungen bei 10 000 Personen Werte
zwischen 2,5 bis 48. Ausgehend davon kann bundesweit von ca. 20 000 bis 342 000
Betroffenen ausgegangen werden.
53
48
vgl. Remschmidt / Kamp-Becker 2006, S. 60
49
Duden 2011, S. 473
50
vgl. Tidmarsch / Volkmar 2003, S. 520
51
vgl. Remschmidt / Kamp-Becker 2005, S. 187
52
vgl. Statistisches Bundesamt 2011, S. 6
53
vgl. Remschmidt / Kamp-Becker 2005, S. 187
18

Relative Einigkeit besteht dagegen im Bereich der Geschlechtsverteilung. Werden alle
tiefgreifenden Entwicklungsstörungen betrachtet, so kommt auf 4,3 Betroffene
männlichen Geschlechts eine weibliche. Ähnlich sieht es im Bereich des frühkindlichen
Autismus aus. Hier beträgt das Verhältnis 3:1.
54
Bei AS fällt die Verteilung hinsichtlich
des Geschlechts mit 8:1 noch deutlicher aus. Es ist somit in der Gesamtheit ein
deutliches Übergewicht männlicher Betroffener zu erkennen. Allerdings mehren sich
auch Stimmen, dass es mehr weibliche Betroffene gibt. Diese sind aber zumeist in der
Lage, sich besser an soziale Gegebenheiten anzupassen, sodass AS überdurchschnittlich
häufig nicht erkannt wird. Diesbezüglich müssen aber noch weitere Untersuchungen
durchgeführt werden.
55
In den letzten zehn bis fünfzehn Jahren ist ein stetiger Anstieg der Prävalenz zu
verzeichnen. Doch es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass es sich hierbei um keine
tatsächliche Zunahme im Sinne einer ,,Epidemie des Autismus"
56
handelt. Vielmehr
scheint es sich um ein Artefakt zu handeln. Das bedeutet, dass andere Ursachen der
geschilderten Entwicklung zugrunde liegen. Es wird vermutet, dass die verbesserte
Informiertheit von Fachleuten und der Öffentlichkeit die Sensibilität bezüglich
Autismus gesteigert hat. Überdies wurden in der klinischen Praxis zahlreiche neue
Diagnosestrategien entwickelt, die empirisch belegbar eine qualitative Verbesserung
hinsichtlich der Genauigkeit der Krankheitserkennung mit sich brachten. Auffällig ist
zudem, dass gerade ältere Arbeiten aus dem letzten Jahrhundert den Zusammenhang
zwischen unterdurchschnittlicher Intelligenz und Autismus überschätzten. So flossen
mildere Verlaufsformen, wie z.B. AS, nur selten in die Zahlen ein.
57
2.4 Komorbidität
Das ,,Vorhandensein von mehr als einer Störung bei einer Person in einem definierten
Zeitraum"
58
wird als Komorbidität bezeichnet. Das ist aber nur dann der Fall, wenn alle
Diagnosekriterien des entsprechenden zweiten Krankheitsbildes erfüllt sind.
Komorbidität ist in der psychiatrischen Praxis die Regel. AS bildet da keine Ausnahme,
da ca. zwei Drittel
davon betroffen sind. Dabei muss aber kritisch erwähnt werden, dass
die nun folgenden Krankheitsbilder tlw. bereits in den Diagnosekriterien von AS
enthalten sind.
59
Eine Reihe von psychopathologischen Störungen sind mit AS überzufällig häufig
54
vgl. Fombonne 2006, S. 31
55
vgl. Fombonne / Tidmarsh 2003, S. 18
56
Poutska et. al. 2004, S. 18
57
vgl. Poutska 2004, S. 17 f.
58
Brieger / Marneros 2000, S. 525
59
vgl. Briefer / Marneros 2000, S. 525f.
19

assoziiert, insbesondere die Aufmerksamkeitsdefizitstörung (kurz ADS). Im ICD-10 ist
sie mit dem Kürzel F90.1 klassifiziert und wird dort zur Gruppe der hyperkinetischen
Störungen gezählt. Charakteristisch für ADS ist, dass den Betroffenen ein hohes Maß an
Flüchtigkeitsfehlern bei Tätigkeiten im privaten, schulischen oder beruflichen Bereich
unterlaufen. Damit in engem Zusammenhang steht eine überdurchschnittliche
Vergesslichkeit in Bezug auf gegebene Anweisungen oder den Fundort von
Gegenständen. Obendrein bestehen Schwierigkeiten, über einen längeren Zeitraum die
Konzentration aufrecht zu erhalten, sowie in der Organisation. Schlussendlich ist in
diesem Bereich die leichte Ablenkbarkeit durch externe Reize oder interne Impulse zu
benennen. Die genannten Symptome müssen vor dem siebten Lebensjahr mindestens
sechs Monate
feststellbar sein. Darüber hinaus müssen bedeutsame Beeinträchtigung in
mindestens zwei zentralen Lebensbereichen vorliegen, sodass die Funktionalität in
diesen merklich beeinträchtigt ist.
60
Ebenso häufig sind bei AS Erscheinungen, die der Gruppe der Tics oder des Tourette-
Syndroms zugeordnet werden. Jene sind im ICD-10 mit 95.1 sowie 95.2 klassifiziert.
Bei Tics handelt es sich um ,,unwillkürliche, rasche, wiederholte, nicht-rhythmische
motorische Bewegungen [...], die umschriebene Muskelgruppen betreffen oder vokale
Produktionen, die plötzliche einsetzen und keinem offensichtlichem Zweck dienen."
61
Handlungen wie rasches Augenzwinkern, Grimassieren oder auch Hüpfen im Kreis
fallen dabei in die Gruppe der motorischen Tics. Für vokale Tics sind hingegen
Räuspern, Echolalien sowie die Verwendung obszöner Wörter charakteristisch. Das
Tourette-Syndrom stellt eine Kombination motorischer und vokaler Tics dar, die
innerhalb eines Jahres beobachtbar sein müssen. Dabei ist es aber nicht zwingend
erforderlich, dass beide gleichzeitig auftreten. Im Kontext von AS wird vermutet, dass
die beschriebenen Handlungen der Stressreduktion dienen. Mit zunehmenden Alter ist
allerdings zumeist eine Reduzierung der Symptomstärke zu erwarten.
62
Komorbide Zwangshandlungen bzw. Zwangsstörungen sind in 20% der Fälle von AS
beobachtbar. Sie sind im ICD-10 unter dem Kürzel F42.2 zu finden. Es handelt sich
hierbei um stetig gewollt wiederholte sowie in ihrem Ablauf gleichförmige Handlungen.
Bei AS ist dabei insbes. der Kontroll-, Ordnungs-, Wiederholungs-, Zähl-, sowie
Sammelzwang zu nennen. Sie haben vermutlich eine ähnliche Funktion wie Tics.
Können bestimmte Verhaltensmuster in einer als unbehaglich eingeschätzten Situation
nicht eingesetzt werden, so führt dies zur Steigerung der empfundenen Spannung. Mit
zunehmenden Alter ist zumeist eine stetige Verbesserung der Symptomatik zu
60
vgl. Döpfner et. al. 2008, S. 257 ff.
61
Döpfner / Rothenberger 2008, S. 311
62
vgl. Döpfner / Rothenberger 2008, S. 311 ff.
20

beobachten, da zumeist entsprechende intervenierende Handlungsstrategien erlernt
werden .
63
Ebenso häufig sind affektive Störungen zu finden. Dabei weist die Dystymie (F34.1) die
vergleichsweise geringste Symptomstärke auf. Betroffene fühlen sich bei dieser
mindestens zwei Jahre lang traurig, niedergeschlagen, hoffnungslos und leiden darüber
hinaus an einem reduzierten Selbstwertgefühl. Sie nimmt i.d.R. einen chronischen
Verlauf.
64
Die depressive Episode, im ICD-10 mit F32.0 bis F32.8 abgekürzt, ist im Allgemeinen
charakterisiert durch Niedergeschlagenheit, Interessen- und Freudverlust sowie einem
verminderten Antrieb oder gesteigerter Ermüdbarkeit. Dazu können weitere
Beschwerden auftreten, z.B. Selbstvorwürfe, wenig Selbstvertrauen, Schlafstörung,
Konzentrationsschwierigkeiten, Psychosen oder Suizidgedanken. Die Gesamtanzahl der
Krankheitszeichen entscheidet über die diagnostizierte Schwere, die von leicht- bis
schwergradig mit psychotischen Symptomen reichen kann. Der beschriebene Zustand
muss mindestens zwei Wochen durchgängig feststellbar sein, um einer der genannten
Diagnose stellen zu können.
Abschließend ist in diesem Bereich noch die bipolare Persönlichkeitsstörung (F31) zu
charakterisieren. Es handelt sich hierbei um ein Stimmungsverlauf, der von einem
unwillkürlichen Wechsel von depressiven und manischen Episoden geprägt ist. Jene
müssen mindestens eine Woche zu feststellbar sein. Eine Phase der Manie ist z.B.
geprägt durch ein Hochgefühl, Erregbarkeit, Ruhelosigkeit, außerordentliches Maß an
Geselligkeit sowie Selbstüberschätzung. Diese Kranksheitsform ist i.a.R. persistenter
Natur.
65
Betroffene von AS erkranken vorwiegend in der Adoleszenz an den beschriebenen
affektiven Störungen. In diesem Lebensabschnitt entdecken sie zumeist ihre
Andersartigkeit gegenüber Mitgliedern ihrer Peer-Group. Gleichzeitig besteht aber
i.d.R. der Wunsch nach sozialem Kontakt zu diesen. Aufgrund ihrer sich abhebenden
Verhaltensweisen machen sie allerdings häufig die Erfahrung von Ablehnung bis hin zur
Ausgrenzung, welches u.a. zu den genannten Störungsbildern führen kann.
66
Schlussendlich ist im Bereich der Komorbidität noch die Störung des Sozialverhaltens
bei fehlender sozialer Einbindung zu nennen, welches im ICD-10 mit F91.1 klassifiziert
ist. Mit diesem Terminus werden Verhaltensmuster zusammengefasst, welche
wiederkehrend der Situation nicht angemessen sind und dazu führen, andere Personen
oder Gegenstände mutwillig zu schädigen. Das geschieht beispielsweise in Form von
63
vgl. Döpfner / Goletz 2008, S.413 ff.
64
vgl. Ghaziuddin 2002, S. 140
65
vgl. Groen / Petermann 2008, S. 428 ff.
66
vgl. Attwood 2012, S. 101
21

psychischen und physischen Aggressionen. Bei Betroffenen von AS handelt es sich
zumeist um offen proaktive Reaktionen, die eine Folge von wahrgenommener
Bedrohung oder Herabsetzung sind. Diese werden aber durch Dritte zumeist als
geringfügig eingeschätzt. So kann z.B. ein freundschaftlich gemeintes Schulterklopfen
als Angriff interpretiert und entsprechend geahndet werden, was in dessen Konsequenz
zu sozialer Isolation führen kann. Folglich liegt den Aggressionen i.a.R. eine inadäquate
Erfassung der Situation zu Grunde, welche u.a. durch die bereits erläuterten
Besonderheiten in der Theory of Mind bei AS erklärt werden können.
67
Des weiteren können z.B. Essstörungen, Mutismus oder Schizophrenie komorbid sein.
Da diese in Relation zu den bisher beschriebenen eher selten vorkommen, soll es an
dieser Stelle lediglich bei der Nennung bleiben.
2.5 Prognose
Eine zuverlässige interindividuell gültige Prognose ist bei AS nicht möglich.
Nichtsdestotrotz kann festgehalten werden, dass in der Vergangenheit zahlreiche
positive Krankheitsverläufe zu beobachten waren. Das bedeudetet aber nicht, dass AS
gänzlich kuriert wurde, da ein persistenter Charakter zugrundeliegt. Vielmehr bedeudet
ein positiver Verlauf eine Abnahme der Symptomstärke, die es ermöglicht ein
selbstständiges Leben mit keiner oder wenig Unterstützung zu führen sowie einer
beruflichen Tätigkeit nachzugehen.
68
Es kann empirisch gesichert gesagt werden, dass die Symptomatik von AS im Verlauf
der Entwicklung eines Kindes oder Jugendlichen sehr stark inter- sowie intraindividuell
variiert. So ist es tlw. zu erklären, dass Langzeitstudien in diesem Bereich, welche als
rar gesäht bezeichnet werden können, zu äußert unterschiedlichen Ergebnissen kamen.
Gemäß einer zusammenfassenden Übersichtsarbeit liegt eine Verminderung der
Symptomstärke in 30 ­ 80% der Fälle vor. Darüber hinaus war es 5 - 44% der
Untersuchten möglich, eine Stelle auf dem freien Arbeitsmarkt oder im geschützten
Rahmen zu übernehmen. 16 ­ 50% konnten zudem selbstständig oder mit nur wenig
Untersützung wohnen. In dessen Gesamtheit kann 16 ­ 44% ein positiver Verlauf
zugesprochen werden.
69
Trotz der Unterschiedlichkeit der gefundenen Werte lässt sich schlussfolgern, dass es
Faktoren geben muss, welche die Prognose beeinflussen. So scheint die Fähigkeit,
Sprache im Alter von fünf Jahren kommunikativ einzusetzen als stärkster Prädikator für
eine positive Prognose. Damit eng in Zusammenhang steht ein IQ > 80. Das ist damit zu
67
vgl. Baving 2009, S. 295 ff.
68
vgl. Poutska 2008, S. 37
69
vgl. Howlin et. al. 2000, S. 565 ff.
22

begründen, dass dieser stark positiv mit dem Spracherwerb korreliert. Wie bereits
erläutert, ist dies bei AS defintionsgemäß gegeben, wodurch von einer ingesamt
besseren Prognose als beim frühkindlichen Autismus ausgegangen werden kann.
70
Gehäuft auftretende komorbide Erkrankungen haben einen erheblichen negativen
Einfluss auf die Prognose. Das ist damit zu begründen, dass sie verstärkend auf die
Kernsymptome von AS wirken und überdies neue Problembereiche schaffen können.
Allerdings kann der Einfluss der Komorbidität durch ergänzende Maßnahmen tlw.
reduziert werden. Dazu zählt z.B. die Logo-, Ergo-, sowie Physiotherapie.
Einen sehr großen positiven Einfluss in diesem Bereich haben überdies spezialisierte
Betreungseinrichtungen, z.B. integrative Kindergärten sowie spezielle
Förderprogramme für Autisten. Zu diesen gehört beispielsweise das psychoedukative
Treatment and Education of Autistic and Related Communication Handicapped
Children (kurz TEACCH). Dieses zielt auf den Aufbau kompensatorischer
Verhaltensmuster ab, mit dessen Hilfe Verbesserungen in den Bereichen der
Selbstständigkeit sowie der Kommunikation erzielt werden sollen. Dafür wird versucht,
eine möglichst individuell angepasste Umgebung zu schaffen, die gleichzeitig ein hohes
Maß an Strukturierung und Kontinuität bietet. Nach heutigem Wissensstand ist dieses
Programm das state-of-the-art im Bereich der Förderung. Allerdings ist der zeitliche
Aufwand für die Eltern mit 25 Wochenstunden über mehrere Monate bishin zu Jahren
als beträchtlich zu bezeichnen.
71
Außerdem ist es ratsam, verschiedene Förderprogramme miteinander zu kombinieren,
damit sie sich gegenseitig ergänzen. Im Falle von TEACC werden beipspielsweise das
Picture Exchange Communication System (PECS) sowie Gleichaltrigengruppen
empfohlen. Allerdings steigt dadurch der zeitliche Aufwand der Eltern, den sie allein
nur in Förderprogramme investieren sollten, auf ca. 40 ­ 60 h die Woche an. Hinzu
kommt, dass die Eltern als Co-Therapeuten fungieren sollten, um mit ihrem Kind die in
den Programmen erlernten Verhaltensweisen in vivo
zu erproben, um somit die
Generalisierung im Alltag zu fördern. Allerdings ist auch dieses Vorgehen als äußerst
zeitintensiv zu bewerten.
72
In der Gesamtheit wird deutlich, dass dem unmittelbaren sozialen Umfeld in Form der
Familie eine entscheidende Rolle zukommt. Das ist damit zu begründen, dass ohne
diese der Zugang zu vorhandenen prognoseverbessernden Hilfsangeboten nicht bzw. nur
schwerlich möglich ist. Darüber hinaus übernehmen sie wichtige Aufgaben,
beispielsweise im Bereich der allgemeinen kognitiven Förderungen. Somit wäre der
70
vgl. Amorosa 2004, S. 120 f.
71
vgl. Probst 1998, S. 159 ff.
72
vgl. Poutska 2008, S. 39 f.
23

Wegfall der Ressource Familie in Bezug auf die Prognose des Kindes mit AS als
katastrophal einzuschätzen. Deswegen ist Unterstützung für diese außerordentlich
wichtig, um z.B. Überforderung mit den damit verbunden Folgen zu vermeiden.
24

3. Funktionale Erziehungsberatung
Im Allgemeinen wird zwischen
institutionalisierter und
funktionaler
Erziehungsberatung unterschieden. Erstgenannte wird in Einrichtungen praktiziert, die
speziell für diesen Zweck existieren. Sie entwickelten sich in den letzten 100 Jahren zu
einem festen Bestandteil der Kinder- und Jugendhilfe gemäß SGB VIII. Dem gegenüber
bedeutet Zweitgenanntes ,,im Rahmen seiner jeweiligen [primären] Aufgaben und
Zuständigkeiten im Kontext der Erfüllung der Gesamtaufgabe unter anderem auch zu
beraten."
73
Das ist z.B. in Autismusambulanzen der Fall. Dort stehen die Aufgaben der
autismusspezifischen Förderung sowie der Schulbegleitung im Vordergrund.
Erziehungsberatung selbst wird nur als ergänzende Maßnahmen für Angehörige
praktiziert, um die primären Aufgaben am Kind selbst zu unterstützen. Ähnliches gilt
z.B. auch für Kindertageseinrichtungen, Schulen und für viele Maßnahmen der Kinder-
und Jugendhilfe.
74
Rechtlich verortet ist die funktionale Erziehungsberatung vorwiegend im §16 SGB VIII,
welches sich mit der allgemeinen Förderung der Erziehung in Familien befasst. Dort
heißt es im Absatz 1: ,,Müttern, Vätern, anderen Erziehungsberechtigten und jungen
Menschen sollen Leistungen der allgemeinen Förderung der Erziehung in der Familie
angeboten werden. Sie sollen dazu beitragen, dass Mütter, Väter und andere
Erziehungsberechtigte ihre Erziehungsverantwortung besser wahrnehmen können. Sie
sollen auch Wege aufzeigen, wie Konfliktsituationen in der Familie gewaltfrei gelöst
werden können."
75
Es handelt sich um ein offenes Angebot der Kinder- und Jugendhilfe,
für welches kein Rechtsanspruch besteht.
Im Gegensatz zu institutionalisierter Erziehungsberatung wird angestrebt, die
Interventionsdauer zeitlich möglichst stark zu begrenzen, was auch in
Autismusambulanzn nicht anders ist. So wird sie vorwiegend während Hausbesuchen
oder im Rahmen von Tür-und-Angel-Gesprächen durchgeführt. Dabei kann die
Beratung auf einzelne Person abzielen. Aber in Autismusambulanzen wird i.a.R.
versucht, dass gesamte Lebensumfeld des betroffenen Kindes in die Hilfe
einzubeziehen.
76
Gegenstandsbereiche der Beratung sind zumeist allgemeine Erziehungsfragen und
-schwierigkeiten. Dazu zählen vorwiegend die Gestaltung der Eltern-Kind-Beziehung,
Fragen der Freizeitgestaltung, Schulprobleme oder anstehende Entwicklungsaufgaben
des Kindes. Darüber hinaus können aber auch Entwicklungsstörungen,
73
Greese 1995, S. 89
74
vgl. Greese 1995, S.88 f.
75
SGB VIII § 16 Abs. 1
76
vgl. Bartscher et. al. 2013, 315
25

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2013
ISBN (eBook)
9783842848207
ISBN (Paperback)
9783842898202
Dateigröße
919 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Technische Universität Dresden – Childhood, Research and Education – Kindheitsforschung, Beratung und Bildung
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
1,7
Schlagworte
Asperger Erziehungsberatung systemischer Ansatz Kinder-und Jugendpsychologie Autismus
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