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Das Problem der Überhangmandate: Zwischen Verzerrung der Stimmabgabe und Bestandteil eines funktionierenden Systems

©2012 Bachelorarbeit 40 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Am 3. Juli 2008 erklärte das Bundesverfassungsgericht Teile des Bundeswahlgesetzes, welches bei der Bundestagswahl 2005 zur Anwendung kam, für verfassungswidrig und forderte den Gesetzgeber auf, eine verfassungskonforme Änderung bis zum 30. Juni 2011 vorzunehmen (vgl. BVerfG 2008). Durch diese Entscheidung wurde eine Debatte um eine mögliche Wahlrechtsreform angestoßen. Sie warf eine breite Spanne von möglichen Reformzielen auf. Die Ziele reichten von einer Systemreform, über kleine Reformen von Teilen des Wahlrechts bis zu lediglich kleinen Änderungen am Wahlsystem. Es entstand erneut eine Diskussion darüber, ob für Deutschland ein Mehrheitswahlrecht nicht besser sei. Bei den im Bundestag vertretenen Parteien beschränkte sich der Diskurs auf eine Reform der Überhangmandate, auf der Oppositionsseite, und einer Behebung des negativen Stimmgewichts, durch eine kleine Wahlrechtsreform, auf der Regierungsseite.
Die Koalition von Union und FDP hat im November 2011 das Änderungsgesetz zum Bundeswahlgesetz beschlossen um die geforderte Reform umzusetzen (vgl. Bundesgesetzblatt 2011). Dieses Gesetz wird derzeit allerdings beim Bundesverfassungsgericht auf seine Verfassungskonformität hin überprüft, weil angenommen wird, dass das Wahlrecht dadurch immer noch gegen das Grundgesetz verstößt (vgl. BVerfG 2012). Daher bedürfen Überhangmandate weiterhin einer kritischen Betrachtung, denn diese wurden durch das Änderungsgesetz in ihrem Wesen erhalten. Überhangmandate sind eine Besonderheit der personalisierten Verhältniswahl und ihre Wirkung auf das politische System gilt es zu untersuchen. Durch sie erhöht sich die Abgeordnetenzahl des Parlaments und wenn diese Zusatzmandate einer Partei nicht ausgeglichen werden, verändern sich die Sitzverhältnisse der Fraktionen zueinander.
Um sich mit Überhangmandaten kritisch auseinander setzen zu können, bedarf es einer Betrachtung des Systems und der Eigenheiten von Überhangmandaten. Dazu muss analysiert werden, wie diese Mandate entstehen und welche Auswirkungen sie auf die Verhältnisse und die politischen Prozesse haben. Nach dieser Analyse kann das Entstehen von Überhangmandaten hinsichtlich verschiedener Aspekte bewertet werden. Die Auswirkungen müssen von einem Gesichtspunkt der Systemkonformität und -funktionalität, aus der Sicht der Wähler und Wählerinnen sowie aus machtpolitischer Perspektive der Parteien betrachtet werden. Es stellt sich die Frage, ob und inwieweit Überhangmandate den […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Das deutsche Wahlsystem
2.1 Entstehungsgeschichte
2.2 Elemente des Wahlsystems
2.2.1 Wahlkreiseinteilung
2.2.2 Wahlbewerbung
2.2.3 Stimmgebung
2.2.4 Stimmenverrechnung
2.3 Ein Vergleich zu den Bundesländern

3. Das demokratische Wesen im Wahlrecht
3.1 Die Wahlrechtsgrundsätze
3.1.1 Allgemeines Wahlrecht
3.1.2 Gleiches Wahlrecht
3.1.3 Geheimes Wahlrecht
3.1.4 Direktes Wahlrecht
3.2 Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

4. Einfluss auf die Systemfunktionalität

5. Die Interessen der Akteure
5.1 Die Wählerschaft
5.2 Die Parteien

6. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Am 3. Juli 2008 erklärte das Bundesverfassungsgericht Teile des Bundeswahlgesetzes, welches bei der Bundestagswahl 2005 zur Anwendung kam, für verfassungswidrig und forderte den Gesetzgeber auf, eine verfassungskonforme Änderung bis zum 30. Juni 2011 vorzunehmen (vgl. BVerfG 2008). Durch diese Entscheidung wurde eine Debatte um eine mögliche Wahlrechtsreform angestoßen. Sie warf eine breite Spanne von möglichen Reformzielen auf. Die Ziele reichten von einer Systemreform, über kleine Reformen von Teilen des Wahlrechts bis zu lediglich kleinen Änderungen am Wahlsystem. Es entstand erneut eine Diskussion darüber, ob für Deutschland ein Mehrheitswahlrecht nicht besser sei[1]. Bei den im Bundestag vertretenen Parteien beschränkte sich der Diskurs auf eine Reform der Überhangmandate, auf der Oppositionsseite, und einer Behebung des negativen Stimmgewichts, durch eine kleine Wahlrechtsreform, auf der Regierungsseite[2].

Die Koalition von Union und FDP hat im November 2011 das Änderungsgesetz zum Bundeswahlgesetz beschlossen um die geforderte Reform umzusetzen (vgl. Bundesgesetzblatt 2011). Dieses Gesetz wird derzeit allerdings beim Bundesverfassungsgericht auf seine Verfassungskonformität hin überprüft, weil angenommen wird, dass das Wahlrecht dadurch immer noch gegen das Grundgesetz verstößt (vgl. BVerfG 2012). Daher bedürfen Überhangmandate weiterhin einer kritischen Betrachtung, denn diese wurden durch das Änderungsgesetz in ihrem Wesen erhalten. Überhangmandate sind eine Besonderheit der personalisierten Verhältniswahl und ihre Wirkung auf das politische System gilt es zu untersuchen. Durch sie erhöht sich die Abgeordnetenzahl des Parlaments und wenn diese Zusatzmandate einer Partei nicht ausgeglichen werden, verändern sich die Sitzverhältnisse der Fraktionen zueinander.

Um sich mit Überhangmandaten kritisch auseinander setzen zu können, bedarf es einer Betrachtung des Systems und der Eigenheiten von Überhangmandaten. Dazu muss analysiert werden, wie diese Mandate entstehen und welche Auswirkungen sie auf die Verhältnisse und die politischen Prozesse haben. Nach dieser Analyse kann das Entstehen von Überhangmandaten hinsichtlich verschiedener Aspekte bewertet werden. Die Auswirkungen müssen von einem Gesichtspunkt der Systemkonformität und -funktionalität, aus der Sicht der Wähler und Wählerinnen sowie aus machtpolitischer Perspektive der Parteien betrachtet werden. Es stellt sich die Frage, ob und inwieweit Überhangmandate den Willen der Wählerschaft verzerren. Es stellt sich auch die Frage, ob das System trotz dieser Problematik funktioniert oder die über den Proporz hinaus erreichbaren Wahlkreismandate ein zu großes potentielles Risiko innehaben.

Zunächst bedarf es einer Beschreibung der Gegebenheiten des deutschen Wahlsystems. Damit soll dann beantwortet werden können, welche Eigenheiten und Grundsätze in Deutschland bezüglich der Bundestagswahl vorliegen. Die historischen Umstände bei der Entstehung des Wahlsystems üben, wie die technischen Elemente, einen Einfluss auf die Bewertung und das Auftreten von Überhangmandaten aus. Dazu kann dann ein Vergleich zu den Wahlsystemen der Bundesländer gezogen werden. Eine genauere Betrachtung der Wahlgrundsätze ermöglicht die rechtliche Verortung von Überhangmandaten. Durch das Hinzuziehen der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts kann sich somit eine Verfassungskonformität erschließen lassen. Die Funktionalität des politischen Systems, bei Mehrheitsverschiebungen durch Überhangmandate, kann durch eine kurze empirische Analyse der Bundestagswahlergebnisse überprüft werden. Der Effekt der Verzerrung bei der Stimmabgabe und die Komplexität des Wahlsystems mit der Wahlentscheidung der Wähler und Wählerinnen lassen sich in Verbindung bringen. Daraus kann beurteilt werden, ob die Erfüllung ihrer Interessen durch das Wahlsystem gegeben ist. Die Gesetzesentwürfe der Parteien lassen Rückschlüsse auf die machtpolitischen Ziele der einzelnen Akteure im Bundestag zu. Die Reformansätze der Parteien und die Interessen des Wahlvolkes ermöglichen einen alternativen Ausblick auf das Wahlsystem. Letztlich soll somit eine Beurteilung von Überhangmandaten bei Bundestagswahlen in Deutschland erfolgen.

2. Das deutsche Wahlsystem

Das Wahlrecht umfasst den gesamten rechtlich verfassten Prozess der Wahl, von der Bestimmung der Organe über die Wahlkreiseinteilung und Regelung des Wahlaktes bis zur Bekanntmachung des Ergebnisses (vgl. Nohlen 2005a: 1138). Da es hier aber primär um das Auftreten von Überhangmandaten und deren Wirkung geht, wird eine so umfassende Analyse nicht nötig sein. Somit beschränkt sich dieser Teil darauf, wie die Wähler und Wählerinnen durch die Stimmabgabe ihre Präferenzen zum Ausdruck bringen und diese umgesetzt werden, also dem Wahlsystem (vgl. Nohlen 2005b: 1139). Diese Wahlsystemanalyse bezieht sich auf die bei der Bundestagswahl 2009 geltenden Regelungen. Die 2011 beschlossene Neufassung des Bundeswahlgesetzes wird nicht als Grundlage hinzugezogen, weil sie sich wegen der derzeitigen verfassungsgerichtlichen Prüfung noch im Prozess befindet.

Zunächst ermöglicht die Entstehungsgeschichte des Wahlsystems einen Einblick in die Ziele und Interessen, welche umgesetzt werden sollten. Die Untersuchung der einzelnen Systemelemente ermöglicht eine Verortung des deutschen Wahlsystems. Dadurch kann auch geklärt werden, welche Bestandteile dazu führen, dass Überhangmandate entstehen. Ein Vergleich zu den Systemen der Bundesländer in der Bundesrepublik zeigt auf, ob sich alternative Wahlsysteme in Deutschland etabliert haben und wie in ihnen mit eventuell anfallenden Überhangmandaten umgegangen wird.

2.1 Entstehungsgeschichte

Nach dem Zweiten Weltkrieg musste die Bundesrepublik Deutschland sich zunächst eine Verfassung geben. Diese wurde im Parlamentarischen Rat unter starken Einfluss von Kirchen, Gewerkschaften und den Besatzungsmächten durch die Parteien ausgearbeitet (vgl. Rudzio 2006: 33f). Im Grundgesetz wurden dann lediglich mit zwei Artikeln die Anforderungen an das Wahlsystem abgesteckt. So hat die Staatsgewalt vom Volk aus zu gehen, welches diese durch Wahlen und Abstimmungen ausübt (vgl. GG Art.20 Abs. 2) und die Abgeordneten mit freiem Mandat in „allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl [wählt]“ (GG Art. 38). Darüber hinaus regelt das Grundgesetz nur das aktive und passive Wahlalter. Alle weiteren Regelungen sollen durch Bundesgesetze geregelt werden (vgl. ebenda). Somit stehen dem Bundestag das Recht und die Pflicht zu, sich selbst ein Wahlgesetz zu geben, nach welchem die Abgeordneten durch das Volk in Wahlen legitimiert werden. Dabei gibt das Grundgesetz nur Maxime ohne eine Ausrichtung auf ein bestimmtes Wahlsystem vor.

Für die erste Bundestagswahl hatte der Parlamentarische Rat die Verantwortung in die Hände der Ministerpräsidenten der Länder gelegt. Dort waren sich alle einig, dass die reine Verhältniswahl aus der Weimarer Republik keine Option sei, weil eine zu große Angst vor einer erneuten Zersplitterung des Parteiensystems, wie zu Zeiten der Weimarer Republik, bestand (vgl. Schmidt 2011: 44). Während die CDU und CSU eine relative Mehrheitswahl befürworteten, empfahl der Parlamentarische Rat mit den Stimmen der kleineren Parteien und der SPD einen Kompromissvorschlag der SPD. Dieser Entwurf entsprach einer personalisierten Verhältniswahl (vgl. Nohlen 2009a: 327) und wurde als Grundlage für die erste Bundestagswahl 1949 von den Ministerpräsidenten der Länder verkündet.

Der erste Deutsche Bundestag wurde dann 1949 durch eine personalisierte Verhältniswahl zusammengesetzt. Dabei wurden von den 400 Abgeordneten[3] 60 Prozent mit Direktmandaten aus den 242 Wahlkreisen und 40 Prozent mit Listenmandaten gewählt. Die Wähler und Wählerinnen hatten nur eine Stimme, mit welcher sowohl für den Wahlkreiskandidaten oder -kandidatin direkt, als auch für den Proporz derer Parteien, gestimmt wurde. Das heutige Verfahren mit Erststimme für den Wahlkreis und Zweitstimme für die verhältnisgerechte Zusammensetzung wurde erst ab der zweiten Bundestagswahl, 1953, verwendet. Diese Modulation trat zusammen mit der Veränderung des Verhältnisses von Direkt- und Listenmandaten auf 50 Prozent zu 50 Prozent in Kraft. Zusätzlich wurde die Anwendung der 5-Prozent-Sperrklausel von der Landes- auf die Bundesebene verschoben, wodurch kleine Splitterparteien eine höhere Hürde zu überwinden haben. Seit der Verlagerung der Verrechnungsebene von Zweitstimmen von den Ländern auf den Bund, und der Anhebung der Grundmandatsklausel um zwei auf drei Mandate war 1956 das Wahlsystem etabliert (vgl. Nohlen 2009a: 328). In den Jahren nach den Veränderungen gab es mit den Regierungskonstellationen aus Union/FDP, SPD/FDP und der Großen Koalition aus Union/SPD verschiedene Konstellationen, welche stärkeren Einfluss auf das Wahlsystem hätten ausüben können. Unter der Großen Koalition hätte auch eine Reform zu einer Mehrheitswahl durchgeführt werden können. Doch wesentliche Reformen wurden unter keiner der Konstellationen umgesetzt. Zentrale Variationen bestanden danach nur noch im Verrechnungsverfahren, dabei wurde 1985 das d’Hondt-Verfahren durch das Hare/Niemeyer-Verfahren abgelöst und 2009 von Hare/Niemeyer auf Saint Laguë/Schepers umgestellt (vgl. ebenda). Dies zeigt, dass das System an sich in der deutschen Parteienlandschaft anerkannt wurde und verwurzelt ist.

2.2 Elemente des Wahlsystems

Die technischen Elemente eines Wahlsystems bestimmen über dessen funktionsweise. Zu diesen gehören die Einteilung der Wahlkreise, die Wahlbewerbung, die Stimmgebung und das Verrechnungsverfahren der Stimmen (vgl. Nohlen 2009a: 85). Jeder Wesenszug für sich genommen und in Beziehung zu den anderen hat Auswirkungen auf die Vergabe von Mandaten. Wie stark der Einfluss der einzelnen Elemente auf die Entstehung von Überhangmandaten ist, wird hier aufgezeigt werden. Für eine Bewertung des Wahlsystems ist diese Analyse wichtig. Neben dem Bewertungspotential wohnt den technischen Elementen auch ein hohes Maß an Wahrnehmung durch das Wahlvolk inne, weshalb dieses mit den Ausprägungen der Komponenten beim Wahlakt direkt konfrontiert ist (vgl. Nohlen 2009a: 84).

2.2.1 Wahlkreiseinteilung

Die Einteilung der Wahlkreise ist ein brisantes Thema. Wenn sie nicht durch ein unabhängiges Organ eingeteilt werden, dann können politische Interessen einen Einfluss ausüben. Diese Einwirkung kann direkt mit einer Verbesserung des Wahlausgangs, zu Gunsten einer Partei, verbunden sein. So muss beachtet werden, dass zum Beispiel ländliche Regionen eher konservativer wählen als urbane Regionen und dass mancherorts Hochburgen von einer Partei bestehen (vgl. Nohlen 2009a: 86). Die Wahlkreise könnten nun so geschnitten werden, dass ein Kandidat oder eine Kandidatin einer konservativen Partei das Mandat erhält, weil der Wahlkreis sehr ländlich geprägt ist und ein urbanes Zentrum auf zwei Wahlkreise verteilt wurde, statt gänzlich in den Kreis des Kandidaten oder der Kandidatin mit einzufließen. Auch das Zusammenfassen von Hochburgen einer Partei in einen Wahlkreis kann politisch motiviert sein. So würde dort voraussichtlich der Kandidat oder die Kandidatin das Mandat erhalten, welcher oder welche von der Partei stammt, deren Zentren im Wahlkreis vertreten sind. In umliegenden Wahlkreisen würden die Stimmen aus den Hochburgen dann fehlen und so könnten anderer Parteien eine höhere Chance auf ein Mandat haben.

In Deutschland wird die Einteilung der Wahlkreise durch eine parteiunabhängige Kommission vorgenommen (vgl. Bundeswahlleiter 2012). Das Bundeswahlgesetz gibt dazu bestimmte Vorgaben. Es sollte jeder der 299 Wahlkreise ungefähr gleich groß sein, weshalb die Wahlkreise auch nicht dauerhaft festgelegt sind[4]. Dabei darf der Unterschied in der Bevölkerungszahl zwischen den Wahlkreis nicht zu stark sein. Das Gesetz erlaubt eine maximale Abweichung von der durchschnittlichen Größe von 25 Prozent, wobei diese das Maximum darstellt und 15 Prozent als Richtwert festgelegt ist (vgl. Korte 2010: 51). Zudem sollen die Wahlkreise ein zusammenhängendes Gebiet sein (vgl. ebenda).

Im personalisierten Verhältniswahlrecht sind die Wahlkreise nicht so ausschlaggebend für die Zusammenstellung des Parlamentes, wie bei einer Mehrheitswahl. Jedoch kommt ihnen in Verbindung mit Überhandmandaten mehr Bedeutung zu. Die Zweitstimmen, welche auf die Parteilisten entfallen, bestimmen über die Zusammensetzung des Bundestages. Allerdings können Überhangmandate überhaupt erst entstehen, weil 299 der 598 Abgeordneten ein Direktmandat aus einem Ein-Personen-Wahlkreis erhalten und so den Proporz, welcher auf die Gesamtheit der Mandate angewandt wird, verzerren können. Die Wahlkreise üben durch ihre unterschiedlichen Größen und Verteilung auf die Bundesländer auch direkt Einfluss auf die Entstehung von Überhangmandaten aus. So besteht in Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und Thüringen eine stärkere Begünstigung für Überhangmandate[5], weil ein Bundesland durch Rundungen ein Direktmandat mehr haben kann, als ihm vom Anteil der Wahlberechtigten zusteht (vgl. Behnke 2005: 467).

2.2.2 Wahlbewerbung

Bei der Wahlbewerbung wird unterschieden in eine Einzelkandidatur und die Wahl einer Liste (vgl. Nohlen 2009a: 102). Die Einzelkandidatur sieht jeweils nur einen Kandidaten oder eine Kandidatin für jede Partei vor. Die Wahl muss also zwischen den einzelnen Bewerbern und Bewerberinnen getroffen werden. Bei der Listenwahl gibt es verschiedene Formen von Listen, welche angewandt wird, hängt vom System ab. Wie groß der Einfluss der Wähler und Wählerinnen bei der Listenwahl ist, ist durch die Art der Liste festgelegt. Es gibt starre, lose gebundene und freie Listen. Bei starren Listen kann der Wähler oder die Wählerin nur für die gesamte Liste als Ganzes abstimmen und auch keine Änderungen in der Reihenfolge vornehmen. Die Parteien bestimmen vorher selbständig darüber, in welcher Ordnung die Kandidaten und Kandidatinnen aufgeführt werden. Bei lose gebundenen Listen besteht die Möglichkeit selbst über die Rangfolge der einzelnen Bewerber und Bewerberinnen auf der vorstrukturierten Aufstellung abzustimmen. Die freien Listen ermöglichen der Wählerschaft nicht nur die Reihenfolge einer Parteiliste zu bestimmen, sondern über Parteigrenzen hinweg die eigene Präferenz klar darzustellen. Dadurch, dass die Art der Wahlbewerbung festgelegt und für alle Parteien gleich ist, hat kein Lager einen besonderen systembedingten Nachteil (vgl. Nohlen 2009a: 102f).

Die personalisierte Verhältniswahl verbindet die Einzelkandidatur und die Wahl einer starren Liste (vgl. Nohlen 2009a: 104). In Deutschland werden bei der Bundestagswahl die Direktmandate über Ein-Personen-Wahlkreise vergeben. Daher gibt es keine Listen, sondern Kandidaturen einzelner Personen, welche sich um dieses Mandat bewerben. Für die restlichen 299 Sitze werden die Landeslisten der Parteien herangezogen. Diese sind von den Parteien aufgestellt und können durch die Stimmabgabe nicht verändert werden. Somit kandidieren die Parteien in den Bundesländern mit jeweils eigenen starren Listen.

Die Form der Wahlbewerbung steht mit dem Auftreten von Überhangmandaten nicht in Verbindung, da diese nur Maßgeblich dafür ist, welche Person ein Mandat erhält und nicht wie viele einer Partei zugeordnet werden. Dennoch ist die starre Liste nicht unkritisch zu betrachten. Aus partizipatorischer Sicht wird den Parteien eine Monopolstellung in der Benennung von Kandidaturen zugesprochen, weil diese intern darüber entscheiden, welche Personen Chancen auf ein Mandat erhalten (vgl. Nohlen 2009a: 109f). Dies geschieht obwohl die Parteien nicht mehr so viele Menschen repräsentativ vertreten, wie früher. Die funktionalistische Sicht hingegen geht davon aus, dass Parteien starre Listen benötigen um in der parlamentarischen Demokratie mehrheitsfähig und arbeitsfähig zu sein (vgl. ebenda).

2.2.3 Stimmgebung

Es gibt mehrere Möglichkeiten wie die Stimmabgabe geregelt sein kann. Die Einzelstimmgebung ermöglicht nur eine Stimme pro Wähler und Wählerin (vgl. Nohlen 2009a: 107). Damit geht dann die Form der Liste einher. Weil keine Präferenzen innerhalb dieser geäußert werden können, ist bei dieser Art der Wahl nur die starre Liste möglich. Durch die Präferenzstimmgebung besteht die Möglichkeit, Kandidaten und Kandidatinnen der eigenen Gunst nach zu ordnen. Dem ähnelt die Alternativstimmgebung, welche der Wählerschaft ermöglicht einer weiteren Kandidatur eine Stimme zu geben, für den Fall, dass die Erstpräferenz kein Mandat erhält (vgl. ebenda). Bei der (beschränkten) Mehrstimmengebung können mehrere Kreuze gesetzt werden und dadurch verschiedene Bewerber und Bewerberinnen gewählt werden. Je nach System besteht dann auch die Möglichkeit zu kumulieren[6] und panaschieren[7] (vgl. ebenda). Das Zweitstimmensystem lässt eine getrennte Abgabe der Stimme zu, weil es die Wahl von Direktkandidaten und ‑kandidatinnen eines Wahlkreises mit Listen auf Wahlkreisverbandsebene kombiniert. So kann der Kandidat oder die Kandidatin für den Wahlkreis gewählt werden, aber eine andere Partei für den Verband (vgl. ebenda).

Bei der Wahl zum Deutschen Bundestag kommt ein Zwei-Stimmen-System zur Anwendung. Im eigentlichen Sinne sollte dabei nur eine Stimme die Zahl der Mandate einer Partei beeinflussen. Dies ist die Zweitstimme, welche man der Parteiliste gibt. Die Erststimme für den Wahlkreiskandidaten oder –kandidatin sollte eine Stimme sein, welche eine engere Verbindung zwischen Abgeordneten und Wähler herstellt, aber keinen Einfluss auf die Gesamtzahl der Mandate hat (vgl. Nohlen 2009a: 108). Die beiden Stimmen können an unterschiedliche Parteien gehen, was zur Folge hat, dass ein taktisches Stimmensplitting die Entstehung von Überhangmandaten verursachen kann. Dies geschieht, wenn eine kleine Partei per Zweitstimme gewählt wird und die Erststimme an eine der großen Parteien geht. Es wird dabei versucht der kleinen Partei möglichst viele Sitze im Bundestag zu ermöglichen und der großen Partei weitere Direktmandate zu verschaffen, welche bei einem zu geringen Zweitstimmenanteil zu Überhangmandaten werden. Allerdings ist das Stimmensplitting nur für einen Teil der Überhangmandate verantwortlich (vgl. Behnke 2005: 467).

2.2.4 Stimmenverrechnung

Zusammen mit der Einteilung der Wahlkreise ist das Stimmenverrechnungsverfahren mit am entscheidendsten für das Ergebnis. Es beeinflusst das Verhalten der Wahlberechtigten und ist maßgeblich für die Verteilung der Mandate, entsprechend der Stimmen, verantwortlich (vgl. Nohlen 2009a: 111). Bei der Analyse muss neben den Verfahren der Umrechnung von Stimmen auf Mandate und deren Ebenen auch auf das Prinzip der Sperrklausel geachtet werden, weshalb die Wirkung auf das Wahlergebnis so groß ist.

Wie die Mandate auf die Parteien verteilt werden, hängt von den verschiedenen Verfahren ab. In erster Instanz wird bei den Entscheidungsregeln zwischen Majorz und Proporz unterschieden (vgl. Nohlen 2009a: 114). Während beim Erstgenannten das Mehrheitserfordernis zu klären ist, muss beim Anderen das Verrechnungsverfahren festgelegt sein. Das Mehrheitserfordernis unterscheidet zwischen relativer und absoluter Mehrheit. Im Falle der absoluten Mehrheit kommt es zu einer Stichwahl, wenn der Stimmenanteil des oder der Erstplatzierten nicht größer als 50 Prozent ist. Bei der relativen Mehrheit steht der Sieger oder die Siegerin nach dem ersten Wahlgang fest, wenn mehr Stimmen für ihn beziehungsweise sie abgegeben wurden als für jede andere Bewerbung (vgl. ebenda).

Die Verrechnungsverfahren beim Proporz werden in Höchstzahl- und Wahlzahlverfahren unterschieden (vgl. ebenda). Höchstzahlverfahren dividieren die Stimmenzahlen der Parteien, wodurch eine abnehmende Zahlenreihe entsteht. Anhand welcher daraufhin die Mandate vergeben werden. Daher werden diese Verfahren auch Divisorenverfahren genannt (vgl. Nohlen 2009a: 114f). Die Methode von d’Hondt ist ein solches Verfahren. Es nutzt die fortlaufende Divisorenreihe 1, 2, 3, 4 etc. (vgl. Nohlen 2009a: 115). Dabei werden die Stimmen der einzelnen Parteien jeweils durch den Divisor geteilt, danach durch den nächsten Divisor und durch den nächsten und so weiter. Die Werte der Quotienten ergeben eine, der Größe nach geordnete, Abfolge. Den Parteien werden daraufhin der Reihenfolge nach die Sitze zugeteilt, bis keine mehr übrig bleiben, daher entstehen auch keine Restmandate. Wahlzahlverfahren geben eine Wahlzahl vor, welche durch das Erreichen einer Stimmenzahl, in der Höhe jener, der entsprechenden Partei ein Mandat zuteilt. Die Parteien erhalten dann so viele Mandate, wie oft die Wahlzahl in der Stimmenzahl enthalten ist (vgl. Nohlen 2009a: 117). Die Wahlzahl entsteht durch eine Division, bei der die Menge der abgegebenen Stimmen für eine Partei als Dividend fungiert und im einfachen Verfahren die Anzahl der Mandate als Divisor auftritt (vgl. Nohlen 2009a: 118). Bei diesem Verfahren können Restmandate auftreten. Diese werden durch die Methode des größten Überrestes, des kleinsten Überrestes, dem Restteilungsverfahren[8] oder der Methode des größten Durchschnitts[9] vergeben (vgl. ebenda). Das Hare/Niemeyer-Verfahren ist ein Beispiel für ein Wahlzahlverfahren. Dabei werden die Sitze verteilt indem die abgegeben Stimmen für eine Partei mit den zu vergebenden Mandaten multipliziert werden und das Produkt durch die gesamten abgegebenen Stimmen dividiert wird. Entsprechend der daraus entstehenden Wahlzahl werden die Mandate verteilt und die Restmandate gehen an die Parteien mit den größten Nachkommazahlen (vgl. Nohlen 2009a: 121).

[...]


[1] diese Debatte wird hier nicht weiter aufgegriffen, zur Reformdebatte siehe auch ZPol Sonderband 2009 – Wahlsystemreform

[2] siehe Deutscher Bundestag Drucksachen (17/4694), (17/5895), (17/5896) und (17/6290)

[3] ohne Abgeordnete aus Berlin, welche nur ein eingeschränktes Stimmrecht innehatten (vgl. Korte 2010: 44)

[4] 2008 wurden die Wahlkreise aufgrund der sich verändernden Bevölkerungszahlen neu eingeteilt (vgl. Korte 2010: 54)

[5] zu den einzelnen Verzerrungsfaktoren siehe Behnke 2005 S. 468

[6] mehrere Stimmen an einen/eine Kandidaten/Kandidatin oder eine Liste geben

[7] die Stimmen auf verschiedene Kandidat(inn)en oder Listen verteilen

[8] Höchstzahlverfahren wie bei d’Hondt (vgl. Nohlen 2009: 118)

[9] Reststimmen werden durch um eins erhöhte, erreichte Mandate dividiert (vgl. ebenda)

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2012
ISBN (eBook)
9783842841079
Dateigröße
358 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover – Politikwissenschaft
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
1,3
Schlagworte
überhangmandat wahlrecht wahlsystem bundestagswahl
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