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Zum Spannungsverhältnis sozialer Gerechtigkeit und Freiheit

©2011 Magisterarbeit 91 Seiten

Zusammenfassung

Einleitung:
Die vorliegende Arbeit hat es sich zum Ziel gesetzt, das Verhältnis von sozialer Gerechtigkeit und Freiheit zu untersuchen. Der zentrale Untersuchungsgegenstand zielt auf die Frage ab, ob soziale Gerechtigkeit und Freiheit miteinander vereinbar sind, sich ausschließen oder gar bedingen. Hintergrund für die Wahl des Themas ist einerseits das persönliche Interesse des Autors und die historische Langlebigkeit (vgl. z.B. Oschek 2007: S 98) und andererseits die Aktualität des Themas, wie sie beispielsweise in der Gerechtigkeitsdebatte um den Sozialstaat zum Tragen kommt (vgl. z.B. Nullmeier 2001:S 211ff). Der Fokus liegt hierbei auf libertären und sozialliberalen, im sehr viel geringerem Umfang auch auf kommunitaristischen Theorien.
Es ist nicht zu verkennen, dass sich die Ideen Friedrich August von Hayeks durch die gesamte Arbeit ziehen und einen inhaltlichen Schwerpunkt bilden. Dies ist seiner fruchtbaren und umfassenden Auseinandersetzung mit der gewählten Thematik geschuldet und der persönlichen Wahl des Verfassers. Die Berücksichtigung des Kommunitarismus dient vor allem dazu, die Vielfalt die hinsichtlich der Auffassungen von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit vorliegen, zu veranschaulichen und eine Einseitigkeit der Arbeit in der theoretischen Auseinandersetzung mit der Thematik zu verhindern. [...]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Möller, Wolfram: Zum Spannungsverhältnis sozialer Gerechtigkeit und Freiheit,
Hamburg, Diplomica Verlag GmbH 2013
PDF-eBook-ISBN: 978-3-8428-3184-1
Herstellung: Diplomica Verlag GmbH, Hamburg, 2013
Zugl. Universität Potsdam, Potsdam, Deutschland, Magisterarbeit, August 2011
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung ... 1
1. Theoretische Grundlagen: Eine Einführung ... 3
1.1 Zum Begriff der Gerechtigkeit ... 3
1.2 Aristoteles: Distributive Gerechtigkeit ... 5
1.3 Der Begriff der sozialen Gerechtigkeit ... 7
1.4 Das klassisch-liberale Verständnis ... 9
1.4.1 Thomas Hobbes: Naturzustand und Rechtssicherheit
...11
1.4.2 Immanuel Kant: Recht und praktische Vernunft
...11
1.5 Das kommunitaristische Verständnis ...12
1.5.1 Chrarles Taylor: Kritik des atomistischen Individualismus
...13
1.5.2 Michael Walzer: Die Spähren der Gerechtigkeit
...15
1.5.3 Zusammenfassung ...16
1.6 Sozialmoralische Gründe zur Rechtfertigung von Umverteilungsmaßnahmen ...17
1.7 Exkurs zur Freiheit ...20
1.7.1 Positive und negative Freiheit ...20
1.7.2 Freiheit bei Friedrich August von Hayek ...23
1.8 Zusammenfassung ...25
2. Soziale Gerechtigkeit und Freiheit im Wohlfahrtsstaat: Am Beispiel des
deutschen Sozialstaates ...26
2.1 Ziele und Aufgaben des Sozialstaates ...26
2.2 Verfassungsrechtliche Grundlagen des Sozialstaates ...28
2.3 Zusammenfassung ...29
2.4 Die Debatte um den Wohlfahrtsstaat ...30
2.4.1 Die Kritik am Sozialstaat
...31
2.4.2 Die normativen Grundlagen der Debatte
...34
2.5 Zusammenfassung ...36
3. Zum Spannungsverhältnis von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit:
Am Beispiel libertärer und sozialliberaler Positionen ...37
3.1 Friedrich August von Hayek: Soziale Gerechtigkeit als Illusion ...39
3.1.1 Die Entwicklungsgeschichte der Freiheit: Die empiristische und rationalistische
Position ...41
3.1.2 Der Niedergang des Liberalismus und der Aufstieg des Sozialismus ...43
3.1.3 Die Planwirtschaft als Anmaßung von Wissen ...45
3.1.4 Der Wohlfahrtsstaat und die soziale Gerechtigkeit ...48
3.1.5 Der Rechtsstaat als Garant der Freiheit ...53
3.1.6 Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit ...56

3.1.7 Zum Verhältnis von Freiheit, Gleichheit und Recht ...58
3.1.8 Zusammenfassung ...61
3.2 John Rawls: Gerechtigkeit als Fairness ...62
3.2.1 Die Grundstruktur einer gerechten Gesellschaft ...64
3.2.2 Der Urzustand und der Schleier der Unwissenheit ...66
3.2.3 Die zwei Grundsätze der Gerechtigkeit ...67
3.2.3.1 Der erste Grundsatz: Das Primat der Freiheit ...69
3.2.3.1 Der zweite Grundsatz: Das Differenzprinzip...70
3.2.4 Soziale Gerechtigkeit und der Wert der Freiheit ...72
3.2.5 Zum Problem der Verteilungsgerechtigkeit...74
3.2.6 Moralische Gründe für die Regulierung ökonomischer und sozialer
Ungleichheiten ...75
3.2.7 Zusammenfassung ...75
3.3 F.A.v. Hayek und John Rawls: Der Versuch einer Zusammenführung ...76
4. Fazit...80
Literaturverzeichnis...83

1
,,Freiheit ist nicht nur ein System, in dem alle Regierungstätigkeit von Grundsätzen
geleitet ist, sondern auch ein Ideal, das sich nicht erhalten wird, wenn es nicht selbst
als beherrschendes Prinzip anerkannt wird. Wo an diesem Grundsatz nicht standhaft
festgehalten wird, der keinen materiellen Vorteilen geopfert und höchstens zeitweilig
durchbrochen werden darf [...] ist es fast unausbleiblich, daß die Freiheit Schritt für
Schritt zerstört wird" (Hayek 1991: S 86).
Einleitung
Die vorliegende Arbeit hat es sich zum Ziel gesetzt, das Verhältnis von
sozialer Gerechtigkeit und Freiheit zu untersuchen. Der zentrale
Untersuchungsgegenstand zielt auf die Frage ab, ob soziale Gerechtigkeit
und Freiheit miteinander vereinbar sind, sich ausschließen oder gar
bedingen. Hintergrund für die Wahl des Themas ist einerseits das
persönliche Interesse des Autors und die historische Langlebigkeit (vgl.
z.B. Oschek 2007: S 98) und andererseits die Aktualität des Themas, wie
sie beispielsweise in der Gerechtigkeitsdebatte um den Sozialstaat zum
Tragen kommt (vgl. z.B. Nullmeier 2001:S 211ff). Der Fokus liegt hierbei
auf libertären und sozialliberalen, im sehr viel geringerem Umfang auch
auf kommunitaristischen Theorien.
Es ist nicht zu verkennen, dass sich die Ideen Friedrich August von
Hayeks durch die gesamte Arbeit ziehen und einen inhaltlichen
Schwerpunkt bilden. Dies ist seiner fruchtbaren und umfassenden
Auseinandersetzung mit der gewählten Thematik geschuldet und der
persönlichen Wahl des Verfassers. Die Berücksichtigung des
Kommunitarismus dient vor allem dazu, die Vielfalt die hinsichtlich der
Auffassungen von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit vorliegen, zu
veranschaulichen und eine Einseitigkeit der Arbeit in der theoretischen
Auseinandersetzung mit der Thematik zu verhindern. Es ist hingegen
nicht Absicht des Autors, die Debatte zwischen dem Liberalismus und
dem Kommunitarismus, die seit dem Erscheinen von John Rawls
richtungsweisenden Werk ,,A Theory of Justice" 1971 entbrannt ist, näher
zu beleuchten.

2
Um sich dem Untersuchungsgegenstand zu nähern und eine
Verständnisgrundlage für die weitere Untersuchung zu schaffen, soll
zunächst umrissen werden, was sich hinter den Begrifflichkeiten der
sozialen Gerechtigkeit, der Gerechtigkeit im Allgemeinen und der Freiheit
verbirgt und welche Ansichten aus dem Bereich der politischen
Philosophie hierzu von den unterschiedlichen Denkrichtungen vertreten
werden. Der Schwerpunkt liegt auch hier gemäß dem gewählten Fokus,
auf den bereits erwähnten libertären und sozialliberalen sowie den
kommunitaristischen Auffassungen. Es ist gleichwohl nicht der Anspruch
des Verfassers, eine erschöpfende Übersicht über das breite Feld der
Gerechtigkeits- und Freiheitstheorien zu liefern.
Anschließend soll in aller Kürze untersucht werden, wo der Begriff der
sozialen Gerechtigkeit außerhalb des philosophischen Diskurses zum
Tragen kommt. Anhand des deutschen Sozialstaatsprinzips- und der
Aufgabe, die dem deutschen Sozialstaat von wissenschaftlicher Seite
beigemessen wird,soll aufgezeigt werden, inwiefern sich die
bisher untersuchten Begrifflichkeiten in dieser gesellschaftlichen
Institution wiederspiegeln. Ziel ist es, einen Anknüpfungspunkt zu dem
untersuchten Gegenstand zu finden. Anhand der Debatte um den
deutschen Sozialstaat soll aufgezeigt werden, dass der Kritik
unterschiedliche normative Konzepte zugrunde liegen. Diese bereits oben
angerissenen Konzepte sollen anschließend, sofern relevant,
ausschnittsweise näher untersucht werden, um dem Verhältnis von
Freiheit und sozialer Gerechtigkeit näher zu kommen. Im Anschluss soll
der Versuch unternommen werden, die sogenannte libertäre- und
sozialliberale Strömung kurz darzustellen, um anschließend, unter
Berufung auf zwei maßgebliche Vertreter dieser Denkrichtungen, den
Untersuchungsgegenstand näher zu beleuchten. Die Wahl fällt hierbei auf
Friedrich August von Hayek und John Rawls. Gründe für diese Wahl sind
in den teils sehr unterschiedlichen, jedoch sehr stringenten Auffassungen
der beiden Autoren hinsichtlich Ihres Verhältnisses zur Gerechtigkeit und
Freiheit zu suchen. Diesem Schwerpunkt der Arbeit schließt sich ein
Vergleich der beiden Philosophen an, mit dem Zweck die bisherigen
Erkenntnisse über den gewählten Gegenstand zusammenzufassen und

3
maßgebliche Unterschiede herauszuarbeiten. Die Arbeit schließt mit dem
Überblick der erworbenen Erkenntnisse und einer persönlichen
Betrachtung des Autors.
Diese Arbeit folgt der Kantischen Tradition, Philosophie als
Erkenntnissystem allgemeinverbindlicher Normen und Werte zu
verstehen. (vgl. Hinsch 1998: S 19) Es ist nicht Intention des Autors, aus
der nachfolgenden Betrachtung direkte Bezüge zu realpolitischen
Maßnahmen der sozialen Gerechtigkeit zu ziehen oder solche zu
bewerten. Die Betrachtungen über den deutschen Sozialstaat sind in
dieser Hinsicht mit Rekurs auf den philosophischen Hintergrund zu
verstehen und dienen der Veranschaulichung der Thematik sowie der
Herausarbeitung und Herleitung philosophischer Ansichten.
1. Theoretische Grundlagen: Eine Einführung
Die Beschäftigung mit dem Wohlfahrtsstaat und seiner
Umverteilungspraxis, führt unweigerlich zum Begriff der Gerechtigkeit,
speziell der sozialen Gerechtigkeit. Die Auseinandersetzung mit dem
Gerechtigkeitsbegriff ist hierbei ungleich älter als der Wohlfahrtsstaat
moderner Prägung. Bereits Plato und Aristoteles legten wesentliche
Charakteristika der Gerechtigkeit fest, schon seit damals [...] gilt
Gerechtigkeit als moralische Leitidee für Recht, Staat und Politik sowie als
eine der wichtigsten individuellen Tugenden" (Oschek 2007: S 98).
1.1 Zum Begriff der Gerechtigkeit
,,Gerechtigkeit ist kein absoluter, sondern ein relativer Begriff, dessen
konkreter Inhalt in Relation steht zu bestimmten sozialen Zielen und
Sinngehalten" (Walzer 1994: S 440). Aber auch wenn darüber, was
Gerechtigkeit eigentlich genau bedeutet, sehr unterschiedliche, teils
konträre Meinungen existieren, kann man nicht ausschließen, dass allen
Ansichten nicht doch ein gemeinsames Konzept zu Grunde liegt. Die Idee
zumindest, dass eine Gesellschaft nur dann als gerecht angesehen
werden kann, wenn sie bestimmten moralischen Standards entspricht, ist

4
uralt (vgl. Koller 2000: S 120f). So entzündet sich der Streit nicht daran,
ob eine Gesellschaft gerecht oder ungerecht sein soll sondern was unter
Gerechtigkeit an sich zu verstehen ist.
Verstanden als ein moralisches Konzept bezieht sich Gerechtigkeit auf
soziale Verhältnisse und soziales Handeln zwischen Menschen (vgl. Koller
2000: S 121). ,,Gerechtigkeit ist sui generis auf soziale Zusammenhänge
bezogen: In Ihrer jeweiligen institutionellen Form weist sie die
angemessenen Anteile an Rechten, Einkommen, Vermögen und Bildung
zu und entscheidet somit über die Verteilung von Chancen und Teilhabe
in einer Gesellschaft" (Penz/Priddat 2007: S 51). Wenn auch der Begriff
der Gerechtigkeit auf vielfältige Weise, z.B. bezogen auf Personen,
Staaten, Beziehungen etc. verwendet wird, so sind doch als
Gemeinsamkeit die allgemeinen Normen bzw. Regeln
zwischenmenschlichen Handelns herauszustreichen. (vgl. Koller 2000: S
122). So ist Gerechtigkeit über kulturelle Grenzen hinweg durch
Prinzipien gekennzeichnet, die allgemeinverbindlichen Charakter haben:
In der Unparteilichkeit drückt sich die Gleichheit vor dem Gesetz aus, im
Prinzip der Gegenseitigkeit die Überzeugung, niemanden etwas zuzufügen
das man sich selber nicht wünscht. Die Tauschgerechtigkeit beschreibt
ein faires Nehmen und Geben, ohne den anderen zu übervorteilen und
die Vorstellung einer ausgleichenden Gerechtigkeit findet vor allem in der
Gerichtsbarkeit ihre Anwendung. Darüber hinaus gibt es eine breite
Übereinkunft über die zu schützenden Rechte. Gerechtigkeit bezieht sich
ferner auch auf die moralische Bewertung menschlichen Handelns.
Gemeint ist, dass jede Handlung nach moralischen Kriterien als gut oder
schlecht eingestuft wird. Eine Handlung, die für jeden einzelnen
Menschen einer Gesellschaft als gut angesehen werden kann, ist als
moralische, nicht verhandelbare Grundlage dieser Gesellschaft zu
betrachteten (vgl. Oschek 2007: S 99).
,,Unparteilichkeit und Wechselseitigkeit der Gerechtigkeit gebieten es, dass das
Zusammenleben derart gestaltet wird, dass sich die Vor- und Nachteile gleichmäßig
verteilen bzw. die Vorteile allen und jedem gleichermaßen zugute kommen" (Oschek
2007: S 99).

5
Aufgabe der Gerechtigkeit ist es also, die unterschiedlichen Interessen
auf eine Art und Weise auszugleichen, die als angemessen angesehen
wird. Darunter wird oft verstanden, dass jeder das bekommt was Ihm
gebührt, wobei sich hier die Frage stellt, was darunter zu verstehen ist.
Da es schwierig zu sein scheint, für alle Formen sozialen Handelns einen
Gerechtigkeitsmaßstab zu definieren, mag der Versuch sinnvoll sein,
einen solchen Standard jeweils für bestimmte Handlungsfelder
festzulegen. Aristoteles beispielsweise unterschied zwischen distributiver
und kommutativer Gerechtigkeit (vgl. Koller. 2000. S.122ff).
1.2 Aristoteles: Distributive Gerechtigkeit
Folgt man der aristotelischen Vorstellung von Gerechtigkeit, so teilt sich
diese auf in ,,Die allgemeine Gerechtigkeit (Justitia universales) [...], die
vollkommene Tugend und umfassende Rechtschaffenheit, [...] und die
Gerechtigkeit (Justitia partikulares), deren Geltungskreis die äußeren
Güter sind [...] Die partikulare Gerechtigkeit wiederum lässt sich in die
ausgleichende Gerechtigkeit (Justitia direktiv) und die verteilende
(Justitia Distributiva) unterteilen" (Oschek 2007: S 100). Hinsichtlich des
Rechtsbereiches unterscheidet Aristoteles noch einmal zwischen dem
immer gültigen Naturrecht und dem vom Menschen gesetzten Recht.
Ersteres ist für alle Menschen gleich und unangreifbar (vgl. Oschek
2007: S 100).
Bei diesen hier relevanten Betrachtungen soll es einzig um die partikulare
Gerechtigkeit gehen. Die ausgleichende Gerechtigkeit (Justitia direktiv)
stützt sich auf einen arithmetischen Gerechtigkeitsbegriff, also auf den
Ausgleich einer rein quantitativen Ungleichheit oder Ungleichgewichtes.
Der Schuldner, der diesen Mangel herbeigeführt hat, ist verpflichtet,
diesen durch entsprechende Leistungen wieder auszugleichen. Eine
Gewichtung oder Beurteilung findet nicht statt, da vor dem Gesetz alle
Menschen gleich sind. Die verteilende Gerechtigkeit (Justitia Distributiva)
hingegen basiert auf dem Prinzip der geometrischen bzw. proportionalen
Gleichheit. Anders als die ausgleichende Gerechtigkeit betrifft diese den
gesellschaftlichen Raum und befasst sich mit der Verteilung sozialer

6
Güter wie z.B. sozialer Anerkennung (vgl. Kersting 2000: S 17f).
,,Während die arithmetische Gleichheit (...) eine Gleichheit des
Wegsehens, der Entdifferenzierung ist, ist die proportionale Gleichheit
(...) eine Gleichheit des Hinsehens, der Differenzierung" (Kersting 2000:
S 18).
Setzt sich die ausgleichende Gerechtigkeit nicht mit der Frage
auseinander, ob eine Gleichverteilung gerecht ist oder nicht, ist die
verteilende Gerechtigkeit mit dem Problem konfrontiert, dass eine
Ungleichverteilung nicht automatisch ungerecht, eine Gleichverteilung
nicht automatisch gerecht sein muss, es braucht also einen Maßstab der
festlegt, welche Gleich- oder Ungleichverteilung für wen als gerecht zu
gelten hat. Gerecht ist nach Aristoteles, wenn jeder, proportional zu
seinem Einsatz bzw. Arbeit, gleich entlohnt wird (Gleiches Gleichen,
Ungleiches Ungleichen). Eine solche Entlohnung kann sich sowohl auf
Geldmittel als auch auf die Vergabe öffentlicher Ämter erstrecken (vgl.
Bien 2010: S 154). Ist eine solche Verteilung in wirtschaftlicher Hinsicht
noch relativ leicht zuzuweisen, ist die Zuteilung von öffentlicher
Anerkennung und Ämtern weitaus schwieriger. Für Aristoteles stellt das
Kriterium für einen gerechten Maßstab die Verdienstlichkeit und
Würdigkeit dar. Ausgehend von der Einsicht, dass jeder Mensch und jede
Gesellschaft andere Vorstellungen davon hat, was darunter zu verstehen
ist, stößt die Verteilungsgerechtigkeit hier an ihre Grenzen (vgl. Kersting
2000: S 19 ff). Aristoteles drückt diesen Sachverhalt folgendermaßen
aus: ,,Denn darin, dass eine gewisse Würdigkeit das Richtmaß der
distributiven Gerechtigkeit sein müsse, stimmt man allgemein überein,
nur versteht nicht jedermann unter Würdigkeit das Selbe [...]"
(Aristoteles 1985: S 107).
Grundsätzlich ist Verteilungsgerechtigkeit bei Aristoteles politischer Natur
und spiegelt das ethische Selbstverständnis der Gesellschaft wieder. ,,Das
Gemeinwesen der klassischen Politik ist kein Koordinationssystem, keine
Befriedungs- und Konflikregulierungsmaschiene. Es ist der Ort des guten
Lebens" (Kersting 2000: S 21). Nur durch die aktive Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben und mit Hinblick auf das Gemeinwohl lassen sich

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die natürlichen Fähigkeiten des Menschen wie seine Vernünftigkeit oder
Sprachgewandtheit entwickeln, kann der Mensch letztlich seine
Bestimmung verwirklichen. Als Anreizsystem dient hier ein ethisches
Belohnungsprinzip, das dem Tugendhaften, der sich um sein Vaterland
verdient gemacht hat, mit der ihm gebührenden sozialen Anerkennung
und Ehrung würdigt. Die Verteilungsgerechtigkeit bezieht sich hier vor
allem auf Tugendbelohnung (vgl. Kersting, 2000, S. 21f), wobei Tugend
und Gerechtigkeit bei Aristoteles zusammenfallen, denn: ,,In der
Gerechtigkeit ist jegliche Tugend enthalten; und sie gilt als die
vollkommenste Tugend, weil sie die Anwendung der vollkommenden
Tugend ist. Vollkommen ist sie aber, weil ihr Inhaber die Tugend auch
gegen andere ausüben kann und nicht bloß für sich selbst" (Aristoteles
1985: S 103).
1.3 Der Begriff der sozialen Gerechtigkeit
Die distributive Gerechtigkeit wird in der politischen Diskussion oft auch
als soziale Gerechtigkeit oder Verteilungsgerechtigkeit bezeichnet
(Merkel 2007: S 1). In diesem Sinne soll soziale Gerechtigkeit in dieser
Arbeit zunächst als austeilende bzw. umverteilende Gerechtigkeit
verstanden werden und der Begriff der sozialen Gerechtigkeit für alle auf
diese Gerechtigkeitsform zutreffenden Beschreibungen verwendet
werden, sofern sie nicht von anderen Autoren in einem anderen
Sinnzusammenhang gesehen werden.
Trotz teils stark voneinander abweichender Vorstellungen hinsichtlich
dessen was soziale Gerechtigkeit ist, scheint es doch in der westlichen
Hemisphäre einige gemeinsame Grundannahmen zu geben, die mit der
allgemein angenommenen und akzeptierten Gleichheit aller Menschen
einhergehen. Diese treten in Vorstellungen zu einer gerechten Verteilung
der Güter und Lasten einer Gesellschaft zu Tage, wobei eine
Ungleichverteilung allgemein akzeptierter Gründe bedarf und
entsprechend legitimiert sein muss (vgl. Koller 2000: S 125f). Es stellt
sich von daher die Frage, welche Güter denn ,,[...] zu den gemeinsamen
Gütern und Lasten [...] einer Gesellschaft gehören und deshalb einer

8
gerechten Verteilung bedürfen, und zweitens, welche Gründe [...]
geeignet sind, Ungleichheiten [...] zu rechtfertigen (Koller 2000: S 125).
Dass die Verteilung der Güter zu einer Sache der Gerechtigkeit wird,
hängt mit dem Tatbestand zusammen, dass natürliche- und von
Menschen geschaffene Güter nicht unbegrenzt vorhanden sind, aber von
vielen Menschen besessen werden wollen. Dies betrifft vor allem
materielle Güter, kann sich jedoch auch auf ideelle, unbegrenzte Güter
wie die Gleichheit vor dem Gesetz beziehen, insofern widerstreitende
Interessen vorliegen (vgl. Oschek 2007: S 101). Kersting drückt dies
folgendermaßen aus: ,,Da jeder lieber mehr als weniger haben möchte,
entstehen Konflikte, die nach einer allseits anerkannten Verteilungsregel
verlangen [...] Zum einen darf sie nicht die Funktionsbedingungen des
marktwirtschaftlichen Systems schädigen, zum anderen muss sie gerecht
sein" (Kersting 2000: S 12). Allerdings sagt die Annahme, dass ein
gesellschaftliches Verteilungssystem gerecht sein muss, noch sehr wenig
darüber aus, was darunter zu verstehen sei und was nicht (vgl. Kneip
2003: Seite 14).
Problematisch bei der sozialen Gerechtigkeit ist zum Einen, dass
Gleichverteilung auch ungerecht, Ungleichverteilung gerecht sein kann.
Ausschlaggebend hierfür sind die angelegten Maßstäbe. Grundsätzlich
gibt es dabei zwei verschiedene Ansätze soziale Gerechtigkeit zu denken:
Die liberale Denkweise, basiert auf dem Individuum als Ausgangspunkt,
die kommunitaristische, auf der Gemeinschaft. Je nach angelegtem
Maßstab ergeben sich dadurch unterschiedliche Ansichten zu Art- und
Umfang der sozialen Gerechtigkeit (vgl. Merkel 2007: S 2).
Charles Taylor greift diesen Tatbestand auf: Seiner Ansicht nach sind
Unterschiede in der Gerechtigkeitsauffassung wesentlich von einander
abweichenden Ansichten hinsichtlich dessen geprägt, was unter dem
Guten und der Würde des Menschen zu verstehen ist, vor allem aber
auch dadurch, ob die Verwirklichung des Menschlichen, oder Guten, von
der Integration des Individuums in eine Gesellschaft abhängt, oder
unabhängig, also autark, realisiert werden kann (vgl. Taylor 1988: S
148ff).

9
Im Folgenden sollen die erwähnten Positionen kurz am Beispiel einiger
wichtiger Vertreter der jeweiligen Denkrichtungen umrissen werden um
für die spätere Untersuchung zum Spannungsfeld zwischen sozialer
Gerechtigkeit und Freiheit eine Verständnisgrundlage zu schaffen.
1.4 Das klassisch-liberale Verständnis
,,Der Liberalismus [...] sieht die Hauptaufgabe in der Beschränkung der
Staatsgewalt jeder Regierung, sei sie demokratisch oder nicht" (Hayek
1991: S 125).
Der folgende Exkurs über die Freiheit und die Betrachtungen, die sich mit
Hayeks sozialphilosophischer Sichtweise auseinandersetzen, werden
zeigen, dass es auch innerhalb der als Liberalismus bezeichneten
Strömung sehr unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich der Entstehung
und Planbarkeit freiheitlicher, gesellschaftlicher Institutionen gibt. Weicht
doch Hayeks evolutionistisches Verständnis erheblich von den
rationalistischen Auffassungen der Kontraktualisten wie Thomas Hobbes
ab. Dennoch können einige Gemeinsamkeiten genannt werden, die
unabhängig von diesen Differenzen als typische Merkmale des
Liberalismus bezeichnet werden können, wobei hier, gemäß des
gewählten Untersuchungsgegenstandes, Betrachtungen die sich mit der
sozialen Gerechtigkeit auseinandersetzen, im Mittelpunkt stehen.
Die Philosophie der Neuzeit verfolgt einen fundamental anderen Ansatz
als das antike, auf tugendhafte Ethik ausgerichtete
Gerechtigkeitsverständnis. Die noch bei Aristoteles vorzufindende
Unterscheidung zwischen der arithmetischen und der proportionalen
Gleichheit findet sich in der Neuzeit nicht wieder. Dem liegt ein
Gerechtigkeitskonzept zu Grunde, das auf vernunftrechtlichen
Vorstellungen fußt und letztlich die Rechtfertigung einer
Eigentumsordnung darstellt, deren Schutz und Legitimation durch die
Gleichheit vor dem Gesetz gegeben ist (vgl. Kersting 2000: S 22f).
,,Gerechtigkeit herrscht, wenn Menschen ein gleiches Recht auf politische Teilhabe
besitzen, unter dem Schutz demokratisch erzeugter und wirksam durchgesetzter Gesetze
ihre Freiheit genießen und ihr Leben selbstbestimmt gestalten können. Gerechtigkeit

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herrscht, wenn das Recht alle gleichbehandelt und das Eigentum sicher ist" (Kersting
2010: S 9).
Basierend auf dieser Grundsetzung ist für den klassischen Liberalismus
eines Kant oder Hobbes die Voraussetzung für die Gerechtigkeit in einer
rechtsstaatlich verfassten Marktgesellschaft als gegeben zu betrachten
(vgl. Kersting 2010: S 9).
Zweck der atomistischen Sichtweise, einer auf dem Recht des Einzelnen
basierenden Vorstellung der Selbstverwirklichung, ist es nicht, die im
Naturzustand herrschenden Rechte zu ersetzen, sondern ganz im
Gegenteil: Sinn und Zweck einer Gesellschaft fußt auf dem Schutz dieser
(Eigentums-)­Rechte durch Rechtssicherheit und Garantie der
Selbstverwirklichung des Individuums. Gleichheit in diesem Sinne meint,
dass jedes Individuum die gleichen, rechtlich garantierten Möglichkeiten
in der Gesellschaft hat. Ist dieser Sachverhalt gegeben, ist dies als
gerecht aufzufassen. Basierend auf dieser Sichtweise kann auch eine
extreme Ungleichverteilung der Besitz- und Vermögensstände als gerecht
betrachtet werden, soweit die rechtsphilosophische Auffassung von
Gleichheit gegeben ist (vgl. Taylor 1988: S 150ff). ,,Denn das [...]
Erkenntnisprogramm zielt vordringlich auf eine Freilegung der
erklärenden und rechtfertigenden Gründe einer Eigentumsordnung, die
[...] gern als Verteilungsordnung, als Ordnung die jedem das Seine gibt,
ausgelegt wird" (Kersting 2000: S 22f).
Die von liberalen Autoren wie Locke vertretene Auffassung lehnt jegliche
moralphilosophische Behandlung des Menschen als gesellschaftliches
Wesen ab und geht stattdessen von einer atomistischen Sichtweise aus.
Die Gesellschaft nimmt hier die Funktion ein, das Individuum bei seiner
Selbstverwirklichung insofern zu unterstützen, dass es durch Eingriffe
durch Dritte geschützt ist. Gerechtigkeit wird in diesem Zusammenhang
verstanden als Rechtsgleichheit bzw.-Sicherheit (vgl. Taylor 1988: S.
148ff).

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1.4.1 Thomas Hobbes: Naturzustand und Rechtssicherheit
Seinen Ursprung findet dieses Verständnis bei Hobbes rechtszentrierter
Gerechtigkeitsvorstellung. Diese geht davon aus, dass der Mensch im
Naturzustand auf alle Dinge einen Anspruch hat, die er seiner Vernunft
folgend besitzen möchte. Da dies zwangsläufig zu Verteilungskämpfen
führen muss, bedarf es einem Gesetz, das jedem Individuum den Schutz
seines Eigentums garantiert. Diese Form der Festlegung führt zu Frieden
und bedeutet im hobbesschen Sinne Gerechtigkeit (vgl. Hobbes 1992: S
47f). Bei Hobbes findet sich keine Aussage hinsichtlich der sozialen
Gerechtigkeit im Sinne einer Umverteilung von Gütern oder Einkommen.
Alleine der Gegensatz zwischen dem gesetzlosen, durch Gewalt
geprägten, und dem verrechteten Zustand ist Grundlage genug um von
Gerechtigkeit zu sprechen. Maßgeblich verantwortlich für die
Aufrechterhaltung der Rechtsordnung ist der Schiedsrichter, repräsentiert
auf der einen Seite durch die Gesetzgebung, welche die grundlegenden
Normen festlegt, sowie auf der anderen Seite durch die richterliche
Instanz, welche im Einzelfall festlegt, was Recht ist (vgl. Kersting 2000: S
23ff).
1.4.2 Immanuel Kant: Recht und praktische Vernunft
Kant zählt nicht nur zu den Klassikern des politischen Liberalismus, er
kann neben John Locke als einer ihrer wichtigsten Begründer gelten (vgl.
Meyer 2005: S 171). Ähnlich wie Locke tendiert auch Kants
Rechtsauffassung zu einer ,,[...] weitgehenden Identifikation der
Institution des Privateigentums mit dem politischen Grundwert der
Freiheit" (Meyer 2005: S 171). Kersting drückt dies etwas vereinfachend
folgendermaßen aus: ,,Da das natürliche Recht nur die Grundsätze von
Eigentum und Vertrag umfasst, fällt das System der
Verteilungsgerechtigkeit inhaltlich mit der liberalen Privatrechtsordnung
zusammen" (Kersting, 2000, S 25).
Zentrale Annahme Kants ist der Mensch als vernunftbegabtes Wesen. Der
Begriff der Vernunft meint bei Kant die Fähigkeit, den Bereich der Sinne
und somit der Natur zu überschreiten, ,,[...] sich selbst im Handeln
erfahrbar zu machen [...]" (Nusser 2007: S 109). Kant unterscheidet,

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basierend auf David Hume und dessen Trennung von deskriptiven und
präskriptiven Sätzen, den theoretischen und praktischen Gebrauch der
Vernunft. Im kategorischen Imperativ findet sich die praktische Vernunft
wieder, diese ermöglicht dem Menschen sein Handeln unabhängig von
sinnlich bestimmten Gründen, wie z.B. den Trieben, zu wählen (vgl.
Wallner 2001: S 41). Der kategorische Imperativ ist als höchstes
Kriterium für jegliche Moral, als Handlungsanweisung zu verstehen, die
auf das sittliche Verhalten der Menschen abzielt. Der Soll-Charakter
ergibt sich hierbei aus dem Unterschied zum Sein: ,,Da die Menschen
nicht durchweg sittlich richtig handeln, sollen sie es tun. Der Kategorische
Imperativ stellt dabei keine Willkür einer politischen Macht dar, sondern
soll aufgrund der Vernunft
einsichtig werden" (Wallner 2001: S 42). Der
kategorische Imperativ bezieht sich letztlich auf subjektive Maxime. Diese
Maxime sind Grundhaltungen, ,,[...] die einer Vielzahl, auch Vielfalt
konkreter Handlungsabsichten ihre gemeinsame Richtung geben"
(Wallner 2001: S 42).
Wir werden bei unseren Betrachtungen von Rawls Konzeption der
,,Theorie der Gerechtigkeit" auf diesen Umstand zurückkommen.
Zunächst sei noch festzustellen, dass es bezogen auf den klassischen
Liberalismus unzutreffend scheint von sozialer Gerechtigkeit zu sprechen,
wie sie zu Beginn definiert wurde. Dies scheint wenig zielführend, da eine
Umverteilung nicht vorgesehen bzw. als ungerecht betrachtet werden
müsste.
1.5 Das kommunitaristische Verständnis
,,Das kommunitaristische Projekt ist der Versuch einer Wiederbelebung
von Gemeinschaftsdenken unter den Bedingungen postmoderner
Informations- und Dienstleistungsgesellschaften" (Schäfer 2001: S 7).
Das Bedürfnis nach Gemeinschaftlichkeit in einer zunehmend von
Einzelinteressen und Egoismus dominierten Gesellschaft ist das
verbindende Element kommunitaristischer Theorien (vgl. Haus 2003: S
11).
Im Folgenden sollen kurz zwei kommunitaristische Positionen vorgestellt
werden. Fokus ist gemäß dem gewählten Thema der Begriff der

13
(sozialen) Gerechtigkeit.
1.5.1 Charles Taylor: Kritik des atomistischen Individualismus
Eine kommunitaristische Auffassung des Menschen geht davon aus, dass
der Mensch nur in­ und durch die Gesellschaft überhaupt zu einer
Auffassung davon kommen kann, was unter Gerechtigkeit, Gut, Böse und
menschlicher Würde zu verstehen ist. ,,[...] denn was der Mensch aus der
Gesellschaft gewinnt, ist nicht Unterstützung bei der Verwirklichung
seines jeweiligen Guten, sondern die Möglichkeit überhaupt, ein
Handelnder zu sein, der das Gute anstrebt" (Taylor 1988: S 150).
Während bei den atomistischen Vorstellungen der Begriff der Würde völlig
vom Gesellschaftlichen abgegrenzt ist - von daher können dem Menschen
auch im Naturzustand Rechte zugewiesen werden - ist er bei der sozialen
Konzeptionen des Menschen zwingend an die Gesellschaft gebunden,
kann nur in dieser verwirklicht werden (vgl. Taylor 1998: S 150f). Dieser
Ansatz geht davon aus, dass im Naturzustand ein
Gerechtigkeitsverständnis vorherrscht, das auf archaische Vorstellungen
von Mein und Dein basiert. Davon zu unterscheiden ist die distributive
Gerechtigkeit, welche nur in einer Gesellschaft vorzufinden ist, gemeint
sind Kooperationsbeziehungen zwischen Menschen, die trotz begrenzter
Ressourcen gleichberechtigt miteinander interagieren (vgl. Taylor 1988:
S 145f). Diese Vorstellung von Verteilungsgerechtigkeit basiert auf
grundlegenden moralischen Vorstellungen, welche dem Menschen allein
aufgrund seines Menschseins bestimmte Rechte zuspricht und darauf
aufbauend davon ausgeht, dass jeder gleich behandelt werden sollte,
wobei Taylor hier die arithmetische und proportionale
Gleichheitsvorstellung eines Aristoteles zu Grunde legt. Grundlegend
dafür, was als gerecht im Sinne einer Verteilungsgerechtigkeit angesehen
wird, ist die Vorstellung davon, was menschenwürdig ist und was ein
,,Gutes Leben" ausmacht (vgl. Taylor 1988: S 147).

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Taylor zufolge existieren im philosophischen Kontext vier unterschiedliche
Rechtfertigungsansätze hinsichtlich der Verteilung- und Umverteilung von
Gütern:
,,(1) ein lockescher Atomismus, der sich auf das unveräußerliche Recht
auf Eigentum konzentriert; (2) das Beitragsprinzip; (3) die Gruppe der
liberalen und sozialdemokratischen Auffassungen die eine egalitäre
Umverteilung rechtfertigen; und (4) marxistische Auffassungen, die das
Problem distributiver Gerechtigkeit insgesamt deshalb zurückweisen, weil
diese Frage in dieser Gesellschaft unlösbar [...] ist" (Taylor 1988: S 174).
Der Erste Rechtfertigungsansatz basiert Taylor folgend auf einer
atomistischen Vorstellung des Individuums, dessen Selbstverwirklichung
und Vorstellung vom ,,Guten Leben" vor allem durch das Ausleben
wirtschaftlicher Möglichkeiten und dem Konsum geprägt ist. Die
Gesellschaft wird nicht als Ort der individuellen Selbstentfaltung
betrachtet sondern stellt gewissermaßen die notwendigen Mittel zur
Verfügung, um dem Verlangen nach Konsum Rechnung zu tragen. Da die
Gesellschaft aus dieser instrumentellen Perspektive betrachtet nicht sehr
attraktiv erscheint, zieht sich das Individuum immer mehr ins Private
zurück. Diese Auffassung bedingt auch die atomistische Denkweise vieler
Menschen. Zwar ist die westliche
Gesellschaft in ihrer Komplexität von einer gegenseitigen Abhängigkeit
gekennzeichnet, die historisch einmalig ist, jedoch sind die Erfahrungen
und Auffassungen oft atomistischer Natur. Dies führt zu der Ansicht, alles
was das Individuum zur Selbstentfaltung brauche, sei bereits in Ihm
gegeben (vgl.Taylor 1988: S 168f). Taylors Kritik an diesem Konzept
folgend liegt der fundamentale Fehler aller atomistischer Sichtweisen in
der Ausblendung der Tatsache, dass das freie Individuum mit seinen
Wünschen und Zielen, wie wir es heute verstehen, ohne eine
gemeinsame, kulturelle, politische und rechtliche Gesellschaftsgeschichte
in dieser Form gar nicht existieren würde. Es konnte sich also nur durch-
und aus der Gesellschaft heraus entwickeln. Atomistische Auffassungen
weisen den gesellschaftlichen Institutionen jedoch nur eine
Schutzfunktion zu, innerhalb dieser sich das Individuum autark

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entwickeln kann. (Taylor 1988: S 175). Die Betrachtungsweise der
gesellschaftlichen Institutionen als reine Schutzfunktion impliziert, dass
fast jede Form der Ungleichheit als gerechtfertigt angesehen werden
kann (vgl. Taylor 1988: S 177).
,,Wenn wir jedoch uns diese Institutionen so vorstellen, dass sie das
Verständnis von Freiheit aufrecht erhalten, insbesondere durch
wechselseitigen Austausch und gemeinsames Beraten, dann sind größere
Ungleichheiten inakzeptabel" (Taylor 1988: S 177).
Anders als die von Taylor dargestellte atomistische Sichtweise des
Individuums basiert die kommunitaristische Idee auf der Annahme, dass
für das Funktionieren und den Zusammenhalt des sozialen Systems vor
allem die sozialmoralische Ausrichtung ausschlaggebend ist, wobei hier in
aufgeklärter Weise an Tugendorientierungen der Vormoderne angeknüpft
wird (vgl. Schäfer 1998: S75 ff).
,,Es kommt aber weniger auf Tugendhaftigkeit an als vielmehr auf das sich selbst als
sinnvoll erlebende partizipatorische und bürgerschaftliche Engagement, das durch
Vorbild, Beispiel und befriedigende Wirkung, das soziale Leben interessanter und
erträglicher mach." (Schäfer 1998: S 77).
Ein reiner Fürsorgestaat stößt hier aus finanziellen als auch
sozialmoralischen Gründen auf Ablehnung. Der Kommunitarismus geht
dabei von der These aus, dass die erweiterten partizipativen
Möglichkeiten die Fähigkeit zur Selbstverwaltung verbessern. Staatliche
Sozialpolitik, im Sinne einer als verteilende soziale Gerechtigkeit
verstandene Politik, wird hier nur für den Notfall garantiert, letztlich soll
die Zivilgesellschaft soweit wie möglich den Sozialstaat ersetzen (vgl.
Schäfer 1998: S 77f).
1.5.2 Michael Walzer: Die Sphären der Gerechtigkeit
,,Theorien der distributiven Gerechtigkeit handeln von einem sozialen
Prozeß, dem gemeinhin folgendes Erscheinungsbild nachgesagt wird:
Menschen verteilen Güter an (andere) Menschen" (Walzer 1994: S 30).

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2011
ISBN (eBook)
9783842831841
Dateigröße
619 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Potsdam – Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät
Erscheinungsdatum
2014 (März)
Note
1,8
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Titel: Zum Spannungsverhältnis sozialer Gerechtigkeit und Freiheit
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