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Von der Momentaufnahme zum Erinnerungsbild - Die DDR im Film

©2012 Masterarbeit 113 Seiten

Zusammenfassung

Einleitung:
‘Denn kaum ein anderes Medium als der Film spiegelt gesellschaftliche Realitäten unmittelbarer und zeitnaher wider, nirgendwo sonst lässt sich kollektives Erleben besser nachempfinden [...]’.
Jedes Jahr lockt Berlin mit seinen zahlreichen historischen Erinnerungsorten, Gedenkstätten und Museen nicht nur Touristen aus aller Welt, sondern auch einheimische Besucher an. Die Geschichten, die hier vermittelt werden, führen jedoch oft in die Irre, stellte die britische Historikerin und Professorin für Neuere Deutsche Geschichte Mary Fulbrook vor einigen Jahren fest. Die Aufarbeitung der DDR-Geschichte sei noch immer unzureichend, so die Wissenschaftlerin. Ihrer Ansicht nach seien Ausstellungen und Führungen zwar faktisch korrekt, doch mangele es beispielsweise an angemessenen Hinweisen auf die Opposition oder an Darstellungen individueller Erlebnisse aus der mittleren Schicht der DDR-Gesellschaft. Häufig ginge es fast ausschließlich um hohe Funktionäre und/oder Intellektuelle, während beinahe 80 Prozent der ostdeutschen Bevölkerung kaum Berücksichtigung fänden. Zu sehr liege laut Fulbrooks der Fokus auf Unterdrückungsinstrumenten, zu denen sie neben der Staatssicherheit (Stasi) auch die Mauer zählt. Angesichts des Bildes, das dadurch von der DDR vermittelt werde, drängen sich unweigerlich Fragen auf: War es in dieser Diktatur denn nicht auch möglich, glücklich zu sein? Und wenn ja, unter welchen Umständen oder auf wessen Kosten war dies der Fall? Sicherlich gebe es darauf keine allgemeingültigen Antworten, doch an den Berliner Erinnerungsorten würden sie, so kritisierte Mary Fulbrook, kaum oder überhaupt nicht zur Sprache gebracht.
Museen und Gedenkstätten – ob in Berlin oder anderswo in Deutschland – sind Träger des kulturellen Gedächtnisses, sie bewahren Geschichte und berichten über die Vergangenheit. Sie sind besonders wichtig für jene Generationen, die nicht mehr auf persönliche Erfahrungen und Erinnerungen in Bezug auf die DDR zurückgreifen können; für Generationen, die weder Eltern noch Großeltern oder andere Zeitzeugen nach Berichten über das ganz alltägliche Leben in der DDR werden fragen können. Für diejenigen, deren Geschichtswissen durch Erzählungen und Anekdoten der Familie geprägt sind, bieten die öffentliche Erinnerungskultur und das offizielle Geschichtsbild, wie sie in Museen zum Ausdruck kommen, ein gutes Pendant. [...]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Zur Fragestellung
1.2 Methodisches Vorgehen
1.3 Literaturlage und Forschungsstand

2 Theoretische Grundlagen
2.1 Gedächtnis und Erinnern
2.1.1 Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen
2.1.1.1 Erinnern stiftet Gemeinschaft
2.1.1.2 Die Gefahr des Vergessens
2.1.2 Vom kommunikativen und kulturellen Gedächtnis . . . .
2.1.3 Gedächtnis und Geschichtsschreibung
2.2 Medien als künstliches Gedächtnis
2.2.1 Das mediale Gedächtnis
2.2.2 Der Film als Gedächtnismedium
2.3 Die DDR im kollektiven Gedächtnis

3 Die DDR im Film
3.1 Film- und Kulturpolitik in der DDR
3.2 Analysekriterien und Leitfragen
3.2.1 Alltag und Film
3.2.2 Filmwirkungsanalyse
3.3 Die Darstellung des DDR-Alltags im Film
3.3.1 Berlin - Ecke Schönhauser
3.3.1.1 Handlung
3.3.1.2 Vom Tauwetter in die Eiszeit
3.3.1.3 Analyse
3.3.2 Der geteilte Himmel
3.3.2.1 Handlung
3.3.2.2 Sozialistischer Realismus
3.3.2.3 Analyse
3.3.3 Spur der Steine
3.3.3.1 Handlung
3.3.3.2 Von Arbeitern und Aufsteigern
3.3.3.3 Analyse
3.3.4 Die Architekten
3.3.4.1 Handlung
3.3.4.2 Der richtige Film zur falschen Zeit
3.3.4.3 Analyse
3.3.5 Weissensee
3.3.5.1 Handlung
3.3.5.2 „Die DDR als Seifenoper“
3.3.5.3 Analyse
3.4 Zusammenfassung

4 Fazit

Abkürzungsverz eichnis Filmverzeichnis

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

„Denn kaum ein anderes Medium als der Film spiegelt gesellschaftliche Realitäten

unmittelbarer und zeitnaher wider, nirgendwo sonst lässt sich kollektives Erleben besser nachempfinden [...].“[1]

Jedes Jahr lockt Berlin mit seinen zahlreichen historischen Erinnerungsorten, Gedenkstätten und Museen nicht nur Touristen aus aller Welt, sondern auch ein­heimische Besucher an. Die Geschichten, die hier vermittelt werden, führen je­doch oft in die Irre, stellte die britische Historikerin und Professorin für Neuere Deutsche Geschichte Mary Fulbrook vor einigen Jahren fest. Die Aufarbeitung der DDR-Geschichte sei noch immer unzureichend, so die Wissenschaftlerin.

Ihrer Ansicht nach seien Ausstellungen und Führungen zwar faktisch korrekt, doch mangele es beispielsweise an angemessenen Hinweisen auf die Opposi­tion oder an Darstellungen individueller Erlebnisse aus der mittleren Schicht der DDR-Gesellschaft. Häufig ginge es fast ausschließlich um hohe Funktionäre und/oder Intellektuelle, während beinahe 80 Prozent der ostdeutschen Bevölke­rung kaum Berücksichtigung fänden. Zu sehr liege laut Fulbrooks der Fokus auf Unterdrückungsinstrumenten, zu denen sie neben der Staatssicherheit (Stasi) auch die Mauer zählt. Angesichts des Bildes, das dadurch von der DDR vermit­telt werde, drängen sich unweigerlich Fragen auf: War es in dieser Diktatur denn nicht auch möglich, glücklich zu sein? Und wenn ja, unter welchen Umständen oder auf wessen Kosten war dies der Fall? Sicherlich gebe es darauf keine allge­meingültigen Antworten, doch an den Berliner Erinnerungsorten würden sie, so kritisierte Mary Fulbrook, kaum oder überhaupt nicht zur Sprache gebracht. [2]

Museen und Gedenkstätten - ob in Berlin oder anderswo in Deutschland - sind Träger des kulturellen Gedächtnisses, sie bewahren Geschichte und berichten über die Vergangenheit. Sie sind besonders wichtig für jene Generationen, die nicht mehr auf persönliche Erfahrungen und Erinnerungen in Bezug auf die DDR zurückgreifen können; für Generationen, die weder Eltern noch Großeltern oder andere Zeitzeugen nach Berichten über das ganz alltägliche Leben in der DDR werden fragen können. Für diejenigen, deren Geschichtswissen durch Erzählun­gen und Anekdoten der Familie geprägt sind, bieten die öffentliche Erinnerungs­kultur und das offizielle Geschichtsbild, wie sie in Museen zum Ausdruck kom­men, ein gutes Pendant. „Was in der Familie beiläufig und absichtslos, aber emo­tional nah und damit immer auch als etwas vermittelt wird, was mit der eigenen

Identität zu tun hat, kann andere Vorstellungen erzeugen als das, was über die­selbe historische Zeit [beispielsweise] in der Schule als Wissen vermittelt wird - und es kann für die Geschichtsdeutung wirksamer sein.“[3] Das Faktenwissen kann durch den persönlichen Bezug und die mitgeteilten Erfahrungen von Be­kannten und Verwandten ergänzt und einprägsamer gemacht werden.

Erinnern und Vergangenheitsbezug sind wichtige Anhaltspunkte bei der Soziali­sation und Identitätsbildung eines Menschen. Umso wichtiger ist es, dass Ge­schichte nicht einseitig, sondern immer differenziert vermittelt wird. Es darf nicht vergessen werden, dass die DDR noch immer für eine Vielzahl der Bür­ger der Bundesrepublik Deutschland ein Bestandteil ihrer Biographie ist. Wenn diese sich wohlwollend und mit leicht verklärtem Blick an das Leben in dem kleinen sozialistischen Staat zurückerinnern, dann nicht immer, um das politi­sche System zu rechtfertigen. Häufig geht es ihnen vielmehr darum, das eigene Leben, das der Eltern oder der Großeltern gegenüber ungerecht empfundener Kritik und Vorwürfen zu verteidigen.[4] Die Erinnerungen so vieler Ostdeutscher sollten nicht vernachlässigt werden, denn gerade sie sind es, die Aufschluss über Wertevorstellungen und Sinnhorizonte liefern können. Sie können einen einzig­artigen Eindruck davon vermitteln, wie in der DDR „Gesehschaftszustände indi­viduell wahrgenommen, genutzt und erlebt wurden“[5].

Für die Vermittlung von Vergangenheit und die Entwicklung eines umfassenden Geschichtsbewusstseins sind letztendlich weder Museen, Erinnerungsorte oder Gedenkstätten noch Familienangehörige allein verantwortlich. Neben Bildungs­einrichtungen wie Schulen und Universitäten spielen heutzutage auch die Medi­en eine große Rolle. An vielen Schulen wird die DDR im Geschichtsunterricht aus Zeitgründen weniger ausführlich behandelt als beispielsweise der National­sozialismus. Das Thema wird meist recht ober ächlich betrachtet und auf weni­ge Aspekte, wie etwa die Mauer und die Stasi, begrenzt. Medien bieten dagegen eine dauerhafte und nahezu unbegrenzte Möglichkeit, sich jederzeit, ob von zu Hause oder unterwegs, zu informieren und Geschichtsbezüge auf vielfältige Ar­ten zu erfahren. Eine besondere Rolle kommt vor allem den „neuen Bildmedien Film, Fernsehen und Video“[6], auch den Digitalmedien zu. Anders als rein münd­liche oder schriftliche Erzählungen können sie den Menschen visuelle Bilder und Eindrücke einer Welt oder einer Zeit vermitteln, die diese oftmals nie selbst er­lebt haben: Bilder aus der Steppe Afrikas, von der Kraterlandschaft des Mondes oder eben auch vom Leben in der DDR.

Zwar war die Entwicklung und Ausbreitung neuer Medien zunächst vor al­lem auf die Überwindung von räumlichen Distanzen gerichtet, unbestreit­bar ging damit aber auch ein verändertes Verhältnis zur Zeit einher. Ange­sichts dieses grundlegenden Wandels der Raum- und Zeiterfahrung ist es wenig überraschend, dass bis vor kurzem kaum darüber nachgedacht wor­den ist, welche Konsequenzen die Medienrevolution für das Verhältnis zur Vergangenheit hat. Dabei ist davon auszugehen, dass dies sowohl die indi­viduelle Erinnerung beein usst, als auch die Art, wie sich Gesellschaften ihrer Vergangenheit (und damit ihrer Identität) versichern. [7]

Als „Jahrhundert der Bilder“ [8] markiert das 20. Jahrhundert in mehrfacher Hin­sicht einen Übergang: zum einen „von der Bebilderung der Welt zur Welt der Bilder“ [9] und zum anderen von einer analogen, durch Bücher sozialisierten El­terngeneration zur digitalen und fernsehsozialisierten Generation der Kinder.[10]

Mit der Weiterentwicklung des Umgangs mit und der Nutzung von Medien als Kommunikations- und Informationsmittel in den vergangenen Jahren haben sich gleichzeitig auch „die Aneignungsformen von Geschichte mit den Generationen und dem Zeitabstand zu den Ereignissen beständig veränder[t]. [...] Die bislang erfolgreiche Erinnerungs- und Vermittlungspraxis [kann man] nicht einfach fort­schreiben, sondern muss sie beständig modernisieren.“ [11]

1.1 Zur Fragestellung

Die elektronischen Medien des 20. Jahrhunderts bieten mit ihren „technisch re­produzierbaren Bildern in Form von Fotos, Filmen und Fernsehen“ [12] neue For­ men der Wissensspeicherung und -aneignung. Sie bringen den Menschen einer­seits das politische Tagesgeschehen näher und unterhalten andererseits durch ge­schichtsbezogene Inhalte. Dabei nehmen sie entscheidend Ein uss auf das kul­turelle Gedächtnis und das Geschichtsverständnis ihrer Konsumenten. Medien sind auf ihre eigene Art und Weise Zeitzeugen bestimmter historischer Epochen und Phasen, ohne - im Gegensatz zu menschlichen Zeitzeugen - an das zeitlich begrenzte kommunikative Gedächtnis gebunden zu sein. [13] Ab jenem Zeitpunkt, da keine lebenden Personen mehr für einen direkten Austausch zur Verfügung stehen, sind es Medien und die mit ihrer Hilfe festgehaltenen Informationen, auf die zurückgegriffen wird, um beispielsweise Antworten auf Fragen nach indivi­duellen Erfahrungen und subjektiven Wahrnehmungen zu finden.

Das Ziel der folgenden Arbeit ist es, herauszuarbeiten, inwieweit das Unterhal­tungsmedium Film Ein uss auf das aktuelle Bild von der Vergangenheit neh­men kann. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang die Entwick­lung des Erinnerungsbildes der DDR und dessen Verankerung im kulturellen Gedächtnis. Was wird in Zukunft neben den Themengebieten Mauer und Stasi erinnert werden? Können Filme einen Einblick in das (Alltags-)Leben der ehe­maligen DDR geben und eine Seite zeigen, die Geschichtsbücher und -unterricht nicht eventuell berücksichtigen? Das Hauptaugenmerk dieser Untersuchung liegt vor allem auf der filmischen Darstellung der kleinen und großen Herausforderun­gen des Alltags der DDR-Bürger. Nicht nur, weil der Alltag ein Schauplatz für menschliche Interaktion, und Rituale ist, sondern auch, weil es sich hierbei um eine Art „Testgelände“ für politische Beschlüsse handelt. Die (Aus-)Wirkungen neuer Ideen und Gesetze machten sich zuerst im alltäglichen Leben bemerkbar.

Es wird zu zeigen sein, welche Rückschlüsse sich anhand fiktiver Filme auf den zu erinnernden Alltag ziehen lassen und warum sie als Quellen historischer In- formtaionen dienen können. Es gilt herauszustellen, wie der Film Erinnerungen präsentiert und vermittelt; welchen Ein uss er auf das Geschichtsbild [14] einer Ge­neration und damit auf das kulturelle Gedächtnis nehmen kann. [15]

Als Untersuchungsgegenstand dienen zum einen vier DEFA-Filme aus verschie­denen Phasen der DDR, denn „im DEFA-Film sind Spuren der versunkenen Le­benswelt der DDR aufbewahrt; er ist ein Zeugnismittel zur Rekonstruktion ost­deutscher Erfahrungen.“ [16] Seit 1999 gehören die DEFA-Filme offiziell zum na­tionalen Kulturerbe [17], was ihre besondere Rolle bei der Erinnerung an die DDR noch einmal unterstreicht. Bei der Auswahl der Filme ist darauf geachtet wor­den, dass sie aus möglichst verschiedenen Phasen der DDR stammen, um den Alltagsdarstellungen zu unterschiedlichen Zeiten Rechnung zu tragen und einen umfassenderen Einblick gewährleisten zu können. Es handelt sich dabei um vier bedeutende Filme der DEFA-Geschichte, die immer wieder exemplarisch ange­führt werden, wenn die filmische Darstellung der DDR behandelt wird. Zum anderen wird eine mehrteilige Femsehfilmserie fur die Analyse herangezogen.

Diese ist erst mehrere Jahre nach der deutschen Vereinigung entstanden und bietet dadurch die Möglichkeit zu untersuchen, welche unterschiedlichen oder ähnlichen Eindrücke historische Filme mit ihren „Momentaufnahmen“ im Ver­gleich zu Historienfilmen [18] mit ihrem bereits geprägten Erinnerungsbild vermit­teln. Der Schwerpunkt wird vor allem auf den Darstellungen des familiären All­tags liegen, da gerade dieser im öffentlichen Erinnerungsdiskurs zur DDR nicht ausreichend Beachtung findet. Dass es sich dabei um einen Aspekt handelt, der nicht immer mit dem zentralen Thema des jeweiligen Films ubereinstimmt, muss kein Nachteil sein. Nebensächlich gezeigte Ereignisse und Handlungen werden ebenfalls von Zuschauern und Zuschauerinnen aufgenommen und können Ein­uss auf die Gesamtwirkung eines Films nehmen. Da sie jedoch meist unbewusst und unre ektiert abgespeichert werden, ist es umso wichtiger sie bei einer Film­betrachtung wie der vorliegenden genauer zu betrachten.

1.2 Methodisches Vorgehen

Es geht bei dieser Untersuchung hauptsächlich darum, wie das kulturelle Ge­dächtnis [19] durch Filmeindrücke eventuell beein usst und/oder erweitert werden kann. Dafür muss zunächst einmal geklärt werden, wie das kulturelle Gedächtnis entsteht und welche Rolle es in unserem Leben spielt. Als theoretische Grund­lage dient vor allem die Abhandlung von Maurice Halbwachs zum Gedächtnis und seinen sozialen Bedingungen. Darüber hinaus wird ein Blick auf neuere For­schungen zur Entwicklung des sozialen und kulturellen Gedächtnisses geworfen, die sich mit der Rolle der Medien als künstliches, ausgelagertes Gedächtnis des Menschen beschäftigen. Am Beispiel des Films als Gedächtnismedium, und da­mit als Bezugsquelle für Informationen über die Vergangenheit, wird anschlie­ßend untersucht, welches Potential und welche Risiken eine solche Nutzung birgt. Außerdem ist ein Blick auf das derzeitige Bild von der DDR im kollek­tiven Gedächtnis [20] der deutschen Bevölkerung erforderlich, um den möglichen Ein uss der Beispielfilme entsprechend einschätzen zu können. das kommunikative und das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft zusammen.

Das dritte Kapitel widmet sich einer ausführlichen Filmanalyse. Dabei wird zu­nächst ein kurzer Abriss der Film- und Kulturpolitik der DDR gegeben, wodurch ein besseres Verständnis der ausgewählten DEFA-Produktionen und ihrer Entste­hungsgeschichte ermöglicht wird. Diese werden anschließende näher betrachtet.

Im einzelnen handelt es sich dabei um folgende Filme: „Berlin - Ecke Schönhau­ser“ (1957) von Gerhard Klein und Wolfgang Kohlhaase, der sich inhaltlich mit den Problemen einer Gruppe Jugendlicher - von missglückten Mutproben über Schwierigkeiten im Elternhaus - in Ostberlin beschäftigt; „Der geteilte Himmel“ (1964), der die tragische Geschichte einer jungen Liebe zeigt, die letztendlich an der deutsch-deutschen Teilung zerbricht; „Spur der Steine“ (1966) von Frank Beyer, der den sozialistischen Alltag auf der Großbaustelle in Schkona themati­siert; „Die Architekten“ (1990) von Peter Kahane, der von einer Gruppe junger Architekten erzählt, die eine Wohnsiedlung planen und umsetzen sollen, dabei aber unentwegt mit Bevormundung und Gängelei zu kämpfen haben. Es wird zudem die erste Staffel [21] der Serie „Weissensee“ (2010) auf ihre Darstellung des Alltags in der DDR untersucht. Die einzelnen Folgen handeln von der Liebe, von den Machenschaften der Stasi und dem Wunsch nach Freiheit und Selbstbe­stimmung. Dabei stehen die Mitglieder zweier Familien im Mittelpunkt, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. „Weissensee“, dient dieser Arbeit nicht nur als weiteres Untersuchungs- und Vergleichsobjekt, sondern auch als eine Art retrospektives Gegenstück, da sie mit mehreren Jahren Abstand und unter vollkommen anderen kulturpolitischen Voraussetzungen entstanden ist. Da der Begriff Alltag beinahe alle gleichförmigen, sich wiederholenden Aspekte des menschlichen Lebens umfasst - angefangen beim Schlafen und Arbeiten über das Tätigen von Einkäufen bis hin zu Freizeitaktivitäten sozialer oder kultureller Natur - und eine Betrachtung all dieser Bereiche den Rahmen der vorliegenden Arbeit übersteigen würde, wird der Schwerpunkt auf dem privaten Familienleben liegen. Das heißt, der Alltag der jeweiligen Protagonisten wird im Hinblick auf ihre Familien und das gemeinsame Zusammenleben betrachtet. Wichtig sind da­bei vor allem die zwischenmenschlichen Interaktionen und inwiefern die Politik auf diesen äußerst persönlichen Bereich Ein uss nehmen konnte. Diese Aspekte müssen nicht direkt im Mittelpunkt des Filmgeschehens stehen. Auf die Haupt­aspekte der Filme wird am Rand eingegangen, um aber ein wissenschaftliches Vergleichskriterium zu schaffen, muss ein Aspekt des Alltags ausgewählt wer­den, der sowohl in den DEFA-Produktionen als auch in der Fernsehserie ange- sprachen wird. Anhand einzelner Filmszenen wird analysiert, welche Eindrücke jeweils vermittelt werden und was für ein Bild dadurch vom Familienleben in der DDR entsteht.

Der übergeordnete Leitfaden wird die Aufzeigung dessen sein, wie das Unter­haltungsmedium Film auf Menschen wirken kann, die weder eigene Erfahrun­gen mit dem sozialistischen Staat gesammelt haben noch Familienmitglieder oder Bekannte befragen können. Was wird jenen Generationen, die ihr DDR- spezifisches Wissen nur über Geschichtsbücher, Archive, Gedenkstätten oder Museen beziehen können, vermittelt, wenn sie sich die inzwischen historischen DEFA-Filme mit ihren einzigartigen Momentaufnahmen einer längst vergange­nen Zeit ansehen? Und was, wenn sie die Serie „Weissensee“ und die darin ge­zeigten Erinnerungsbilder von einem Leben in der DDR auf sich wirken lassen? Die Ergebnisse dieser Untersuchung sind Teil einer hermeneutischen Betrach­tung und Interpretation des vorliegenden Materials. Das Ziel ist eine möglichst objektive Analyse und Auswertung. Wobei aber zu bedenken bleibt, dass dabei stets eigene Interessen und Voraussetzungen eine Rolle spielen und „jedes Er­innern in einem Erinnerungsdiskurs [steht], von dem man sich gegebenenfalls explizit abgrenzen muss“ [22].

1.3 Literaturlage und Forschungsstand

Es ist davon auszugehen, dass Menschen sich schon seit der Antike mit der „Stif­tung, P ege und Re exion des kulturellen Erbes“ [23] beschäftigen. Eine wissen­

schaftliche Erforschung dieses Phänomens und damit des kollektiven Gedächt­nisses einer Gesellschaft setzte jedoch erst mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ein. Dabei rückte vor allem der gemeinschaftliche Bezug auf die Vergangenheit in den Fokus der kulturwissenschaftlichen Theoriebildung. [24] Der französische

Soziologe Maurice Halbwachs und der deutsche Kunst- und Kulturwissenschaft­ler Aby Warburg haben mit ihren Studien den Grundstein für eine wissenschaft­liche Auseinandersetzung mit dem von ihnen erstmals so benannten „kollektiven Gedächtnis“ gelegt. Ihnen ist die Erkenntnis zu verdanken, „dass Kultur und ih­re Überlieferung Produkte menschlicher Tätigkeit sind“ und „dass der Schlüssel zu einer Kontinuierung vergänglicher sozialer und mentaler Aspekte der Kul­tur nicht in einer Art genetischem Gedächtnis liegt, sondern vielmehr in ihrer Vermittlung durch soziale Interaktion und Festschreibung in materialen Objekti- vationen, ist Halbwachs’ und Warburgs Verdienst“ [25]. Warburg setzte sich bei sei- ner Forschung hauptsächlich mit der „materialen Dimension der Kultur“ [26] und der Rolle, die kulturelle Symbole beim Erinnerungsprozess spielen, auseinander.

Dagegen näherte sich Halbwachs dem Thema von Anfang an von einem sozio­logischen Standpunkt aus. Ihn beschäftigte vor allem „die aktive, bewusste, kon­struktive und Bedürfnissen der Gegenwart entsprechende Aneignung einer iden­titätsbezogenen Vergangenheit durch soziale Gruppen“ [27]. Da sich das folgende

Kapitel noch genauer mit einzelnen Theoremen aus Halbwachs’ Werk „Das Ge­dächtnis und seine sozialen Bedingungen“ befassen wird, sei an dieser Stelle nur noch so viel gesagt: Auch wenn Maurice Halbwachs' Theorie vom kollektiven Gedächtnis während des Zweiten Weltkriegs und in der Zeit danach zunächst in Vergessenheit geriet, so kann doch heute kaum eine thematische Abhandlung ohne einen Verweis auf den Franzosen und seine Erkenntnisse auskommen. [28]

In den 1980er Jahren begann die Kulturwissenschaft sich wieder intensiver mit dem Thema „Gedächtnis“ zu beschäftigen. Besonders hervorgetan hat sich da­bei u.a. der französische Historiker Pierre Nora mit seinem Konzept von den lieux de mémoire, den Erinnerungsorten. Er ging davon aus, dass das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft mit bestimmten Orten, Institutionen aber auch Ge­stalten oder Begriffen zusammenhängt. Kritisiert wurde er vor allem dafür, dass er seine anfangs recht klare Definition im Verlauf seiner Arbeit mehr und mehr selbst dekonstruierte, sodass am Ende beinahe alles zu einem Erinnerungsort hatte werden können. [29] Einige Jahre später griff Aleida Assmann das Thema der Erinnerungsorte wieder auf und erarbeitete eine genaue Unterscheidung „zwi­schen Medien und Topoi des kulturellen Gedächtnisses“ [30] Gemeinsam mit ihrem Mann Jan Assmann hat sie darüber hinaus auch die Halbwachs’schen Grundge­danken weiterentwickelt. Mit ihrer Idee von einem kulturellen Gedächtnis haben sich die Assmanns national wie international einen Namen gemacht. Das zen­trale Verdienst ihrer Theorie ist es, „die Verbindung von Kultur und Gedächtnis systematisch, begrif ich differenziert und theoretisch fundiert aufgezeigt zu ha­ben“ [31]. Auf dem Konzept der Assmanns baute schließlich der eigens ins Leben gerufene und interdisziplinär arbeitende Gießener Sonderforschungsbereich 434 Erinnerungskulturen seine Untersuchungen auf. Zwischen 1997 und 2008 be­schäftigten sich namhafte Wissenschaftler unter anderem mit der Frage nach den Bedingungen von kollektiver Erinnerung, mit der Ausbildung einzelner Erinne­rungskulturen und den verschiedenen Formen von Erinnerung. [32]

An dieser Stelle ließen sich noch zahlreiche weitere Forschungen zum Gedächt­nis und seiner Funktion finden, doch um den theoretischen Teil dieser Arbeit nicht Überhand nehmen zu lassen, beschränkt sich die Auswahl grundlegender Theorien und Konzepte auf die hier erwähnten. Auch die DDR, ihre Kulturpolitik und das Filmwesen betreffend gibt es unzählige wissenschaftliche Abhandlun­gen. Zumeist stehen dabei allerdings eher die Politik der SED und deren Auswir­kungen im Mittelpunkt [33]. Filmbesprechungen beschäftigen sich eher mit der oft schwierigen Publikationsgeschichte der DEFA-Filme, die von Zensur und Auf­führungsverboten geprägt war, statt mit deren Alltagsdarstellung. Welche Be­deutung Filme für das kulturelle Gedächtnis haben und wie sie das Bild, das sich eine Gesellschaft von der Vergangenheit macht, beein ussen, wurde in den letzten Jahren in diversen Schriften thematisiert. Dabei wurden bisher vor allem Historienfilme untersucht, während die Rolle historischer Filme weitgehend un­beachtet blieb. Thematisch stand häufig der Nationalsozialismus, und dabei im besonderen Maße der Holocaust, im Mittelpunkt [34] ; die DDR und der Alltag ih­rer Bürger finden dagegen noch wenig Beachtung. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird der Versuch unternommen, eine Verbindung zwischen den Themen­bereichen Das kulturelle Gedächtnis und[35] Die DDR im Film (mit Fokus auf der Alltagsdarstellung) herzustellen und herauszufinden, wie sie sich gegebenenfalls korrelativ beein ussen.

2 Theoretische Grundlagen

Kaum ein Tag vergeht, an dem wir nicht auf die eine oder andere Weise mit Geschichte konfrontiert werden: Sei es durch den Fachunterricht in der Schule, die Anekdote der Eltern oder Großeltern beim gemütlichen Kaffeetrinken oder den Historienfilm im Abendprogramm des Lieblingsfernsehsenders. Wir hören und sehen Geschichten über die Geschichte, Erinnerungen und Bilder, die andere Menschen „von ihrer eigenen Vergangenheit und der ihrer Gesellschaft haben“

An Gedenktagen rufen wir uns historische Ereignisse ins Gedächtnis, bei denen wir oft selbst nicht dabei waren und an die wir somit keine eigene aktive Erin­nerung haben. Es stellt sich doch die Frage, warum es so wichtig ist, dass wir uns einer Vergangenheit besinnen, die wir nicht erlebt haben. Das Erinnern ist „ein wichtiger Faktor bei der Identitätsbildung und der politischen Meinungsbil­dung“ [36]. Dies wurde bereits vor über 100 Jahren von Friedrich Nietzsche und Maurice Halbwachs festgestellt. [37] Der Sozialpsychologe Harald Welzer nennt noch einen weiteren Grund: Er ist der Ansicht, die menschliche Fähigkeit, „auf eine Vergangenheit zurückblicken zu können, hat den Zweck, Orientierungen für zukünftiges Handeln zu ermöglichen“ [38].

An dieser Stelle steht zunächst das Thema Gedächtnis im Vordergrund: seine Rahmenbedingung, seine verschiedenen Ausformungen und sein Verhältnis zur Geschichtsschreibung. Es werden theoretische Ansätze von u.a. Maurice Halb­wachs, den Assmanns und Harald Welzer herangezogen und analysiert. Im wei­teren Verlauf des Kapitels wird die Beziehung zwischen dem kulturellen Ge­dächtnis und Medien im Allgemeinen sowie dem Medium Film im Speziellen herausgearbeitet. Auch das momentan vorherrschende Bild von der DDR wird angesichts der Thematik der späteren Beispielanalyse Beachtung finden.

2.1 Gedächtnis und Erinnern

Indem Menschen sich an zurückliegende Dinge, an einst gemachte Erfahrungen oder Erzählungen anderer über die Vergangenheit erinnern, gewinnen sie Hin­weise und Hilfestellungen, an denen sie sich im Hinblick auf die Zukunft orien­tieren können. Im Gedächtnis verankerte Erinnerungen beein ussen unsere Ent­scheidungen und unser Handeln. Gleichzeitig sind sie aber auch essentiell für die Entwicklung einer eigenen Identität und die Vermittlung eines Zugehörigkeits- gefühl. Etwas gemeinsam erlebt zu haben und sich diese Momente gemeinsam wieder ins Gedächtnis zu rufen, lässt ein einzigartiges Wir-Gefühl, ein Gefühl des Zusammengehörens aufkommen.

Erinnerungen sind die „Ergebnisse eines subjektiven und selektiven Konstruk­tionsprozesses“ [39], also nie wirklich objektiv oder neutral. Was schwerpunktmä­ßig im Gedächtnis bleibt, wird von den jeweiligen politischen Verhältnissen und den gesellschaftlichen Begebenheiten einer Zeit geprägt. Daher können Erinne­rungen auch wie kein anderes Dokument Aufschluss über Sinnhorizonte und Wertevorstellungen geben. Sie liefern einen Eindruck davon, „wie frühere - möglicherweise bereits von der Zeitgeschichte und Sozialforschung systema­tisch und strukturell beschriebene - Gesellschaftszustände individuell wahrge­nommen, genutzt und erlebt wurden“ [40]. Äußere Ein üsse können aber auch da­zu führen, dass „unsere lebensgeschichtlichen Erinnerungen, also das, was wir für die ureigensten Kernbestandteile unserer Autobiographie halten, gar nicht zwingend auf eigene Erlebnisse zurückgehen müssen, sondern oft aus ganz an­deren Quellen, aus Büchern, Filmen und Erzählungen etwa, in die eigene Le­bensgeschichte importiert werden“ [41]. Auf diesen Aspekt und das Problem der sogenannten „Quellenamnesie“ wird zu einem späteren Zeitpunkt noch genauer eingegangen.

2.1.1 Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen

Mit dem Gedächtnis und seinen sozialen Bedingungen [42] hat sich in der ers­ ten Hälfte des 20. Jahrhunderts der französische Soziologe Maurice Halb­wachs (1877-1945) näher beschäftigt. Seine Theorie bildet die Grundlage für einen Großteil der aktuellen sozial- und kulturwissenschaftlichen Gedächtnisfor­schung. Als erster entwickelte und prägte er den Begriff des kollektiven Gedächt­nisses, der „mémoire collective“. Im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen „Henri Bergson und Sigmund Freud etwa, die Erinnerung als einen rein individuellen Vorgang“ [43] betrachteten, interessierte sich Halbwachs von Anfang an nur für die soziale Bedingtheit des individuellen Gedächtnisses der Menschen und dessen Konstituierung im kollektiven Miteinander.

Maurice Halbwachs vereint mit seiner Theorie von der sozialen Bedingtheit des Gedächtnisses zwei unterschiedliche Konzepte, die grundlegend für das Ver­ständnis vom kollektiven Gedächtnis sind: Zum einen sieht er es „als organi- sches Gedächtnis des Individuums, das sich im Horizont eines soziokulturellen Umfeldes herausbildet“, und zum anderen „als der durch Interaktion, Kommuni­kation, Medien und Institutionen innerhalb von sozialen Gruppen und Kulturge­meinschaften erfolgende Bezug auf Vergangenes“ [44]. Halbwachs zufolge ist das Gedächtnis auf Bezugsrahmen angewiesen, die es ihm ermöglichen, „Erinne­rungen zu fixieren und wiederzufinden“ [45]. Die Vergangenheit wird dabei nicht einfach bewahrt, sie wird mit Hilfe neuerlicher Gegebenheiten vom Gedächt­nis rekonstruiert. Die so entstehenden Erinnerungen sind im Gegensatz zu den Rahmen, durch die sie hervorgerufen werden, ganz individuell. Menschen, die einer spezifischen Gruppe angehören, können den gleichen Bezugsrahmen für die Rekonstruktion ganz unterschiedlicher Erinnerungen an die Vergangenheit haben. [46] Die soziale Gruppe ist nicht nur als Bezugsrahmen von zentraler Be­deutung; „ohne sie können Sinnwelten weder entstehen noch weitergegeben wer­den“ [47]. Die Existenz beständiger Gruppen ist für den Soziologen eine Vorausset­zung dafür, dass ein Mensch sich überhaupt erinnern kann. Sich allein, also ohne die Unterstützung anderer, an etwas zu erinnern, ist nach Halbwachs auf Dauer nicht möglich. Die meisten Erfahrungen werden im Kreise anderer Menschen gemacht und zu einem späteren Zeitpunkt auch gemeinsam wieder erinnert. Sich im Gespräch über zurückliegende Geschehnisse auszutauschen, ist unerlässlich für beständige Erinnerungen. Neben den sozialen Gruppen wie Familie, Religi­onsgemeinschaften und/oder Freizeitvereinen gehören auch die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse sowie die Massenmedien zu den Bezugsrahmen für das menschliche Gedächtnis. Zugleich nehmen sie auch Ein uss auf dieses:

Während die einen das Erinnern bestimmter Dinge begünstigen, können andere es wiederum behindern. Ausschlaggebend für die Erinnerungen ist, was für die den Menschen umgebenden Gruppen, Medien und Machthaber zum jeweiligen Zeitpunkt wichtig ist, welche Ideen oder Bilder sie am interessantesten finden. [48]

2.1.1.1 Erinnern stiftet Gemeinschaft

Jan Assmann formuliert den Zusammenhang zwischen individueller Erinne­rung und den sozialen Bedingung unter Bezugnahme auf Maurice Halbwachs wie folgt: „Subjekt von Gedächtnis und Erinnerung bleibt immer der einzelne Mensch, aber in Abhängigkeit von den ‘Rahmen’, die seine Erinnerung orga­nisieren.“ [49] Kollektives und individuelles Gedächtnis bedingen sich also gegen- seitig: Jeder Einzelne ist beim Prozess des Erinnems auf die Unterstützung der Gruppe in Form von Kommunikation und Interaktion angewiesen, genauso wie sich ein gemeinschaftliches Gruppengedächtnis nicht ohne die Wahrnehmungen einzelner Gruppenangehöriger konstituieren ließe. Mit dem kollektiven Gedächt­nis entsteht demnach eine Gemeinschaft sich Erinnernder und „die Teilhabe am kollektiven Gedächtnis zeigt an, dass der sich Erinnernde zur Gruppe gehört“ [50].

Der gemeinschaftliche Vergangenheitsbezug ist wichtig für die Identitätsent­wicklung eines Menschen, für das Empfinden eines Zugehörigkeitsgefühls. Das individuelle Gedächtnis ist einerseits einzigartig, andererseits aber auch stets nur Teil eines oder mehrerer Gruppengedächtnisse. Eine Erinnerung hat daher zwei Aspekte: das Allgemeine, das alle Mitglieder einer Gruppe kennen, und das Ein­zigartige, von dem nur das Individuum selbst weiß. [51]

Das Entstehen einer „Erinnerungskultur setzt die Empfindung vor Differenz vor­aus“ [52]. Das heißt, erst eine spürbare Diskrepanz zwischen den Verhältnissen von einst und heute bringt die Menschen dazu, sich zu erinnern und sich dieser Un­terschiede bewusst zu werden. Von der Vergangenheit bleibt dabei meist nur, was die Gesellschaft in jeder Epoche mit den gegenwärtigen Bezugsrahmen zu rekonstruieren in der Lage ist. [53]

Gesellschaftliche Gruppen und Institutionen versuchen, ihre Existenz, ihre Identität und ihre Macht über eine jeweils passende Erinnerung zu legi­timieren. Die Vergangenheit ist immer an den Interessen der Gegenwart ausgerichtet. Das heißt, die aktuellen Bedürfnisse gesellschaftlicher Grup­pen und Institutionen bestimmen, wie Geschichte konstruiert und ausge­legt wird. Somit ist die historische Wahrheit immer abhängig von den an die Fakten gestellten Fragen. [54]

Das Gedächtnis kann, je nachdem welche Bezugsrahmen gerade dominieren, sei­nen Schwerpunkt wechseln. Damit können sich gleichzeitig auch die Prinzipien, Interessen oder Urteile eines Menschen ändern. [55] Diese Ansicht vertrat neben

Maurice Halbwachs auch Aby Warburg. In seiner Arbeit betont er „die für jede Zeit und jeden Ort typischen Veränderungen und Aktualisierungen des sozialen Gedächtnisses“ [56]. Was wiederum notwendigerweise Auswirkungen auf die Sicht der Vergangenheit hat, denn unter anderen Umständen und Rahmen wird auch anders erinnert. Es werden neue Erinnerungsschwerpunkte gesetzt, wodurch je­weils andere Aspekte in den Mittelpunkt rücken bzw. in Vergessenheit geraten.

Dieser neue Kontext schreibt sich schließlich fest und wird Teil der aktuellen Er­innerung. Harald Welzer erklärt sich so „die permanente Veränderung nicht nur der individuellen, sondern auch der kollektiven Erinnerung“[57]

2.1.1.2 Die Gefahr des Vergessens

Der Mensch braucht also, um die Vergangenheit rekonstruieren zu können, äuße­re Bezugsrahmen und die kommunikative Unterstützung sozialer Gruppen. Die Vorstellungen und Ideen der Gemeinschaft prägen das Gedächtnis des Einzel­nen - und umgekehrt. Kommt es nun dazu, dass sich Rahmenbedingungen und Ansichten ändern oder ganz wegfallen, besteht die Gefahr, dass alle daran gebun­denen Erinnerungen sich ebenfalls au ösen und verschwinden. [58] Im kollektiven

Gedächtnis hält sich nur, wofür sich die Gemeinschaft als Ganzes am meisten interessiert. Alles Andere gerät zunächst in Vergessenheit. [59] Halbwachs stellte diesbezüglich bei seinen Studien fest, dass die Gesellschaft dazu neigt, genau das „aus ihrem Gedächtnis [...] auszuschalten, was die einzelnen Mitglieder von­einander trennt, die Gruppe voneinander entfernen könnte“ [60]. Ein Prozess, den vor allem die ostdeutschen Bürger nach dem Ende der DDR und der Vereini­gung 1990 zu spüren bekommen haben. Von einem Tag auf den anderen fielen für sie diverse Bezugsrahmen weg und sie hatten sich neuen Lebensumständen anpassen und sich in die für sie unbekannte westdeutsche Gesellschaft integrie­ren müssen. Am Ende dieses Kapitels wird im Abschnitt 2.3 das aktuelle Er­innerungsbild von der DDR im kollektiven Gedächtnis etwas ausführlicher be­trachtet. Was eine Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt ausblendet oder verdrängt, ist jedoch nicht zwingend für immer verloren, denn „es kann in ma­teriellen Spuren gesammelt, aufbewahrt und einer späteren Epoche zugeführt werden, in der es neu entdeckt und gedeutet wird“ [61].

Das individuelle Gedächtnis kann unmöglich jeden einzelnen Moment, den ein Mensch je erlebt hat, speichern und zu einem späteren Zeitpunkt zum Abrufen bereitstellen. Als wichtig empfundene Ereignisse werden selektiert und bleiben erhalten, indem sie immer wieder rekonstruiert und mit anderen besprochen wer­den. Das zeigt, dass „Vergessen konstitutiv für Erinnerung überhaupt“ [62] ist. Er­ innerungen können im Laufe der Zeit an Intensität verlieren, sie verblassen oder verschwinden manchmal ganz. Ein Grund dafür kann zum Beispiel das Fehlen entsprechender Bezugsrahmen sein, es kann aber auch mit den neuronalen Ver­bindungen Zusammenhängen. Diese präsentieren im Gehirn die Erinnerung und können „im Fall einer Nichtinanspruchnahme offenbar schwächer werden und sich schließlich au ösen“ [63]. Um zu vermeiden, dass wichtige Ereignisse und Er­fahrungen einer Epoche dem Vergessen anheimfallen, sollten sie nicht nur im kommunikativ vermittelten Generationengedächtnis, sondern auch im kollekti­ven Gedächtnis fest verankert sein.

2.1.2 Vom kommunikativen und kulturellen Gedächtnis

Maurice Halbwachs hat mit seiner Theorie zum kollektiven Gedächtnis diverse Forschungsbereiche und Disziplinen beein ussen können. Teile seiner Untersu­chungen sind u.a. von der Sozialpsychologie, die sich mit den sozialen Bedin­gungen des individuellen Gedächtnisses befasst und der Oral History, in deren Zentrum das Generationengedächtnis steht, adaptiert worden. [64] Da sein „theo- retische[s] Konzept der mémoire collective als nicht ausreichend begrif ich dif­ferenziert und konsistent“ angesehen wird, haben seine „Begriffsverwendungen [...] nicht in ihrer Gesamtheit als Basis eines kulturwissenschaftlichen Theorie­entwurfs dienen können“ [65].

Der von Jan und Aleida Assmann entwickelte Begriff des kulturellen Gedächt­nisses basiert in vielen Punkten auf den Erkenntnissen von Halbwachs. Mit ih­rer Differenzierung zwischen zwei unterschiedlichen Erscheinungsformen des kollektiven Gedächtnisses, führen sie Halbwachs’ Forschung weiter und präzi­sieren diese. Die zugrunde liegende Annahme ist, dass [65] „zwischen einem kol­lektiven Gedächtnis, das auf Alltagskommunikation basiert, und einem kollekti­ven Gedächtnis, das sich auf symbolträchtige kulturelle Objektivationen stützt, ein qualitativer Unterschied besteht“ [66]. Den Assmanns zufolge gilt es den Halb- wachs’schen Begriff des kollektiven Gedächtnisses noch einmal in das „kommu­nikative Gedächtnis“ und das „kulturelle Gedächtnis“ zu unterteilen. Die beiden Gedächtnisformen unterscheiden sich in ihren Inhalten, ihrer Form, ihren Trä­gern und Medien sowie ihrer zeitlichen Struktur. [67] Das kommunikative Gedächtnis zeichnet sich durch seine Alltagsnähe aus. Es umfasst all jene „Erinnerungen, die sich auf die rezente Vergangenheit beziehen“ und jene, „die der Mensch mit seinen Zeitgenossen teilt“ [68]. Dabei werden vor­ nehmlich persönliche Erfahrungen und Hörensagen übermittelt, was dazu führt, dass das kommunikative Gedächtnis an die Lebensdauer seiner Träger gebunden ist und nach deren Tod von einem neuen Gedächtnis abgelöst wird. Jan Assmann bezeichnet die Teilhabe am kommunikativen Gedächtnis als diffus, da manch einer mehr, ein anderer dagegen weniger weiß „und das Gedächtnis der Alten reicht weiter zurück als das der Jungen“ [69]. Anders als beim kulturellen Gedächt­nis gibt es hier keine Spezialisten und Experten. Jeder gilt als gleich kompetent, dem kommunikativen Gedächtnis Erinnerungen hinzuzufügen und bestehende Erinnerungen zu deuten. Das führt dazu, dass sich dessen Inhalte von Zeit zu Zeit verändern, da ihnen sind keine festen Bedeutungen zugeschrieben. [70]

Erinnerungen, die „ihre lebendigen Bezüge und Kontexte verloren haben“ [71], werden in kulturellen Einrichtungen wie Museen, Archiven und Bibliotheken aufbewahrt. Sie gehören von da an zum kulturellen Gedächtnisses einer Gesell­schaft. Dieses ist im Gegensatz zum kommunikativen Gedächtnis nicht Teil einer bestimmten Generation und wird auch nicht „von Epoche zu Epoche neu kon­struiert, sondern [setzt] sich über die Jahrhunderte hinweg“ [72] fort. Für Jan Ass­ mann handelt es sich beim kulturellen Gedächtnis um einen „Sammelbegriff für alles Wissen, das im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Han­deln und Erleben steuert und von Generation zu Generation zur wiederholten Einübung und Einweisung ansteht“ [73]. Zwar wird es gestiftet, doch ensteht es nicht immer erst „im Nachhinein durch Einsammeln und Konservieren, sondern auch zielstrebig als Auswahl einer Botschaft und Sammlung eines Erbes für die Nachwelt einer unbestimmten Zukunft.“ [74] Das kommunikative Gedächtnis dage­gen entwickelt sich auf natürlichem Wege, indem seine Träger sich untereinander über ihre Erfahrungen und Erinnerungen austauschen.

Aleida Assmann geht noch einen Schritt weiter und spricht sich für eine weitere Unterteilung des kulturellen Gedächtnisses in „Speichergedächtnis“ und „Funk­tionsgedächtnis“ aus. [75] Dabei stellt das Funktionsgedächtnis den „aktiven“ Teil der Masse an Erinnerungen im Gedächtnis dar; jenen Teil, der einer ständigen Inanspruchnahme, Deutung und Auseinandersetzung unterliegt. Die hier befind­lichen Informationen sind mit Bedeutungen und Werten verbunden. Sie sind prä­sent im Schullehrplan, in thematischen Ausstellungen in Museen, bei Gedenkfei­ern und Ritualen. Den Gegensatz dazu bildet das „passive“ Speichergedächtnis, das einem Archiv unbewerteter Erinnerungen, „die ihre Stunde hinter sich oder noch vor sich haben“ [76], gleicht. Anhand eines Beispiels verdeutlicht Aleida Ass­mann ihre These:

Diese Unterscheidung zwischen kulturellem Speicher- und Funktionsge­dächtnis lässt sich an der Institution des Kunstmuseums veranschaulichen, das in seinen Dauerausstellungen eine Auswahl von Bildern im Bewusst­sein und Gedächtnis seiner Besucher verankert, während es in seinem Ma­gazin über einen viel größeren Bestand an Werken aller Gattungen und Epochen verfügt. [77]

Das Speichergedächtnis ist sozusagen der Hintergrund, vor dem sich das Funkti­onsgedächtnis abhebt. Die Grenze zwischen ihnen ist in beide Richtungen offen, sodass Elemente ohne große Hindernisse vom einen ins andere gelangen kön­nen. [78]

Für die Rekonstruktion von Erinnerungen - abhängig davon wie weit diese in der Vergangenheit zurückliegen - benötigen Menschen die Unterstützung sowohl des kommunikativen als auch des kulturellen Gedächtnisses. Das eine dient je­weils zur Verifizierung oder Ergänzung des anderen. Die zwei Gedächtnisformen bedingen einander, lassen sich aber nur analytisch trennen, denn der Zugriff auf sie geschieht unbewusst und unwillkürlich. Den aktuellen Bedürfnissen und Ge­gebenheiten entsprechend werden beim Prozess des Erinnerns manche Aspekte des kulturellen Gedächtnisses ab- oder aufgewertet, während andere es erweitern und/oder vervollständigen. [79]

2.1.3 Gedächtnis und Geschichtsschreibung

Es hat sich gezeigt, dass die Bilder, die eine Generation von der Vergangenheit hat, ihr auf verschiedenen Wegen näher gebracht werden.[80] Neben dem institutio­nell vermittelten Wissen und den Informationen, die über die Medien verbrei­tet werden, spielt auch die direkte Kommunikation mit anderen Menschen eine wichtige Rolle. Maurice Halbwachs unterschied in diesem Zusammenhang zwi­schen „zwei Formen des Vergangenheitsbezugs, die einander ausschließen“ seiner Schrift zum kollektiven Gedächtnis macht er deutlich, „daß [nach seiner Ansicht] die Geschichte im allgemeinen an dem Punkt beginnt, an dem die Tra­dition aufhört - in einem Augenblick, an dem das soziale Gedächtnis erlischt und sich zersetzt“ [81]. Geschichte und Gedächtnis sind für ihn unvereinbar, da Ge­schichte universal ist und versucht, alle Ereignisse der Vergangenheit gleichwer­tig darzustellen und zu behandeln. Das Gedächtnis dagegen ist partikular und an seine Träger gebunden, denn hier stehen die jeweilige Gruppe und die für sie re­levanten Erinnerungen im Mittelpunkt. In Übereinstimmung mit den Erkenntnis­sen der heutigen Geschichtsforschung ist die Anglistin und Kulturwissenschaft­lerin Astrid Erll der Ansicht, „dass die Tätigkeit der Historiker/innen keineswegs dem naiven Objektivitätsideal gerecht zu werden vermag, das noch Halbwachs seiner polemischen Gegenüberstellung von unbeteiligter Geschichte und wer­tendem Gedächtnis zugrunde legte“ [82]. Zwar ist es das Ziel der Geschichtsschrei­bung, historische Ereignisse und die Erinnerungen an sie so objektiv wie möglich zu ermitteln, sie festzuhalten und an neue Generationen weiterzugeben. Doch

Geschichtsschreibung kann nicht gänzlich frei bleiben von der subjektiven Perspektive derer, die historische Fakten in ausgewählte Zusammenhänge von Ursache und Wirkung stellen. Doch trotz solcher Einwände gegen eine gänzlich objektivierbare Historiografie: In den meisten Fällen lassen sich, zumal im Bereich der neueren Geschichte, Tatsachenbehauptungen über­prüfen und fragwürdigen Geschichtsbetrachtungen stets plausiblere entge­gensetzen. [83]

Seit Beginn der 1970er Jahre beschäftigt sich die Geschichtswissenschaft mit der Frage, „ob Geschichtsschreibung nicht selbst eine Form kollektiver Erinne­rung sei“ [84]. Erinnerungen und die in ihnen enthaltenen Informationen sind nicht „neutral“, sondern „an positive oder negative Gefühle gebundene Bilder und Ge­dächtnisinhalte“ [85]. Sie lassen sich ebenso einer Prüfung und Verifizierung durch andere Quellen unterziehen wie die Aussagen der Geschichtsschreibung - oder wie Aleida Assmann es formuliert: „Die historische Forschung ist angewiesen auf das Gedächtnis für Bedeutung und Wertorientierung, das Gedächtnis ist an­gewiesen auf historische Forschung für Verifikation und Korrektur.“ [86] Wichtig

ist, dass nicht nur der Gegenstand der Erinnerung kritisch betrachtet wird, auch der Erinnerungsprozess an sich sollte stets hinterfragt werden. Wer erinnert was unter welchen Bedingungen und Voraussetzungen? Welche Ereignisse werden hervorgehoben und welche werden vielleicht verschwiegen? [87] Besonders in mo­ dernen Unterhaltungsmedien wie Film und Fernsehen werden des Öfteren bei­läufige Geschichtsbezüge hergestellt, die zumeist unre ektiert und ungeprüft im Gedächtnis abgespeichert werden. Im Folgenden wird untersucht, welche Rolle Medien im Allgemeinen und Filme im Speziellen für das Gedächtnis spielen.

2.2 Medien als künstliches Gedächtnis

Im Laufe des vergangenen 20. Jahrhunderts sind Medien zu einem unverzicht­baren Kommunikations- und Informationsmittel avanciert. Sie sind aus dem All­tag der Menschen kaum mehr wegzudenken: egal ob Radio oder Zeitung am Morgen, Computer und Internet am Arbeitsplatz, das Handy für die mobile Er­reichbarkeit oder der Film im Kino oder Fernsehen, mit dem man den Abend ausklingen lässt. Vor allem in den westlichen Industrienationen hat nahezu jedes Mitglied der Gesellschaft Zugang zu Medien und damit auch Zugang zu media­ler gesellschaftlicher Erinnerung. Die Zahl der erinnerungskulturellen Bezüge hat auf Grund der Tatsache, dass heutzutage nicht nur mehr, sondern auch un­terschiedlichere Medien als Träger oder Anlassgeber von Erinnerung zur Ver­fügung stehen, stark zugenommen. [88] Es ist davon auszugehen, dass sich mit der rasanten Entwicklung der modernen Massenmedien neben der menschlichen Wahrnehmungs- und Speicherungsfähigkeit [89] auch die Form der individuellen Erinnerung und „die Art, wie sich Gesellschaften ihrer Vergangenheit (und damit ihrer Identität) versichern“ [90], tiefgreifend verändert haben. Mit Hilfe von moder­nen Medien wie CDs und Festplatten ist es möglich, jegliche Informationen zu speichern und auf unbestimmte Zeit festzuhalten. Angesichts der natürlich be­grenzten Lebensdauer menschlicher Zeitzeugen ist die Mediatisierung von Erin­nerung unverzichtbar. So kann vermieden werden, dass individuelle Erfahrungen und Erlebnisse genauso wie Wahrnehmungen und Wertevorstellungen einer be­stimmten Epoche in Vergessenheit geraten oder ganz verloren gehen. Wo das menschliche Gedächtnis an seine Grenzen stößt, können Medien die Funktion eines künstlichen Gedächtnisses [91] übernehmen.

2.2.1 Das mediale Gedächtnis

Für Jahrhunderte waren Menschen auf mündliche Tradierung, Rituale und Feste angewiesen, um sich die Vergangenheit vergegenwärtigen zu können. Mit dem Aufkommen der Schrift waren zwar eine „Entlastung des Gedächtnisses, un­begrenzte Speichermöglichkeit und ein Potential des Rückgriffs auf Vergange- nes“ [92] verbunden, doch davon konnten auf Grund eines weitverbreiteten Anal­phabetismus vor dem 20. Jahrhundert zunächst nur Wenige Gebrauch machen. In der heutigen Zeit beschränken sich die persönlich vermittelten Erzählungen wei­testgehend auf den Bereich des privaten Familiengedächtnisses [93], wobei selbst hier Medien als Unterstützung zum Tragen kommen. Mediale Produkte dienen „Füllmaterial für die Leerstellen in den Erzählungen, als Erklärungen für Wider­sprüche und als Lichtzeichen im Nebel der erzählten Vergangenheit“ [94] - und das nicht erst in der Zukunft, sondern bereits in der Gegenwart. So wie kulturelle Er­innerung erst durch kommunikative, soziale, kulturelle und geschichtspolitische Prozesse entsteht, erhalten auch Gedächtnismedien ihren symbolischen Wert erst im Rahmen eines bestimmten Sozialsystems und durch gewisse Formen der so­zialen Nutzung. [95] Die Art, auf welche Bücher, Fotografien oder Filme die Ver­gangenheit darstellen, hat sowohl auf das kollektive als auch auf das individuelle Gedächtnis großen Ein uss. Medien geben allen Mitgliedern einer Gesellschaft die Möglichkeit, „Wirklichkeiten zu kennen, die sie nicht ‘real’ erlebt haben“ [96]

Der Gedächtnispsychologe Harald Welzer ist der Ansicht, dass sich Spuren der Wirksamkeit der medialen Bilder ut auf die individuellen Ver­gangenheitsbilder finden [lassen], und zwar in unterschiedlicher Wirkungs­richtung: Werden bildhafte Versatzstücke und Spielfilmszenen einerseits ununterscheidbar mit autobiographischen Erlebnisschilderungen verwo­ben, dienen andererseits gerade filmische Vermittlungen und insbesondere die des Spielfilms in der Wahrnehmung der Befragten als historische Bele­ge dafür, wie die Vergangenheit wirklich war. [97]

In diesem Zusammenhang hat Welzer ebenfalls bemerkt, dass einige Menschen - zumeist vollkommen unbewusst - Informationen, die sie in Filmen gesehen und/oder Büchern gelesen haben, in ihre eigene Lebensgeschichte einarbeiten.

Er beschreibt das Problem als sogenannte „«Quellenamnesie», womit das ver­breitete Phänomen bezeichnet wird, daß ein Ereigniszusammenhang zwar kor­rekt erzählt wird, der Erzähler sich aber in der Quelle vertan hat, aus der er die Erinnerung geschöpft hat“ [98]. Es besteht demnach die Gefahr einer Vermischung individueller Erinnerungen, die auf eigenen Erlebnissen beruhen, und medial vermittelten Vergangenheitsbezügen, die durchaus fiktiver Natur sein können.

Was auf welche Art und Weise erinnert wird, bestimmen zweierlei Größen: jene Instanzen, die die Medien kontrollieren [99] und die Medien selbst, indem sie Er­innerungen transportieren und gestalten. Letztere fungieren nie als vollkommen neutrale Speicher von Informationen oder Vermittler von historischer Wirklich­keit; „vielmehr strukturieren sie unsere Wahrnehmung, indem sie ihren eigenen Logiken folgen“ [100]. Anders als bei den klassischen Printmedien wird die Wirk­lichkeit durch die elektronischen Medien nicht einfach nur abgebildet, sondern ganz neu rekonstruiert. Kollektive wie individuelle Erinnerungen werden von Bildern - seien es Fotografien, Filmbilder oder sonstige - beein usst. Bildli­che Darstellungen sind besonders anschaulich und verständlich, sie zeigen und vermitteln Emotionen, was letztlich dazu führt, dass sie besser im Gedächtnis verankert werden können als z.B. wissenschaftliche Literatur oder textuelle Er­läuterungen in Geschichtsschulbüchern. Neben Dokumentationen und Berichten über historische Geschehnisse nehmen auch Fernsehshows und fiktive Spiel- und Kinofilme immer wieder - wenn teilweise auch nur bruchstückhaften - Bezug auf die Geschichte. Dabei neigen sie dazu, „Geschichte zu personalisieren und anhand von Ereignissen darzustellen, weil sie auf bewegte Bilder angewiesen sind und für die Darstellung meist nur relativ wenig Zeit zur Verfügung steht“ Mathias Berek resümiert den Zusammenhang zwischen Bildmedien, Emotionen und Erinnerung in seinem Aufsatz „Dreiecksbeziehung. Die Rolle der Medien im Erinnerungsdiskurs“ so:

Die psychologische Gedächtnisforschung ist sich heute sicher, dass bei der Erinnerung von Erlebnissen die Gefühle entscheidend sind, mit denen das zu Erinnernde aufgenommen wurde. Einige gehen sogar soweit, die Gefüh­le, nicht das Ereignis würden erinnert. Da die (massen-)medial vermittelten Bilder selbst schon aufgrund ihrer Emotionalität dafür ausgesucht werden, es ‘auf den Schirm zu schaffen’, verstärkt sich der mediale Anteil an dem, was wir erinnern, nochmals. [102]

Audiovisuelle Medien präsentieren Vergangenes, ob in fiktiven Zusmmenhän- gen oder dokumentarisch, auf eine anschaulichere und emotionalere Weise als Sachbücher oder Informationstafeln im Museum. Sie erweitern sozusagen die bisherigen gefühlsbetonten Erzählungen von Familienmitgliedern oder Bekann­ten um die bildliche Kompenente, wodurch sich die so vermittelten Erinnerungen fester einprägen und einen dauerhaften Platz im Gedächtnis finden.

2.2.2 Der Film als Gedächtnismedium

In den vergangenen Jahrzehnten entwickelte sich der Film zum Leitmedi­um unserer Zeit. [103] Er erfreut sich immer größerer Beliebtheit sowohl als Unterhaltungs- wie auch Informationsquelle und gibt dabei häufig Anlass für Diskussionen über (eigene) Erinnerungen, Gedenken und Geschichte im Allge­meinen. Angesichts der steigenden Popularität und der Ausweitung der Applika­tion des Mediums Film befasst sich die vorliegende Arbeit mit ebendiesem, mit seiner Form der Darstellung von Geschichte und mit der Frage nach der mögli­chen Wirkung, die er hinterlassen kann. In diesem Abschnitt wird vor allem auf die Vorzüge sowie Schwächen des Films als Gedächtnismedium eingegangen.

Die Anfänge des Mediums Film reichen bis in das 19. Jahrhundert zurück. Das Besondere: Der Film „kombinierte die szenische Live-Inszenierung wie sie aus dem Theater längst bekannt war mit der Vermittlung scheinbar authentischer Wirklichkeit wie die Fotografie sie lieferte und der narrativen Grundstruktur wie man sie aus dem früheren Primärmedium des Erzählens bzw. Bänkel- und Mo­ritatensängers kannte“ [104]. Drei unterschiedliche Ausdrucksformen werden dabei zusammengeführt und das Erzählen mittels Sprache, Bildern, Gesten und Be­wegungen frei variiert. Anders als etwa im Theater „herrscht kaum Distanz, die Identifikation gelingt einfacher. Emotionen wirken beim Film direkt.“ [105]. Wie kaum ein anderes Medium verfügt der Film über eine besonders suggestive Kraft und nimmt mit Hilfe bewegter Bilder Ein uss auf seine Zuschauer und Zuschauerinnen. Komplexe historische Prozesse werden auf Grund der wenigen zur Verfügung stehenden Zeit als punktuelle Ereignisse dargestellt und weder analysiert noch mit Wertungen versehen. Eine emotionale Anteilnahme, die Ge­schichte personalisiert und erlebbar macht, steht im Vordergrund. [106] Nachgestell­ te Szenen werden zwar als solche wahrgenommen, nichtsdestotrotz fungieren Filme häufig als glaubwürdige Belege für die historische Wirklichkeit. Sie hel­fen außerdem - neben Dokumentationen, Romanen, Sachbüchern u.a. - Berichte der Eltern und Großeltern über frühere Zeiten zu bebildern, indem sie „national und international wirkmächtige Bilder von der Vergangenheit“ [107] verbreiten. Sie

schaffen „wichtige Impulse und Auslösereize für das kulturelle Gedächtnis, oh­ne selbst eines zu produzieren“ [108]. Auf Grund „ihrer Freiheit, ihre Überlegungen nicht belegen zu müssen, [kommen solch ästhetische Zugänge zur Geschich- te] dem Phänomen des kommunikativen Gedächtnisses oft näher, als es mit den sperrigen Instrumenten der wissenschaftlichen Argumentation möglich ist“ [109]

Filme liefern auf einzigartige Weise ein Bild von historischen wie aktuellen Rah­menbedingungen und dem Alltag einer Gesellschaft. Filmkritiker und Soziologe Siegfried Kracauer ist der Ansicht, dass sie „unvermittelter als andere künstleri­sche Medien“ [110] die Mentalität einer Nation widerspiegeln und zeigen, wie eine Gesellschaft sich und ihre Vergangenheit zu einem bestimmten Zeitpunkt gese­hen hat. Filme wie etwa „Nackt unter Wölfen“ (1963), „Die weiße Rose“ (1982),

„Das Leben ist schön“ (1998) oder „Napola“ (2004) geben eine Vorstellung da­von, welches Bild in verschiedenen Phasen von der Zeit des Nationalsozialismus existierte und welche Schwerpunkte jeweils bei der Erinnerung gesetzt wurden.

Filme „erweisen sich aufgrund ihres scheinbaren Realismus als besonders geeig­net, Geschichtsbilder zu fundieren bzw. zu bestätigen“ [111].

Um beim Publikum erfolgreich zu sein, versuchen viele Filme, die sich mit his­torischen Stoffen beschäftigen, bis heute dem konventionellen Anspruch gerecht zu werden, dem Publikum einen Held oder eine Heldin zu präsentieren, mit dem es sich identifizieren kann. Je nach thematischer Schwerpunktsetzung kann es sich mitunter als schwierig erweisen, diese Konvention zu erfüllen. Dabei kommt es vor, „dass die Hauptpersonen immer irgendwie menschlich verständlich han­deln - selbst wenn sie zu den Täterinnen gehören.“ [112] Filmhandlungen orientie­

ren sich oft an bereits bekannten und erfolgreichen „Erzählstrukturen wie ‘Ein­zelheld/Einzelheldin’, ‘Widerstand gegen eine Übermacht’, ‘unschlagbarer Wil­le’ oder ‘Märtyrium’ [und] führen zu einer kollektiven Erinnerung, die mit den historischen F akten nicht mehr viel zu tun hat.“ [113]

Filmbilder erwecken zwar den Eindruck, reale Begebenheiten einer früheren Zeit zu zeigen, doch der Schein trügt. Sie sind keineswegs simple Abbilder histori­scher Ereignisse. „Die filmische Wirklichkeit ist immer inszeniert. Doch diese Inszenierung gelingt manchen Regisseuren bisweilen so gut, dass ihre Bilderwelt der realen Welt scheinbar in nichts nachsteht.“ [114] Filme bieten jedoch keine ob­jektiven Darstellungen. Es beginnt schon mit den Entscheidungen darüber, was mit welcher Kameraeinstellung und aus welcher Perspektive aufgenommen wird und setzt sich beim Filmschnitt sowie der Wahl von Ton- und Spezialeffekten fort. Bilder und Szenen werden ausgewählt und arrangiert, um bei den Zuschau­ern und Zuschauerinnen die größtmögliche Wirkung zu erzielen. Sie transpor- tieren selektive Wirklichkeiten und ausgewählte Momentaufnahmen, von denen viele „nachträglich mit Bedeutung aufgeladen werden, die sie ursprünglich gar nicht hatten.“ [115] All das macht den Film zu einem subjektiven Produkt. Es be­darf daher einer umso genaueren Betrachtung und Interpretation. Filme müssen stets in einen entsprechenden Kontext gebracht und darauf untersucht werden, was sie eventuell hervorheben oder ausklammern. Ihnen wird die Fähigkeit zu­gesprochen, auf direktem Wege ins Unterbewusstsein zu gelangen, ohne dabei jedes Mal auch die Vernunft anzusprechen. Bei passiv Rezipierenden können Bildmedien „eine emotionale Wirkung [entfalten], die sogar über den Intellekt siegen kann. Ihnen gelingt die ‘seelische Manipulierung der Zuschauer’.“ [116] Ein

Effekt, den sich im Laufe der Jahrhunderte zahlreiche autoritäre Machthaber für Propagandazwecke zu Nutzen gemacht haben [117]. Doch lässt sich mit Bildern nicht nur manipulieren, sondern auch aufklären. Sie sind in der Lage Meinungen zu bilden, Wissen zu vermitteln sowie Haltungen zu erzeugen [118] - was jedoch stets mit einer angemessenen Prüfung und Kontextualisierung des Dargestellten einhergehen sollte.

Das Medium Film ist besonders gut geeignet, um Aufschluss über „gesellschaft­lich relevante Probleme und Entwicklungstendenzen“ [119] zu geben. Filmhand­ lungen werden entsprechend „auf kulturelle Entwicklungen und auf den Zeit­geist“ [120] abgestimmt. Nach Knut Hickethier werden Aspekte, die von Film und Fernsehen nicht thematisiert oder ausgelassen werden, „als bedeutungslos für die gesellscha tiche Auseinandersetzung“ [121] erklärt. Dem Film kommt damit eine entscheidende Rolle bei der Formung und Gestaltung des kulturellen Gedächt­nisses zu. Was über Kinoleinwände und Fernsehbildschirme immert, nimmt nicht nur Ein uss darauf, worüber aktuell gesprochen und diskutiert wird, son­dern auch welche Teile der Geschichte auf welche Weise erinnert und im Ge­dächtnis eventuell neu bzw. anders eingeordnet werden. Nicht zu unterschätzen sind dabei aber auch sozialsystemische bzw. in Bezug auf den Film pragmatische Faktoren wie Sendeplatz, Einschaltquoten, Marketingstrategien, die Verleihung von Preisen, öffentliche Diskussionen, die didaktische Aufbereitung der Filme und ihre Verankerung im Schulunterricht, usw. Erst ein solcher doppelter Zugang zum Erinnerungsfilm - die filmimmanente und filmtranszendieren­de Analyse - kann also grundsätzlich die Einsicht berücksichtigen, dass ein im Film durch medienspezifische Darstellungsverfahren erzeugtes, erinne­rungskulturell relevantes Wirkungspotential erst in konkreten gesellschaft­lichen Prozessen realisiert wird. [122]

Das heißt, erst durch die soziale und mediale Vernetzung werden Filme zu Leit­medien aktueller Erinnerungsdiskurse. Eine solche Einbettung in einen plurime- dialen Kontext führt dazu, dass ein Film zu einem Erinnerungsfilm und damit auch zu einem Verbreiter von Erinnerungsbildern wird. [123] In Abhängigkeit von den aktuellen politischen Diskursen und Erinnerungspraktiken können Filme re­trospektiv zu Erinnerungsfilmen gemacht oder bereits etablierte Erinnerungsfil­me, weil sie den Anforderungen nicht mehr entsprechen, wieder in den Status eines Films zurückversetzt werden. [124] Mit Hilfe von Filmen können ausgewählte historische Themen schlagartig wieder an Brisanz gewinnen, „öffentliches Ge­denken kann [...] einen neuen erinnerungskulturellen Status erhalten, [...] Erinne­rungsbedürfnisse können entstehen oder aber bestehende Erinnerungspraktiken können durch Filme erst bewusst gemacht werden“ [125].

2.3 Die DDR im kollektiven Gedächtnis

Medien vermitteln Wissen über historische Ereignisse, nehmen Vorstellungen über die Vergangenheit auf und prägen sie zugleich - so auch in Bezug auf die DDR. Was für einen Großteil der westdeutschen und jüngeren ostdeutschen Bundesbürger, die die DDR nicht selbst erlebt haben, häufig nicht viel mehr als „historisch-politische Bildung mit hohem Unterhaltungswert“ ist, „wird von be­troffenen Ostdeutschen mit persönlichem Erleben und der eigenen Biographie abgeglichen“ [126]. Letztere sind bei medialen Darstellungen anders angesprochen, da für sie die Geschichte der DDR stets auch eine Thematisierung eines Teils ihrer eigenen Lebensgeschichte und Identität bedeutet.

Ziemlich genau 40 Jahre lang hatte es zwei Staaten deutscher Nation auf dem Ge­biet der heutigen Bundesrepublik gegeben. Während nach dem Ende des Zwei­ten Weltkriegs in der östlichen Besatzungszone eine sozialistische Volksrepublik nach sowjetischem Vorbild, die Deutsche Demokratische Republik, aufgebaut wurde, setzten die westlichen Besatzungsmächte Großbritannien, Frankreich und die USA bei der Bundesrepublik Deutschland nach 1949 auf Demokratie und freie Marktwirtschaft. In der DDR führten Mangelwirtschaft und Einschränkun­gen u.a. der Meinungs- und Reisefreiheit zu Unzufriedenheit im Volk. Im Lau­fe der Jahre wanderten mehrere Millionen DDR-Bürger nach Westdeutschland aus, weil sie sich dort ein wirtschaftlich besseres und freieres Leben erhofften.

Ende der 1980er Jahre gipfelte die Missstimmung in einer „friedlichen demo­kratischen Revolution in der DDR durch das Volk“ [127]. Mit der anschließenden

Öffnung der Mauer im November 1989 und dem damit einhergehenden Bei­tritt des Staatsgebietes der DDR zur BRD „vollzog sich in Ostdeutschland eine rasche und tief greifende Transformation“ [128]. Die bundesdeutschen Strukturen, Institutionen und Normen aus Wirtschaft, Technik, Recht, Medien, Verwaltung u.a. wurden vollständig übernommen. Die Ostdeutschen sind „aus ihren gewohn­ten gesellschaftlichen Zusammenhängen herausgerissen worden. Sie haben ihre Ursprungsgesellschaft überlebt und fanden sich nach der Au ösung bzw. Zerstö­rung fast des gesamten institutionellen Gefüges und der früheren Sozialstruktur in einer gänzlich anderen Gesellschaft.“ [129] Sie waren auf einmal fremd im eige­nen Land, mussten sich umstellen und vieles neu erlernen.

Im vereinten Deutschland entwickelten sich nach 1990 „zwei unterschiedlich ge­prägte Erinnerungskulturen. Während die Geschichte der alten Bundesrepublik als ‘Erfolgsgeschichte’ einer geglückten Demokratie erzählt wird, ist die ostdeut­sche Erinnerungskultur von der Erfahrung eines radikalen Bruchs geprägt." [130]

Dass die Geschichte des realexistierenden Sozialismus in Ostdeutschland „aus­schließlich ausgrenzend und die DDR als rechtskräftig beendetes Kapitel Feind­geschichte behandelt“ [131] wurde, nährte nicht nur Totalitarismustheorien, die die zweite Diktatur auf deutschem Boden einem direkten Vergleich mit dem Natio­nalsozialismus unterzogen. Auf diese Weise wurden die persönlichen Geschich­ten und lebensweltlichen Erinnerungen vieler Ostdeutscher übergangen. Was sie tagtäglich erlebt und erfahren hatten, fand „keinerlei Beachtung im öffentlichen kommunikativen Gedächtnis“, sodass „mehrheitlich zerstreute Erinnerungsge­meinschaften“ entstanden. [132] Zwar wurden ab Mitte der 1990er Jahre vereinzelt Studien zur Alltags- und Sozialgeschichte der DDR durchgeführt, doch die öf­fentliche Gedenkpolitik blieb davon noch weitgehend unberührt. Etwa zur glei­chen Zeit fand das Bedürfnis zahlreicher ehemaliger DDR-Bürger, ihre indivi­duellen Lebensgeschichten zu bewahren sowie der Abwertung ihres Wertesys­tems entgegen zu wirken, in einer Welle der nostalgischen Erinnerung an die DDR, auch „Ostalgie“ genannt, ihren Ausdruck. In Anbetracht des Zusammen­bruchs und der Abwertung ihrer bisherigen Lebenswelt empfanden sie etwas, das Maurice Halbwachs „Heimweh nach der Vergangenheit“ [133] nannte. Der Wegfall

wichtiger Rahmen in allen Lebensbereichen (dazu gehörten u.a. Arbeit, sozia­le Sicherheit oder das Geschlechterverhältnis) machte sich mehr und mehr be­merkbar. Kritiker befürchteten, dass die Sehnsuchtsgefühle der Ostdeutschen zu einer Romantisierung oder „Weichzeichnung“ der Diktatur und Relegitimierung der DDR führen könnte. Dem Historiker Martin Sabrow zufolge geht eine sol­che Gefahr jedoch hauptsächlich von einer Erinnerungspolitik aus, „die sich der kommunikativen Erinnerung an die gelebte DDR verweigere und die 40jährige Diktaturvergangenheit auf ihre menschenverachtende Brutalität reduziere“ [134].

Die Diskurse und das Wissen über die ehemalige DDR und die Ostdeutschen wurden in den 1990er Jahren besonders dadurch bestimmt, dass „die überregio­nalen meinungsführenden Sendeanstalten und Qualitäts-Blätter den kleinen Ost­Markt ohne große redaktionelle Veränderungen übernehmen“ konnten und das Führungspersonal für die „in den Neuen Bundesländern geschaffenen öffentlich­rechtlichen Sendeanstalten aus dem Westen stammte - und zumeist auch das der restrukturierten regionalen ostdeutsche [sic] Tageszeitung“ [135]. Kurz gesagt: Zu­ nächst entschieden westdeutsche Redaktionsleiter darüber, welche Darstellung von den Ostdeutschen medial vermittelt wird. Dieses Bild hat sich fest in das kommunikative Gedächtnis eingeschrieben. Selbst neue Erkenntnisse aus wis­senschaftlichen Studien, „die die ‘Andersartigkeit’ der Ostdeutschen und die da­mit verbundenen Klischees relativieren“ [136], kommen nur schwer dagegen an.

Das liegt daran, dass dieses neue Wissen von den Medien nur „selektiv aufge­nommen, verstärkt oder eben hartnäckig ignoriert“ [137] wird. Medien und die dort

behandelten Diskurse sind schließlich ein wichtiger Faktor bei der Konstruktion von Wirklichkeit. Thomas Ahbe hat im Rahmen einer Studie untersucht, wie die Ostdeutschen in westdeutschen Medien-Diskursen in den Jahren 1989/90 und 1995 dargestellten wurden und kam dabei zu folgendem Ergebnis:

Die Ostdeutschen treten als Helden der friedlichen Revolution auf oder als konsumfixiertes und autoritätsabhängige Konformisten. Sie erscheinen als SED-Apparatschiks und Stasi-Spitzel oder als nationalistisch aufgeheizter Mob, der nach Wiedervereinigung schreit und Ausländer jagt. Daneben fi­gurieren die Ostdeutschen auch als Helden des wirtschaftlichen Umbruchs beziehungsweise als dessen sympathische Verlierer. Man zeigt sie als Re­bellen, die ungerechte Verhältnisse engagiert und kreativ in Frage stellen oder eben als kleinbürgerliche Stehaufmännchen, die sich nach jedem auch noch so tiefen Einschnitt immer wieder nur in gewohnter Weise in ihrer kleinen Welt einzurichten versuchen. Die neuen Mitbürger erscheinen als ‘durch die Diktatur psychisch deformierte Charaktere’, als nörgelnde Quäl­geister, die nicht willens oder fähig sind, Chancen zu ergreifen und Ver­antwortung für ihr Leben zu übernehmen. Und sie treten als unbelehrbare Leugner der DDR-Verbrechen auf, die an den falschen Demonstrationen teilnehmen und die falschen Parteien wählen. [138]

Wiederkehrende Berichte in Radio und Fernsehen, Zeitungen und Magazinen festigten die überwiegend negativ konnotierten Beschreibungen von ehemali­gen DDR-Bürgern in den Köpfen der westdeutschen Bevölkerungen. Dieser war es unverständlich, warum viele Ostdeutsche vergangenen Zeiten nachtrauerten, wenn sie doch nun - nach Sicht so mancher Westdeutscher - in einem besseren Land lebten. Heutzutage sind solche Darstellungen zwar nicht mehr ganz so do­minant wie noch zu Beginn der 1990er Jahre, doch als implizite Erinnerungen halten sie sich weiterhin im kommunikativen Gedächtnis.

Vorurteile und Klischees werden von Eltern und Großeltern an die nachfolgen­den Generationen weitergegeben und so konserviert. Denn durch die soziale Pra­xis lernen Kinder von den sie umgebenden Personen, wie sie sich anderen Men­schen gegenüber verhalten, in welchen Situationen sie sich zurückhalten oder sogar den Kontakt gänzlich meiden sollten. So können sich unbewusst erste Ste­reotypen im impliziten Gedächtnis festsetzen, die sich dann jeder subjektiven Steuerung entziehen, da sie nicht re exiv sind. [139] Hinzu kommt, dass die Einstel­lung der Nach-Wende-Generation zur ehemaligen DDR und zur Deutschen Ein­heit heute von Desinteresse und Unkenntnis gekennzeichnet sind. [140] Das Bild, das ost- und westdeutsche Jugendliche von der DDR haben, ist zum einen ge­prägt von den Erfahrungen und Ansichten ihrer Bezugspersonen, zum anderen spielt aber auch der durch die Medien geführte Diskurs weiterhin eine nicht zu verachtende Rolle. Die Stasi-Thematik wird inzwischen zwar differenzierter und weniger kritisch behandelt, doch das allgemeine Interesse der Medien an der DDR geht seit Jahren zurück. Die wenige Berichterstattung ist bestimmt von ne­gativen Aspekten und Vorkommnissen in den neuen Bundesländern, was nicht dazu beiträgt, dass Vorurteile überwunden werden. [141]

In welchem Maße jeder Einzelne bereit ist, sich zu erinnern und zu gedenken, ist abhängig vom jeweiligen Verhältnis „zur eigenen Geschichte, zur Geschichte des eigenen Volkes und abhängig vom Grad der Identifizierung mit Volk, Staat und Nation“ [142]. Wer seiner Gemeinschaft nahe steht, sich sogar mit ihr identi­fizieren kann und dessen Geschichte auch als Teil der eigenen empfindet, der ist eher bereit die Erinnerungen zu bewahren. Aktuelle Bedürfnisse und Inter­essen gesellschaftlicher Gruppen und Institutionen bestimmen die Ansprüche, die ein Vergangenheitsbild erfüllen muss, und prägen so - wie schon Maurice Halbwachs feststellte - das kollektive Gedächtnis. [143] Bei der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der DDR kommt dem Medium Film, genauer gesagt dem Spielfilm, eine zentrale Rolle zu. Filme etablieren „bestimmte Geschichts­bilder an die DDR“ und sind damit „ein wichtiger Bestandteil populärer Erinne­rungskultur“ [144]. Als Medien des kollektiven Gedächtnisses nehmen Filme die zu einem spezifischen Zeitpunkt vorherrschenden Vorstellungen von der Ver­gangenheit auf und prägen diese zugleich. [145] Diesem Gedanken folgend wird nun im sich anschließenden Abschnitt der vorliegenden Arbeit anhand von Bei­spielen darauf eingegangen, wie die DDR und speziell das Alltagsleben filmisch dargestellt werden und welchen Ein uss diese Darstellung auf das kollektive Ge­dächtnis nehmen kann - heute und in Zukunft.

3 Die DDR im Film

In den letzten Jahren ist mehrfach in Aufsätzen und Monographien, wissen­schaftlichen Abhandlungen und Vorträgen, aber auch in populären Filmen, wel­che dann wiederum von Fachpresse und Wissenschaft besprochen wurden, auf die DDR und ihre Geschichte eingegangen worden. Im Mittelpunkt standen da­bei bisher vor allem Aspekte des politischen Systems wie beispielsweise die Mangelwirtschaft, die Zensur von Kunst, Kultur und Medien sowie die Über­wachungsmaßnahmen durch die Staatssicherheit. Darstellungen des ganz All­täglichen, wie des privaten Familienlebens, sind dagegen noch spärlich gesät.

Sie sind aber entscheidend für die Erfüllung bestimmter Erinnerungsbedürfnisse insbesondere der älteren Bevölkerung der ehemaligen DDR. Wie gezeigt wur­de, nehmen Filme dank ihrer audiovisuellen Komponente bei der Rekonstrukti­on, Neu- oder Umprägung von Erinnerungen einen besonderen Standpunkt ein.

Im Rahmen dieser Untersuchung werden die bereits erwähnten DEFA-Filme so­wie „Weissensee“ herangezogen. Während die Filme der DDR einen „sozial­historisch relevanten Blick in die Sozialwelt, d.h. i.S. Siegfried Kracauers einen Zugang zu den Menschen, ihren Imaginationen, ihren Hoffnungen und Träu­men, eröffnen“ [146], bietet die zeitgenössische Serie einen Einblick in das heutige Bild vom damaligen Leben. Vor der Analyse der einzelnen Filme wird zunächst ein kurzer Abriss der Kultur- und Filmpolitik der DDR vorangestellt, um nach­vollziehen zu können, warum gewisse Filme zu einer bestimmten Zeit entstehen konnten und andere nicht. Neben einer kurzen Betrachtung der Darstellungsmög­lichkeiten von Alltag im Film werden auch die Leitfragen und Analysekriterien noch einmal konkretisiert.

3.1 Film- und Kulturpolitik in der DDR

Die sich am Vorbild des sowjetischen „großen Bruders“ orientierende Kultur­politik der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland (SED), der regierenden Partei in der DDR, ist Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Monographien und Aufsätze. Ihr Ein uss auf sämtliche Medien der DDR ist unbestreitbar, wes­halb sie auch an dieser Stelle - zumindest in komprimierter Form - Erwähnung finden muss. Es wird zu zeigen sein, inwiefern die hier besprochenen DEFA- Filme von der Kulturpolitik geprägt wurden und ob es möglich ist mit Hilfe der verschiedenen Filme die einzelnen Phasen, in die sich die Kulturpolitik untertei­len lässt, nachzuvollziehen. Der Begriff Kulturpolitik umfasst zwar noch weitere Bereiche, doch da ausschließlich filmische Werke analysiert werden, kann eine Beschränkung auf die Filmpolitik im Speziellen als sinnvoll erachtet werden.

Die SED, die 1946 aus einer Zwangsvereinigung der KPD und SPD hervorge­gangen war, hatte von Anfang an mit dem Problem zu kämpfen, dass sie neben ihrer „selbstverschafften historischen Legitimation nicht auch über eine demo­kratische Legitimität“ [147] verfügte. Die Zustimmung und Unterstützung der Be­völkerung musste sich die Partei erst verschaffen. Erreicht werden sollte dieses Ziel „durch Indoktrination, durch Erziehung und endlose Überzeugung; das Mit­tel dafür hieß bei der SED Agitation und Propaganda“ [148]. Bei der Umgestaltung der Gesellschaft und der Erziehung der Bevölkerung im Sinne des Sozialismus setzte die SED zum einen auf die Mithilfe der verbliebenen und/oder aus dem Exil zurückgekehrten Künstler und Intellektuellen; zum anderen war sie sich von Anfang an über die Macht der Medien im Klaren und schuf sich ein „Medien- und Meinungsmonopol [...]; Leitung, Lenkung und Kontrolle aller Medien, also Buch, Presse, Film und Fernsehen, lagen vollständig in ihrer Hand“ [149].

Eine entscheidende Rolle kam dabei dem Film zu, da ihm die Fähigkeit zuge­sprochen wurde, „die Massen zu mobilisieren und für die Politik der Regieren­den zu gewinnen.“ [150] In der Sowjetunion war es mit Hilfe des Films gelungen, auch die ländlichen Regionen und Gebiete mit einer hohen Analphabetenquote schnell und umfassend zu erreichen. Diesem Beispiel folgend wurde das Me­dium Film auch in der DDR genutzt, um die Herrschaft der Partei zu sichern, das System zu stabilisieren und „die Bevölkerung gezielt für politische Refor­men und Ideen der Machthaber zu gewinnen“ [151]. Was bedeutete, dass in den

Filmstudios in Potsdam-Babelsberg, wo die 1946 als monopolistischer Filmbe­trieb gegründete Deutsche Film AG, kurz DEFA, ihren Sitz hatte, „keine reine, ober ächliche Unterhaltung, sondern anspruchsvolle, politische Kunstwerke“ [152] produziert werden sollten.

Das Filmwesen war stets ‘Chefsache’ und unterlag einer ständigen Kontrolle durch nahezu alle staatlichen Organe und gesellschaftliche Organisationen wie die FDJ oder den FDGB. [153] Beim Ministerium für Kultur wurde 1952 eigens das staatliche Komitee für Filmwesen bzw. die Hauptverwaltung Film (HV Film) eingerichtet, zu deren Aufgaben die „Leitung des Film- und Lichtspielwesens in der DDR in kulturpolitischer, kulturrechtlicher, kulturökonomischer, finanzöko- nomischer und wirtschaftlicher Hinsicht“ [154] gehörten. Hier mussten Lizenzen für Filmvorhaben eingeholt und später auch die Zulassung für die öffentliche Ausstrahlung ebendieser erbeten werden. Eine Filmabnahmekomission, die di­rekt dem staatlichen Komitee für Filmwesen unterstand, überprüfte „alle Filme, die in der Deutschen Demokratischen Republik und im demokratischen Sektor Berlins öffentlich vorgeführt oder zum Zwecke der öffentlichen Vorführung in den Verkehr gebracht werden sollen, auf ihren künstlerischen und ideologischen Wert“ [155]. Nach dem zunächst scheinbar liberalen Start in der Kulturpolitik wur­den sämtliche Medien recht schnell gleichgeschaltet und durch ein perfides Netz­werk von Kontroll- und Zensurinstanzen überwacht. Auch innerhalb der DEFA „wurden nach und nach die undogmatischen Kräfte verdrängt und durch ideolo­gisch geschulte, linientreue Parteifunktionäre ersetzt.“ [156] Damit lag die Kontrolle des für die Meinungsbildung als so wichtig angesehenen Filmwesens endgültig in der Hand der Partei.

Allen Bemühungen zum Trotz gelang es der SED nicht den „richtigen“ kulturpo­litischen Kurs zu finden. [157] Die Geschichte der DDR-Kulturpolitik ist gezeichnet von einem stetigen „Hin-und-Her zwischen Skylla und Charybdis“ [158]. Ließ sie der Kunst bzw. im vorliegenden Fall den Filmemachern zu viele Freiheiten was Inhalt und Form der Produktionen anging, zog dies unverzüglich kritische, die Missstände aufzeigende Filme nach sich. Filme, die wiederum im Nachhinein auf Grund ihrer „Darstellung einer angeblich dem ‘Sozialismus fremden Lebens­weise’ [...] eine Gefährdung für die Bevölkerung“ [159] darstellten und verboten wurden. [160] Hielt die Parteiführung die Kunst dagegen an der sprichwörtlichen kurzen Leine, bestand die Gefahr, dass „lediglich die ideologischen Thesen be­bildernde Produktionen“ [161] entstanden, die die Bevölkerung nicht sehen wollte.

Das andauernde Wechselspiel zwischen Zugeständnissen auf der einen und Re­striktionen auf der anderen Seite versetzte Regisseure wie Schauspieler in ein Di­lemma. Viele von ihnen befanden sich „in einem Spannungsfeld zwischen grund­sätzlicher Sympathie für das System und der Ablehnung von Bevormundung und Gängelei“ [162]. Einige kehrten der DDR als Konsequenz den Rücken, während die Übrigen einen Mittelweg suchten, der es ihnen erlaubte, ihre eigenen Vorstellun­gen so umzusetzen, dass das Ergebnis nicht unmittelbar von Zensur oder Verbot geprägt war. Doch um die eigenen Werke veröffentlicht zu sehen, führte kein Weg an dem jeweils aktuellen kulturpolitischen Kurs der Partei vorbei.

Ausgehend von Siegfried Kracauers These, der zufolge im Film auch immer je­ne Gesellschaft re ektiert wird, in der dieser entstanden ist, „lässt sich anhand der DEFA-Produktionen die jeweilige (kultur-)politische Situation in der DDR aufzeigen. Die Filme sind ein Spiegelbild der DDR-Gesellschaft und damit von großem historischen Wert.“ [163] Ihre Analyse kann ohne einen Exkurs über die Kulturpolitik der SED nicht auskommen, denn die strikten Vorgaben der Partei haben in unterschiedlichster Form Ausdruck in den Werken gefunden und müs­sen bei einer retrospektiven Untersuchung berücksichtigt werden.

3.2 Analysekriterien und Leitfragen

Bei der folgenden Analyse der vier DEFA-Filme wird den äußeren (kultur-)politischen Umständen der Zeit in angemessenem Umfang Rechnung getragen, so wie bei der rezenten Fernsehserie auch der aktuelle erinnerungskul­turelle Diskurs über die DDR nicht vernachlässigt wird. Das Vorgehen ist her­meneutisch orientiert, weshalb die Interpretation auf die Beantwortung gezielter Fragen ausgerichtet ist und nicht etwa auf empirisch erhobenen Daten oder Er­fahrungswerten basiert. Das heißt, es geht bei der Auseinandersetzung mit den Werken in erster Linie um ein Sinnverstehen, das „nicht von der Subjektivität des Rezipienten und des Analysierenden absehen“ [164] kann. Die Interpretation ist dennoch keine beliebige, denn das Entscheidende ist, dass sich der Analysieren­de stets über sein Vorverständnis, über „seinen Standort, seine Interessen (die sich von den Interessen und dem Standort anderer Filmbetrachter durchaus un­terscheiden können), seine Rezeptionsbedingungen“ [165] im Klaren ist und diese einbezieht.

Zu berücksichtigen gilt bei einer solchen Analyse weiterhin, dass es dem Film problemlos möglich ist mit seinen 24 Bildern pro Sekunde im Kino und 25 Bil­dern pro Sekunde im Fernsehen eine schier unendliche Menge an Informationen zu transportieren, die nicht selten über die ursprünglich intendierte Aussage des Filmemachers noch hinausgehen kann. Eine zu detailgenaue Beobachtung kann in Anbetracht der diversen en passant abgebildeten Gegenstände, Personen und Hintergrundhandlungen von dem eigentlich zu Vermittelnden ablenken. [166] Sich auf einzelne Aspekte zu konzentrieren, diese anhand von thematischen Sequen­zen herauszusuchen und zu vergleichen, ist entscheidend. Bei der Untersu­chung der filmischen Darstellung der DDR wird es vor allem um Momente des Alltags gehen: Wie wird Alltag inszeniert? Was wird gezeigt und was nicht? Welche Stimmung bzw. welches Bild wird vermittelt?

[...]


[1] Schittly 2002a: 23.

[2] Vgl. Großbölting 2010: 35.

[3] Welzer 2010: 19.

[4] Vgl. Großbölting 2010: 38.

[5] Ahbe u. a. 2002: 14.

[6] Faulstich 2005.

[7] Classen 2008.

[8] Unter diesem Titel veröffentlichte der Historiker Gerhard Paul bisher zwei Werke, die sich mit den Bildwelten des letzten Jahrhunderts befassen. Sie erschienen 2008 und 2009 beim Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.

[9] Faulstich 2005.

[10] Vgl. Hickethier 2007: 2.

[11] Welzer 2010: 19.

[12] Classen 2008.

[13] Vgl. Welzer 2010: 14, Das kommunikative Gedächtnis umfasst 80 bis 100 Jahre, was etwa dem Zeithorizont von drei bis vier Generationen entspricht. Dabei ist es an die Existenz lebendiger Träger von Erfahrung gebunden.

[14] Siehe Ebbrecht 2011: 14: Damit ist „ein vielfältig geprägtes, filmische und gesellschaftliche Konventionen aufnehmendes, fixiertes und verfestigtes ‘Bild' von der Vergangenheit, das in verschiedene Kontexte überführbar ist, also gleichsam in der visuellen Kultur migriert“ ge­meint.

[15] Siehe Erll 2011: 7, „Über die Disziplinen hinweg besteht weitgehend Einigkeit, dass Erinnern Erinnern als ein Prozess, Erinnerungen als dessen Ergebnis und Gedächtnis als eine Fähigkeit oder eine veränderliche Struktur zu konzipieren ist.“

[16] Finke 2001: 107.

[17] Vgl. ebd.: 8.

[18] Als Historienfilme gelten an dieser Stelle Filme der Gegenwart, die ein oder mehrere histori­sche Themen behandeln, während mit historischen Filmen Filme der Vergangenheit gemeint sind, die auf Grund ihrer Entstehungszeit historisch sind, aber nicht immer geschichtliche The­men behandeln.

[19] Eine Ein ussnahme auf das kommunikative Gedächtnis wird hier nicht weiter betrachtet, da

dieses sich hauptsächlich durch direkte Kommunikation mit anderen konstituiert. Ziel ist es aber, zu zeigen, welche Rolle Filme spielen können, wenn ebendiese Kommunikation nicht mehr möglich ist. Auf die genaue Unterscheidung zwischen dem kommunikativen und dem kulturellen Gedächtnis wird zu einem späteren Zeitpunkt noch näher eingegangen.

[20] Siehe J. Assmann 2007: Jan Assmann fasst unter dem Begriff des kollektiven Gedächtnisses

[21] Mit den Dreharbeiten für sechs weitere Folgen wurde bereits im September 2011 be­gonnen. Siehe dazu: http://www.daserste.de/unterhaltung/serie/weissensee/index.html, Stand: 24.7.2012

[22] http://d-a-s-h.org/dossier/11/

[23] Erll 2011: 15.

[24] Vgl. ebd.: 15.

[25] Ebd.: 23.

[26] Erll 2011: 23.

[27] Ebd.: 23.

[28] Vgl. ebd.: 16.

[29] Vgl. ebd.: 25ff.

[30] Ebd.: 27.

[31] Ebd.: 29.

[32] Vgl. Könenkamp 2009.

[33] Siehe Jäger 1994, Schittly 2002a, Gersch 2006 u.a.

[34] Siehe Wende 2011, Ebbrecht 2011, Vatter 2009.

[35] Berek 2005.

[36] http://d-a-s-h.org/dossier/11/

[37] Vgl. Erll 2011: 33.

[38] Welzer 2010: 22.

[39] Ahbe u. a. 2002: 13.

[40] Ebd.: 13.

[41] Welzer 2011: 12.

[42] Im Original: Les cadres sociaux de la mémoire

[43] Erll 2011: 16.

[44] Erll 2011: 17.

[45] Halbwachs 2006: 121.

[46] Vgl. ebd.: 183.

[47] Erll 2011: 17.

[48] Vgl. Halbwachs 2006: 195.

[49] J. Assmann 2007: 36.

[50] Erll 2011: 19.

[51] Vgl. Halbwachs 2006: 366.

[52] Maurer 2008: 38.

[53] Vgl. Halbwachs 2006: 390.

[54] Berek 2005.

[55] Vgl. Halbwachs 2006: 239.

[56] Erll 2011: 22.

[57] Welzer 2011: 234.

[58] Vgl. Halbwachs 2006: 143.

[59] Vgl. ebd.: 195.

[60] Ebd.: 382.

[61] A. Assmann 2006: 56.

[62] Welzer 2010: 23.

[63] Welzer 2011: 21.

[64] Vgl. Erll 2011: 19.

[65] Ebd.: 19.

[66] Ebd.: 30.

[67] Vgl. ebd.: 30.

[68] J. Assmann 2007: 51.

[69] J. Assmann 2007: 53.

[70] Vgl. Erll 2011: 28.

[71] A. Assmann 2006: 54.

[72] Ebd.: 53.

[73] Welzer 2011: 13.

[74] A. Assmann 2006: 55.

[75] Ebd.: 55.

[76] A. Assmann 2006: 55.

[77] Ebd.: 57.

[78] Vgl. Erll 2011: 34.

[79] Vgl. Welzer 2011: 15.

[80] Erll 2011: 18.

[81] Halbwachs in Erll 2011: 18.

[82] Ebd.: 42.

[83] Korn 2004.

[84] Erll 2011: 42.

[85] Korn 2004.

[86] A. Assmann 2006: 51.

[87] Vgl. Korn 2004.

[88] Vgl. Classen 2008.

[89] Vgl. Maurer 2008: 126f.

[90] Classen 2008.

[91] Künstlich, weil es nicht natürlich gewachsen, sondern mit technischen Mitteln einem Vorbild aus der Natur nachempfunden ist.

[92] Maurer 2008: 107.

[93] Vgl. Classen 2008.

[94] Welzer 2011: 189.

[95] Vgl. Erll u. a. 2008: 5.

[96] Belke 2010: 140.

[97] Welzer 2011: 189.

[98] Ebd.: 43.

[99] Als Beispiel sei an dieser Stelle die Nutzung der Medien zu Propagandazwecke in den Diktatu­ren des 20. Jahrhunderts angeführt. Massenmedien wie Zeitung, Radio und Fernsehen wurden dabei durch die politische Führung zensiert und gleichgeschaltet.

[100] Classen 2008.

[101] Ebd.

[102] Berek 2005.

[103] Vgl. Kötzing 2005.

[104] Faulstich 2005.

[105] Schittly 2002b: 11.

[106] Vgl. Classen 2008.

[107] Erll u. a. 2008: 4.

[108] Ebd.: 5.

[109] Welzer 2011: 16.

[110] Kracauer 1979: 11.

[111] Welzer 2011: 205.

[112] Berek 2005.

[113] Ebd.

[114] Kötzing 2005.

[115] Classen 2008.

[116] Schittly 2002b: 10.

[117] Siehe Gasperi 2009, Schattenberg 2004: Lenin machte Anfang der 1920er Jahre in der Sowje­tunion mit den Worten „Die Filmkunst ist für uns die wichtigste aller Künste.“ den Film zum bedeutendstes Mittel für die Erziehung, Ausbildung und Aufklärung der Massen, das es noch vor allen anderen Medien zu fördern galt.

[118] Vgl. Hickethier 2007: 13.

[119] Blothner 1999: 212.

[120] Ebd.: 212.

[121] Hickethier 2007: 16.

[122] Erll u. a. 2008: 6.

[123] Vgl. ebd.: 7.

[124] Vgl. ebd.: 14.

[125] Ebd.: 12.

[126] Seegers 2008: 22.

[127] Belke 2010: 136.

[128] Ahbe 2010: 60.

[129] Mühlberg 2002: 3.

[130] Seegers 2008: 38.

[131] Ebd.: 38f.

[132] Ebd.: 39.

[133] Halbwachs 2006: 154.

[134] Vgl. Sabrow in Seegers 2008: 41.

[135] Siehe Ahbe 2010: 61.

[136] Belke 2010: 137.

[137] Ahbe 2010: 62.

[138] Ahbe 2010: 108.

[139] Vgl. Welzer 2011: 29f.

[140] Vgl. Kolmer 2010: 184. Eine Studie des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Uni­versität Berlin hat gezeigt, dass das Wissen der befragten Schüler hinsichtlich der deutschen Geschichte erschreckend lückenhaft ist. Probleme zeigten sich u.a. bei der Abgrenzung von Demokratie und Diktatur. Die Ergebnisse wurden 2012 unter dem Titel „Später Sieg der Dik­taturen? Zeitgeschichtliche Kenntnisse und Urteile von Jugendlichen“ im Peter Lang Verlag veröffentlicht.

[141] Vgl. ebd.: 208.

[142] Korn 2004.

[143] Vgl. Berek 2005.

[144] Seegers 2008: 22. 1 45 Vgl. ebd.: 22.

[145] Finke 2007: 36.

[146] Finke 2007: 310.

[147] Ebd.: 310.

[148] Ebd.: 311.

[149] Schittly 2002a: 23.

[150] Schittly 2002b: 10.

[151] Ebd.: 12.

[152] Vgl. ebd.: 13.

[153] Siehe http://www.defa.de/cms/DesktopDefault.aspx?TabID=1007

[154] Schittly 2002b: 55.

[155] Schittly 2002a: 24.

[156] Vgl. Finke 2007: 415.

[157] Blunk 1984: 10.

[158] Schittly 2002a: 26.

[159] Eine Zäsur markierte beispielsweise das 11. Plenum des ZK der SED, das sogenannte „Kahl­schlagplenum“, das im Dezember 1965 abgehalten wurde. Zahlreiche Schriftsteller und Fil­memacher wurden scharf kritisiert und es kam u.a. zum Verbot einer Jahresproduktion der DEFA, darunter „Denk bloß nicht, ich heule“ von Frank Vogel und „Das Kaninchen bin ich“ von Kurt Maetzig.

[160] Vgl. Finke 2007: 331.

[161] Finke 2007: 415.

[162] Schittly 2002b: 315.

[163] Schittly 2002b: 12f.

[164] Hickethier 2007: 31.

[165] Ebd.: 31.

[166] Vgl. Blunk 1984: 11.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2012
ISBN (eBook)
9783842831827
Dateigröße
586 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Europa-Universität Flensburg (ehem. Universität Flensburg) – Kultur-Sprache-Medien
Erscheinungsdatum
2014 (März)
Note
1,3
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Titel: Von der Momentaufnahme zum Erinnerungsbild - Die DDR im Film
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