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Ausschlussmechanismen im Multikulturalismus: Über die Reproduktion eines darwinistischen Artefaktes im Integrationskonzept 2010 der Stadt Frankfurt am Main in Form einer netzwerkkapitalistischen Kreativdialektik beeinflusst von Neuem Realismus

©2012 Examensarbeit 141 Seiten

Zusammenfassung

Einleitung:
Da der Ausschuss des UN Staatenberichts 2011 neben der Sozialpolitik Deutschlands kritisiert, dass Migranten unter Diskriminierung zu leiden hätten (VEREINTE NATIONEN (UN) 2011:4), erscheint eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Multikulturalismus in Deutschland sinnvoll, wenn nicht sogar erforderlich. In dieser Arbeit gilt es zu bestimmen, welchen Einfluss Neuer Realismus am Beispiel der Dialektik Thilo Sarrazins in Deutschland schafft sich ab – Wie wir unser Land aufs Spiel setzen (2010) auf den deutschen Multikulturalismusdiskurs am Beispiel des Frankfurter Amtes für multikulturelle Angelegenheiten (AmkA) hatte und inwieweit stilistische Überscheidungen analysierter Schriftstücke aus diesen beiden Quellen historisch verankerbar sind, weil daraus gewonnene Erkenntnisse dazu verhelfen können, zeitgemäße Ausschlusspraktiken, respektive Alltagsrassismus, besser sichtbar zu machen. Dies geschieht primär mittels Analyse der Rhetorik in ausgewählten Passagen aus Sarrazins Werk und anschließendendem Abgleich mit dem Integrationskonzept 2010 – Vielfalt bewegt Frankfurt Integrations- und Diversitätskonzept für Stadt, Politik und Verwaltung. Grundsätze Ziele Handlungsfelder (2010), welches von der Abteilung AmkA des Magistrats Frankfurt herausgegeben wurde. Sprich, es erfolgen zwei Analysen, in denen Befunde der ersten in die der zweiten einfließen. Methodisch liegt derweil ein Akzent auf der Kritischen Theorie nach Habermas (nach ISER & STRECKER 2010) sowie auf einer kommunitaristischer Perspektive nach Taylor (1996) und Überlegungen zu Anerkennung nach Honneth (2004). Ferner existiert ein Fokus auf Kritischer Diskursanalyse (KDA, im englischen CDA), was im Teil zu Methoden ausführlicher dargelegt werden wird.
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Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Einleitung

Da der Ausschuss des UN Staatenberichts 2011 neben der Sozialpolitik Deutschlands kritisiert, dass Migranten unter Diskriminierung zu leiden hätten (VEREINTE NATIONEN (UN) 2011:4), erscheint eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Multikulturalismus in Deutschland sinnvoll, wenn nicht sogar erforderlich. In dieser Arbeit gilt es zu bestimmen, welchen Einfluss Neuer Realismus am Beispiel der Dialektik Thilo Sarrazins in Deutschland schafft sich ab – Wie wir unser Land aufs Spiel setzen (2010) auf den deutschen Multikulturalismusdiskurs am Beispiel des Frankfurter Amtes für multikulturelle Angelegenheiten (AmkA) hatte und inwieweit stilistische Überscheidungen analysierter Schriftstücke aus diesen beiden Quellen historisch verankerbar sind, weil daraus gewonnene Erkenntnisse dazu verhelfen können, zeitgemäße Ausschlusspraktiken, respektive Alltagsrassismus, besser sichtbar zu machen. Dies geschieht primär mittels Analyse der Rhetorik in ausgewählten Passagen aus Sarrazins Werk und anschließendendem Abgleich mit dem Integrationskonzept 2010 – Vielfalt bewegt Frankfurt Integrations- und Diversitätskonzept für Stadt, Politik und Verwaltung. Grundsätze Ziele Handlungsfelder (2010), welches von der Abteilung AmkA des Magistrats Frankfurt herausgegeben wurde. Sprich, es erfolgen zwei Analysen, in denen Befunde der ersten in die der zweiten einfließen. Methodisch liegt derweil ein Akzent auf der Kritischen Theorie nach Habermas (nach ISER & STRECKER 2010) sowie auf einer kommunitaristischer Perspektive nach Taylor (1996) und Überlegungen zu Anerkennung nach Honneth (2004). Ferner existiert ein Fokus auf Kritischer Diskursanalyse (KDA, im englischen CDA), was im Teil zu Methoden ausführlicher dargelegt werden wird.

Vor der Analyse werden eine Begriffsbestimmung von Multikulturalismus und eine Bedingungsanalyse für Deutschland vorgenommen. Die Begriffsbestimmung in Kapitel 1 erfolgt zunächst im globalen Kontext, um in Kapitel 2 die Strömung des Neuen Realismus im europäischen Kontext zu thematisieren, welche nach Prins und Sliper (2002) seit etwa 1990 eine Gegenbewegung zum Multikulturalismus darstellt und mittlerweile in ganz Europa verbreitet ist. Anschließend wird sich in Kapitel 3 der Bedingungsanalyse für Deutschland zugewandt. Bedeutsam ist dahingehend die politische Situation hinsichtlich der Integration in Deutschland seit dem Jahr 2000. Daran anknüpfend werden die öffentliche Meinung zu Multikulturalismus (Teil 3.1.), lokale Multikulturalismus-Projekte ohne Multikulturalismus auf Bundesebene (Teil 3.2.), Multikulturalismus in Schulen (Teil 3.3), Multikulturalismus in der Rundfunkanstalten (Teil 3.4.), das Spannungsfeld Moscheenbau (Teil 3.5.) und der mediale Multikulturalismus-Diskurs mit Fokus auf Argumentationsstrategien bzw. -taktiken seitens des Neuen Realismus (Teil 3.6.) thematisiert. En detail werden folgende Argumentationsstrategien bzw. -taktiken zum letzten Themenkomplex mit Beispielen aus der deutschen Presse behandelt und auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft: ‚Multikulturalismus ist eine allumfassende Doktrin’ (Teil 3.6.1.), ‚Im Multikulturalismus werden Gedanken und Sprache kontrolliert’ (Teil 3.6.2.), ‚Multikulturalismus leistet der Entstehung einer Parallelgesellschaft Vorschub’ (Teil 3.6.3), ‚Multikulturalismus versperrt sich gemeinsamer Werte’ (Teil 3.6.4.), ‚Multikulturalismus verschließt die Augen vor Problemen’ (Teil 3.6.5.), ,Multikulturalismus fördert verwerfliche Praktiken’ (Teil 3.6.6.), und ‚Multikulturalismus bietet einen Nährboden für Terrorismus’ (Teil 3.6.7.).

In Kapitel 4 werden eine Zielsetzung und eine Eingrenzung formuliert. Obendrein gilt es zu begründen, weshalb die Wahl auf die beiden o.g. Schriftstücke zwecks Analyse fällt. Da sich im Zuge der Auseinandersetzung mit den Argumentationsstrategien bzw. -taktiken vorgebrachte Kritik als mehr oder weniger gegenstandslos und kaum oder nicht belegbar erweist, werden in Kapitel 5 folgende Hypothesen aufgestellt: (1) Im Sinne des Slogans „Fordern und Fördern“ sind wirtschaftliche Interessen ausschlaggebend in der Integrationspolitik. (2) Es wird auf Nutzenmaximierung durch offensichtliche oder latente Ausgrenzung bestimmter Gruppen, respektive Farbiger und Muslimen, anstelle von einer Politik der Differenz gesetzt. (3) Ein wirtschaftsliberaler Duktus hat Einzug in die deutsche Integrationspolitik gehalten. Der Ökonomie dienliche Ansätze überschatten somit sukzessive immer weitere Teile der Agenden. (4) Aufgrund geringer Budgetierung, Unterbesetzung und keiner einheitlichen Zielsetzung auf Länder- und/oder Bundesebene ist die Umsetzung der Agenden indes nur mit Einschränkungen gewährleistet.

Kapitel 6 wendet sich Methoden zu: Wie bereits erwähnt, bilden primär Beiträge von Habermas (nach ISER & STRECKER 2010), Taylor (1996) und Honneth (2004) die methodische Grundlage zur tiefer reichenden Analyse des Multikulturalismus-Diskurses. Auf dieser Grundlage wird ein Fragen- bzw. Kriterienkatalog erstellt. Bindeglied zwischen den verschiedenen Ansätzen ist die von Habermas ausgemachte Unausweichlichkeit des Gebrauchs von Sprache als ein allen Menschen zugängliches Moment zum Erlangen eines Konsens. (vgl. HABERMAS 19682:163) Sie ermöglicht, die Ansätze zu verknüpfen. In Teil 6.1. wird Abrissen zu den relevanten Beiträgen der drei Theoretiker (Teil 6.2. bis 6.5.) indes eine Auseinandersetzung mit Anforderungen seitens der KDA und einer daraus abgeleiteten Auswahl von rhetorischen Phänomenen aus dem Feld der Pragmatik vorangestellt, welche es in den Schriftstücken zu analysieren gilt, um Ausschlussmechanismen, Machtverhältnisse und rhetorische Eigenheiten überhaupt aufzuzeigen. Zur Analyse der Schriftstücke werden dahingehend Wahrheitswerte (Teil 6.1.1.), Präsuppositionen (Teil 6.1.2.), intensivierende Worte und Heckenausdrücke (Teil 6.1.3.) sowie inklusives und exklusives Wir (Teil 6.1.4.) entscheidend sein und jeweils erklärt. Für inklusives und exklusives Wir gilt es, insbesondere mit ihm in Verbindung stehenden Alltagsrassismus in Anlehnung an van Dijk (1998) zu beleuchten. Neben methodischen Ansprüchen, die diese Vorgehensweise bereits impliziert bedarf es laut Fairclough und Wodak seitens der KDA obendrein eines interpretativen, erklärenden und historischen Gehaltes. (FAIRCLOUGH & WODAK 1997:271-280 in: VAN DIJK 2001:352) Ihm wird sich in Teil 6.1.5. zugewandt. Thematisiert wird derweil die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den Test-Gütekriterien Objektivität, Reliabilität und Validität im Rahmen der Entwicklungspsychologie und Beiträgen über Charles Darwin (SARASIN 2010; SLOTERDIJK 1983) hinsichtlich Sarrazins Werk. Im Kontext des Integrationskonzepts 2010 werden Kreativwirtschaft (u.a. THIEL 2011, KOPPETSCH 2011) und Netzwerke im Neunen Kapitalismus nach Boltanski und Chiapello (2003) sowie Sennett (1998) behandelt.

Kapitel 6.2. wendet sich der theoretischen Grundlage für den Entwurf des Frage- bzw. Kriterienkatalogs zu. Habermas’ Kritische Theorie ist indes in drei Dimensionen gliederbar: kommunikative Vernunft (Teil 6.2.1.), kommunikatives Handeln (Teil 6.2.2) sowie Lebenswelt und System (Teil 6.2.3.). Inhalte von Taylors Essay Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung (2009) werden in Teil 6.2.5. ausgeführt, respektive seine Unterscheidung von Liberalismus 1 und 2. Honneths Essay Anerkennung als Ideologie (2004) ist Gegenstand in Teil 6.2.6., in dem insbesondere die Diskrepanz zwischen Evaluativem und Materiellem ausschlaggebend für die Beurteilung von Anerkennungspraktiken ist. Ein auf diesen Grundlagen erstellter Frage- bzw. Kriterienkatalog in Teil 6.2.7. soll gewährleisten, Befunde aus der Diskursanalyse mit den o.g. Mitteln der KDA zu bewerten.

Die erste Analyse konzentriert sich in Kapitel 7 auf das Werk Deutschland schafft sich ab (2010) von Thilo Sarrazin. Nach einer Bestimmung eines Kontextes mit Bezug auf Ethnien und Transferleistungsbezug, in den Sarrazin seine Ausführungen einbettet (Teil 7.1.), wird in zwei logische Stränge unterteilt, die für die Rhetorik des Autoren bezeichnend sind: der Intelligenzbegriff (Teil 7.2.) und die Reproduktion eines darwinistischen Hegemonialdiskurses im Zuge des Verweises auf Darwin (Teil 7.3. und 7.4.). Zu guter Letzt wird der Versuch unternommen, Sarrazins Ausführungen tendenziell eher Liberalismus 1 oder Liberalismus 2 zuzuordnen. Dabei ergeben sich Unklarheiten. Befunde hinsichtlich auffälliger Charakteristika in der Rhetorik Sarrazins werden stellvertretend für den des Neuen Realismus in puncto Integration, in der Analyse zu Ausführungen seitens des AmkA Berücksichtigung finden, um ihren Einfluss auf diese aufzuzeigen, sollten sie vorhanden sein.

In Kapitel 8 liegt der Fokus auf der zweiten Analysegrundlage, dem Integrationskonzept 2010 – Vielfalt bewegt Frankfurt Integrations- und Diversitätskonzept für Stadt, Politik und Verwaltung. Grundsätze Ziele Handlungsfelder (2010) des AmkA in Frankfurt am Main. Als empirische Grundlage zur Ermittlung von Trends im Konzept wird eine Chronologie über Aktivitäten des AmkA im Zeitraum 1989 bis 2010 in Teil 8.1. vorangestellt. Abgegrenzt wird in drei Phasen: Anfänge (Teil 8.2.), die Phase vor dem Jahr 2000 (Teil 8.3.) und die Phase von 2001 bis 2010 (Teil 8.4.). Auffälligkeiten werden vor dem Hintergrund des Fragen- bzw. Kriterienkatalogs diskutiert und vorhandene Akzente hinsichtlich der Weichenstellungen eingeschätzt.

Die Analyse des Integrationskonzepts 2010 (2010) selbst orientiert sich zunächst in Teil 8.5. an Ergebnissen der Analyse des Pronomens Wir, Präsuppositionen und Wahrheitswerten im Allgemeinen, die in Teil 8.6. in einem speziellen Kontext als Grundlage für einen stadtgesellschaftlichen Glaubensentwurf als Reaktion auf Neuen Realismus fungieren, weshalb dies separat behandelt wird. Intensivierende Worte und Heckenausdrücke verhelfen zu keinen Erkenntnissen, da sie für die Rhetorik im Konzept nicht charakteristisch sind, und sie werden deshalb nicht thematisiert. In Teil 8.5.2. wird das Ebnen eines Wegs mittels des Pronomen Wir in eine Kreativdialektik ausgeführt, welche offenbar einen normativen Wandel einläuten soll. Entscheidend sind derweil u.a. die Ambition von Nutzbarmachung von Potenzialen mittels der Anerkennung von Bildungsabschlüssen, also formaler Bildung.

Folgenreich für Machtverhältnisse ist das Moment der Einbeziehung von internationalen business communities’, weil es in der Folge zu Machtungleichgewichten kommt. Allerdings bleiben die Machtverhältnisse und daraus hervorgehende Ausschlussmechanismen aufgrund einer Kreativdialektik diffus, weshalb sich im Teil 8.5.3. mit dem Netzwerkgedanken in die Stadtpolitik auseinandergesetzt wird, der sich im Konzept an vielen Stellen wiederfindet. Als fruchtbar erweist sich in Hinblick auf eine Erklärung für diese Diffusität die Auseinandersetzung mit sozialwissenschaftlichen Beiträgen von Boltanski und Chiapello (2003), Sennett (1998) sowie u.a. Thiel (2011) und Koppetsch (2011), da sie sie im Kontext des neuen Kapitalismus und der Kreativwirtschaft zu erklären vermögen. Berührungspunkte zwischen netzwerk- und kreativwirtschaftlicher Ideologie und Befunden über Darwins Metaphorik aus der ersten Analyse werden in Teil 8.2.3. außerdem ausgeführt, wenngleich darin primär ein kulturelles Artefakt, kein die Wirklichkeit beschreibendes Moment gesehen werden kann. Wie im Fall der Analyse von Deutschland schafft sich ab (2010) wird der Versuch unternommen, die Befunde entweder mit Liberalismus 1 oder mit Liberalismus 2 in Verbindung zu bringen. Dies erfolgt in Teil 8.5.4. Es folgen ein Abgleich der beiden Analysen mit Diskussion der Ergebnisse in Teil 9 und schließlich eine Zusammenfassung (10.) sowie ein Fazit mit Ausblick (11.).

1. Bestimmung des Multikulturalismusbegriffs im globalen Kontext

Sowohl im alltäglichen als auch politischen Sprachgebrauch kursiert ‚Multikulturalismus’ als dehnbarer, oft schwammiger Begriff und wird lax gebaucht, um beliebige Positionen argumentativ zu unterfüttern. (HALL 2001:3 in: VERTOVEC & WESSENDORF 20102:1) Korrekt verwendet, handelt es sich durchaus um einen komplexen, aber nicht unbedingt beliebig verwendbaren Begriff: In seinen Ursprüngen ging er seit den 1980er Jahren (VERTOVEC & WESSENDORF 2005:3) aus einem Gegenentwurf zur US-amerikanischen melting pot Metaphorik hervor, welche Assimilation seitens Einwanderern impliziert. Entgegengesetzte Metaphern wie etwa salad bowl oder glorious mosaic stehen für ein politisches Leitbild im Sinne des Anstrebens eines friedvollen Nebeneinanders kultureller Elemente im selben Territorium, ohne das eines davon Essenzielles zu Gunsten anderer aufzugeben hätte. Folglich ist es kein neutraler, deskriptiver Terminus zur Bezeichnung unterschiedlicher Kulturen in einem frei wählbaren Kontext. (GLAZER 1997:10) Geprägt wurde er maßgeblich von Vorreitern wie Kanada, Australien oder England – es handelt sich also in seinen Ursprüngen um ein modernes, ‚westliches’ Modell – sie sind aber längst nicht mehr die einzigen Nationen, die sich ihm verschreiben.

Gewiss kann an diesem Punkt nicht von Komplexität die Rede sein. Diese entfaltet sich erst mit verschiedenen räumlichen Kontexten und Unterschieden in der Gestaltung von Handlungsentwürfen zur Umsetzung des o.g. Leitbildes. Beispielsweise sind Autonomiebestrebungen der frankophonen Provinz Quebec im ansonsten anglophonen Kanada kaum vergleichbar mit den Begebenheiten in den Niederlanden angesichts dessen Kolonialgeschichte, obwohl beiden Nationen ein multikultureller Ruf vorauseilt. Kurzum, „[M]ulticulturalism means different things in different places.” (LEY 2010:190 in: VERTOVEC & WESSENDORF 2010²) “Steven Vertovec (1998) has pointed to at least eight different kinds of multiculturalism while Gerard Delanty (2003) suggests another list with nine types of multiculturalism.” (VERTOVEC & WESSENDORF 2010²:2) Der Begriff steht somit für keine allumfassende Doktrin oder eine einheitliche, starre Ideologie, sondern ist Überbegriff für eine Vielzahl jeweils unterschiedlicher, kulturpolitischer Handlungsimplikationen zum Zweck der Mediation und/oder Prävention interkultureller Spannungsverhältnisse in diversen voneinander abgegrenzten Territorien.

Die weithin feststellbare Abnahme von Macht und Einfluss des Nationalstaates im Zuge der Globalisierung (HURRELL 2007:26) trägt unterdessen zur Diffusität des Begriffs bei. Spannungsfelder im Kontext nationaler Multikulturalismus-Diskurse vermischen sich mit solchen, die grundsätzlich den Internationalen Beziehungen zuzuordnen sind. Das wohl bekannteste Beispiel dafür ist die globale Perspektive Huntingtons in The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order (1996). ‚Der Westen’ und der ‚islamische Terrorismus’ schüren durch Einsatz ideologischer Dialektik und das Verfolgen utopischer Ziele interkulturelle Spannungen. Andere Akteure stehen dem nicht nach. Unter dem Vorsatz friedvolles Nebeneinander zu begünstigen, ist deshalb für die Auseinandersetzung mit dem Thema Multikulturalismus unerlässlich, dass Menschen in einem jeweiligen Kontext als historische Wesen begriffen werden müssen, und man sollte sich bewusst sein, dass Grundannahmen ‚westlichen’ Ursprungs aufgrund ihrer selbsterklärenden Qualität hohen Einfluss auf Urteile haben und somit der Ambition eines wechselseitigen Dialogs zuwiderlaufen können. (FEATHERSTONE 1996:59) (VAN DIJK 1998:2)

Viele interkulturelle Spannungsfelder entpuppen sich bei näherer Betrachtung obendrein weniger als Kultur-, denn als Systemfragen, wozu Featherstone anmerkt: “It is insufficient to assume that [non-western] cultures will simply give way to modernity or to regard their formulations of national paticularity as merely reactions to Western modernity. Rather the globalisation process should be regarded as opening up the sense that now the world is a single place with increased, even unavoidable, contact.“ (FEATHERSTONE 1996:47) Hurrel gelangt vermutlich nicht zuletzt aus diesem Grund zu dem Schluss: “[A]ll communities and polities have to find ways of dealing with diversity and with value conflict.” (HURRELL 2007:42)

Miyoshi sieht in Multikulturalismus primär einen Luxus, der die sozio-ökonomisch unterprivilegiertesten Teile von Gesellschaften nicht erreiche. (MIYOSHI 1996:95 in: WILSON & DISSANAYAKE 1996) “[“P]ostcoloniality” and multiculturalism looks suspiciously like another alibi to conceal the actuality of global politics.“ (MIYOSHI 1996:79 in: WILSON & DISSANAYAKE 1996) Brunckhorst kritisiert zudem, es zeichne sich ein Trend ab, welcher weltweit in der Ähnlichkeit der Organisationsstrukturen von Regierungen sichtbar wird. „[F]ast überall Antidiskriminierungsquoten, Frauenrechte, Gleichstellungsbeauftragte, und die politischen Führer aller Länder, egal ob sie Kommunisten oder Kapitalisten, religiöse Fundamentalisten oder laizistische Atheisten sind, versprechen überall Fortschritt, Wachstum, Frieden, Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit[.]“ (BRUNKHORST 2009:112) Umso legitimer ist es, wenn Mitchell darauf verweist, dass Begrifflichkeiten wie Multikulturalismus insbesondere vor dem Hintergrund symbiotischer Allianzen, die aus transnationalen Kapitalbewegungen hervorgingen, nicht als “naturally emancipatory” verstanden werden sollten und dem kontinuierlichem Monitoring sowie permanentem kritischen Hinterfragen bedürften. (MITCHELL 1996:221 in: WILSON & DISSANAYAKE 1996)

Trotz aller Irrungen und Wirrungen weisen multikulturalistische Konzepte Gemeinsamkeiten in der praktischen Umsetzung auf. Freeman schreibt, dass meist Institutionen damit betraut sind, deren Aufgaben eigentlich andere sind. (FREEMAN 2004:948 in: VERTOVEC & WESSENDORF 2010²:2) Kipfer und Keil stellen fernerhin am Beispiel der Stadt Toronto fest, dass die dortigen Einrichtungen aufgrund von Unterbesetzung weniger Einfluss besitzen, als angenommen werden könnte. (KIPFER & KEIL 2002:237) Mutatis mutandis konzentrieren sich die Aufgaben und Tätigkeitsfelder rund um multikulturalistische Konzepte nach Vertovec und Wessendorf (2010²) indes auf Folgendes:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Monitoring von Images unterschiedlicher Gruppen, um Diskriminierung mittels Stereotypen entgegenzuwirken; Förderung eigener Medieneinrichtungen von Minderheiten.

(übers. aus dem Englischen, bearbeitet, nach: VERTOVEC & WESSENDORF 2010²:3)

2. Neuer Realismus in Europa

Seit dem Jahr 2000 ist in den Medien in Europa ein Verlust an Rückhalt in Multikulturalismus zu beobachten. (VERTOVEC & WESSENDORF 2010²:1) Prins und Sliper (2002) identifizieren das Aufkeimen vom Neuem Realismus im Rahmen öffentlicher Debatten rund um Multikulturalismus seit 1990 in den Niederlanden. „[New Realism] is characterized by what its proponents see as the courage to confront taboos, break silence, intervene ‘with guts’, and speak the truth surrounding societal ills hidden by a (leftist) consensus of political correctness.” (VERTOVEC & WESSENDORF 2010²:13) Er ist mittlerweile in ganz Europa verbreitet, ergo in Deutschland. Eine Auswahl von Zeitungsartikeln aus der deutschen Presse wird dies im Rahmen einer Bedingungsanalyse des Deutschen Multikulturalismusdiskurses veranschaulichen. Neuer Realismus kann in Hinblick auf das Aufgreifen des Integrationsdiskurses als eine Gegenbewegung zu Multikulturalismus verstanden werden und seine Vertreter weisen nach Vertovec und Wessendorf fünf stilistische Charakteristika auf:

1. Der Neue Realist präsentiert sich selbst als jemanden, der sich nicht scheut, der ‚Wahrheit’ ins Gesicht zu sehen. Er spricht offen aus, was der hegemoniale Diskurs seines Erachtens bislang verdeckte.
2. Er präsentiert sich als Sprachführer der ‚einfachen Leute’, welche wissen, was tatsächlich in der Gesellschaft vorgeht.
3. Er suggeriert, seine Haltung sei eine für die Nation charakteristische.
4. Er suggeriert, progressive Eliten hätten die Herrschaft des Volkes und ‚echte’ Debatten unterdrückt.
5. Er nutzt Gender-Themen für seine Belange. In dem Zuge verweist er auf unterstellte Einstellungen gegenüber Gender und Sexualität, um sie als Ursache für die Konflikte zu identifizieren, die sie kennzeichnen.

(übersetzt, nach VERTOVEC & WESSENDORF 2010²:13)

Der Autor Thilo Sarrazin erfüllte mit seinem Werk Deutschland schafft sich ab – Wie wir unser Land aufs Spiel setzen (2010) diese Kriterien (SARRAZIN 2010:7-21) und setzte damit einen entsprechenden Impuls in Deutschland. Einzuräumen gilt, dass neben ihm auch andere Autorinnen und Autoren der Strömung zuordenbar sind und Neuer Realismus nicht ausschließlich auf den Integrationsdiskurs beschränkt ist. Unlängst wird Integration in seinem Rahmen aber häufig thematisiert. Sarrazins Werk widmete sich ihr indes konkreter zu als andere.

3. Politische Situation in Deutschland seit dem Jahr 2000

Bevor sich der konkreten Analyse der Schriftstücke zugewandt wird, gilt es, das politische Umfeld und das gesellschaftliche Klima in Deutschland zu skizzieren: Multikulturalismus förderliche Konzepte werden in Deutschland bislang nicht auf Bundesebene verfolgt. Stattdessen keimen sukzessive auf regionaler und lokaler Ebene Einrichtungen, Projekte, Arbeitskreise etc. auf.

Bis in das 21. Jahrhundert war die politische Diskussion in Deutschland von der Frage dominiert, ob es überhaupt Einwanderungsland sei. Mittlerweile stellt sich dahingehend eine Neuausrichtung hin zu einwanderungsfreundlicheren Rahmenbedingungen ein. Schönwälder beurteilt die Situation für konstruktive Bemühungen zur Verbesserung der Stellung von Migranten und ihrer Nachkommen in Deutschland deshalb als günstig, obwohl dies nicht immer mit Ansätzen zur Betonung kultureller Vielfalt oder gesteigerter öffentlicher Repräsentation von Minderheiten als Gruppen einherginge. (SCHÖNWÄLDER 2010:152-153 in: VERTOVEC & WESSENDORF 20101)

Die letzten gesetzlichen Weichenstellungen von besonderer Bedeutung für den Themenkomplex erfolgten im Jahr 2000 und 2005. Am 1. Januar 2000 wurde das seit 1913 geltende Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz (RuStAG) (RGBl. S. 583) durch das Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG) abgelöst. (STAATSANGEHÖRIGKEITSGESETZ (StAG)) Inhaltliche Neuerungen orientierten sich am Bestreben, jugendlichen Ausländern die Einbürgerung zu erleichtern. Seine Tragweite wurde am 1. Januar 2005 durch Art. 5 des Zuwanderungsgesetzes vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950) auf Erwachsene ausgeweitet. (GESETZ ZUR STEUERUNG UND BEGRENZUNG DER ZWANDERUNG UND ZUR REGELUNG DES AUFENTHALTS UND DER INTEGRATION VON UNIONSBÜRGERN UND AUSLÄNDERN (ZuwandG))

Stein des Anstoßes für die gesetzlichen Neuerungen war die Einsicht, dass Gastarbeiter, die in den 1960er und 1970er Jahren eingewandert waren – vorwiegend türkischstämmige – nicht in ihre einstigen Herkunftsländer zurückgekehrt waren, sondern in Deutschland sesshaft wurden, Familien gründeten. Bundespräsident Christian Wulff stellte unlängst wiederholt fest, der Islam gehöre zu Deutschland. (N. N., Zeit, dpa, 5. März 2011) “The old conflicts, however, continue in form of struggles about stricter conditions for acquisition of German citizenship.“ (SCHÖNWÄLDER 2010:153 in: VERTOVEC & WESSENDORF 20101) Etwa wird des öfteren auf die Notwendigkeit des Erlernens von Deutsch als Zielsprache sowie auf die Akzeptanz und Respektierung von Werten, vor allem Frauenrechten oder Meinungsfreiheit, verwiesen. (SCHÄUBLE 2006 in: SCHÖNWÄLDER 2010:154 in: VERTOVEC & WESSENDORF 20101) Davon abgesehen kommt es mit dem Vorwurf, mühsame Debatten zwecks Prävention von Fehlentwicklungen würden aufgeschoben, vereinzelt zu Meinungsverschiedenheiten. Gefolgt werden diese in der Regel von der Feststellung, neue Weichenstellungen seien lediglich Anpassungen an unabwendbare Begebenheiten, auf die zuvor nicht reagiert worden sei. Die politischen Handlungsentwürfe konzentrieren sich unterdessen meist darauf, dass Migranten hinsichtlich Bildung und Chancen auf dem Arbeitsmarkt statistisch ins Hintertreffen geraten. Bisweilen mündet dies in die Forderung, sich auf die Integration bestimmter, ökonomisch zuträglicher Migrantengruppen zu konzentrieren, nicht aber auf solche, die dem Sozialsystem zur Last fielen. (SCHÖNWÄLDER 2010:154 in: VERTOVEC & WESSENDORF 20101) Punktum, Integration ist ein kontroverses Thema in Deutschland. Dass der amtierende Innenminister Hans-Peter Friedrich auf Christian Wulffs Aussage, der Islam gehöre zu Deutschland, entgegnete, der Islam habe die deutsche Gesellschaft nicht geprägt (N. N., Zeit, dpa, 5. März 2011), bringt dies zum Ausdruck. Es gibt keinen klaren Kurs in der deutschen Integrationspolitik.

Es liegt auf der Hand, dass der Diskurs rund um Multikulturalismus immer ein vielschichtiger ist. Maßgeblich besitzt er in Deutschland sozio-ökonomische und kulturelle Fassetten. (SCHÖNWÄLDER 2010:154 in: VERTOVEC & WESSENDORF 20101) Der Slogan „Fordern und Fördern“ besitzt Vorrang gegenüber solchen, die kulturelle Vielfalt unterstreichen. Er impliziert, dass Subjekte unter der Voraussetzung der Bereitschaft zur Kooperation und Erfüllung von Kriterien, die zum Ausüben einer beruflichen Tätigkeit erforderlich sind, staatlich insoweit gefördert werden sollten, dass sie ihr nachgehen können. Oft wird behauptet, Migranten kämen dahingehend einer Bringschuld nicht nach. Der Begriff Multikulturalismus wird in diesem Kontext als eine Art Dogma verstanden, das die Nicht-Teilhabe an diesem gesamtgesellschaftlichen Ideal legitimiere und konserviere. (SCHÖNWÄLDER 2010:155 in: VERTOVEC & WESSENDORF 20101)

Wie die bislang aufgeführten Referenzen verdeutlichen, sind zur Zeit hauptsächlich Konservative federführend bei der Gestaltung integrationspolitischer Rahmenbedingungen. Andere Parteien sollen gesondert davon dargestellt werden: Während Sozialdemokraten unter dem Bundeskanzler Gerhard Schröder treibende Kraft waren, wurde sich sowohl von rechtem Populismus als auch von Multikulturalismus distanziert. (SPD 2006, 2006² in: SCHÖNWÄLDER 2010:155 in: VERTOVEC & WESSENDORF 20101) Andererseits hoben manche programmatischen Texte den Wert kultureller Vielfalt hervor. (SCHÖNWÄLDER 2010:155 in: VERTOVEC & WESSENDORF 20101) “It is often the documents and speeches addressed to a wider audience that focus on reminding the migrants of their obligations and deliniating the limits of tolerance.“ (SCHÖNWÄLDER 2010:155 in: VERTOVEC & WESSENDORF 20101) Laut Lanz ebnete die Green Card -Initiative von Schröder den Weg in einen politischen Diskurs, der „die Einwanderung an die globale ökonomische Wettbewerbsfähigkeit des Landes koppelte[.]“ (LANZ 2009:68) Ronneberger und Tsianos sehen in der Green Card den Versuch einen pragmatischen Umgang mit Migranten zu finden, der sich an dem Gebot der Nützlichkeit orientiere. (RONNEBERGER; TSIANOS 2008:141 in: HESS et al. 2008:137-153) Die Debatte ging einher mit einer über deutsche ‚Leitkultur’, was einen Anspruch der Vormachtstellung Einheimischer verdeutlicht. Ergo sind Sozialdemokraten gegenüber kultureller Vielfalt aufgeschlossener als Konservative, aber halten trotz allem an einem hegemonialen Status der Einheimischen fest. Sie sind derweil aber vorsichtiger im Kundtun ihrer Neigungen, was vermutlich in der Angst des Einbüßens von Wählergunst begründet liegt. (SCHÖNWÄLDER 2010:155 in: VERTOVEC & WESSENDORF 20101) Gleichwohl ebneten sie den Weg für ein Verständnis, in dem Zuwanderung einen potenziellen Wettbewerbsvorteil darstellt.

Die Grünen, einstiger Koalitionspartner der Sozialdemokraten, äußerten ihr Gefallen an Multikulturalismus expliziter. Inzwischen üben sie sich aber in ähnlicher Zurückhaltung wie Sozialdemokraten. (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN-BUNDESTAGSFRAKTION 2006 in: SCHÖNWÄLDER 2010 in: VERTOVEC, S.; WESSENDORF 20101:155-156) Es wird sich nicht gegen Multikulturalismus ausgesprochen, der Akzent liegt mittlerweile jedoch auf der Forderung, Migranten müssten sich aus eigenen Stücken einbringen. Sozialdemokraten und Grünen wurde deshalb vorgeworfen, nicht ausreichend zu ihren Plädoyers für Multikulturalismus zu stehen. Nichtsdestotrotz sprächen sich Vertreter des Berliner Senats – bis zu den Wahlen im Jahr 2011 war er vom linken Parteienspektrum dominiert – durchaus für die Förderlichkeit von multikulturalistischen Konzepten aus. (SCHÖNWÄLDER 2010:155-156 in: VERTOVEC & WESSENDORF 20101) Abermals können die Umstände deshalb als widersprüchlich bezeichnet werden.

Ein deutiger Akzent liegt in politischen Diskussion auf dem Betonen des Vorzugs einer ‚gemeinsamen Kultur’. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass diese Haltung als Voraussetzung für ein darauf aufbauendes Anerkennen besonderer kultureller Elemente zu verstehen ist. (SCHÖNWÄLDER 2010:156 in: VERTOVEC & WESSENDORF 20101) Schließlich werden aus unterschiedlichen politischen Lagern immer wieder Stimmen laut, die zwar nicht immer explizit, aber zumindest implizit den Wert von kultureller Vielfalt unterstreichen.

3.1. Öffentliche Meinung zu Multikulturalismus

Die Begeisterung für Multikulturalismus hält sich in der deutschen Bevölkerung in Grenzen. Trotzdem wird kulturelle Vielfalt nicht entschieden abgelehnt. Obschon eine Reihe von Umfragen Einblicke ermöglicht, lässt sich keine eindeutige, langfristige Entwicklung des öffentlichen Meinungsbildes ausmachen. (SCHÖNWÄLDER 2010:156 in: VERTOVEC & WESSENDORF 20101) “Nevertheless, it is save to say that there is a strong support for the demand that immigrants should adjust to German ways and that Germans are on average more sceptical as regards the benefits of ethnic diversity than some (but not all) of their European neighbors.“ (SCHÖNWÄLDER 2010:156 in: VERTOVEC & WESSENDORF 20101) Infolgedessen ist nachvollziehbar, weshalb sich in der Politik mit Vorsicht für Multikulturalismus ausgesprochen wird.

3.2. Lokale Multikulturalismus-Projekte ohne Multikulturalismus auf Bundesebene

Einige Städte mit vergleichsweise hohem Ausländeranteil sahen eine Notwendigkeit darin, sich Multikulturalismus eigenständig zu verschreiben. Zu den Vorreitern gehören Stuttgart und Frankfurt am Main. Als Reaktion auf eine zunehmend heterogene Bevölkerung wird die Ausländerpolitik seit den 1990er Jahren von Strategien abgelöst, welche auf eine entsprechende Umgestaltungen von öffentlichen Einrichtungen abzielen. (SCHÖNWÄLDER 2010:158 in: VERTOVEC & WESSENDORF 20101) Wichtig ist allerdings nicht selten die Verkittung von Handlungsansätzen auf unterschiedlichen Verwaltungsebenen (i.e. Kommunen, Länder, Bund, EU etc.).

Stuttgart distanzierte sich von einer theoretischen Interpretation von Multikulturalismus, die Koexistenz ohne ein dialogisches Moment zwischen den kulturellen Elementen vor Ort forciert. Kulturelle Vielfalt wird aber begrüßt. (STUTTGART 2002 in: SCHÖNWÄLDER 2010:159 in: VERTOVEC & WESSENDORF 20101) Schönwälder beschreibt die Ansätze des Frankfurter AmkA hingegen als vorwiegend von Überzeugungsarbeit geprägt. Neben der Ambition Anti-Diskriminierung in Behörden zu tragen, konzentriere man sich auf Mediation, Konfliktbewältigung, Beratungsangebote, Kampagnen für mehr Toleranz, Unterstützung von Migrantenorganisationen, Werbung für kulturelle Events und Steigerung der Teilhabemöglichkeiten von Migranten auf dem Arbeitsmarkt. (SCHÖNWÄLDER 2010:159 in: VERTOVEC & WESSENDORF 20101) Schönwälder kritisiert, dass wissenschaftliche Untersuchung zu Einrichtungen auf lokaler Ebene rar seien. Ebenso seien die Zielsetzungen der Einrichtungen oft nicht deutlich. Typische Ansätze, die verfolgt würden, zielten auf die Förderung des Zielsprachenerwerbs, die Optimierung von Schulcurricula und Projekte zur Förderung des Kontakts zwischen Deutschen und Migranten ab. Unlängst sei dessen ungeachtet zu beobachten, dass verstärkt der Versuch unternommen werde, Institutionen intern für Migranten zu öffnen (FILSINGER 2002:16-19; IRELAND 2004:60-115 in: SCHÖNWÄLDER 2010:159 in: VERTOVEC & WESSENDORF 20101), und Städte stellten Zuziehenden Willkommensbroschüren zur Verfügung oder böten Einführungskurse an. (SCHÖNWÄLDER 2010:159 in: VERTOVEC & WESSENDORF 20101)

Auf regionaler Ebene existieren nur vereinzelt Einrichtungen zur Beratung von Migranten. Dazu gehören seit 2004 Nordrhein-Westfalen und Berlin seit 2003. Beide bezuschussen Organisationen von Migranten und deren Projekte. (SCHÖNWÄLDER 2010:160-161 in: VERTOVEC & WESSENDORF 20101) Ein neueres Beispiel ist die Modellregion Integration mit den Standorten Hanau, Offenbach am Main, Kassel, Hochtaunuskreis und Wetzlar in Hessen. (INTERNETAUFTRITT VON KOMPASS INTEGRATION 2011)

3.3. Multikulturalismus in Schulen

In Deutschland sind in vielerlei Hinsicht Landesregierungen ausschlaggebender für politische Weichenstellungen als der Bund. Dies betrifft etwa die Bildung, wenngleich nicht zuletzt auf Empfehlung der Kultusministerkonferenz seit 1996 Toleranz, Respekt und der Entwurf eines positiven Selbstbildes von Migranten in Schulcurricula weithin berücksichtigt werden. (SCHÖNWÄLDER 2010:159-160 in: VERTOVEC & WESSENDORF 20101) Es besteht jedoch kein Anrecht auf Muttersprachlichen Unterricht. Die Teilnahme ist freigestellt und angesichts knapp bemessener Mittel ist die Zukunft dieser Praxis ungewiss. Ohnehin wird Muttersprachlicher Unterricht häufig nur angeboten, weil einzelne Lehrer sich dafür stark machen oder alte Strukturen beibehalten werden. (GOGOLIN 2005:133-143 in: SCHÖNWÄLDER 2010:159-160 in: VERTOVEC & WESSENDORF 20101) Dementsprechend hat man es erneut mit keiner in sich stimmigen Agenda zu tun.

3.4. Multikulturalismus in Rundfunkanstalten

Journalisten mit Migrationshintergrund beklagen sich häufiger darüber, in den Medien unterrepräsentiert zu sein, was auf einen klaren Missstand hindeutet, der auch in puncto Neuen Realismus von Bedeutung ist. Insbesondere die Berichterstattung über Migranten wird kritisch bewertet. Migranten werden häufig als Kriminelle dargestellt. (KARAKAYALI 2008 in: RONNEBERGER; TSIANOS 2008:140 in: HESS et al. 2008:137-153) Der Rundfunkrat oder der Westdeutsche Rundfunk haben allerdings Vertreter für die Belange von Migranten einberufen. (GEIßLER & PÖTTKER 2005 in: SCHÖNWÄLDER 2010:161 in: VERTOVEC & WESSENDORF 20101)

3.5. Spannungsfeld Moscheenbau

Streit entbrennt ab und an beim Bau von Moscheen. Die wohl bekannteste Initiative dagegen ist die Bürgerbewegung pro Köln e.V., welche sich ohne Erfolg gegen die Zentralmoschee im Kölner Stadtzentrum einsetzte. (siehe dazu: INTERNETAUFTRITT DER ZENTRALMOSCHEE KÖLN (DITIB); INTERNETAUFTRITT DER BÜRGERBEWEGUNG PRO KÖLN E.V.) Überhaupt entstehen Meinungsverschiedenheiten meist in Verbindung mit dem Islam. Anders als in Frankreich, ist Schülerinnen und Studentinnen in Deutschland das Tragen von Kopftüchern in Bildungseinrichtungen aber nicht untersagt. In einigen Bundesländern wird es Lehrerinnen jedoch nicht gestattet. (SCHÖNWÄLDER 2010:160-161 in: VERTOVEC & WESSENDORF 20101)

3.6. Medialer Multikulturalismus-Diskurs in Deutschland mit Fokus auf Argumentationsstrategien bzw. -taktiken seitens des Neuen Realismus

Vertovec und Wessendorf weisen darauf hin, dass in Europa seit dem Jahr 2000 eine Vielzahl an Debatten in den Medien Einwanderer, Muslime und Multikulturalismus zum Thema machten. (VERTOVEC & WESSENDORF 2010:4²) U.a. gingen diese Debatten mit folgenden Ereignissen einher oder es wurde und wird immer wieder auf sie verwiesen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Aufstände muslimischer, aber auch weißer, französischer Jugendlicher in französischen Vororten

(bearbeitet und verkürzt, nach VERTOVEC & WESSENDORF 2010²:5)

Alle o.g. Ereignisse können mit Muslimen oder dem Islam in Verbindung gebracht werden, zumal streitbar ist, ob abgesehen davon eine Beziehung untereinander besteht. Überhaupt nimmt der 11. September aber einen besonderen Stellenwert in Hinblick auf Muslime ein. Seither ist eine Wende des Diskurses hin zu einem Feindbild offensichtlich. “Prompted by public debates around these and other (usually nationally specific) events, the backlash against multiculturalism has involved specific idioms or tactics of condemnation.” (VERTOVEC & WESSENDORF 2010²:6) Vertovec und Wessendorf unterscheiden sieben dialektische Muster oder Taktiken mit dem Zweck Multikulturalismus zu verurteilen. Für alle finden sich Beispiele in der deutschen Presse. Im Anschluss an diesen Teil werden die Muster und Taktiken mit konkreten Beispielen aufgeführt und diskutiert, wenngleich sich Argumentationsstränge ab und an kreuzen. Lediglich ein politisches Sachbuch wird derweil im Rahmen einer Rezension behandelt werden. Das heißt jedoch nicht, sie wären Mangelware. Bahners (2011) zählt u.a. Ayaan Hirsi Ali, Necla Kelek, Alice Schwarzer, Henryk M. Broder, Ralph Giordano und Thilo Sarrazin, dessen Werk noch analysiert werden wird, zu einer Strömung von Autorinnen und Autoren, die den Islam in Deutschland speziell attackieren, indem sie Ängste angesichts Überfremdung oder Terrorismus schüren. Multikulturalismus ist davon konkret mehr oder weniger explizit betroffen. Alle Autorinnen und Autoren können jedoch recht eindeutig dem Neuen Realismus zugeordnet werden.

3.6.1. ‚Multikulturalismus ist eine allumfassende Doktrin’

Einige Kritiker beschreiben Multikulturalismus als eine allumfassende Doktrin oder starre Ideologie. “Proponents of backlash discourse either don’t know about, overlook or purposefully ignore the diffuse and myriad patchwork of policies, practices and institutional adjustments through which immigant and ethnic minority accommodation and incorporation are actually undertaken.” (VERTOVEC & WESSENDORF 2010²:6)

Luft schreibt etwa im Tagesspiegel: „[D]ie meisten Länder, die den Multikulturalismus in den 70er und 80er Jahren zur Staatsdoktrin erhoben haben, stehen vor den Scherben einer Politik, die die Gräben vertiefte. [...] Der Multikulturalismus legt Zuwanderergruppen auf eine Identität fest. Er unterstellt, Identitäten seien unwandelbare Gehäuse, aus denen sich Zuwanderer nicht befreien könnten.“ (LUFT 2008, Tagesspiegel, 17. Januar 2008) Ferner bezeichnet der Autor Multikulturalismus als ein Moment, das von akademischen Mittelschichten im Sinne exotischer Erlebnisgastronomie aufgefasst würde. (LUFT 2008, Tagesspiegel, 17. Januar 2008)

Freilich existieren Gruppen in der Gesellschaft nicht abgeschottet voneinander. Luft suggeriert allerdings, Nationalstaaten bedienten sich aus einem einzelnen, einheitlichen ideologischen Reservoir, was nicht korrekt ist. Trotz Ähnlichkeiten von Konzepten gibt es keine globale Multikulturalismus-Agenda oder dergleichen.

Alibhai-Brown kritisierte ferner bereits im Jahr 2000 das so genannte ‚3S-Modell’ – aus dem Englischen: saris, samoas and steeldrums – welches Multikultur in Form von bunten Festivals interpretierte, die über sozio-ökonomische Disparitäten hinwegtünchten. (ALIBHAI-BROWN 2000 in: KYMLICKA 2010:33 in: VERTOVEC & WESSENDORF 20101) Darauf aufbauend, leitet Kymlicka ab, Eventcharakter solle nicht verfolgt werden und es handele sich dabei um eine Fehlinterpretation, welche Identität des Anderen – sei es gewollt oder ungewollt – vorschreibe. (KYMLICKA 2010:33-34 in: VERTOVEC & WESSENDORF 20101)

Lufts Kritik ist demgemäß überholt. Das 3S-Modell wurde bereits als fragwürdige Praxis identifiziert. Wenn dies über mehrere Jahre übersehen wird, zeugt das nicht von Falschannahmen im Rahmen einer totalitär anmutenden Festival-Ideologie, sondern allenfalls von streitbarer Umsetzung aufgrund unzureichenden Dialogs zwischen Politik und Forschung.

3.6.2. ‚Im Multikulturalismus werden Gedanken und Sprache kontrolliert’

Es wird gelegentlich kritisiert, Multikulturalismus habe eine Atmosphäre geschaffen, in der Gedanken und Sprache kontrolliert und reglementiert würden. (VERTOVEC & WESSENDORF 2010²:7) “Volker Kauder said that certain subjects had become ‘taboo’ in public and that ‘the time of looking away and blindness resulting from false multi-culti ideology is over’.” (N. N., Bild, 1. April 2006 in: VERTOVEC & WESSENDORF 2010²:7)

Es ist insoweit korrekt, von Kontrolle auszugehen, wenn das kontinuierliche Monitoring dialektischer Muster oder Entwicklungen gemeint ist. Neuen Realismus, welchen u.a. das angebliche Brechen von Tabus auszeichnet, wäre sonst vermutlich nie aufgefallen. Nicht korrekt ist aber, zu behaupten, es wäre verboten auf Missstände hinzuweisen. Wie das Werk Deutschland schafft sich ab (2010) von Thilo Sarrazin veranschaulicht, wurde trotz entschiedener Reaktionen mancher Gruppen keine Zensur oder dergleichen vorgenommen. Faktisch wurde Sarrazins Werk in den Massenmedien sehr ausführlich behandelt. Dies betrifft auch andere Neue Realisten, welche des Öfteren zu Gast in Talkshows sind oder anderswie Position in öffentlichen Debatten beziehen. Der Vorwurf Kauders deutet folglich auf die Konstruktion eines paranoiden Feindbildes hin. Das öffentliche Kundtun der Meinung steht in Deutschland grundsätzlich nicht unter Strafe.

3.6.3. ‚Multikulturalismus leistet der Entstehung einer Parallelgesellschaft Vorschub’

Das wohl am häufigsten gebrauchte Argument gegen Multikulturalismus gründet in der Annahme, er begünstige den Niedergang des Sozialsystems und fördere die Ausbildung einer Parallelgesellschaft, da es den Ansporn, sich zu integrieren, im Keim ersticke. Butterwegge spricht gar davon, dass Parallelgesellschaft zu einem Mode- und Konträrbegriff zur multikulturalistischen Gesellschaft avancierte. (BUTTERWEGGE 2008:33 in: BUTTERWEGGE; HENTGES 2008:11-78 in: LANZ 2009:68) In Deutschland kursiert dieses Argument in den Medien seit einer groß angelegten Reportage im Jahr 1990. (HEITMEYER 1996 in: VERTOVEC & WESSENDORF 2010²:7-8) Aufgegriffen wurde es seither mehrfach (u.a. N. N., Focus, 24. Oktober 2004; N. N., Tagesspiegel, 17. Januar 2008). (VERTOVEC & WESSENDORF 2010²:8)

Wie sich im Rahmen der Analyse des Werkes von Thilo Sarrazin zeigen wird, ist dieser Vorwurf auch ein Resultat statistischer Verzerrungen. Soll heißen: Obschon Migranten innerhalb für sich gesondert erfassten Bevölkerungsgruppen prozentual öfter Transferleistungen beziehen, beziehen sie in der Summe aller Empfänger hauptsächlich Deutsche. Die Frage, ob Transferleistungen den deutschen Staat überhaupt ruinieren, gilt es hier nicht zu klären. Räumlich ist die Ausbildung einer Parallelgesellschaft im Frankfurter Integrationsstudie 2008 (HALISCH 2008) jedoch nicht ersichtlich. Dort heißt es:

“In den Stadtteilen mit einem sehr hohen Ausländeranteil 2006 hat dieser von 1998 bis 2006 am stärksten abgenommen. Die daran angrenzenden nördlichen Stadtteile verzeichnen den größten Zuwachs. Dies deutet auf eine gesteigerte Mobilität der ausländischen Einwohner hin; zudem spricht dies gegen verfestigte ethnische Strukturen in den betroffenen Stadtvierteln.”

(HALISCH 2008:60)

Ronneberger und Tsianos verweisen zudem darauf, dass ein Vergleich mit US-amerikanischen Ghettos in Deutschland nicht zulässig ist. Alle Untersuchungen in deutschen Großstädten kommen zu dem Ergebnis, dass großflächige Segregationsprozesse nicht festzustellen sind. (RONNEBERGER; TSIANOS 2008:143 in: HESS et al. 2008:137-153) Zugenommen hat hingegen die räumliche Konzentration von Armen und Prekären. (RONNEBERGER; TSIANOS 2008:145 in: HESS et al. 2008:137-153)

3.6.4. ‚Multikulturalismus versperrt sich gemeinsamer Werte’

Aufbauend auf den Vorwurf, Multikulturalismus leiste der Entstehung einer Parallelgesellschaft Vorschub, wird vorgebracht, dies wiederum führte zu einem Mangel an gemeinsamen Werten. Es sei daran erinnert, dass Deutschlands Regierung keine umfänglichen Agenden zur Förderung einer multikulturellen Gesellschaft verfolgt. „[Still,] Stefan Lu[f]t has argued in that multiculturalism’s insistence on recognizing identities-of-origin, instead of a common host-culture, ‘must lead to disaster’[.]” (N. N., Tagesspiegel, 17. Januar 2008; siehe auch LUFT:20081 in: VERTOVEC & WESSENDORF 2010²:9)

Dies kann weder dementiert noch bestätigt werden. Wie in Teil 3.1. aufgeführt wurde, weisen Umfragen zum Thema Multikulturalismus keinen klaren Trend auf, inwieweit er befürwortet oder abgelehnt wird. Sowieso ist die Erfassung von gemeinsamen Werten problembehaftet, was im Methodenteil dieser Arbeit anhand der Ausführungen Honneths genauer geklärt werden wird. An dieser Stelle sei aber vorweggenommen, dass die Forderung gemeinsamer Werte, die objektive Existenz bestimmter Werte vorausgesetzt. (HONNETH 2004:57) Deswegen ist nicht klar, welche konkreten Werte hier gemeint sind. In der Frankfurter Integrationsstudie 2008 werden vermutlich mit aus diesem Grund Abstiche bei der Möglichkeit der Erfassung von Identifikation seitens Migranten gemacht. Die Partizipation von Migranten an Entscheidungen in der Kommunalpolitik wäre in ihrem Rahmen beispielsweise von Interesse gewesen. Es heißt dazu:

„In den offiziellen kommunalen Gremien politischer Entscheidungsprozesse ist eine Gruppe der Ausländer, nämlich die Drittstaatsangehörigen, aufgrund der rechtlichen Restriktionen von vorne herein ausgeschlossen. Aber auch die Gruppe der ausländischen EU-Bürger ist nur sehr wenig als Mandatsträger in der Kommunalpolitik vertreten. [...] Leider wird im Bereich der kommunalen Mandatsträger der Migrationshintergrund nicht erfasst, was sich aber gerade hier als wichtig erweisen würde. Da politische Partizipation auf kommunaler Ebene eine gewisse Identifikation mit der (lokalen) Gesellschaft voraussetzt, wäre es interessant, inwieweit deutsche Einwohner mit Migrationshintergrund, die keinen rechtlichen Restriktionen unterliegen, sich in den offiziellen kommunalen Gremien einbringen. Gerade die zweite und dritte Generation, die häufig in Frankfurt aufgewachsen und in der dortigen Gesellschaft ihre Sozialisation durchlaufen hat, aber auch zugewanderte eingebürgerte Personen lassen sich auf diese Weise nicht weiter identifizieren.“ (HALISCH 2008:156)

Mit Sicherheit wäre es falsch, davon auszugehen, es gäbe keine Impulse seitens Migranten, respektive Muslimen, nach Gemeinsamkeiten zu suchen. Zwar werden teilweise Zweifel an seiner Integrität gehegt (AMMANN 2006:23-33), aber der bekannteste Vertreter des Euro-Islam, Ramadan, fordert etwa eine Reform des Islams hin zu einem modernen Islamverständnis, das sich aktiv zum Rechtsstaat, Menschenrechten und Gewaltenteilung bekennt. (RAMADAN 2009:17-40)

In der Folge kann nur spekuliert werden, welche Werte angeblich abgelehnt werden und ob dies überhaupt umfassend auf Migranten zutrifft. Man ist versucht, darin eher den Versuch seitens Einheimischen zu sehen, sich vom Anderen zu distanzieren, weil der Verweis auf nebulöse Werte darauf hindeuten, dass es darum geht, sich als eine Art unantastbare Deutungshoheit in Hinblick auf sie zu verstehen.

3.6.5. ‚Multikulturalismus verschließt die Augen vor Problemen’

Die Falschannahme, es handele sich bei Multikulturalismus um eine einzelne, übergreifende Ideologie, mündet mitunter in den Vorwurf, er trübe den Blick auf die Dinge und vereitele dadurch das offene und ehrliche Gespräch über Probleme. Der Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln, Heinz Buschkowsky, sagte: „Die Situation in diesen sozial entmischten Gebieten ist eine tickende Zeitbombe.“ (N. N., Focus, 24. November 2004) Er führte dies auf das jahrelange Augenverschließen der Politik und eine falsche „Multi-Kulti-Romantik“ zurück. (N. N., Focus, 24. November 2004) Gleichwohl brachte der Historiker Arnulf Baring ein:

„Multi-Kulti ist gescheitert – weil die Ausländer die deutsche Kultur neben ihrer eigenen nicht akzeptieren oder auch nur dulden wollen. Das war allerdings schon seit Jahren abzusehen, wurde aber bewußt verschwiegen und kleingeredet. Nicht die Deutschen sind die Deppen, sondern diejenigen Politiker und Gutmenschen, die sich jahrzehntelang multikulturellen Träumen hingegeben haben.“

(N. N., Bild , 5. April 2006)

Die Feststellungen bzgl. der „gesteigerte[n] Mobilität der ausländischen Einwohner [in Frankfurt]“ (HALISCH 2008:60) sowie das Moment der Reformbemühungen von Ramadan stehen diesen Argumenten entgegen. Hinsichtlich Barings Aussage ist erneut anzubringen, dass es kein umfassendes Multikulturalismuskonzept für Deutschland gibt und es folglich nicht gescheitert sein kann. Wer die „Politiker und Gutmenschen, die sich jahrzehntelang multikulturellen Träumen hingegeben haben[,]“ (N. N., Bild , 5. April 2006) sind, bleibt außerdem unklar.

3.6.6. ,Multikulturalismus fördert verwerfliche Praktiken’

Eine Fehlauslegung der Begriffs ‚Kulturrelativismus’ dient einigen Kritikern als Plattform. Er wird ausgelegt als ein Begriff, der dafür stünde, dass alle Aspekte aller Kulturen ‚gut’ seien. (VERTOVEC & WESSENDORF 2010²:9) Tatsächlich akzentuiert er, dass Kulturen nicht miteinander vergleichbar sind. Wertungen wie ‚gut’ oder ‚schlecht’ sind demgemäß deplatziert. Doch wie dem auch sei, “[f]or this reason multiculturalism, critics say, supports backward minority cultures’ unequal treatment of women, forced marriages, honor killings and female genital mutilation.” (VERTOVEC & WESSENDORF 2010²:9) Zu viel Toleranz wird als Ursache für Straftaten identifiziert. (VERTOVEC & WESSENDORF 2010²:9)

Diese Argumentationskette kann in der deutschen Presse seltener ausfindig gemacht werden. Ehrenmorde und Zwangsheiraten werden dennoch des öfteren aufgegriffen. Dies geht aber nicht zwangsläufig mit Attacken auf Multikulturalismus einher, und ohnehin wird das Thema in aller Regel recht differenziert behandelt. Beispielsweise schreibt Krause im Stern:

„Nach Erkenntnissen der Menschenrechtsorganisation Terre des Femmes sind [Ehrenmorde an heiratsunwilligen Muslima] allerdings kein religiöser, sondern ein patriarchalischer Exzess. Eine Einschätzung, die die Hamburger Beraterinnen teilen: Erzwungene Ehen oder so genannte Ehrenmorde seien kein religiöses Problem, sondern Fälle von missglückter Integration, finden sie.“

(KRAUSE, Stern, 16. Dezember 2008)

Ein weiteres Beispiel für eher differenzierten Stil liefert Ehrenstein in der Welt. Zu einem Beschluss, der Zwangsheirat unter härtere Strafe stellt, schreibt sie: „Es ist ein Signal, dass diejenigen, die Zwangsverheiratungen anbahnen, kein Kavaliersdelikt begehen, sondern Straftäter sind.“ (N. N., Welt, 28. Oktober 2010) Da die Überschrift auf das Moment eines einstigen ‚Kavaliersdeliktes’ verweist, könnte man schlussfolgern, Zwangsheiraten hätten zuvor milde Strafen zur Folge gehabt. Das ist aber nicht der Fall. Ehrenstein selbst verweist darauf, dass die Straftat zuvor mit bis zu fünf Jahren Haft geahndet wurde. (N. N., Welt, 28. Oktober 2010) Es mag im Auge des Betrachters liegen, ob man bis zu fünfjährige Freiheitsstrafen mit ‚Kavaliersdelikten’ in Verbindung bringen kann. Gesetzt dem Fall, es ist nicht so, würde dies aber bestenfalls für eine weithin gebräuchliche Überspitzung im Rahmen von Journalismus sprechen. Ein Verweis auf Multikulturalismus ist fernerhin nicht vorhanden.

Am kritischsten geht Falke in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vor. Er diskutiert das Sachbuch Der Islam braucht eine sexuelle Revolution (2009) von Seyran Ateş. Ateş fordert weniger übertriebenen Multikulturalismus in Deutschland, was vor dem Hintergrund, dass es keinen umfassenden Multikulturalismus in Deutschland gibt, absurd ist. Diesen Umstand lässt Falke außer Acht, aber er fällt trotz allem hart mit der Autorin ins Gericht. Er schreibt:

„Den Ehrenmord, den fast alle islamischen Gelehrten verurteilen, hat es rund um das Mittelmeer gegeben. Die Anthropologen bringen ihn mit der Knappheit an guten Böden in Verbindung. „Religion, Kultur und Tradition kann man nicht streng trennen.“ Nun,[ man] kann sie schon trennen. Sie stehen sogar oft genug im Widerspruch zueinander. Aber die Autorin wirft sie nicht nur ganz zusammen, sie führt vielmehr alles auf ein – männliches – Gesamtsubjekt Islam zurück.“

(FALKE, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. Februar 2010)

Zudem weist Falke darauf hin, dass „gar nicht so multikulturalistische Lehrer mit Hilfe ebenso wenig multikulturalistischer Jugendamtsmitarbeite[n] Kinder auskunftslos ihren Eltern entziehen wegen roter Flecken, die sich dann als Folgen einer Metallallergie herausstellen.“ (N. N., Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. Februar 2010) Insofern ist der Artikel eher ein Beispiel für Journalismus, der der europaweiten Verdammung von Multikulturalismus zuwiderläuft. Langer Rede kurzer Sinn, Autorinnen und Autoren wie Ateş liefern Beispiele für die von Vertovec und Wessendorf identifizierte Strategie, diese fällt aber in der deutschen Presse nicht unbedingt auf fruchtbaren Boden.

3.6.7. ‚Multikulturalismus bietet einen Nährboden für Terrorismus’

In Deutschland sind bis dato keine terroristischen Anschläge radikal-islamistischer Gruppen verübt worden. Versuche wurden aber unternommen. Bekanntestes Beispiel dafür ist die Sauerland-Gruppe, die 2007 an ihrem Vorhaben gehindert wurde. Terroristische Anschläge in Deutschland sind deshalb nicht undenkbar, aber letzten Endes ist der Kontext ein anderer als in England oder Spanien, wo Zivilisten Anschlägen tatsächlich zum Opfer fielen. „[A]mong others, public discourses comprising strands of a backlash against multiculturalism have combined with fears surrounding terrorism (or, some would say, a manipulation of such fears).” (VERTOVEC & WESSENDORF 2010²:11) Ein Beispiel für dieses und eine Vielzahl anderer o.g. dialektischer Muster liefert ein Artikel von Weimer im Magazin Cicero. Multikulturalismus wird als Triebfeder für Terrorismus in Deutschland dargestellt. Weimer fasst es wie folgt:

„Der Mord an Theo van Gogh markiert nicht nur den Anfang einer neuen Dimension des islamischen Terrorismus. Er belegt zugleich das Ende einer großen Selbstlüge Europas: Sein Multikulturalismus kollabiert. [...] Nun schlägt dieser masochistische Zug des Multikulturalismus zurück – was als geistiger Karneval der Kulturen begann, ist inzwischen ein Halloween der Entfremdung. [...] Gerade die Bruchstellen des naiven Multikulturalismus werden von Extremisten angezündet, und sein Feuer breitet sich so rasch aus, weil die kulturelle Integrität der Gesellschaft bereits ausgehöhlt ist. [...]Der Multikulturalismus ist eine Pest. [...] So hat man jahrelang weggeschaut, als moslemischen Frauen mitten in unseren Gesellschaften die Menschenrechte aberkannt wurden, als in Europas Moscheen Mordfantasien gelehrt wurden, als sich in „Kulturvereinen“ muslimische Waffenbruderschaften formierten. [...] Europas Linke fühlte sich jahrzehntelang mit den islamischen Bewegungen emotional verbunden – man trug Arafat-Tücher, hasste den Schah, huldigte Khomeini und sah selbst im islamistischen Terror noch legitime Züge im Kampf gegen den amerikanischen Kapitalismus.“ (WEIMER, Cicero, Ausgabe Dezember 2004)

Es wird darauf verzichtet, alle in dem Artikel enthaltenen dialektischen Muster nochmals zu besprechen. Spätestens Weimers Artikel ist aber ein Paradebeispiel für die Verdammung von Multikulturalismus in der deutschen Presse. Obgleich er in Hinsicht auf seine Kompakt- und Entschiedenheit eine Ausnahme darstellt, illustriert er, dass Multikulturalismus mit verzerrten, irreführenden und teilweise gegenstandslosen Argumenten attackiert wird, die mit ihm wenig oder gar nichts zu tun haben. Weimer zeichnet ein vereinfachtes Weltbild, das Zusammenhänge in den Internationalen Beziehungen auf das Feindbild ‚Islam’ herunterbricht. Der Islam mit einer Vielzahl an Fassetten spielt zwar sicherlich eine Rolle im Kontext des Multikulturalismus, er steht ihm aber grundsätzlich nicht näher als andere kulturelle oder religiöse Elemente und er hat prinzipiell nichts mit der Förderung von Terrorismus zu tun.

4. Zielsetzung der Arbeit und Eingrenzung

In dieser Arbeit gilt es zu bestimmen, welchen Einfluss der Duktus des Werkes Deutschland schafft sich ab – Wie wir unser Land aufs Spiel setzen (2010) von Thilo Sarrazin stellvertretend für Neuen Realismus auf den deutschen Multikulturalismusdiskurs vertreten durch das Frankfurter Amt für multikulturelle Angelegenheiten (AmkA) hatte, und inwieweit stilistische Überscheidungen analysierter Schriftstücke aus beiden Quellen historisch verankerbar sind, weil daraus gewonnene Erkenntnisse dazu verhelfen können, zeitgemäße Ausschlusspraktiken, respektive Alltagsrassismus, besser sichtbar zu machen. Dies geschieht primär mittels Analyse der rhetorischen Figuren in ausgewählten Passagen aus Sarrazins Werk und anschließendendem Abgleich mit dem kurz danach erschienen Integrationskonzept 2010 – Vielfalt bewegt Frankfurt Integrations- und Diversitätskonzept für Stadt, Politik und Verwaltung. Grundsätze Ziele Handlungsfelder (2010), welches von der Abteilung AmkA des Frankfurter Magistrats herausgegeben wurde.

Die methodische Grundlage für die Analyse ist die Kritische Theorie nach Habermas mit einem Akzent auf Methoden der Kritischen Diskursanalyse sowie einer Verfeinerung von Habermas Theorie mittels Beiträgen von Taylor (1996) und Honneth (2001). Wie im Fall von Habermas messen die beiden Autoren Sprache einen besonderen Stellenwert in der Konsensfindung bei und Inhalte können deshalb miteinander verknüpft werden. Den Rahmen für die historische Einordnung stilistischer Auffälligkeiten werden indes die Ursprünge von Naturalismus und Liberalismus mit einem Akzent auf Darwin und Rousseau auf Grundlage der Werke Darwin und Foucault (2009) von Sarasin und Kritik der zynischen Vernunft (1983) von Sloterdijk vorgeben.

Wie schon in Kapitel 2 dargelegt, widmet sich Sarrazins Werk dem Themenkomplex Integration konkreter als andere Werke aus dem Feld des Neuen Realismus, weshalb es als Analysegrundlage gewählt wird. Die Wahl des Fokus auf die lokale Einrichtung AmkA bedarf einer ausführlicheren Begründung: Sie ist dem Umstand geschuldet, dass es in Deutschland kein bundes- oder länderübergreifendes Multikulturalismuskonzept gibt. Stattdessen existieren vereinzelte Einrichtungen. Obwohl alle davon diverse der oben aufgeführten Merkmale in puncto praktischer Umsetzung aufweisen mögen, operieren sie weitgehend unabhängig voneinander. Es wäre demnach falsch, sie als Einheit zu behandeln. Das AmkA bietet zudem einen entscheidenden Vorteil. Es existiert seit 1989, ist somit die älteste Einrichtung und besitzt somit eine Vorreiterfunktion für Multikulturalismus in Deutschland. Um einen Wandel in der Ausrichtung von Projekten vor dem Hintergrund des Neuen Realismus auszumachen, ist es also besser geeignet als andere. Hier ist das Bestehen des AmkA zeitlicher Rahmen für Multikulturalismus in Deutschland. Der Analyse des Integrationskonzeptes 2010 des AmkA wird eine chronologische Einwicklungslinie hinsichtlich der Tätigkeitsfelder und Publikationen des Amtes vorangestellt werden, sodass Trends ersichtlich werden können.

5. Hypothesen

Angesichts der Schieflage der Vorwürfe in Teil 3.6.1. bis 3.6.7. liegt die Vermutung nahe, dass sich hinter der Multikulturalismuskritik tatsächlich andere Motive als die lautstarke Bewusstmachung verschleierter Konflikte verbirgt. Wahrscheinlicher ist, dass im Sinne des Slogans „Fordern und Fördern“ primär wirtschaftliche Interessen ausschlaggebend sind. Dies führt zu folgenden Hypothesen: (1) Im Sinne des Slogans „Fordern und Fördern“ sind wirtschaftliche Interessen ausschlaggebend in der Integrationspolitik. (2) Es wird auf Nutzenmaximierung durch offensichtliche oder latente Ausgrenzung bestimmter Gruppen, respektive Farbiger und Muslimen, anstelle von einer Politik der Differenz gesetzt. (3) Ein wirtschaftsliberaler Duktus hat Einzug in die deutsche Integrationspolitik gehalten. Der Ökonomie dienliche Ansätze überschatten somit sukzessive immer weitere Teile der Agenden. (4) Aufgrund geringer Budgetierung, Unterbesetzung und keiner einheitlichen Zielsetzung auf Länder- und/oder Bundesebene ist die Umsetzung der Agenden indes nur mit Einschränkungen gewährleistet.

6. Methoden

Die methodische Grundlage zur tiefer reichenden Analyse des Multikulturalismus-Diskurses bilden in dieser Arbeit primär ausgewählte Beiträge von Habermas (nach ISER & STRECKER 2010), Taylor (1996) und Honneth (2004). Bindeglied zwischen diesen verschiedenen Ansätzen ist die von Habermas ausgemachte Unausweichlichkeit des Gebrauchs von Sprache als ein allen Menschen zugängliches Moment zum Erlangen eines Konsens. (vgl. HABERMAS 19682:163) Will sagen: durch Sprache wird Wahrheit konstruiert, und sie vermag in der Folge das Miteinander kultureller Elemente zu beeinflussen. Bevor sich Habermas, Taylor und Honneth sowie den aus ihren Beiträgen abgeleiteten Fragen genauer zugewandt werden wird, gilt es aber den ebenso vorhandenen Schwerpunkt auf Methoden der Kritischern Diskursanalyse (KDA oder im Englischen CDA) zu lenken, welche ebenfalls eine enge Verbindung zur Sprache aufweisen können, aber darüber hinaus einen bestimmten Fokus vorgeben. Zu KDA schreibt van Dijk im Allgemeinen:

“Critical discourse analysis (CDA) is a type of discourse analytical research that primarily studies the way social power abuse, dominance, and inequality are enacted, reproduced, and resisted by text and talk in the social and political context. With such dissident research, critical discourse analysts take explicit position, and thus want to understand, expose, and ultimately resist social inequality. […] CDA is not so much a direction, school, or specialization next to the many other “approaches” in discourse studies. Rather, it aims to offer a different “mode” or “perspective” of theorizing, analysis, and application throughout the whole field. We may find a more or less critical perspective in such diverse areas as pragmatics, conversation analysis, narrative analysis, rhetoric, stylistics, sociolinguistics, ethnography, or media analysis, among others.” (VAN DIJK 2001:352)

Für diese Arbeit heißt das: Welche Inhalte unter Zuhilfenahme sachbezogener Quellen kritisch hinterfragt werden, hängt davon ab, welche Strategien (i.e. Rhetorik, gezielter Einsatz von Statistiken etc.) die behandelten Akteure (Politiker, Autoren etc.) verwenden. Im Vorfeld endgültig festzulegen, was hinterfragt werden soll und was nicht, birgt deshalb die Gefahr, den Blick zu trüben. Das heißt aber nicht, dass diese Arbeit keinen methodischen Ansprüchen zu genügen oder Kriterien zu erfüllen hätte. Im Gegenteil: Das methodische Vorgehen ist umso vielschichtiger, es ist multidisziplinär. Die Semantik und Pragmatik betreffenden Grundlagen werden mit Hilfe von Einführungen von Cruse (2004) und Huang (2006) behandelt. In den Einführungen werden zwar unterschiedliche Schwerpunkte bei der Behandlung linguistischer Phänomene gesetzt, beide widmen sich den Themenkomplexen aber ausführlich. Cruse legt seinen Schwerpunkt auf das Englische, besitzt in seinen Ausführungen jedoch mehr Transparenz als Yuang. Yuang arbeitet deutlich umfangreicher. Er vertieft Phänomene in der Pragmatik mittels Bezug auf ein sehr breites Spektrum an Sprachen, sodass Unterschiede in der Anwendung von Englischem und Deutschem ausgeschlossen werden können. Beide Einführungen sind auf einem aktuellen Stand, zumal sowohl Semantik als auch Pragmatik keine Felder sind, deren Grundlagen fundamentalen Neuerungen im gleichen Maße unterworfen sind, wie es bei anderen wissenschaftlichen Disziplinen der Fall ist.

6.1. Methoden aus dem Feld der Pragmatik im Rahmen der Kritischen Diskursanalyse

Für diese Arbeit werden aufgrund ihrer häufigen Verwendung im politischen Diskurs folgende Momente aus den Feldern Semantik und Pragmatik besonders relevant sein: Wahrheitswerte, Präsuppositionen, intensivierende Worte und Heckenausdrücke sowie der strategische Gebrauch des Pronomens Wir. In den folgenden Teilen werden diese Momente erklärt. Teil 6.1.5. konzentriert sich schließlich auf weitere methodische Anspruche seitens der KDA zur Gewährleistung eines interpretativen, erklärenden und historischen Gehaltes. Da in dieser Arbeit indes vorausgesetzt wird, dass Diskurs und Historisches miteinander verknüpft sind, Menschen historische Wesen sind, wird im Teil 6.1.5. methodisch keine scharfe Trennung zwischen den rhetorischen Phänomenen und den besagten weiteren Ansprüchen seitens der KDA vorgenommen, welche in anderen Fällen durchaus sinnvoll sein mag. Kurz, Sprache wird hier als untrennbarer Bestandteil des Lebens verstanden. (vgl. WEIYUN HE 2001 in: ARONOFF 2001:428-445)

6.1.1. Wahrheitswerte

Leser eines Textes müssen generell davon ausgehen, dass sein Verfasser bzw. seine Verfasserin die Wahrheit sagt oder zumindest selbst davon ausgeht. Deshalb besitzen Aussagesätze bis auf Ausnahmen, die in dieser Arbeit nicht von Bedeutung sein werden, einen Wahrheitswert. Davon ausgehend, können auf den ursprünglichen Aussagesatz aufbauende Aussagen als wahr (+) oder falsch (-) bewertet werden. Hier ein Beispiel: Der Aussagesatz Katzen sitzen gerne auf Decken besitzt einen Wahrheitswert. In Bezug auf ihn ist es mit wahr (+) zu beantworten, fragt man Sitzen Katzen gerne auf Decken?. Es ist aber mit falsch (-) zu beantworten, fragt man Sitzen Hunde gerne auf Decken?. Will heißen: es ist nicht entscheidend, ob Katzen oder Hunde in der Realität Dieses oder Jenes gerne tun. In der Realität finden sich mit Sicherheit Hunde, die gerne auf Decken sitzen. Entscheidend ist im Rahmen der formalen Logik, was ein konkreter Aussagesatz suggeriert. (CRUSE 2004:21-22) Für die Analyse sind sie von Bedeutung, weil damit Wahrheit konstruiert werden kann. Wahrheitswerte werden im Zuge der Auseinandersetzung mit kommunikativer Vernunft gemäß Habermas abermals relevant sein.

6.1.2. Präsuppositionen

Unter einer Präsupposition versteht man die implizite Voraussetzung einer Wahrheitsgehaltes. Präsuppositionen werden häufig in strategischer Art und Weise in politischer Rhetorik angewandt, um andere vom eigenen Standpunkt zu überzeugen. Für die Analyse sind sie daher ebenfalls für die Konstruktion von Wahrheit relevant. Sie werden mit triggern eingeleitet, welche Verben sind, die in Verbindung mit Erkenntnissen gebraucht werden (e.g. erkennen, wissen, verstehen, einsehen etc.). (HUANG 2007:64) Hier ein Beispiel: Der Aussagesatz Peter weiß, dass Katzen fliegen können wie Vögel impliziert, dass Peter dies nur wissen kann, weil es der Realität entspricht. Selbstverständlich können Katzen in der Realität nicht fliegen wie Vögel, der Verfasser des Textes suggeriert aber, es wäre anders. Trigger werden in Zitationen unterstrichen dargestellt werden.

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Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2012
ISBN (eBook)
9783842831896
Dateigröße
776 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main – Humangeographie
Erscheinungsdatum
2014 (März)
Note
2,0
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Titel: Ausschlussmechanismen im Multikulturalismus: Über die Reproduktion eines darwinistischen Artefaktes im Integrationskonzept 2010 der Stadt Frankfurt am Main in Form einer netzwerkkapitalistischen Kreativdialektik beeinflusst von Neuem Realismus
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