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Bedeutung der Jugendphase im Prozess der Bildung von Identität

©2012 Bachelorarbeit 54 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:
Bücher zum Thema Identität, wie der Bestseller von Richard David Precht, ‘Wer bin ich und wenn ja, wie viele?’ sind in den letzten Jahren immer mehr auf dem Büchermarkt vertreten. Die Frage nach der eigenen Identität und was dieser Begriff zu bedeuten hat, erlebt eine ‘bemerkenswerte Konjunktur’, sowohl in der Wissenschaft als auch in der Populärliteratur. Gleichzeitig wird Identität zum ‘Inflationsbegriff Nr. 1’, welcher immer unübersichtlicher zu werden scheint. Aber was genau bedeutet der Begriff der Identität? Ist es möglicherweise nur die schlichte Antwort auf die Frage: ‘Wer bin ich?’ oder steckt doch mehr dahinter?
Der Bereich der Identitätsforschung betrifft in erster Linie die Sozialwissenschaften. Ziel dieser Bachelorarbeit ist es, einen Überblick über dieses umfangreiche Themengebiet zu schaffen und einen Einblick in die verschiedenen Aspekte der Identität zu geben. Um dies zu ermöglichen, werden Konzepte aus den Disziplinen der Psychologie, Soziologie und Erkenntnisse der aktuellen Forschung vorgestellt.
Neben Identität wird sich diese Arbeit auch mit der Lebensphase der Jugend beschäftigen. Wurde dem Lebensabschnitt der Jugend noch vor einigen Jahren die ‘Zeit des Sturmes und Dranges’ im Prozess der Identitätsentwicklung zugesprochen, verschiebt die aktuelle Identitätsforschung den Blick stärker auf die Lebensphase des Erwachsens-eins. Trotz alledem, spielen Entwicklungen in der Jugend und die Phase an sich, nach wie vor eine wichtige Rolle für die Bildung und Entwicklung einer Identität. In ihr wird die Basis der späteren Biographie gelegt. Daher ist der Blick auf die Jugendphase auch hilfreich, um den Begriff Identität und die tägliche Identitätsarbeit besser verstehen zu können. Außerdem spielen die spezifischen Bewältigungsaufgaben des Jugendalters eine entscheidende Rolle bei der Entstehung und Entwicklung einer Identität.
Das erste Kapitel wird daher einen Überblick über die Entwicklungsphase der Jugend geben und sie aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Kapitel zwei wird sich mit der Frage auseinandersetzen, was Identität bedeutet, bevor in Kapitel drei eine Zusammenführung der beiden dargestellten Bereiche stattfindet und auf die Frage der Bedeutung der Jugendphase im Prozess der Identitätsentwicklung eingegangen wird.
Am Ende dieser Arbeit sollte sowohl ein besseres Verständnis für die Phase der Jugend, als auch für den Begriff der Identität stehen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Esser, Pascal: Bedeutung der Jugendphase im Prozess der Bildung von Identität,
Hamburg, Diplomica Verlag GmbH 2014
PDF-eBook-ISBN: 978-3-8428-4135-2
Herstellung: Diplomica Verlag GmbH, Hamburg, 2014
Zugl. Eberhard Karls Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland, Bachelorarbeit,
Juni 2012
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Hermannstal 119k, 22119 Hamburg
http://www.diplom.de, Hamburg 2014
Printed in German

II
Vorwort
Durch mein Studium angeregt, kam das erste Mal die Frage in mir auf, wer ich eigent-
lich bin. Als ich eine Vorlesung der Entwicklungspsychologie besucht habe und das
Thema Identitätsbildung behandelt wurde, ist mir aufgefallen, dass ich mich mit dieser
Frage bisher nie bewusst auseinandergesetzt hatte. Bisher war ich derjenige, der ich sein
wollte oder so wie meine Freunde oder Eltern es von mir erwarteten zu sein. Nachdem
mir das erste Mal bewusst geworden ist, dass ich mich mit der Frage nach meiner Iden-
tität und meinen Zukunftsplänen sowohl auseinandersetzten kann als auch muss, habe
ich angefangen, mein Leben mit neuen Augen zu betrachten. Im Studium und auch im
Bekannten- und Familienkreis habe ich gemerkt, dass ich vermehrt das Bedürfnis habe,
alles zu hinterfragen. Ich beschäftigte mich damit, welche Berufe mir später einmal ge-
fallen könnten, welche Bereiche der Sozialen Arbeit mich ansprechen, welche Rolle
meine Werte, Normen und Weltansichten bisher gespielt haben und in wieweit mein
Leben mit diesen übereinstimmt. In der Phase des Praktikums, welches ich in der offe-
nen Jugendarbeit absolviert habe, wurde mir zusätzlich bewusst, dass mein Verhalten
und meine Ansichten auch Auswirkungen auf andere Personen haben können. Ich er-
kannte, dass viele der Jugendlichen, mit denen ich zusammen gearbeitet habe, oftmals
auf der Suche nach Orientierung und Vorbildern waren. Ich musste mich zwangsläufig
fragen, ob ich ein gutes Vorbild für sie darstelle. Damit hatte meine eigene Identität
nicht mehr ausschließlich etwas mit mir zu tun. Aus dieser Motivation heraus will ich
die Frage für mich beantworten, wer ich in Zukunft sein möchte und wo ich mich in ein
paar Jahren sehe. Dadurch ist auch die Idee entstanden, mich in meiner Bachelorarbeit
mit dem Thema der Identität genauer auseinanderzusetzten und der Phase Jugend, da
ich mich momentan am Ende in dieser befinde.

III
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis ... IV
Einleitung...1
Kapitel 1
Zentrale Aspekte der Jugendphase ... 2
1.1 Wandel der Jugendphase ... 3
1.2 Aus Sicht der Soziologie ... 6
1.3 Aus Sicht der Psychologie ... 12
1.4 Aus Sicht der Pädagogik ... 18
1.5 Zwischenfazit ... 23
Kapitel 2
Bedeutung des Begriffes Identität ... 25
2.1 Interaktionstheoretisches Identitätsmodell ... 26
2.2 Psychologisches Verständnis von Identität ... 29
2.3 Aktuelle Identitätsforschung ... 35
Jugend und Identität ­ eine abschließende Zusammenführung ... 43
Literaturverzeichnis... 44
Quellen aus dem Internet ... 48
Anhang ... 49

IV
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Idealtypische Darstellung der Entwicklungsaufgaben, in Anlehnung an
Hurrelmann/Quenzel 2012, S.41. 1.2.1 ... 10
Abbildung 2: Körperliche Veränderungen in der Pubertät, in Anlehnung an
Grob/Jaschinski 2003, S. 34. ... 13
Abbildung 3: Ausschnitt aus dem Phasenmodell von Erikson, in Anlehnung an Erikson
2007, S. 150. ... 31
Abbildung 4: Einige Kennzeichen der vier Identitätszustände nach Marica 1980, in An
lehnung an Oerter/Montada 2002, S. 297. ...34
Abbildung 5: Konstruktion der Identitätsarbeit, Keupp 2006, S. 218...40

1 |
S e i t e
Einleitung
Bücher zum Thema Identität, wie der Bestseller von Richard David Precht, ,,Wer bin
ich und wenn ja, wie viele?" sind in den letzten Jahren immer mehr auf dem Bücher-
markt vertreten. Die Frage nach der eigenen Identität und was dieser Begriff zu bedeu-
ten hat, erlebt eine ,,bemerkenswerte Konjunktur",
1
sowohl in der Wissenschaft als auch
in der Populärliteratur. Gleichzeitig wird Identität zum ,,Inflationsbegriff Nr. 1",
2
wel-
cher immer unübersichtlicher zu werden scheint. Aber was genau bedeutet der Begriff
der Identität? Ist es möglicherweise nur die schlichte Antwort auf die Frage: ,,Wer bin
ich?" oder steckt doch mehr dahinter?
Der Bereich der Identitätsforschung betrifft in erster Linie die Sozialwissenschaften.
Ziel dieser Bachelorarbeit ist es, einen Überblick über dieses umfangreiche Themenge-
biet zu schaffen und einen Einblick in die verschiedenen Aspekte der Identität zu geben.
Um dies zu ermöglichen, werden Konzepte aus den Disziplinen der Psychologie, Sozio-
logie und Erkenntnisse der aktuellen Forschung vorgestellt.
Neben Identität wird sich diese Arbeit auch mit der Lebensphase der Jugend beschäfti-
gen. Wurde dem Lebensabschnitt der Jugend noch vor einigen Jahren die ,,Zeit des
Sturmes und Dranges"
3
im Prozess der Identitätsentwicklung zugesprochen, verschiebt
die aktuelle Identitätsforschung den Blick stärker auf die Lebensphase des Erwachsen-
seins. Trotz alledem, spielen Entwicklungen in der Jugend und die Phase an sich, nach
wie vor eine wichtige Rolle für die Bildung und Entwicklung einer Identität. In ihr wird
die Basis der späteren Biographie gelegt.
4
Daher ist der Blick auf die Jugendphase auch
hilfreich, um den Begriff Identität und die tägliche Identitätsarbeit besser verstehen zu
können. Außerdem spielen die spezifischen Bewältigungsaufgaben des Jugendalters
eine entscheidende Rolle bei der Entstehung und Entwicklung einer Identität.
Das erste Kapitel wird daher einen Überblick über die Entwicklungsphase der Jugend
geben und sie aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Kapitel zwei wird sich mit
der Frage auseinandersetzen, was Identität bedeutet, bevor in Kapitel drei eine Zusam-
menführung der beiden dargestellten Bereiche stattfindet und auf die Frage der Bedeu-
tung der Jugendphase im Prozess der Identitätsentwicklung eingegangen wird.
Am Ende dieser Arbeit sollte sowohl ein besseres Verständnis für die Phase der Jugend,
als auch für den Begriff der Identität stehen.
1
Keupp/ Höfer (1997), S. 12.
2
Brunner (1987), S. 63.
3
Oerter/Montada (2002), S. 293.
4
Vgl. Keupp (2009), S. 5.

2 |
S e i t e
Kapitel 1
Zentrale Aspekte der Jugendphase
Die Kindheits- und Jugendphase sind wichtige Phasen in der Entwicklung eines jeden
Menschen. Mit dem Beginn der Adoleszenz erleben junge Menschen biologische, psy-
chologische wie auch soziale Entwicklungsprozesse. Sie müssen lernen, sich damit aus-
einanderzusetzen, diese zu verstehen, zu bewältigen und so ihre eigene Persönlichkeit
reifen zu lassen.
5
Ging man früher davon aus, dass diese Prozesse vor allem in der Ju-
gendphase, zwischen 14-17, stattfinden, geht die heutige Jugendforschung von einer
Vorverlegung der Jugendphase aus. ,,Neun-, Zehn-, Elfjährige zeigen heute Verhaltens-
weisen, die man früher gemeinhin der klassischen Jugendphase [...] zugeschrieben
hat".
6
Neben der Verfrühung findet man auch Merkmale, die auf eine Verschiebung des
Erwachsenenalters schließen lassen, wodurch die Jugendphase verlängert wird. Beispie-
le, die auf eine Verlängerung hinweisen, sind längere Ausbildungsphasen oder spätere
Heirat und Familiengründung.
7
Verhaltensweisen und altersspezifische Bewältigungs-
aufgaben dieser Phase sind beispielsweise die Ablösung von den Eltern, Aufbau von
Beziehungen außerhalb der Familie und zu Gleichaltrigen, Akzeptanz des eigenen Kör-
pers, Selbständig werden, Umgang mit Sexualität, Entwicklung der eigenen Identität
und die Übernahme bestimmter Rollen in der Gesellschaft.
8
Um den komplexen und
kontrovers diskutierten Begriff der Jugendphase ansatzweise verstehen zu können, be-
nötigt man den Blick der verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, da sich
diese teilweise gegenseitig ergänzen oder Bezug aufeinander nehmen können. Außer-
dem muss man bei wissenschaftlicher Betrachtung den Zusammenhang, in dem man
den Begriff einbettet, klar herausstellen.
9
Die drei Disziplinen, von denen hier die Rede
ist, sind Psychologie, Soziologie und Pädagogik, welche jeweils unterschiedliche
Schwerpunkte in ihrer Betrachtung des Identitätsbegriffs legen. Beschäftigt sich die
Psychologie hauptsächlich mit emotionalen und kognitiven Prozessen, welche durch
biologische Veränderungsprozesse während der Pubertät in Gang gesetzt werden, be-
trachtet die Soziologie die Jugendphase ,,im Kontext der gesellschaftlichen Ordnung".
10
Wohingegen die Pädagogik unter anderem Fragen nach Bedingungen und Folgen von
5
Vgl. Grob/Jaschinski (2003), S. 12ff.
6
Böhnisch (1999), S. 123.
7
Vgl. Hurrelmann/Quenzel (2012), S. 18f.
8
Vgl. Böhnisch (1999), S. 154.
9
Vgl. Ecarius/Eulenbach/Fuchs/Walgenbach (2011), S. 9.
10
Scherr (2009), S. 18.

3 |
S e i t e
altersgerechtem Lernen, Erziehung, Bildung und Sozialisation nachgeht.
11
Trotz der
verschiedenen Schwerpunkte und Ansätze, gibt es auch einen großen Bereich der Über-
einstimmungen und Schnittpunkte, weshalb es nicht immer möglich ist, die drei Diszip-
linen klar voneinander zu trennen. In diesem ersten Kapitel geht es im Folgenden da-
rum, die Aspekte der drei verschiedenen Wissenschaften genauer zu betrachten und
deren Sicht auf die altersspezifischen Bewältigungsaufgaben zu zeigen. Die Shell-
Studie, eine Langzeitstudie, die seit dem Jahr 1953
12
durchgeführt wird, soll dabei hel-
fen, am Ende jeder der einzelnen Teildisziplinen, die Sicht der Jugendlichen auf den
jeweiligen Bereich mit einzubeziehen. Einleitend beginnt dieses Kapitel mit einem
Blick auf den Wandel der Jugendphase, welcher in den letzten ca. Jahren 100 Jahren zu
beobachten war.
1.1 Wandel der Jugendphase
Um den Wandel und die Bedeutung der Jugendphase verstehen zu können, ist ein Blick
auf die Veränderungen unserer Gesellschaft und der Stellenwert von Kindern in ihr un-
abdingbar.
13
So galten noch bis ins 19. Jahrhundert Kinder als Absicherung und Reich-
tum für Familien ,,in der ländlichen und handwerklichen Bevölkerung".
14
Sie mussten
von klein auf Aufgaben in Familie und Betrieb übernehmen. Von einer Kinderbetreu-
ung oder gar einer Ausbildung, war man zu dieser Zeit noch weit entfernt. Dies sollte
sich in der Zeit der Industrialisierung, Mitte des 19. Jahrhundert, nach und nach ändern.
Durch das Aufkommen erster Sozialversicherungen und Versorgungssysteme, waren
Kinder zur Absicherung des Alters immer weniger von Belang. ,,Im Gegenteil: Ihr Un-
terhalt kostete sehr viel Geld, und ihre Erziehung verlangte den Eltern erhebliche Ein-
schränkungen und Disziplinierungen ab".
15
Was einer der Gründe dafür war, dass die
Anzahl von Kindern und Personen, die zusammen in einem Haushalt lebten, abnahm.
Werden die Motive für eine Entscheidung für Kindern in der heutigen Gesellschaft be-
trachtet, so lassen sich noch größere Kontraste erkennen. Laut Hurrelmann entscheiden
Eltern nicht mehr nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten für oder gegen Kinder, son-
dern danach, ob sie eine persönliche Bereicherung durch das Zeugen von Kindern er-
warten. Zusätzlich lassen weitere Faktoren, wie beispielsweise Verhütung, eine weitaus
11
Vgl. ebd. S. 18.
12
Vgl. Shell- Studie: Homepage.
13
Vgl. Scherr (2009), S. 19.
14
Hurrelmann/Quenzel (2012), S. 11.
15
Ebd., S. 12.

4 |
S e i t e
individuellere Familienplanung als noch vor 50 Jahren zu.
16
Dies wird z.B. im Datenre-
port des Statistischen Bundesamtes von 2011 sichtbar. Dieser zeigt einen deutlich stei-
genden Trend von kinderlosen Paaren in den letzten Jahren, ganz besonders bei Paaren
mit akademischen Abschlüssen.
17
Was sind die Folgen einer nachlassenden gesellschaftlichen Relevanz von Kindern und
welche Bedeutung hat das für die Phase der Jugend? Folgen, bei Betrachtung der demo-
grafischen Struktur, sind auf der einen Seite der zahlenmäßige Rückgang von Kindern
und Jugendlichen in unserer Gesellschaft und auf der anderen Seite ein Anstieg der Per-
sonengruppe über 65 Jahren. Betrug im Jahre 1950 der Anteil der jungen Menschen
unter 20 Jahren noch 30%, so liegt er heute bei 18%. Wohingegen die Gruppe der über
65 Jährigen von 10% auf über 20% gestiegen ist.
18
Hatte unsere Gesellschaft noch vor
50 Jahren die Struktur einer Pyramide, so geht ihr bei heutiger Betrachtung das Funda-
ment verloren. Die Konsequenzen für die Sozialpolitik sind weitreichend. Durch die
Vergrößerung der Gruppe von Älteren und Kinderlosen verändert sich auch deren Ein-
fluss auf die Politik, wodurch Familien und junge Menschen zunehmend um Gehör
kämpfen müssen. All diese Entwicklungen haben in den letzten Jahren zu stetigen Neu-
orientierungen und Umstrukturierungen der verschiedenen Lebensphasen und so auch
der der Jugendphase geführt. Die Autoren Hurrelmann und Quenzel verdeutlichen diese
Veränderung, indem sie die letzten hundert Jahre in drei Zeitspannen unterteilt haben:
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehen sie die Gesellschaft noch in zwei große Gruppen
geteilt, Kinder und Erwachsene, zu welchen bis 1950 die der Jugend und der Senioren
hinzugekommen sind. Stellten diese beiden neuen Gruppen anfänglich relativ kurze
Lebensabschnitte dar, haben sie zunehmend an Bedeutung, wie auch an Jahren gewon-
nen. Gründe hierfür finden sich bei den Senioren unter anderem durch steigende Le-
benserwartung und Absicherung.
19
Gleichzeitig spricht der Autor Ulrich Beck
20
noch von zwei neu aufgekommenen Phä-
nomenen: der ,,Enttraditionalisierung" und einer steigenden ,,Individualisierung", wel-
che alle Lebensphasen betreffen. Unter ,,Enttraditionalisierung" versteht der Autor,
nicht das Wegfallen von Traditionen, sondern dass diese bewusst gewählt und erarbeitet
werden müssen. Sie sind also nicht mehr fest vorgegeben von außen. Institutionelle Ein-
richtungen, Berufs- und Geschlechterrollen und soziale Milieus verlieren somit an
16
Vgl. ebd., S. 10 ff.
17
Vgl. Datenreport 2011, S. 42.
18
Hurrelmann/Quenzel (2012), S. 14.
19
Vgl. ebd., S. 15 f.
20
Vgl. Beck (1998), S. 115 ff.

5 |
S e i t e
Orientierungshilfe. Durch diesen Wegfall müssen sich junge Menschen stärker indivi-
duell entscheiden und sind mehr von Institutionen abhängig, welche die Biographie
steuern, wie beispielsweise der Arbeitsmarkt oder Bildungseinrichtungen.
21
Durch diese
beiden Phänomene verschwimmen die Grenzen zwischen den verschiedenen Lebens-
phasen immer stärker, was eine neue Gestaltungsvielfalt mit sich bringt. Jeder kann
heute prinzipiell seine Lebensphase bewusst mitgestalten und ist nicht mehr an fest vor-
gegebene biografische Abläufe gebunden, auch wenn es in der Realität oftmals anders
aussieht. Zwei Beispiele sollen dies verdeutlichen: Ein Jugendlicher hat heutzutage die
Möglichkeit, seine Jugendphase durch Reisen, das Studium oder Ähnliches zu verlän-
gern. Paare mittleren Alters können sich bewusst gegen die Gründung einer Familie
entscheiden. Aber nicht nur die Phase der Jugend oder des Erwachsenseins ist hier be-
troffen. Auch den Senioren eröffnen sich neue Bereiche, so hat beispielsweise ein 60-
Jähriger noch die Chance, eine Firma zu gründen. Somit ergeben sich für viele Men-
schen neue Chancen und Möglichkeiten, da ,,Alter, Herkunft, Religion und Ge-
schlecht"
22
an Bedeutung, Notwenigkeit und Verbindlichkeit bei der Lebensplanung
verloren haben.
23
Aber wieso treffen solche Prozesse auch auf die Jugendphase zu und betreffen nicht nur
die Erwachsenen? Einer der Gründe ist ihre starke Ausdehnung an Jahren. Besondere
gesellschaftliche Strukturen haben dies begünstigt. Einer der wichtigsten Faktoren war,
damals wie heute, der Ausbau der allgemeinen Schul- und Berufsausbildung zum Ende
des 19. Jahrhunderts hin.
24
War die Ausbildungsphase anfänglich noch eine relativ kur-
ze Zeitspanne, gewann sie immer mehr an Zeit und somit auch an Bedeutung. In der
heutigen Zeit und Gesellschaft kann sie bereits eine Lebensspanne von 10 bis zu 20 Jah-
ren und mehr einnehmen.
25
Diese Phase der Ausbildung ist gekennzeichnet durch die
Ablösung von der Familie, hin zu einer Eingliederung in die berufliche Welt. Die zu-
nehmende Zeit der Ausbildung ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass die ,,Jugend zu
einer allgemeinen gesellschaftlichen Kategorie"
26
geworden ist, welche von den Jugend-
lichen nicht nur durchlebt, sondern heute auch aktiv mitgestaltet wird und, wie schon
erwähnt, auch eine steigende Individualisierung erlebt.
27
Dadurch erhält die Jugendpha-
se eine zunehmende Eigendynamik und gerät immer stärker in den Prozess der
21
Vgl. ebd., S. 115 ff.
22
Hurrelmann/Quenzel (2012), S. 17.
23
Vgl. ebd., S. 16 ff.
24
Vgl. Böhnisch (2008), S. 126 ff.
25
Vgl. Scherr (2009), S. 21 ff.
26
Hurrelmann/Quenzel (2012), S. 22.
27
Vgl. ebd., 20 ff.

6 |
S e i t e
Biografisierung mit hinein, indem Jugendliche stärker beteiligt und gefordert werden.
Sie bewegt sich weg von einer ,,separierte[n] Sonderphase", hin zu einem ,,sozial früh
erfassten Teil des Lebenslaufs".
28
Dennoch bleibt die Jugend als eine Art ,,Statuspassa-
ge"
29
bestehen in der sich Kinder von der unselbstständigen Kindheit hin zu der selbst-
ständigen Phase des Erwachsenseins entwickeln. Dabei nimmt der Grad der Verselbst-
ständigung immer stärker zu und gipfelt schließlich in der Selbstständigkeit von zwei
Bereichen. Dem Bereich der Berufstätigkeit und dem der eigenständigen privaten Le-
bensführung.
30
Spannungen können in diesem Prozess entstehen, wenn Jugendlichen
von verschiedenen Seiten unterschiedliche Selbstständigkeiten zugeschrieben werde.
Die Phase der Jugend stellt also ein Konstrukt unserer Gesellschaft dar,
31
ein ,,historisch
entstandenes soziales Phänomen".
32
Gesellschaftliche Veränderungen haben immer
auch einen Einfluss auf die Gestaltung der Jugendphase. Doch welchen Herausforde-
rungen und Bewältigungsaufgaben sehen sich junge Menschen heute gegenüber ge-
stellt? Das nächste Kapitel beginnt mit der Sicht der Soziologie auf die Phase der Ju-
gend und ihren altersspezifischen Bewältigungsaufgaben.
1.2 Aus Sicht der Soziologie
Bevor es sich um die altersspezifischen Bewältigungsaufgaben aus der Sicht der Sozio-
logie handeln wird, geht es zuerst allgemein um den Begriff der Sozialisation, auch
wenn dieser Begriff sowohl der Soziologie als auch der Pädagogik zugeschrieben wer-
den kann. Sie spielt eine zentrale Rolle bei der Entwicklung von jungen Menschen im
Kontext der Gesellschaft.
Sozialisation bezeichnet den Prozess, bei dem Personen in eine Gesellschaft integriert
werden. Verbunden mit dieser Integration, steht das Erlernen gesellschaftlicher Normen
und Handlungsmuster, um junge Menschen ,,auf die Übernahme von verantwortungs-
vollen gesellschaftlichen Mitgliederrollen vorzubereiten".
33
Im weiteren Sinne sind alle
Lern- und Erziehungsprozesse darunter zu verstehen, die einem Menschen dabei helfen
sollen, innerhalb einer Gesellschaft mit deren spezifischen Kultur und Bräuchen am
28
Böhnisch (2008), S. 143.
29
Hurrelmann /Quenzel (2012), S. 40.
30
Vgl. ebd., S. 41.
31
Vgl. Scherr (2009), S. 21.
32
Sanders/Vollbrecht (2000), S. 7.
33
Hurrelmann/Quenzel (2012), S. 34.

7 |
S e i t e
sozialen Leben teilhaben zu können.
34
Hurrelmann versteht unter diesem Prozess fol-
gendes:
,,Sozialisation bezeichnet [...] den Prozess, in dessen Verlauf sich der mit einer biologi-
schen Ausstattung versehene menschliche Organismus zu einer sozial handlungsfähigen
Persönlichkeit bildet, die sich über den Lebenslauf hinweg in Auseinandersetzung mit
den Lebensbedingungen weiterentwickelt".
35
Oder anders formuliert: Sozialisation ist die Entwicklung der Persönlichkeit aufgrund
ihrer Interaktion mit einer spezifischen und sozialen Umwelt. Sozialisation bezieht also
immer beides mit ein, die einzelne Person und die Gesellschaft als Ganzes, welche in
einer wechselseitigen Beziehung zueinander stehen.
Zum Einen möchte eine Gesellschaft durch gezielte Bildungs- und Erziehungsprozesse
ihre gesellschaftlichen Strukturen, Traditionen, Bräuche, Werte, Normen usw. aufrecht-
erhalten und an nachfolgende Generationen ,weitervererben`. Zum Anderen soll dem
Individuum dabei geholfen werden, eine selbstständige und aktiv handelnde Person in-
nerhalb dieser Gesellschaft zu werden, um die eigene Rolle in ihr zu finden und diese
einzunehmen. Dabei geht Sozialisation über Bildungs- und Erziehungsprozesse inner-
halb von gesellschaftlichen Institutionen hinaus, da sie überall dort zu finden ist, wo
eine ,,aktive Auseinandersetzung mit der sozialen und materiellen"
36
Welt stattfindet.
Sozialisation findet ein Leben lang statt, dennoch hat sie gerade in der Kindheits- und
Jugendphase eine besondere Relevanz. Das liegt unter anderem daran, dass sie in diesen
Phasen ,,eine einzigartige Dichte"
37
an Interaktionsprozessen zwischen Individuum und
Gesellschaft erreicht wird und erste prägende Schritte stattfinden. Junge Menschen ent-
wickeln sich aus der Phase der Kindheit, in welcher sie weder verantwortungsvolle
Aufgaben, noch tragende Rollen der Gesellschaft verinnerlicht haben, hin zu erwachse-
nen Personen, die für ihre Handlungen die volle Verantwortung tragen müssen. Die Ju-
gend wiederum stellt eine Phase des Erlernens und Experimentierens dar, was sich bei-
spielsweise im deutschen Jugendstrafgesetzbuch widerspiegelt, in welchem den Jugend-
lichen eine besondere Stellung eingeräumt wird. Dabei laufen erste Prozesse der Ve-
rantwortungsübernahme in gesellschaftlichen Bereichen zwischen Kindheit und Ju-
gendphase schleichend ab, wie etwa in den Bereichen ,,Bildung (Schulabschluss), Kon-
34
Vgl. Hurrelmann (2006), S. 6 ff.
35
Hurrelmann (2006), S. 6.
36
Ecarius/Eulenbach/Fuchs/Walgenbach (2011), S. 9.
37
Hurrelmann (2006), S. 7.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2012
ISBN (eBook)
9783842841352
Dateigröße
614 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen – Erziehungswissenschaften
Erscheinungsdatum
2014 (März)
Note
1,0
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